Inhalte
Titelangaben
Prolog
Kapitel 1: Seehundjäger Tamme Boysen
Kapitel 2: Forscherdrang
Kapitel 3: Tauchgang mit Robben
Kapitel 4: Maik
Kapitel 5: Leanders Beichte
Kapitel 6: In der Tiefe
Kapitel 7: Von Röhrchen und schwarzen Klumpen
Kapitel 8: Das Projekt Hummerschere
Kapitel 9: Franziskas Entdeckung
Kapitel 10: Big Bang
Kapitel 11: Zeitzeugen
Kapitel 12: Silberschätze
Kapitel 13: Von Bomben und Bunkern
Kapitel 14: Tamme hört die Flöhe husten
Kapitel 15: Schatzfieber und Wrackplünderer
Kapitel 16: Sturm
Kapitel 17: Terra Prohibita
Kapitel 18: Sabotage
Kapitel 19: Die Kiste
Kapitel 20: Lagebesprechung
Kapitel 21: Franziska wird ausgebootet
Kapitel 22: Tom mischt mit
Kapitel 23: Nachttauchgang
Kapitel 24: Der Überfall
Kapitel 25: Panzerschokolade
Kapitel 26: Der Plan
Kapitel 27: Das Ultimatum
Kapitel 28: Tag 1 - Im Wrack
Kapitel 29: Misstrauen
Kapitel 30: Im Seekriegsgrab
Kapitel 31: Arbeitsteilung
Kapitel 32: Tag 2 - Der Fund
Kapitel 33: Tag 3 - Es geht voran
Kapitel 34: Störmanöver
Kapitel 35: Tag 4 - Der Countdown läuft
Kapitel 36: Tamme traut dem Braten nicht
Kapitel 37: Bergung der Kanone
Kapitel 38: Der Angriff
Kapitel 39: Das Protokoll
Kapitel 40: Medienberichte
Kapitel 41: Das Geständnis
Kapitel 42: Die Netzsäge
Kapitel 43: Ein fairer Verlierer
Kapitel 44: Abschied
Kapitel 45: Der letzte Akt
Kapitel 46: Zu viel Kitsch
Anhang: Zum Verhältnis von Fiktion und Realität
Danksagung
Mehr Inselkrimis im Prolibris Verlag
Info
Thomas Breuer
Leander
und der Rausch der Tiefe
Helgolandkrimi
Prolibris Verlag
Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Phantasie des Autors. Darum
sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt. Nicht erfunden sind bekannte Persönlichkeiten, Personen der Zeitgeschichte sowie Institutionen, Straßen und Schauplätze auf Helgoland und im Umland.
Alle Rechte vorbehalten,
auch die des auszugsweisen Nachdrucks
und der fotomechanischen Wiedergabe
sowie der Einspeicherung und Verarbeitung
in elektronischen Systemen.
© Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel, 2023
Tel.: 0561/766 449 0, Fax: 0561/766 449 29
Titelfoto © Brigitte Rauch, Helgoland
Schriften: Linux Libertine
E-Book: Prolibris Verlag
ISBN E-Book: 978-3-95475-257-7
Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich:
ISBN: 978-3-95475-239-3
www.prolibris-verlag.de
Der Autor
Thomas Breuer studierte Germanistik, Sozialwissenschaften und Pädagogik in Münster. Er unterrichtet seit 1993 die Fächer Deutsch, Sozialwissenschaften und Zeitgeschichte an einem Gymnasium im
Kreis Paderborn. Er lebt mit seiner Familie in Büren, Kreis Paderborn. Seit 2010 widmet er sich dem Schreiben und hat seither
zahlreiche Kriminalromane und kriminelle Kurzgeschichten veröffentlicht.
Mehr Informationen zum Autor unter: www.breuer-krimi.de
Prolog
18. April 1945
Der Angriff kam ohne Vorwarnung. Gegen 11 Uhr 50 gaben die Sirenen zuerst
Fliegeralarm und direkt im Anschluss Vollalarm. Jetzt war es also so weit.
Kapitänleutnant Mertens hatte seine Mannschaft seit Tagen in Bereitschaft gehalten.
Dass ein Angriff unmittelbar bevorstand, war ihm klar gewesen, denn ohne die Festung Helgoland auszuschalten, wäre eine alliierte Invasion über die Deutsche Bucht unmöglich gewesen. Dass er aber nun so plötzlich über die Insel hereinbrach, hatte selbst der erfahrene Offizier nicht kommen
sehen.
Zwei Minuten nach dem Alarm waren alle Einwohner Helgolands auf dem Weg in den
Bunker. Die ersten Jagdflieger tauchten über dem Felsen auf. Im Tiefflug stürzten sie sich auf die flüchtenden Menschen, feuerten in die Menge, auf die Soldaten an den Flak-Geschützen, die Schiffe im Helgoländer Hafen und auf der Reede. Marine-Soldaten flüchteten im Geschosshagel über die Decks und suchten Schutz hinter den Aufbauten.
Mertens musste handeln, wenn sein Schiff nicht in wenigen Minuten versenkt sein
sollte. Auf die Jagdflieger würden die Bomberverbände folgen. Ihr Grollen erfüllte schon die Luft. Hier zwischen Felsen und Düne war die Adolph Behrens leichte Beute und ihre Fracht war zu kostbar, um sie auf den Grund der Deutschen
Bucht zu schicken. Kurz entschlossen gab er Befehl, die Anker zu lichten.
Da kamen sie! In strenger Formation tauchten die Bomberverbände wie ein Schwarm Hummeln über dem Felsen auf, öffneten ihre Luken, warfen ihre mörderische Fracht ab. Die erste Bombe schlug auf der Düne ein – eine Sprengbombe, die sich in den Strand fraß, bevor sie explodierte und einen Sandregen weit über die Reede schickte. Nun folgten die Einschläge im Sekundentakt. Bomben fielen wie ein Teppich vom Himmel herab,
durchschlugen den Felsen bis auf die Betondecke des Wehrmachtsbunkers, der acht
Meter unter der Erde lag. Trümmer schossen in die Höhe. Auf der Düne detonierte die Landebahn des Flugplatzes. Der U-Boot-Bunker Nordsee III bekam
schwere Treffer, schien aber zu halten. Im Hafen ging der Öl-Bunker in Flammen auf. Links und rechts des Schiffes explodierte das Wasser.
Wie durch ein Wunder war die Adolph Behrens bis jetzt verschont geblieben. Kapitänleutnant Mertens gab Befehl, das Schiff über die Nordreede zu steuern, und hoffte inständig, das offene Meer zu erreichen, bevor eine Bombe das Deck durchschlug. Von
der Brücke aus hatte er freie Sicht auf das Inferno. Ein Höllenspektakel! Flammen schlugen über dem Felsen in die Höhe. Überall brannten Häuser. Bomben mit Zeitzünder explodierten und schickten Rauchsäulen in den Himmel. Felsmassen stürzten rauschend in die Tiefe. Bald war die Insel in eine dicke schwarze Wolke
gehüllt, die aufs Meer hinauswaberte, das Schiff erfasste und in tiefe Dunkelheit
tauchte. Die Sicht war jetzt gleich null.
Mertens gab Befehl zum Kurshalten. Er hatte keine andere Wahl. Er musste das Unmögliche versuchen. Jetzt durchstieß das Schiff die Rauchwand, Mertens hatte wieder freie Sicht. Im nächsten Moment tauchten die Jagdflieger erneut auf, stießen auf das Deck hinab, schickten tödliche Salven hinunter, drehten ab und flogen eine Schleife, um gleich einen
neuen Angriff zu starten.
Elf Seemeilen nördlich der Insel ließen die Jäger endlich von ihnen ab. Mertens atmete auf, da detonierte der Bug des
Schiffes. Eine Wasserfontäne ergoss sich über das Deck, Stahlfetzen schossen berstend in die Luft und schlugen klatschend
ins Meer. Die war auf eine Mine gelaufen.
Grollend fraß sich der Rumpf bei voller Fahrt in die Tiefe. Wie schnell das ging! Das Heck
hob sich, Soldaten rutschten über das Deck, prallten vor die Reling und stürzten in den nassen Tod. Die Meeresoberfläche rauschte unaufhaltsam auf Mertens zu.
Es war vorbei.
Kapitänleutnant Mertens nahm seine Mütze ab und hielt sie vor die Brust. Für ihn gab es nichts mehr zu tun. Er hatte sein Bestes gegeben.
Kapitel 1: Seehundjäger Tamme Boysen
Hansman steuerte die kleine Cessna durch das Blau und machte einen geradezu entrückten Eindruck. Hier oben schien er mit der Welt im Reinen zu sein. Die Illusion
der Schwerelosigkeit und der Überwindung menschlicher Grenzen waren für ihn offenbar gleichbedeutend mit purem Glück. Tief unter dem Flugzeug schillerte die Nordsee in der Mittagssonne, sanfte
Wellen beugten die Strahlen und warfen sie flirrend zurück. Am Horizont tauchte grau der Umriss Helgolands aus dem Dunst auf. Über allem lag das gleichmäßige Brummen des Motors.
Leander drehte sich zu Franziska um. Auch sie war sichtlich ergriffen. Ihr Blick
wanderte abwechselnd nach links und rechts. Unten trieben wie Spielzeuge
Krabbenkutter vorbei, die Netze ausgefahren, Möwenschwärme im Gefolge. Eine Fähre steuerte auf den Felsen zu, von hinten näherte sich der Highspeed-Katamaran Halunder Jet mit seinen Passagieren aus Hamburg oder
Cuxhaven, in Richtung Festland zeichnete sich eine endlose Kette von
Containerschiffen ab, darüber zogen Seevögel ihre Bahnen, als folgten sie in professioneller Geschäftigkeit planmäßigen Kursen.
Als Franziska nun nach vorne blickte, trafen sich ihre und Leanders Augen. Sie lächelte und deutete mit dem Kopf zwischen ihm und Hansman hindurch auf den Umriss
von Deutschlands einziger Hochseeinsel, deren Farbe im nachlassenden Dunst nun
von Grau nach Rot wechselte und immer kräftiger wurde.
Leander nickte. „Wir sind gleich da.“ Franziska legte ihm eine Hand auf die Schulter und schloss kurz die Augen.
Drei Wochen Urlaub lagen vor ihnen: Spaziergänge zu den Vogelfelsen, Umrundungen der Düne mit Kegelrobben und Seehunden, lukullische Abende in den Mocca-Stuben und der Bunten Kuh, einundzwanzig romantische Nächte in einem Blockhaus auf einem Sandhaufen inmitten der Deutschen Bucht. Da
konnte man schon anfangen, vom Paradies zu träumen.
„Bereit für den Anflug?“, unterbrach Hansman die stillen Träume und sah Leander skeptisch von der Seite an.
„Allzeit bereit“, entgegnete der und lachte. Das konnte ihn jedoch selbst nicht über das mulmige Gefühl hinwegtäuschen, das sich auf seinen Magen legte.
Hansmans Skepsis war nicht unbegründet. Als Leander das letzte Mal vor zwei Jahren mit ihm und Mephisto
hierhergeflogen war, hatte er sich bei der Landung auf dem schmalen Handtuch,
das sich großmäulig Flugplatz nannte, fast in die Hose gemacht. Niemals, hatte er gedacht, würde die kurze Landebahn ausreichen, um das Fluggerät rechtzeitig vor dem Strand zum Stehen zu bringen. Auch diesmal sah es für ihn aus, als passe die kleine Cessna nicht einmal in der Breite auf diesen
sandigen Betonstreifen.
Franziska schien das nicht zu beunruhigen, sie machte einen geradezu
erwartungsfrohen Eindruck. Leander wunderte sich über ihr entspanntes Lächeln. Sie hatte offenbar nicht die geringste Ahnung, was für ein Abenteuer da gerade auf sie wartete. Oder sie hatte einfach mehr Mumm in
den Knochen als er.
Vor dem roten Felsen, der immer gestochener aus dem Dunst hervortrat, breitete
sich der gelbe Sandstreifen der Düne aus. Die Glaskanzel des gedrungenen Leuchtturms reflektierte die
Sonnenstrahlen, die ersten Seehunde wurden als schwarze Striche am Spülsaum sichtbar, Urlauber wimmelten klein wie Ameisen über den hellen Sand. Dahinter erhob sich das Dünenrestaurant mit seinem gelben Anstrich vor den grün bewachsenen, sanften Sandhügeln, zwischen denen ein grauer Streifen Beton hervorstach.
Und genau der Anblick dieses Streifens war es, der den Druck auf Leanders
Solarplexus nun deutlich erhöhte. Denn das, was von hier oben aussah wie ein besonders schmaler Fahrradweg,
war die Landebahn, die sich ihnen nun quer in den Weg legte.
„Da unten werden wir landen?“, kam es nun mit vollkommen ahnungsloser Stimme von Franziska.
Hansman nickte und grinste Leander an, der auf seinem Sitz immer kleiner wurde.
„Spannend.“ Franziska beugte sich neugierig zwischen den beiden Sitzen vor. „Das sieht ja tatsächlich fast unmöglich aus.“
Ungläubig starrte Leander sie an.
„Was ist?“, fragte sie und lachte. „Hast du Schiss?“
„Unsinn“, gab er gepresst zurück. „Nur Respekt.“
Hansman lachte laut auf und lenkte die Maschine mit einem Schwenker aufs Meer
hinaus, um dann direkt in einer starken Kurve wieder Kurs auf den Sandhaufen zu
nehmen. Die Cessna verlor rapide an Höhe, während sie in einem engen Bogen auf die Dünen zuschoss. Die Nase senkte sich bedrohlich, das Dünengras kam zum Greifen nah. Nun legte sich das kleine Flugzeug auf die Seite
und drehte auf die Landebahn ein. Der Betonstreifen raste auf sie zu, wurde
breiter, aber in Leanders Wahrnehmung dadurch nicht länger. Er krallte seine Hände in den Sitz und fühlte auf seiner Schulter, dass Franziska sich nun an ihm festhielt.
Im letzten Moment, kurz vor dem unvermeidlich tödlichen Aufschlag auf die Betonpiste, zog Hansman die Nase des Flugzeugs wieder
hoch. Sie setzte hüpfend mit den Rädern auf und sofort bremste der Pilot die Geschwindigkeit scharf herunter, so
dass Leander ruckartig nach vorne gerissen wurde. Das Flugplatzgebäude rauschte links an ihnen vorbei, das Ende der Landebahn raste auf sie zu, der
Begrenzungszaun vor dem Strand, der unmittelbar dahinter begann, sah seinen
letzten Sekunden entgegen.
Da ließ der Bremsdruck nach und die Cessna rollte langsam aus. Hansman drehte sie
direkt vor dem Zaun und fuhr im Schritttempo zurück zum Flugplatzgebäude.
Zischend ließ Leander die Luft ab, die er unmerklich angehalten hatte.
„Wahnsinn!“, kam es begeistert von Franziska. „Das war die spannendste Landung, die ich je erlebt habe. Vielleicht mit Ausnahme
von Nizza. Da hat man auch das Gefühl, mit dem Flugzeug ins Meer zu stürzen.“
Leander blickte sie fassungslos an und erkannte tatsächlich keinerlei Anspannung in ihrem strahlenden Gesicht. Sie hatte die ganze
Aktion genossen und nicht eine Spur von Angst gehabt.
„Wenn du das nächste Mal nach Helgoland fliegst und einen Platz frei hast, sag Bescheid“, forderte sie Hansman auf. „Dann komme ich wieder mit.“
Der Pilot lachte und zwinkerte Leander zu.
Die Tür des niedrigen Gebäudes, in dem sich die An- und Abflughalle befand, öffnete sich und Pia trat heraus. Leanders Herz machte einen Sprung, als er sie
erblickte.
Hinter ihr trat Lasse Thorgren durch die Tür ins Freie. Sein Äußeres hatte sich seit ihrem letzten Zusammentreffen noch mehr Leanders
Vorstellung von einem Naturburschen genähert: Der Pferdeschwanz war länger geworden, ein Stoppelbart bedeckte das wettergegerbte Gesicht, seine Figur
war geradezu drahtig, als absolvierte er täglich einen Marathonlauf, bei jeder Bewegung walkten stark ausgearbeitete
Muskeln unter seiner Haut. Leander blickte verschämt auf seinen eigenen Bauch, der in letzter Zeit an Umfang merklich zugenommen
hatte.
„Raus mit euch“, unterbrach Hansman seine Selbstbetrachtung. „Ich will so schnell wie möglich wieder zurück, weil ich später noch eine Buchung für einen Rundflug über Föhr und Amrum habe.“ Während Franziska und Leander aus der kleinen Maschine kletterten, zog er ihr Gepäck hervor und stellte es vor sie auf den Boden. „Bis in drei Wochen also?“, versicherte er sich, nickte auf Leanders Bestätigung, stieg wieder in die Cessna und startete den Motor. Er winkte noch kurz,
dann fuhr er bis zum Anfang der Rollbahn, wendete die Maschine und gab Gas.
Das kleine Flugzeug schoss nach vorne, raste auf das Ende der Landebahn zu und
hob direkt vor dem Zaun so plötzlich und steil ab, dass auch dem letzten Zweifler deutlich werden musste,
warum auf Helgoland nur Piloten landen durften, die den Start- und Landeanflug
auch hier vor Ort gelernt hatten.
Als die Cessna hinter den Dünen und über dem Meer verschwand, griff Leander nach zwei der Taschen und wandte sich in
Richtung des Flugplatzgebäudes. Pia und Lasse kamen ihnen ein Stück entgegen.
Leander setzte das Gepäck ab, umarmte seine Tochter wortlos und drückte Lasse fest die Hand. Er freute sich aufrichtig, auch den kernigen
Wissenschaftler wiederzusehen. Dann gab er den Weg frei und wollte seine
Begleitung vorstellen.
„Hallo, ich bin Franziska“, kam die ihm jedoch zuvor. „Und du bist Pia? Du kommst ja wohl eindeutig auf deine Mutter raus, so hübsch, wie du bist.“ Sie umarmte die Tochter ihres Freundes ungeniert.
Pia lachte und erwiderte die Umarmung, als wären sie alte Freundinnen. „Dich scheint er aber auch nicht verdient zu haben“, entgegnete sie.
Leander wunderte sich, wie schnell es bei Frauen gehen konnte, dass sie sich
sympathisch fanden. Er selbst war eher der verhaltene Typ, der immer erst mit
anderen warm werden musste und auch dann nicht zum Überschwang neigte.
„Mein Freund Lasse“, stellte Pia ihren Begleiter vor.
Auch ihn umarmte Franziska ungehemmt. Lasses Erwiderung wirkte allerdings
ungelenk, was Leander etwas beruhigte.
„Bei dem Wetter hattet ihr bestimmt einen angenehmen Flug.“ Lasse griff nach dem restlichen Gepäck und drehte sich damit um.
„Angenehm ist die Untertreibung des Jahrhunderts“, schwärmte Franziska, während Leander die anderen beiden Taschen anhob. „Blauer Himmel, blaues Meer und dazwischen wir. Da verstehe ich, warum das
Fliegen ein Menschheitstraum ist. Und die Landung erst! Davon kann man süchtig werden.“
„Süchtig?“, unkte Leander. „Na ja, ich weiß nicht.“
„Hat er wieder mal Panik geschoben?“, fragte Pia Franziska, als sei sie von ihrem Vater, dem Feigling, nichts
anderes gewohnt.
„Er hat sich in die Hosen gemacht“, bestätigte die augenzwinkernd.
Während die Frauen auf seine Kosten lachten, zuckte Lasse nur mit einem
Seitenblick auf Leander mit den Schultern. Einfach nicht hinhören, drückte die Geste aus.
Aber Leander hatte ohnehin nicht die Absicht, sich gleich den ersten Tag hier
draußen auf der Düne verderben zu lassen. Sollten die Frauen sich doch auf seine Kosten
beschnuppern. Was kümmert es die stolze Eiche, wenn sich ein Borstenvieh dran wetzt?, hörte er in Gedanken Mephistos Stimme. Recht hatte er!
Sie trugen ihr Gepäck in den Bungalow, der am Rande eines kleinen Feriendorfes lag und trotz seiner
kompakten Bauform sehr geräumig war. Es befand sich wie der Flughafen auf der ruhigeren Helgoländer Düne, nicht auf der Hauptinsel.
„Werdet ihr euch hier draußen auf diesem kleinen Sandhaufen mitten in der Deutschen Bucht nicht langweilen?“, erkundigte sich Lasse bei Leander.
„Auf gar keinen Fall“, kam Franziska ihrem Freund zuvor. „Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie stressig ein Urlaub an der Seite dieses Mannes
sein kann.“ Sie senkte die Stimme, als folgte nun ein geheimnisvoller Bericht. „Leichen pflastern seinen Weg! In den Jahren, seit ich ihn kenne, hat es keinen
Sommer gegeben, in dem er nicht in irgendeinem Mordfall ermittelt hat. Und
nicht selten hat er sich dabei selbst in Gefahr gebracht.“
„Na ja“, versuchte Leander zu relativieren, „es ist manchmal etwas eng geworden, aber so wirklich gefährlich …“
„Ist im letzten Jahr auf Sylt etwa nicht auf dich geschossen worden?“, beharrte Franziska. „Also, was mich angeht, ist mein Bedarf an Mord und Totschlag gedeckt. Für mich kann ein Urlaubsort gar nicht abgeschieden genug sein.“
„Dann ist die Düne genau der richtige Platz für euch“, sagte Pia lachend. „Mord und Totschlag hat es hier schon ewig nicht mehr gegeben. Die einzigen
Toten, die hier gefunden wurden, sind nach Stürmen und Schiffsuntergängen angespült worden.“
Franziska drehte sich nun ganz Leander zu. „Versprich mir eines“, sagte sie in ernstem Ton. „In diesem Sommer wird es keine Leichen geben.“
„Versprochen“, entgegnete Leander. „Sofern ich das beeinflussen kann.“
Franziska drohte mit dem Zeigefinger. „Keine Leichen, keinen Kriminalfall und keinerlei Gefahr! Ich warne dich!“
Leander hob halb resigniert, halb verzweifelt die Schultern und ließ sie wieder sinken. Gegen diese Ansage war er wehrlos, auch wenn er sich zu
Unrecht derart gemaßregelt fühlte. Was konnte er schließlich dafür, dass ihm ständig Mordopfer vor die Füße fielen?
Sie verabredeten sich mit Pia und Lasse zum Abendessen auf der Hauptinsel, dann
fuhren die beiden Wissenschaftler zurück, um ihrer Arbeit in der Hummer-Aufzuchtstation nachzugehen.
„Und was machen wir jetzt mit dem angefangenen Tag?“, fragte Leander und hoffte auf eine Antwort, die viel Ruhe versprach.
„Na was wohl? Du zeigst mir die Düne. Auf geht’s!“
Sie begannen ihren Rundgang an der kleinen Molen-Anlage des Dünenhafens und betraten von dort aus den Nordstrand. Überall am Spülsaum drängten sich fett und faul Kegelrobben dicht aneinander. Hin und wieder bewegte
sich eines der größten Raubtiere Deutschlands, robbte ein paar Meter vorwärts oder drehte sich einfach nur auf die Seite. Kamen sich die Tiere dabei ins
Gehege, grunzten sie grimmig und bissen mit ihren gewaltigen Hauern um sich.
„Toll“, staunte Franziska. „So nah bin ich noch nie einer Robbe gekommen.“
Sie wandten sich nach rechts und schlenderten durch den feinen Sand, den Blick
immer auf die grunzenden Tiere gerichtet. Zwischen den ausgewachsenen
fettleibigen Kegelrobben entdeckten sie überall Jungtiere, die im letzten Winter geboren worden waren und aus neugierigen
Augen auf die Urlauber schauten, die sich ihnen mit ihren Fotoapparaten bis auf
wenige Meter annäherten. Ein junger Ranger wies die Leute ununterbrochen darauf hin, dass sie
dreißig Meter Abstand zu halten hatten.
Je mehr sie sich auf die Ostspitze der Düne zubewegten, desto steiniger wurde der Strand. Leander erzählte Franziska von den roten Feuersteinen, die man nur hier auf Helgoland finden
konnte.
Die Ostspitze, die sogenannte Aade, war mit einem Holzzaun und einem
Betretungsverbot vor den Urlaubern geschützt. Von hier aus erreichten sie nun den Südstrand und erblickten die ersten Seehunde, die in deutlich kleineren Gruppen
als die Kegelrobben vor dem Spülsaum lagen. Einige Tiere tummelten sich im Wasser, schwammen auf und ab,
tauchten immer wieder, um einige Meter weiter an die Wasseroberfläche zurückzukehren, und behielten dabei die Urlauber am Strand immer im Blick.
Ein Mann mit einer Kapitänsmütze und einem auffälligen Kinn- und Backenbart stand wie ein unverrückbarer Pfeiler inmitten eines hoch aufgespülten Steinfeldes. Er stützte sich mit beiden Händen auf einen Stock und beobachtete eine Gruppe Jungtiere mit hellgrauem Fell
und dunklen Punkten.
„Tamme Boysen“, rief Leander erfreut aus und erklärte auf Franziskas fragenden Blick hin: „Tamme ist der ehemalige Leiter der Wasserschutzpolizei auf Helgoland. Seit er in
Pension ist, bekleidet er die Position des Seehundjägers.“ Als Franziska nun erschrocken die Augen aufriss, ergänzte er lachend: „Keine Angst, er schießt sie nicht, er kümmert sich um die Gesundheit der Tiere hier auf der Düne.“
Nun hatte Tamme Boysen auch ihn erkannt und wandte sich ihnen zu. „Henning?“ Er nickte knapp in Franziskas Richtung, ohne jedoch seinen grimmig wirkenden
Blick zu verändern.
Der Grimmbart war alt geworden, befand Leander. Umso bewundernswerter war es,
dass er immer noch so verantwortungsbewusst wie diszipliniert seiner Aufgabe
nachkam.
„Tamme“, grüßte Leander zurück. „Wie geht es dir?“
Der Seehundjäger zog eine gebogene Pfeife aus der Tasche, klemmte sie sich zwischen die Zähne, ohne sie jedoch anzuzünden, und antwortete an dem Mundstück der Pfeife vorbeigepresst: „Ich will nicht klagen. Ich bin nur nicht mehr so gut zu Fuß wie früher. Das Alter.“
Damit war offensichtlich alles gesagt, was es zwischen ihnen auszutauschen gab.
Er wollte sich schon wieder den Seehunden zuwenden, als Franziska ihn auf die
Bezeichnung Seehundjäger ansprach.
Die Reaktion war ein Grunzen, als hätte man einen alten Bären im Innersten getroffen. Wie sehr ihn die Frage aufwühlte, erkannte Leander auch daran, dass er für seine Antwort diesmal sogar die Pfeife aus dem Mund nahm: „Geht das schon wieder los? Jeder Begriff muss heute politisch korrekt sein. Als
würde ausgerechnet ich, der sein ganzes Leben dem Schutz von Menschen und Tieren
gewidmet hat, losziehen und Robbenbabys die Köpfe einschlagen!“ Als er Franziskas erschrockene Reaktion bemerkte, grunzte er etwas sanfter und steckte die Pfeife wieder in den
Mund. „Aber ihr könnt beruhigt sein: Seit Kurzem bin ich offiziell kein Seehundjäger mehr, sondern ein Ranger. Das ändert zwar nichts, erspart mir aber hoffentlich lästige Fragen.“
In dem Moment tauchte ein Kutter jenseits der Aade auf, der Tamme von Franziska
ablenkte und bei dessen Anblick sich seine Augen zu Schlitzen verengten.
„Was ist los?“, erkundigte sich Leander, dem die Veränderung in der Haltung des Seehundjägers nicht entgangen war.
Der nahm die Pfeife in die Hand und deutete damit über die Tiere hinweg auf das Schiff, vor dessen Führerhaus ein schwenkbarer Kran angebracht war. „Das ist die Marijke.“
„Ich verstehe nicht. Was ist mit dem Boot?“
„Wo die auftaucht, gibt es Ärger.“
Ohne eine nähere Erklärung wandte er sich ab und stakste grußlos durch den Kies davon.
„Merkwürdiger Typ“, reagierte Franziska eingeschüchtert. „Und verdammt empfindlich.“
„Tamme ist in Ordnung“, entgegnete Leander. „Normalerweise etwas wortkarg. Ich schätze, so viel wie eben spricht der sonst den ganzen Tag nicht.“ Er lachte, um den Druck von Franziska zu nehmen, und legte ihr beruhigend die
Hand auf den Arm. „Tamme ist ein Helgoländer Urgestein. Auf ihn ist absolut Verlass. Auf Helgoland passiert nichts, von
dem er nicht weiß. Und er fühlt sich immer noch für die Ordnung auf der Insel verantwortlich, obwohl er schon lange im Ruhestand
ist.“
Er blickte dem alten Mann nach, der nun festen Sand erreichte und so schnell,
wie es seine alten Beine zuließen, in Richtung Dünenhafen verschwand. Dabei beschlich auch Leander ein ungutes Gefühl. Wenn Tamme etwas derart aus der Ruhe brachte, musste man das ernst nehmen.
Der ehemalige Polizist hatte ein untrügliches Gespür für Gefahr.
Kapitel 2: Forscherdrang
Pia hatte einen Tisch auf der Terrasse des Restaurants Isola Bella reserviert, das auf dem Oberland am Falm lag. Diese Straße verlief wie eine Promenade entlang der Felskante zum Unterland, so dass sie
von hier aus freie Sicht über den Hafen und die Düne bis weit hinaus in die Deutsche Bucht hatten.
Während Franziska noch das Panorama bewunderte und sich darüber mit Pia und Lasse austauschte, studierte Leander bereits die Speisekarte und
hatte die Qual der Wahl.
„Seht euch diesen Banausen an“, kommentierte Pia ihren tief in die Speisekarte vergrabenen Vater. „Denkt wieder einmal nur ans Essen.“
„Nur bis ich satt bin, dann steht mir der Sinn auch wieder nach anderen Dingen“, schränkte Leander ein und zwinkerte Franziska zu, die lächelnd den Kopf schüttelte.
„Ihr züchtet also Hummer?“, wechselte die das Thema.
„Allerdings.“ Lasse beugte sich leicht vor und war sichtlich erfreut über ihr Interesse an seiner Arbeit. „Das Programm ist so erfolgreich, dass unsere Fischer die Restaurants der Insel
mit ausgewachsenen Hummern beliefern können, ohne den Bestand zu gefährden. Die vermehren sich selbst inzwischen sogar in beachtlichem Umfang da draußen.“ Seine Hand zog einen unbestimmten Kreis über die Deutsche Bucht.
„Aber ihr siedelt doch immer noch Jungtiere aus, oder?“, wandte sich Leander an Pia.
„Natürlich“, bestätigte die und schilderte Franziska, wie sie aussiedelungsreife Junghummer zu den
Offshore-Windparks hinausbrachten und am Fuß der Windräder ansiedelten. „Die künstlichen Riffe, die da unten entstehen, sind wertvolle Lebensräume für die Tiere. So ergänzen sich durch unser Projekt die Interessen von Wirtschaft und Ökologie.“
Der Kellner kam und nahm ihre Bestellung auf. Während Lasse und Pia Pasta-Gerichte und Franziska eine Platte mit
Fischvariationen und Garnelen auswählten, bestellte Leander ein Rumpsteak.
„Ihr seid heute Abend natürlich eingeladen“, verkündete er und erntete dafür ein dreihändiges Klopfen auf die Tischplatte.
„Wenn das so ist“, erklärte Franziska und klappte ihre Speisekarte zu, „nehme ich natürlich einen trockenen Weißwein dazu. Pia?“
„Ich auch.“
„Also eine Flasche“, bestellte Franziska.
„Und die Herren?“, fragte der Kellner.
„Bier“, beeilte sich Leander, als fürchte er, ebenfalls auf Wein festgelegt zu werden. „Ein großes!“
„Das nehme ich auch.“ Lasse sammelte die Speisekarten ein und überreichte sie dem Kellner.
„Kann man vielleicht einmal mit euch rausfahren?“, nahm Franziska das Gespräch wieder auf.
„Du meinst zu den Windparks?“ Pia freute sich sichtlich über ihr Interesse. „Von oben sieht man da aber nichts. Kannst du tauchen?“
„Wie man’s nimmt. Ich habe mal im Urlaub einen Tauchkurs auf Teneriffa gemacht. Aber ob
das reicht?“
„Für die Nordsee eindeutig nicht“, beschied Lasse. „Was ist mit dir, Henning?“
Leander rang um eine Antwort, sagte aber schließlich: „Ich war bei den Kampfschwimmern, bevor ich zur Polizei gegangen bin. Zur
Ausbildung gehört natürlich auch das Tauchen.“
„Du warst bei den Kampfschwimmern in Eckernförde?“ Lasse blickte ihn halb erstaunt, halb ungläubig an.
Leander nickte beiläufig und hoffte, das Thema wäre damit beendet, denn der Kellner brachte nun die Getränke.
„Ist das so etwas Besonderes?“, hakte Pia jedoch bei ihrem Freund nach.
„Na, und ob! Die Ausbildung ist nicht nur die härteste aller Truppenteile der Bundeswehr, die Kampfschwimmer sind auch noch eine
streng geheime Elite-Truppe!“ Lasses Bewunderung nahm augenscheinlich von Minute zu Minute zu. „Und warum bist du dann zur Polizei gegangen? Ich meine, das ist doch ein
unglaublicher Abstieg.“
„Lange Geschichte.“ Leander winkte ab.
„Du willst nicht darüber reden?“ Lasse nickte enttäuscht. „Gut, dann lassen wir das. Aber auf jeden Fall brauchen wir dir dann ja nichts
mehr beizubringen.“
„Das heißt, ihr nehmt uns wirklich mit zu den Hummerbänken?“ Franziska klatschte vor Begeisterung in die Hände. „Wann?“
Pia sah Lasse an, aber der schüttelte den Kopf. „Henning ja, aber du musst dann an Deck bleiben. Das ist kein Spaß da unten. Wir haben höchstens eine Stunde Grundzeit und fast keine Sicht. Außerdem ist die Strömung wirklich tückisch und ein Crashkurs reicht da nicht aus.“
Pia zuckte entschuldigend mit den Schultern, aber dann hellte sich ihr Gesicht
plötzlich auf. „Was meinst du, Lasse, könnten wir mit den beiden nicht wenigstens einmal vor der Düne tauchen?“
Lasse nickte. „Das geht natürlich.“
„Wann?“, hakte Franziska schnell nach, als habe sie Angst, dass es sich um ein leeres
Versprechen handelte.
„Was haltet ihr von morgen Nachmittag?“, schlug Lasse vor. „Um 15 Uhr am Strand vor dem Dünenrestaurant?“
„Henning?“ Franziska blickte Leander so erwartungsvoll an, dass er resignierend mit den
Schultern zuckte.
Er sah, dass Franziska sein Zögern nicht entgangen war. Skeptisch betrachtete sie ihn von der Seite. Da er
sich aber auf keinen Fall jetzt und hier erklären wollte, zwang er sich zu einem Lächeln.
„Also dann, Freunde!“ Franziska hob ihr Glas und prostete den anderen zu. „Auf einen spannenden Urlaub!“
„Irre ich mich oder wolltest du nicht einfach nur Ruhe haben?“, wandte Leander ein.
„Jetzt sei kein Spielverderber.“ Franziska knuffte ihn leicht in den Arm. „Tauchen ist ein Sport und Sport gehört eindeutig auch zu einem erholsamen Urlaub. Denk an deine Plauze!“
„Also gut“, Leander hob ebenfalls sein Glas, „auf drei erholsame Wochen und einen spannenden Tauchgang!“
Auf dem Weg zur Dünenfähre blieben Franziska und Pia im Lung Wai, der Bezeichnung für Langer Weg auf Halunder, immer wieder vor den Schaufenstern stehen. Leander
fragte sich, was an Schnaps und Zigaretten, die hier überwiegend ausgestellt waren, so interessant sein konnte, und ging mit Lasse
langsam voraus. Vor dem Fahrkartenhäuschen an der Mole setzten sie sich auf die Bank und warteten.
Im Hafenbecken lag ein merkwürdig aussehendes Boot vertäut, das Leanders Aufmerksamkeit auf sich zog. Es hatte Ähnlichkeit mit einem Kutter, wirkte aber mit seinem silbernen, lang gezogenen
Aufbau viel moderner und war mit viel Technik ausgestattet. Ein großes rundes Sonar erhob sich über dem Führerhaus und dahinter stach eine Art Ladebaum in den Himmel, der wie ein kleiner
Kran wirkte.
„Gehört das Schiff eurem Institut?“ Leander deutete mit dem Kopf hinüber.
„Nein. Unser Forschungsschiff ist viel größer und liegt beim Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven. Für unsere kleinen Tauchgänge hier vor Ort benutzen wir einen Kutter und ein Schlauchboot. Das Schiff da
drüben gehört einem Team Wracktaucher.“ Und auf Leanders fragenden Blick hin fuhr Lasse fort: „Die sollen in den nächsten Tagen für das Helgoland-Museum eine Netzsäge eines der alten U-Boote da unten bergen.“
„Netzsäge?“
Lasse nickte. „Auf dem Grund der Deutschen Bucht liegen jede Menge Wracks aus den Weltkriegen,
viele direkt hier vor Helgoland. Eines davon ist ein Minenleger-U-Boot. Na ja,
und das hat am Bug so eine Art Stahlsäge, um Seile und Netze zu zerschneiden. Die ist irgendwann abgerostet und liegt
nun da unten im Sand. Das ist natürlich ein tolles Exponat für unser Museum.“
Inzwischen waren Franziska und Pia bei ihnen angekommen. Die Frauen verstanden
sich prächtig und tauschten sich aus, als wären sie schon im Sandkasten Freundinnen gewesen.
Pia und Lasse winkten noch, als die Dünenfähre längst abgelegt hatte und auf die Hafenausfahrt zufuhr. Leander sah als Letztes,
dass Lasse einen Arm um die Hüfte seiner Tochter legte. Pia schien wirklich glücklich zu sein. Mehr konnte er als Vater nicht wollen.
Im Bungalow holte Franziska eine Flasche Roséwein aus dem Kühlschrank und brachte zwei Gläser auf die Veranda, ohne Leander zu fragen, ob er lieber ein Bier trinken wolle. Sie schien beschlossen zu
haben, so für ein Gemeinschaftserlebnis zu sorgen, was Leander durchaus recht war. Da
brachte er dann auch gerne einmal ein Opfer und trank Wein statt Bier.
In das Holzhaus links von ihnen war am Nachmittag eine Familie mit zwei kleinen
Kindern eingezogen. Durch die offenen Fenster drang das Quengeln der Kleinen,
die nicht ins Bett gehen wollten, überdeutlich nach draußen, während sich die immer ungeduldiger werdenden Eltern vergeblich bemühten, ihr Schimpfen innerhalb der vier Wände zu halten. Der Bungalow rechts war hell erleuchtet. Durch das Fenster konnte
er ein älteres Ehepaar sehen, das am Esstisch irgendein Rätsel zu lösen versuchte. Beide hatten Kugelschreiber in den Händen und wechselten sich mit den Eintragungen in das vor ihnen liegende Heft ab.
Aus der Tiefe des kleinen Dorfes, das die Holzhäuser bildeten, drangen Musik und Kinderstimmen, hin und wieder auch
Baby-Geschrei. Er war froh über die Randlage ihres eigenen Häuschens, die dazu führte, dass hier nur die junge Familie und das ältere Paar in den Nebenhäusern auf dem Weg zu ihrem Domizil vorbeikam. Zufrieden lehnte er sich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Nacken.
„Deine Tochter ist wunderbar“, setzte Franziska zu einem Gespräch an.
„Das finde ich auch.“
„Sie hat mir erzählt, dass ihr lange den Kontakt zueinander verloren hattet.“
Leander nickte.
Franziska wartete einen Moment auf eine Erklärung, als aber keine kam, hakte sie nach: „Lag das an dir?“
„Wahrscheinlich“, bekannte Leander. „Meine Ehe ist gescheitert, weil ich zu wenig Zeit für die Familie hatte. Ilka hat sich irgendwann einen anderen Partner gesucht, der
mehr Zeit für sie hat.“
„Sie ist Lehrerin“, ließ Franziska durchscheinen, dass Pia doch mehr erzählt hatte.
„Stimmt. Und sie hat sich mit einem Kollegen zusammengetan, während ich den Dienst an der Allgemeinheit für wichtiger gehalten habe.“ Das klang selbst für Leanders Ohren beleidigter, als es eigentlich gemeint war. „Wir haben uns getrennt, ich habe Lena kennengelernt und so ist jeder seiner Wege
gegangen. Die Kinder sind dabei auf der Strecke geblieben. Wir haben uns
regelrecht aus den Augen verloren.“
„Wie verliert man denn seine Kinder aus den Augen?“ Franziskas Blick verriet völlige Verständnislosigkeit.
Leander merkte sehr wohl, dass ihre Formulierung vor allem ihm die Schuld gab,
und zuckte unsicher mit den Achseln. Er konnte keine Antwort geben, die er
selbst nicht kannte, und er wollte sich auch nicht in künstliche Entschuldigungen flüchten. Franziska hätte ihn ohnehin durchschaut.
„Ich bin froh, dass Pia und ich uns vor ein paar Jahren hier auf Helgoland
wiederbegegnet sind“, gestand Leander. „Und ich hoffe, dass sie mir irgendwann verzeihen kann.“ Er nahm sein Glas und nippte nachdenklich daran.
„Ich bin mir sicher, dass sie das schon hat. Pia ist dir ähnlicher, als du vielleicht weißt. Sie nimmt die Dinge, wie sie sind.“
Leander sah seine Freundin von der Seite an und freute sich darüber, dass sie nicht nur klug und hübsch, sondern auch außerordentlich einfühlsam war. Wie hatte Pia gesagt? Er habe sie nicht verdient? Vermutlich hatte
sie Recht.
„Ich wünschte mir nur, dass ich auch zu meinem Sohn wieder einen solchen Kontakt
aufbauen könnte.“
„Hanno.“ Franziska nickte wissend.
„Sag mal“, Leander stellte sein Glas auf den Tisch und wandte sich ihr nun ganz zu, „was können sich Frauen eigentlich in so kurzer Zeit alles erzählen?“
„Das willst du gar nicht wissen“, entgegnete Franziska und lachte über sein entrüstetes Gesicht. „Wenn du mich fragst – ohne dass ich Hanno kenne, versteht sich –, dann wartet er genau wie du nur auf die richtige Gelegenheit, um wieder in
Kontakt zu kommen. Pia sieht das übrigens genauso.“ Sie zwinkerte ihm neckisch zu.
Leander zog zweifelnd die Stirn kraus.
„Sie steht jedenfalls in engem Kontakt zu ihm, und er weiß, dass wir hier sind“, ergänzte Franziska.
„Soso.“ Leander ließ ihre Worte einen Moment auf sich wirken. „Und was soll das jetzt heißen?“
„Gar nichts. Deine Schlussfolgerungen musst du schon selber ziehen.“
„Er könnte dann ja auch von sich aus mal auf die Idee kommen, seine Schwester zu
besuchen, wenn sein Vater ebenfalls auf der Insel ist“, reagierte Leander trotzig.
„Männer!“, war das Einzige, das Franziska dazu einfiel. „Eigentlich müsstet ihr mit Blitz und Donner auf die Welt kommen. Da ich dich aber inzwischen
ganz gut kenne, weiß ich, dass du viel empathischer sein kannst, als du tust. Und deshalb bin ich
mir sicher, dass du als Vater irgendwann den ersten Schritt machen wirst.“
Leander lehnte sich zurück, verschränkte die Hände im Nacken und blickte hinauf in den Sternenhimmel. In diesem Moment fühlte er, dass sie Recht hatte, auch wenn sein Stolz es noch nicht zuließ, Kontakt zu Hanno aufzunehmen. Mit Franziska hatte er wahrlich das große Los gezogen. „Weißt du eigentlich, wie sehr ich dich liebe?“, fragte er mit leicht heiserer Stimme.
„Wissen?“, antwortete Franziska ernst. „Nein. Wissen kann ich es nicht. Aber ich ahne es.“
Leander blickte sie verständnislos an. „Wieso kannst du es nicht wissen?“
„Weil du es mir so selten sagst.“
„Wenn man etwas immer aussprechen muss und nicht auch so vermitteln kann, ist es
nicht selbstverständlich.“
„Da hast du Recht. Liebe ist ganz und gar nicht selbstverständlich.“ Franziska schwieg einen Moment nachdenklich, als müsse sie abwägen, wie sie ausdrücken sollte oder durfte, was sie meinte. „Weißt du, Henning, Frauen wollen immer aufs Neue erobert werden. Sie wollen, dass
man um sie wirbt, weil es eben nicht selbstverständlich ist, dass Liebe dauerhaften Bestand hat. Denk an dich und Ilka.“
Leander spürte, dass genau hier der Unterschied zwischen Männern und Frauen lag. Er wusste aber nicht, wie er Franziska das plausibel
machen konnte. Ein Jäger hängt sich ja auch nicht die Trophäe an die Wand und schießt dann immer wieder auf sie. Das war zugegebenermaßen ein Vergleich, den er jetzt nicht aussprechen durfte. Dann wäre die Stimmung des Abends hin. Aber der Gedanke war immerhin abwegig und
verwegen genug, dass ihm ein Grinsen entwich.
„Was ist?“ Klar, dass Franziska mit ihren feinen Antennen mal wieder eine respektlose Überlegung vermutete. „Kann es sein, dass du mich nicht ernst nimmst?“
„Oh, doch, ich nehme dich sehr ernst“, entgegnete Leander schnell. „Aber weißt du, ich denke einfach, dass eine Liebe, die andauernd durch Aussprechen bestätigt werden muss, nicht gefestigt genug ist. Wenn du immer wieder mein
Bekenntnis haben willst, heißt das doch, dass du meine Liebe ständig anzweifelst, anstatt das nötige Vertrauen zu haben.“
Das ließ nun Franziska ausgiebig nachdenken.
„Außerdem“, ergänzte Leander schnell, „wie könnte ich dich nicht lieben? Du bist hübsch, intelligent und klug, was nicht dasselbe ist, liebevoll und manchmal sogar
zärtlich.“
„Soso, nur manchmal.“ Franziska nickte erkenntnisvoll. „Zugegeben, ich bin liebenswert. Aber wie ist das mit dir? Hübsch? Na ja. Intelligent? Ja, doch. Klug? Eher nicht, sonst würdest du mehr auf meine Bedürfnisse eingehen. Liebevoll und zärtlich?“ Nun wedelte sie mit dem Kopf hin und her. „Vielleicht kannst du mir das ja mal etwas öfter beweisen.“
Leander grinste. „Ich glaube, darauf könnten wir uns verständigen.“
Franziska drehte sich ihm zu und blickte ihm in die Augen. „Kann es sein, dass du Liebe und Sex verwechselst?“
„Wieso verwechselst?“ Er spürte selbst, dass sein Grinsen unverschämt wurde. „Ist das nicht dasselbe?“
„Du hast Recht“, erwiderte Franziska ernüchtert und wandte sich wieder ab. „Männer und Frauen sind sehr verschieden.“
„Das habe ich doch gar nicht gesagt!“
„Aber gedacht!“
Leander seufzte. Da war wohl Hopfen und Malz verloren. Aber vielleicht sollte er
sich ja wirklich mal bemühen, herauszufinden, ob es tatsächlich einen so gravierenden Unterschied zwischen Liebe und Sex gab, wie sie
immer behauptete. Er nahm sich vor, noch in dieser Nacht den ersten Feldversuch
zu starten, und hoffte inständig, dass Franziska ein ähnliches Forschungsinteresse entwickeln würde.
Tamme Boysen drehte, nachdem er seinen Weg um das Oberland absolviert hatte und über den Invasorenpfad zum Unterland abgestiegen war, die letzte Kontrollrunde
des Abends durch den Binnenhafen. Er blieb vor den Hummerbuden stehen, zog
seine Pfeife aus der Hosentasche, die er vorsorglich schon zu Hause gestopft
hatte, steckte sie sich zwischen die Zähne und entzündete sie mit einem Streichholz. Genüsslich zog er die Flamme in den Tabak und stieß dicke Rauchwolken aus. Er war zufrieden mit sich und der Welt und hatte sich
seine Pfeife redlich verdient.
Paffend betrat er den Holzbohlensteg und blieb wenige Meter weiter vor der Odyssee erneut stehen. Das Deck war leergeräumt, auch unter Deck schien sich niemand aufzuhalten. Tamme wusste natürlich, warum das Taucherteam auf Helgoland war. Er hatte den langen Vorlauf für die Bergung der Netzsäge, die von dem alten U-Boot abgerostet war, aufmerksam verfolgt. Auch freute er
sich über den Ausbau des Museums und darüber, dass es nun ein derart prominentes Exponat bekommen würde.
Und doch ergriff nun wieder dieses bohrende Gefühl von ihm Besitz, das er zum ersten Mal am Nachmittag gehabt hatte, als auch
die Marijke vor der Düne aufgetaucht war: die Ahnung einer drohenden Gefahr.
Kapitel 3: Tauchgang mit Robben
Kurz vor 15 Uhr näherte sich Lasses und Pias Kutter von der Reede aus dem Südstrand der Düne und ließ den Anker schließlich in sicherem Abstand zu den schwarzen Schotterbuhnen fallen, die den
Strandabschnitt schützen sollten. Pia stand an der Reling und winkte zu Leander und Franziska hinüber.
Auf dem Weg zum Spülsaum zogen die beiden Urlauber ihre T-Shirts aus, legten sie zusammen mit ihren
Handtüchern auf einem trockenen Sandhaufen ab und tasteten sich langsam in das
empfindlich kalte Wasser vor. Als sie nun nebeneinander hinausschwammen,
tauchte zwischen ihnen ein Seehund auf, blickte kurz nach links und rechts und
tauchte dann genauso schnell wieder ab, wie er gekommen war.
„Meinst du, die beißen?“, fragte Franziska.
„Warum sollten sie das tun?“, entgegnete Leander. „Wir sind doch keine Gefahr für sie.“
„Hauptsache, die wissen das auch.“
„Falls du übrigens pinkeln musst“, sagte Leander, „machst du das besser jetzt hier im Wasser.“ Und auf Franziskas verständnislosen Blick hin ergänzte er: „Die beiden werden dir gleich schon erklären, warum.“
Als sie den Kutter erreicht hatten, ließ Lasse eine Leiter hinab und hängte sie in die Bordwand ein. Leander half Franziska hinauf und kletterte dann
selbst an Deck.
„Puh, ist das Wasser kalt!“ Franziska klapperte mit den Zähnen.
„Keine Angst, dir wird gleich wieder warm, wenn du dich in den Anzug zwängst“, versprach Pia lachend.
„Wir tauchen heute mit euch bei den Seehunden, weil das vergleichsweise ungefährlich ist“, erklärte Lasse. „Auf der anderen Seite der Düne bei den Kegelrobben würden wir das nicht machen. Das ist auch nur zu Forschungszwecken erlaubt.
Kegelrobben sind nämlich nicht nur wilde Tiere, sie sind auch extrem gefährlich.“
„Am Strand glaubt man das gar nicht“, wandte Franziska ein. „Da liegen sie einem ja geradezu im Weg und bewegen sich nicht weg, wenn man
kommt.“
Pia nickte. „Das stimmt. Sie suchen inzwischen sogar regelrecht Kontakt zu den Menschen. Das
darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihre Angriffe tödlich sein können. An Land wirken sie behäbig, im Wasser sind sie aber trotz ihrer bis zu 300 Kilo elegante und wendige
Schwimmer.“
„Seehunde sind dagegen in der Regel absolut harmlos“, ergänzte Lasse. „Ihr werdet sehen, dass sie sogar Spaß daran haben, wenn sie mit uns ihre Spielchen treiben können. Seid aber trotzdem vorsichtig und fasst sie nicht an. Auch Seehunde sind
wilde Tiere und können unberechenbar reagieren.“
„So, genug der warnenden Worte“, rief Pia. „Lasst uns sehen, dass wir ins kühle Nass kommen.“
„Ich hoffe, ihr wart vorher auf der Toilette“, sagte Lasse ernst. „Wenn mir einer von euch in den Tauchanzug pinkelt, war das unser erster und
letzter gemeinsamer Tauchgang.“
„Waren wir“, erwiderte Leander und zwinkerte Franziska grinsend zu, deren Wangen sich
leicht rot färbten.
Während Lasse Leander in den schweren, dicken Tauchanzug half, unterstützte Pia Franziska. Leander streifte die Flossen über seine Füßlinge. Das Material des Anzugs war steif und absolut luftundurchlässig, und so fühlte Leander schon nach wenigen Sekunden, wie ihm in der Sonnenglut an Deck der
Schweiß in Strömen am Körper hinablief. Dazu kamen das Gewicht des Bleigürtels, den Lasse ihm umlegte, und das der Flasche, die ihm nun auf den Rücken gehievt wurde und seinen Körper regelrecht auf die Planken presste. Zuletzt reichte er ihm den
Lungenautomaten über die Schulter.
Pia erklärte Franziska während des Ankleidens die einzelnen Ausrüstungsgegenstände und fand in ihr eine faszinierte und hoch konzentrierte Schülerin. „Wir tauchen heute ohne Funk“, sagte sie schließlich. „Deshalb müsst ihr euch die Handzeichen einprägen, mit denen wir uns unter Wasser verständigen.“ Sie machte die notwendigen Zeichen vor, erklärte ihre Bedeutung, ließ sie sich vor allem von Franziska wiederholen und übte sie dann mit ihr einige Male.
„Und noch etwas musst du wissen, Franziska“, sagte Pia. „Beim Tauchen steigt mit jedem Meter Wassertiefe der Druck: ein Bar pro zehn
Meter, um genau zu sein. Dadurch wird in deinem Körper Stickstoff angereichert, der erst im Laufe von 24 Stunden nach dem
Tauchgang wieder vollständig abgebaut wird. Die Tauchzeit ist daher begrenzt und man muss beim Auftauchen
Dekompressionsstopps einlegen. Dabei lösen sich bereits Gasbläschen aus deinem Gewebe. Tauchst du zu schnell aus großer Tiefe auf, wird der Druck nicht wieder abgebaut und es kann zu Schäden an deinen Organen kommen. Lungenbläschen platzen, im schlimmsten Fall reißt deine Lunge. Die sogenannte Taucherkrankheit kann tödlich enden.“
„Ich hatte ja keine Ahnung, dass Tauchen so gefährlich ist“, reagierte Franziska erschrocken.
„Keine Angst, das gilt vor allem für Tauchgänge in große Tiefen oder wenn du aus geringerer Tiefe mehrfach ohne Deko-Stopps auftauchst“, versuchte Leander, sie zu beruhigen. „Trotzdem solltest du das nur im absoluten Notfall machen.“
„Wir werden heute auch gar nicht so tief tauchen“, ergänzte Pia, „und nur die sogenannte Nullzeit unten bleiben, also die Zeit, nach der keine
Deko-Stopps nötig sind. Was wir aber auf jeden Fall machen werden, ist der Sicherheitsstopp in
drei Metern Tiefe für etwa drei bis fünf Minuten. Dadurch wird die Stickstoffsättigung im Körper reduziert.“ Sie blickte Franziska fragend an. „Alles klar soweit?“
„Klingt kompliziert“, antwortete die.
„Deshalb fangen wir ja auch mit der Nullzeit an“, sagte Lasse. „Du wirst sehen, das ist im Grunde ganz einfach, und du wirst es ganz schnell
draufhaben.“
Franziska runzelte zweifelnd die Stirn.
„Mach einfach, was die beiden dir da unten anzeigen, und orientiere dich an mir“, versuchte Leander, sie zu beruhigen. „Dann kann überhaupt nichts passieren.“
Inzwischen halfen sich Pia und Lasse gegenseitig in die Anzüge, was deutlich schneller und geübter vonstattenging. Bei den beiden saß jeder Handgriff. Franziska und Leander sahen ihnen schweigend zu und hatten
genug damit zu tun, Gewicht und Hitze auszuhalten, während sie nebeneinander an der Bordwand lehnten. Franziska war die
personifizierte Anspannung. Sie wirkte gleichermaßen unsicher und erwartungsvoll.
„Wir lassen uns zunächst gemeinsam etwa fünf Meter absinken“, erklärte Pia. „Dann schwimmt Henning direkt neben Lasse, und du, Franziska, bleibst immer an
meiner Seite und versuchst, die Tiefe zu halten. Okay?“ Sie machte mit Daumen und Zeigefinger das entsprechende Zeichen, das Franziska
genauso erwiderte.
Dann war es endlich so weit. Sie setzten ihre Masken auf, klemmten die Mundstücke der Lungenautomaten zwischen die Zähne und machten ein paar tiefe Züge. Pia stieg vorwärts die Leiter hinab und ließ sich den letzten Meter mit den Füßen zuerst ins Wasser fallen. Lasse half zunächst Leander, anschließend Franziska und folgte schließlich selbst.
Das Eintauchen in die kalte Nordsee rief schlagartig Erinnerungen in Leander
wach. Er hatte gelernt, sich rückwärts ins feuchte Element zu stürzen und darauf zu vertrauen, dass er nicht ins Bodenlose fiel. Und doch war
sein letzter Tauchgang so viele Jahre her, dass die Urinstinkte stärker waren und einen Schreckmoment erzeugten. Das Wasser schlug über ihm zusammen, aber Sekunden später war er wieder an der Oberfläche und hielt sich mit Hilfe seiner Flossenschläge auch dort. Langsam sickerte das kalte Wasser durch das Neopren, was ihn frösteln ließ, aber schon bald passte es sich der Körpertemperatur an. Das laute Zischen seiner Atemgeräusche war das Einzige, was er hörte. Durch das Glas der Taucherbrille, an dessen Außenseite das Wasser abperlte, blickte er zu Franziska hinüber. Pia stand regelrecht im Wasser, als hätte sie festen Boden unter den Flossen, und machte ihr vor, wie man seine Atmung
beruhigen und damit mehr Kontrolle über den eigenen Körper bekommen konnte.
Seine Freundin war in guten Händen und so konnte Leander sich guten Gewissens um sich selbst kümmern. Er musste die Beklemmung loswerden, die seit einem verhängnisvollen Vorfall damals bei den Kampfschwimmern immer dann aufkam, wenn er
sich unter Wasser begab. Deshalb zwang er sich, ruhig und lang ein- und
auszuatmen. Lasse gab ihm das Signal, ihm zu folgen. Okay, signalisierte
Leander, ließ sich vornüberkippen und von den Bleigewichten in die Tiefe ziehen.
Das Wasser war hellgrün und von gleißenden Sonnenstrahlen durchzogen. Allerdings konnte er nur wenige Meter weit
sehen, da Plankton, Algen und Sedimente es stark eintrübten. Schon nach wenigen Metern ließ die Helligkeit deutlich nach. Leander sah sich nach Franziska um, aber Lasse
stieß ihn an und gab ihm Zeichen, sich von nun an nur noch auf sich selbst zu
konzentrieren. Leander signalisierte, dass er verstanden hatte. An Bord eines
Schiffes und unter Wasser gab es nur einen, der die Kommandos gab, und hier war
eindeutig Lasse der Boss.
Sie glitten mit sanften Flossenschlägen voran, das Atmen durch die Lungenautomaten übertönte jedes andere Geräusch: ein lang gezogenes Zischen beim Einatmen, lautes Blubbern beim Ausatmen.
Ein Seehund tauchte in ihrem Blickfeld auf, schwamm direkt auf sie zu und drehte
kurz vor ihnen seitlich ab. Leander fing einen Blick aus schwarzen Knopfaugen
auf. Immer wieder schossen die wendigen Tiere vor und neben ihnen durch das
Wasser. Sie hatten ihren Spaß mit diesen merkwürdigen Wesen, die sich so schwerfällig in ihrem Element bewegten.
Nach einigen Metern löste sich der Umriss einer dicken, mit Algen bewachsenen Kette aus dem trüben Grün. Lasse deutete darauf und gab Zeichen, daran entlang weiter abzutauchen. Leander kippte
den Oberkörper direkt vor der Kette vornüber und tauchte hinter Lasse senkrecht hinab, bis sie den Meeresboden erreichten. Hier verschwand das Ende der Kette im Sand. Leander schaute
zurück und beobachtete, wie nun Pia und Franziska langsam entlang der Kette in die
Tiefe tauchten. Gleichmäßig bewegte sich seine Freundin in dieser für sie neuen Umgebung. Ihr Oberkörper blieb starr, während ihre Hüfte sanft rollend die Bewegungen der Flossen unterstützte. Hätte er nicht gewusst, dass es ihr erster Tauchgang in der Nordsee war, hätte er es ihr nicht angemerkt.
Hier unten ging eine leichte Strömung, aber Leander hatte keine Mühe, die Position zu halten. Überhaupt kam ihm inzwischen alles wieder so vertraut vor, als hätte er während der letzten Jahre nie etwas anderes getan, als zu tauchen.
Pia deutete auf die beiden Männer und schwamm neben Franziska zu ihnen hinüber. Sie ordneten sich im Kreis zueinander an und hockten so eine Zeitlang mit
vor der Brust verschränkten Armen kniend auf dem Grund der Nordsee. Dicke Tangblätter bewegten sich leicht in der Strömung, Fische schwärmten vorbei, Seehunde jagten nach ihnen. Einige wandten sich nun den Tauchern
zu und begannen damit, sie zu umkreisen. Dabei kreuzten sie ihre aufsteigenden
Luftblasen und schienen sich über die Abwechslung tatsächlich zu freuen. Wie Lasse und Pia schon vorhergesagt hatten, zeigten sie
keinerlei Scheu und blickten direkt in die Taucherbrillen. Neugierig
inspizierten sie die Taucherflossen, berührten sie mit den Nasen und stießen Zisch- und Blubbergeräusche aus, die von Luftblasen begleitet wurden. Ein Seehund schwamm auf
Franziska zu und stupste mit seiner Nase sanft an ihre Brille. Dann drehte er
sich auf der Stelle um die eigene Achse und wedelte flossenschlagend wieder
davon.
Leander fing den Blick seiner Freundin auf. Ihre Augen strahlten und sie gab ihm
das Zeichen mit Daumen und Zeigefinger, das Leander mit derselben Geste
beantwortete. So viel war in diesem Moment klar: Franziska genoss das
Tauchabenteuer in vollen Zügen. Und auch Leander fühlte sich hier unten sauwohl. Darüber freute er sich genauso wie über den Spaß, den seine Freundin hatte.
Pia gab Franziska nun das Zeichen, ihr zu folgen. Sie schwamm zur Kette zurück, tauchte daran langsam und gleichmäßig hoch und achtete immer darauf, dass die Tauchanfängerin einigermaßen an ihrer Seite blieb. Etwa drei Meter unter der Wasseroberfläche hielt sie inne und signalisierte Franziska durch Tippen auf ihre Taucheruhr
und fünf abgespreizte Finger, auf dieser Höhe fünf Minuten zu warten.
Lasse und Leander folgten und machten es ihnen nach. So übten sie nun auf einfache und ungefährliche Weise eine Dekompression. Fünf Minuten später signalisierte Lasse okay und sie durchbrachen gemeinsam die Wasseroberfläche. Die Kette hatte sie direkt zu der Boje geführt, die man vom Südstrand aus sehen konnte.
Die Frauen befanden sich bereits wieder auf dem Rückweg zum Kutter. Sie schwammen nebeneinander durch die sanft rollenden und
platschenden Wellen, ihre Bewegungen wirkten deutlich weniger elegant als unter
Wasser. Die Männer folgten ihnen zur Leiter des Bootes. Nun begann der mühsame Aufstieg an Deck, und so wurde Leander erst jetzt wieder bewusst, wie
schwerelos sie trotz der Geräte und des Bleigürtels durch den Auftrieb des Anzugs im Wasser gewesen waren.
Als sie sich schließlich schwer atmend gegenseitig von den Flaschen befreit hatten und sich mühsam aus ihren nassen Anzügen pellten, waren sie bereits wieder schweißüberströmt. Ächzend ließen sich Franziska und Leander an der Reling auf die Planken sinken, während Pia und Lasse den Eindruck vermittelten, als wäre das alles geradezu mühelos gewesen. Leander musste sich angesichts der durchtrainierten jungen Leute
neidvoll eingestehen, dass er nicht mehr in Form war.