Fighting to breathe - Aurora Rose Reynolds - E-Book

Fighting to breathe E-Book

Aurora Rose Reynolds

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Beschreibung

Als sich Lea Lamb und Austin Wolf ineinander verliebten, waren sie jung genug, um an ein Für immer zu glauben. Bis Leas Vater bei einem tragischen Bootsunglück ums Leben kommt. Überwältigt von dem Schmerz und der Angst, Austin auf dieselbe Weise zu verlieren, flüchtet sie vor ihrer gemeinsamen Zukunft. Austin ist wütend. Fünfzehn Jahre lang war er sicher, dass Lea ihn verlassen hatte, ohne je einen Blick zurückzuwerfen. Als sie in ihre Heimatstadt zurückkehrt, sieht er sich jedoch mit einer anderen Wahrheit konfrontiert. Nun muss er entscheiden, ob er an seiner Wut festhalten oder um die Frau kämpfen will, die er immer noch liebt ...

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Seitenzahl: 323

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Aurora Rose Reynolds

© Die Originalausgabe wurde 2015 unter dem

Titel Fighting to breathe von Aurora Rose Reynolds veröffentlicht.

© 2022 Romance Edition Verlagsgesellschaft mbH

8700 Leoben, Austria

Aus dem Amerikanischen von Carina Egger

Covergestaltung: © Cornelia Pramendorfer

Titelabbildung: © dekazigzag

Redaktion: Romance Edition

ISBN-Taschenbuch: 978-3-903278-98-1

ISBN-EPUB:978-3-903278-99-8

www.romance-edition.com

Dieses Buch sei all jenen gewidmet, die gekämpft, gesiegt, die wir verloren haben, aber nie vergessen werden. (*)

Wenn man auf den Ozean hinausblickt, vergisst man manchmal, wie gefährlich er ist. Die See ist wie eine Frau; man muss sie respektieren, darauf hören, was sie einem sagt, und man sollte niemals daran zweifeln, dass sie die Macht hat, dich zu zerstören.

Lea

»Das sieht so schön aus«, flüstere ich mit Blick zum wolkenlosen Nachthimmel hinauf und kuschle mich enger an Austins Seite. Ich könnte schwören, jeden einzelnen Stern zu erkennen.

Austin brummt zustimmend, was mich zum Lächeln bringt. Er lässt seine Finger in beruhigenden Zügen meinen Arm hochwandern.

»In zwei Wochen machen wir unseren Abschluss«, bemerke ich und bei der Vorstellung, was das für uns bedeutet, beginnt ein Schwarm Schmetterlinge in meinem Bauch zu tanzen. Seit ich sechzehn bin, sind Austin und ich ein Paar. Am Anfang unserer Beziehung gaben wir uns das Versprechen, zu heiraten, sobald wir die Highschool abschließen. Viele Leute würden behaupten, dass wir zu jung dafür sind, aber schon bei unserer ersten Begegnung wusste ich, er würde eines Tages mein Mann werden.

»Lea Wolf«, sagt er und die Schmetterlinge in meinem Innern flattern noch wilder umher.

Ich rutsche hoch, lege die Hände auf seine Brust und bette das Kinn auf ihnen, dann mustere ich Austins Gesicht. Er erschien schon immer älter, als er eigentlich ist. Sein dunkelblondes Haar ist ein bisschen zerzaust, sein Kinn stets von einem Dreitagebart bedeckt und seine Lippen sind voll und weich. Mein Blick trifft auf seinen. Ich möchte für immer in diese Augen schauen. Sie sind mir das Liebste an ihm. Die kristallblaue Iris erinnert mich an die Gletscher in der Nähe meines Zuhauses, einem der schönsten Orte dieser Welt. »Du wirst meine Frau werden, Lea. Bist du dafür bereit?« Austin streicht liebevoll mit den Fingern über meine Wange zu meinem Kinn, bevor er mit dem Daumen über meine Unterlippe fährt.

»Sowas von bereit«, bestätige ich und betrachte den Hauch von Nervosität in seiner Mimik. Vermutlich befürchtet er wieder einmal, dass ich in der Zukunft mehr vom Leben wollen könnte, als die Frau eines Fischers zu sein. Womit er sich irrt, denn Austin ist alles, was ich will. Solange ich ihn habe, brauche ich nichts anderes.

»Abschlussfeier, dann Vegas«, knurrt er und zieht mich hoch, damit ich ganz auf ihm liege.

»Abschlussfeier, dann Vegas«, stimme ich lächelnd zu, als er mich mithilfe seiner Hand auf meinem Hinterkopf näher zu sich zieht, bis wir uns denselben Atem teilen.

»Ich muss dich nach Hause bringen«, flüstert er an meinen Lippen, dreht mich auf den Rücken und küsst mich.

Ich seufze, als er wieder von mir ablässt. »Ich wünschte, wir könnten die ganze Nacht hierbleiben.«

»Ich auch, Baby. Sobald der Sommer beginnt, schlafen wir auf dem Boot in der Mitte des Ozeans, direkt unter den Sternen. Versprochen. Da draußen wird dir kein Stern entgehen.«

»Das würde mir gefallen«, antworte ich, schlinge die Arme fester um ihn und drücke ihn an mich. Einen kurzen Moment bleiben wir so, dann löst er sich von mir. Nachdem er von der Ladefläche seines Trucks gestiegen ist, streckt er mir die Hand entgegen, um mir von unserem Liebesnest hinunterzuhelfen.

Als wir das Haus meiner Eltern erreichen, parkt der Wagen des Sherriffs in der Einfahrt. »Was ist los?«, frage ich verwirrt.

»Keine Ahnung«, murmelt Austin und steigt aus. Er umrundet die Kühlerhaube, öffnet mir die Beifahrertür und hebt mich hinaus. Sacht stellt er mich auf die Füße, ehe wir zusammen die Eingangsstufen hochgehen. Im Haus verwandelt sich meine Verwirrung in Sorge, weil ich meine Mom auf der Couch sitzen sehe. Schluchzend wiegt sie ihren Oberkörper vor und zurück.

»Was ist passiert?«, will ich wissen, woraufhin Sheriff Jefferson in meine Richtung sieht. Auch Mom hebt den Blick. Tränen laufen über ihre Wangen und sie fängt an, krampfhaft den Kopf zu schütteln.

»Setz dich bitte«, meint Sherriff Jefferson in einem Ton, den ich noch nie zuvor von ihm gehört habe. Er streckt mir die Hand hin.

»Mom?«, wispere ich und spüre, wie sich ein Knoten in meinem Magen bildet. Schützend legt Austin einen Arm um mich und zieht mich nah an seine Seite.

»Ich ...« Moms Stimme bricht und mit einem weiteren lauten Schluchzen bedeckt sie das Gesicht mit den Händen. Bei dem Geräusch wird meine Brust eng und das Atmen fällt mir immer schwerer.

»Was ist passiert?«, fragt Austin, während ich mich an ihn drücke. Ich ahne, was der Sherriff sagen wird, dennoch kann mich nichts auf seine Nachricht vorbereiten.

»Es tut mir leid, Lea. Dein Vater gilt derzeit als vermisst. Er hat heute Nachmittag ein Mayday abgesetzt; an Bord muss es einen Brand gegeben haben. Als die Küstenwache sein Boot fand, war es leer, so auch das Rettungsboot. Sie suchen immer noch das Wasser nach ihm ab, aber bei den Temperaturen sieht es nicht gut aus.« Sherriff Jeffersons Worte schnüren mir die Luft weiter ab, bis ich um jeden Atemzug kämpfe.

»Es besteht noch Hoffnung, nicht wahr? Er könnte am Leben sein?«, flehe ich und beginne, am ganzen Leib zu zittern.

»Es besteht immer Hoffnung«, versichert Austin und drückt mich noch fester an sich.

Er behielt nicht recht. Mein Vater wurde nicht gefunden, sein Körper nie geborgen. Das Feuer hatte sich vermutlich so schnell auf dem Boot ausgebreitet, dass ihm keine Zeit blieb, um seinen Survivalanzug anzuziehen und sich auf das Ruderboot zu retten. Er landete schließlich im Wasser und war entweder ertrunken oder erfroren.

Lea

15 Jahre später ...

»Lea, atme«, rede ich mir selbst gut zu, als ich mein Auto auf die Fähre lenke, die mich von Anchorage nach Cordova bringen wird. Ich fürchte mich nicht vor dem Ozean, aber ich weiß, wie gefährlich er sein kann, wenn man ihm ausgeliefert ist. Sobald ich meinen Wagen abgestellt habe, steige ich aus und gehe zur Reling hinüber. Das Wasser liegt ruhig unter uns, als die Fähre aus dem Hafen ausläuft. Ich hätte nie gedacht, dass ich noch mal einen Fuß in meine Heimat setzen würde. Ich bin so viele Jahre fort gewesen und wäre noch länger weggeblieben, hätte mir Mom nichts von ihrer Krebsdiagnose erzählt. Als sie anrief und mir mitteilte, dass sie in dem Haus bleiben möchte, in dem sie zusammen mit Dad gelebt hatte, konnte ich nicht anders, als ihrem Wunsch zu entsprechen. Auch wenn das bedeutete, an einen Ort zurückzukehren, den ich hinter mir gelassen hatte; und auf Leute zu treffen, die ich damals zurückließ. Hoffentlich würde ich Austin nicht in die Arme laufen. Was möglich war, wenn sich die Stadt, in der ich aufgewachsen bin, mittlerweile in Manhattan verwandelt hat. In diesem Fall stünden die Chancen nicht schlecht, ihn nie wiedersehen zu müssen.

Als mein Vater vor fünfzehn Jahren von uns ging, lastete das Gewicht dieses Verlusts schwer auf mir. Es erdrückte mich. Mir wurde klar, dass sich das Leben von jetzt auf gleich ändern und einem eine geliebte Person genauso plötzlich weggenommen werden kann. Nach diesem Unglück konnte ich unmöglich mit Austin in Alaska bleiben. Nicht mit dem Risiko, dass auch ihm etwas passieren könnte. Als ich ihm damals sagte, das Land verlassen zu wollen, wusste ich, dass er niemals mit mir kommen würde. Seine Familie fischte seit Generationen in Alaska.

Er war mit der Liebe zur See aufgewachsen. Sein Dad hatte ihm das Fischen beigebracht, der lernte es wiederum von seinem Vater, und irgendwann wollte Austin diese Leidenschaft an seine eigenen Kinder weitergeben. Ich konnte ihn nicht darum bitten, mich zu wählen, also ließ ich ihn zurück. Ihn und einen Teil von mir. Ich konnte nur hoffen, mit den Überresten gut durch mein Leben zu kommen.

Mich leicht über die Reling lehnend, blicke ich hinunter ins tiefe Blau des Ozeans und strecke die linke Hand aus. Vor fünf Jahren habe ich geheiratet, in dem Glauben, Ken könnte mich wieder ganz machen. Jene Lücken füllen, die durch den Verlust meines Vaters und dem Ende meiner Beziehung zu Austin entstanden sind. Dad hätte gewollt, dass ich glücklich werde. Während der Telefonate mit meiner Mutter hörte ich heraus, dass auch Austin weitergezogen war. Ich war entschlossen, dasselbe zu tun, und gab die Hoffnung auf, dass er mir eines Tages folgen würde. Unsere gemeinsame Zeit war schlussendlich doch nicht mehr als eine jugendliche Liebelei.

Ich versuchte, Ken alles von mir zu geben und unsere Ehe am Laufen zu halten, aber am Ende scheiterte ich und er fand bei einer anderen, wonach er suchte. Was wehtat, wie sollte es das nicht? Aber es war nicht der Verlust unserer Beziehung, was schmerzte. Es lag an der Tatsache, dass meine Vorstellung von uns ruiniert worden war. Vielleicht war ich selbst daran schuld, denn ich gelobte ihm etwas vor Gott, hielt es aber nicht ein.

Ich streife meinen Ehering vom Finger. Mit Tränen in den Augen lasse ich das Stück Metall fallen und sehe zu, wie es der Ozean verschlingt. Dann senke ich die Lider. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um mich selbst zu bemitleiden. Es gibt kein Zurück mehr. Mom braucht mich. Ich muss mich zusammenreißen und mich um sie kümmern. Das schulde ich ihr. Nach meinem Umzug flog sie alle paar Monate zu mir nach Montana, um mich zu besuchen. Seit dem Verlust meines Vaters ist sie nicht mehr dieselbe. Keine Ahnung, wie ich mit ihrer Krankheit umgehen soll oder mit der Tatsache, dass ich auch sie verlieren werde. Es gibt einen Weg, da bin ich sicher. Wenn ich überleben will, muss ich ihn finden.

»Lea?« Ich öffne die Augen und schaue zur Seite. »Lea Lamb?«, fragt eine Frau neben mir, und ich ziehe verwirrt die Brauen zusammen. »Rhonda.« Sie deutet lächelnd auf sich selbst. »Wir sind zusammen zur Schule gegangen.«

»Rhonda?«, wiederhole ich erstaunt und mustere sie genauer. Ich kann kaum fassen, dass die umwerfende Frau vor mir das mollige Mädchen aus meiner Erinnerung ist, das damals recht zurückhaltend war und nur wenige Freundschaften geschlossen hat. Ihr rotes Haar schmeichelt ihrem hellen Teint und umrahmt ihr rundes Gesicht, betont die ausgeprägten Wangenknochen, ihre Stupsnase und vollen Lippen. »Wie geht es dir?«, erkundige ich mich und drehe mich ihr zu.

»Gut ... großartig sogar.« Mit einem breiten Lächeln senkt sie die Hand auf ihren Bauch. Erst beim zweiten Mal hinsehen, bemerke ich, wie groß und rund er ist. Ein stylischer Mantel kaschiert ihr heranwachsendes Mutterglück gut.

»Du siehst wunderschön aus.«

»Du auch, so wie früher schon.« Plötzlich winkt sie jemandem hinter mir zu, und als ich einen Blick über meine Schulter werfe, sehe ich einen gutaussehenden Mann auf uns zukommen. Er trägt Jeans, einen Hoodie und eine ärmellose Weste; sein Haar ist lang, er hat es nach hinten gekämmt, was seine markanten Gesichtszüge unterstreicht. Trotz der Sonnenbrille, die seine Augen verbirgt, wirkt er vertraut.

»Ben, schau mal, wen ich entdeckt habe«, fordert Rhonda ihn auf, und als er sich mir zuwendet, kämpfe ich gegen den Drang an, wegzulaufen. Er schiebt sich die Sonnenbrille ins Haar und starrt mich finster an. In der Highschool waren er und Austin beste Freunde. Bens Blick nach zu urteilen, liegt die Wiedersehensfreude ganz allein auf Rhondas Seite.

»Was machst du hier?« Sein Tonfall klingt wenig einladend.

»Ben«, mischt sich Rhonda ein und umfasst sacht meinen Arm, als wollte sie mir Beistand leisten. Hm, seltsam.

»Nein, du weißt, auf welche Art sie Wolf verlassen hat«, schießt er zurück, dann widmet er seine Aufmerksamkeit wieder mir. »Warum tauchst du hier auf?«

Auch wenn ich die Schärfe in seiner Stimme verstehen kann, tut es weh, wenn ein alter Freund mit einem spricht und einen ansieht, als wäre man Abschaum. Was damals geschah, hat nicht nur Austin verletzt, sondern auch mich. Ich bin gegangen, aber er ist mir nie gefolgt. Er hat sich bei Mom kein einziges Mal nach mir erkundigt, als wäre es ihm egal, wo ich mich befinde oder ob ich okay bin.

»Du weißt, warum sie hier ist, Ben«, meint Rhonda leise, tritt an seine Seite und legt die Hände auf seinen Oberkörper. Seine Miene wird sanfter, als er ihren Nacken umfasst und die Stirn gegen ihre lehnt. Er flüstert ihr etwas zu, und ich mache zwei Schritte nach hinten, bevor ich tief durchatme.

Ben richtet sich wieder auf und sieht mich an. »Bleib weg von ihm.« Keine Bitte, sondern ein Befehl.

»Er wird nicht mal merken, dass ich in der Stadt bin«, verspreche ich und weiche noch ein Stück zurück. Dann mache ich auf dem Absatz kehrt und marschiere zu meinem Auto, wo ich für den Rest der Überfahrt bleibe.

»Mom«, rufe ich, als ich das Haus betrete. Sofort erfüllt mich der vertraute Geruch dieser Räume, nistet sich in mein Inneres und nimmt mir die Luft zum Atmen. Es riecht noch immer wie früher.

»Schatz«, flüstert Mom von der Couch aus, gehüllt in eine der unzähligen Decken, die sie beständig strickt.

»Bist du okay?«, frage ich, gehe zu ihr hinüber und knie mich auf den Boden vor ihr. Sie sieht noch so aus wie vor einem Monat, als sie bei mir war. Ihr Haar ist lang und grau, ihr Gesicht gebräunt von den vielen Stunden, die sie draußen in der Sonne verbringt, um Blumen zu pflanzen. Ihre Augen sind ähnlich braun wie meine. Wenn ich sie so betrachte, fällt es mir schwer, der Diagnose ihrer Ärzte zu glauben. Sie wirkt nicht, als blieben ihr nur noch Monate. Ihr Krebs wurde zu spät entdeckt und hat bereits von ihrer Gebärmutter aus in ihren Magen gestreut. Eine Chemotherapie ist zwar möglich, aber Mom wehrt sich dagegen. Sie stirbt lieber zu ihren eigenen Bedingungen, als ihren Körper mit Gift vollzupumpen. Womit ich nicht einverstanden bin. Allein bei dem Gedanken, dass sie mich zurücklässt, wird mir das Herz schwerer. Doch es ist nicht meine Schlacht, auch wenn ich mir wünsche, Mom würde um ihr Leben kämpfen.

»Ich bin okay, ich wollte mich nur ein bisschen hinlegen. Wie war deine Anreise?«

»Mom, ich habe alle paar Stunden mit dir telefoniert«, erinnere ich sie und helfe ihr, sich aufzusetzen.

»Ich weiß, aber das hier ist eine Kleinstadt. Man weiß nie, wen man so trifft.«

Guter Einwand. »Ich bin Rhonda über den Weg gelaufen. Du hast ihre Schwangerschaft nie erwähnt«, murmle ich. Meine Begegnung mit Austins bestem Freund lasse ich aus. Mein Plan ist es, alles und jeden zu ignorieren, der mit ihm in Verbindung steht, um zu verdrängen, dass ich mich derzeit in Cordova befinde. Wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, hier auf Austin zu stoßen, blende ich auch einfach aus.

»War Ben bei ihr?«

So viel zu meinem Plan. »Ja. Sie scheinen ... glücklich zu sein«, flüstere ich. Was die beiden offenbar miteinander teilen, wirkt wie ein fremdes Konzept auf mich. Ich kann mich nicht mal daran erinnern, wann ich mich zum letzten Mal glücklich gefühlt habe.

»Was ist los?«, will Mom wissen und umfängt meine Wange.

»Nichts. Ich bin bloß müde.«

»Dein Zimmer ist vorbereitet, warum legst du dich nicht ein bisschen hin? Zum Abendessen lade ich dich ins Picnic Basket ein.«

»Das gibt es noch?«, entgegne ich voller Unglauben. Das Picnic Basket ist ein kleiner Wohnwagen aus Metall, der in ein Restaurant verwandelt wurde. Sie servieren dort hauptsächlich Hamburger und Pommes und haben nur während der Sommermonate geöffnet. Für die Kids in Cordova ist es wie McDonald’s. Normalerweise hätte ich Moms Vorschlag sofort zugestimmt, die Burger dort sind spitze, aber der Gedanke, auf einen weiteren alten Bekannten zu treffen, klingt wenig verlockend.

»Natürlich gibt es den Laden noch. Ruh dich erst etwas aus und in ein paar Stunden gehen wir hin.«

»Mom, ich glaube nicht, dass ich mich heute noch mal unter die Leute mischen will«, erkläre ich und sehe dabei zu, wie sie ihre Decke zusammenfaltet und über die Rückenlehne der Couch drapiert.

»Bevor du von zu Hause weg bist, hast du immer gern dort gegessen«, meint sie und Enttäuschung tritt auf ihr Gesicht.

»Tut mir leid, du hast recht. Das klingt nach einer guten Idee«, erwidere ich mit einem gezwungenen Lächeln. Meine letzten Erinnerungen mit ihr sollen nicht von den Ängsten meiner Vergangenheit verdorben werden. Sie verdient so viel mehr.

»Perfekt. Jetzt schlaf etwas.« Sie schiebt mich zu meinem alten Zimmer, das sie in den letzten Jahren zum Glück umdekoriert hat. Meine alten Fotos sind verschwunden. Die Wände hat Mom in einem hellen Beige gestrichen, das gut zu dem blauen Quilt und dem Bild des nächtlichen Ozeans passt, das über dem Kopfende des Bettes hängt. Nur eine Sache befindet sich noch an seinem angestammten Platz. Es ist eine Aufnahme von mir und Dad, die nach einer gemeinsamen Tour mit dem Quad durchs Gelände gemacht wurde, direkt nach einem Unwetter. Der Boden war vom Regen aufgeweicht und mein Dad fuhr durch jede Pfütze, die unseren Weg kreuzte. Ich saß vor ihm, sodass ich von Kopf bis Fuß mit Schlamm bedeckt wurde. Unser breites Grinsen erinnert mich daran, wie viel ich an diesem Tag gelacht habe, so sehr, dass mir der Bauch wehtat.

Wie soll ich all das überstehen, Daddy?

Mit einem Finger streiche ich über den Bilderrahmen, ehe ich zum Bett hinübergehe, um mich hinzulegen. Ich decke mich mit dem Quilt zu, schließe die Augen, schlafe aber nicht ein. Zwei Stunden liege ich wach da, bis meine Mutter kommt, um mich fürs Abendessen zu wecken.

»Können wir kurz beim Schnapsladen anhalten?«, fragt Mom mich vom Beifahrersitz aus.

»Solltest du denn trinken?« Stirnrunzelnd biege ich auf die Hauptstraße, die zufällig auch die einzige Straße in dieser Stadt ist.

»Was kann schon groß passieren? Hast du Angst, dass es mich umbringt?«, witzelt Mom, was mich scharf einatmen lässt. Wie kann sie Scherze darüber machen? »Schatz«, beginnt sie und tätschelt liebevoll meinen Oberschenkel. »Ich werde sterben. Nur Gott weiß, wann es so weit sein wird. Du oder ich können nichts dagegen tun. Ich habe meinen Frieden damit geschlossen und ich möchte, dass du dasselbe tust.«

»Meinen Frieden damit schließen?«, wiederhole ich und schüttle ungläubig den Kopf.

»Ganz genau. Wenn man darüber nachdenkt, habe ich Glück. Ich weiß, dass mich Gott eher früher als später zu sich holen wird. Wenn er es tut, werde ich bereit dafür sein. Ich habe die Chance, mich bis dahin von den Menschen zu verabschieden, die mir wichtig sind, und all meine Fehler zu bereinigen. Dieses Glück hat nicht jeder, Schatz.«

»Was ist mit mir?« Ich umklammere das Lenkrad fester und spüre, wie sich mir die Brust zuschnürt. Tränen sammeln sich in meinen Augenwinkeln und ich kämpfe gegen sie an.

»Ich hab dich lieb, Schatz. Ich habe dich geliebt, noch bevor ich überhaupt daran dachte, dich zu bekommen, und ich werde immer bei dir sein. Ich weiß, diese Situation ist nicht einfach für dich. Es ist traurig, aber wir haben auch Glück.«

Ich presse die Lippen zusammen, um mich davon abzuhalten, etwas zu sagen, das ich bereuen könnte. Glück? Wohl eher Pech hoch zehn. Ich habe schon so viele Menschen verloren, wie viele müssen es noch werden?

»Oh, schau, da ist Sheryl. Sheryl!«, ruft sie und reißt mich aus meinen Gedanken, als sie rüberfasst, um auf die Hupe an meinem Lenkrad zu drücken. Ihre andere Hand schießt an mir vorbei aus meinem Fenster. Sie winkt jemandem zu, und als ich in dieselbe Richtung schaue, beginnt mein Herz, wild gegen meine Rippen zu pochen. Nicht Sheryl, sondern Austin befindet sich vor einer der vielen Bars, die sich die Main Street entlang aneinanderreihen. Doch er ist nicht allein; eine Frau ist bei ihm und er hat einen Arm um ihre Taille geschlungen, während er ihr die Tür aufhält.

Meine Brust wird bei seinem Anblick eng. Trotz der Entfernung zwischen uns ist seine Attraktivität nicht zu verkennen. Die Zeit war gut zu ihm. Sein Haar ist noch so dicht und leicht zerzaust wie früher, mittlerweile jedoch eine Nuance heller; sein Gesicht ist gebräunt und durch den Bart wirken seine kristallblauen Augen noch leuchtender. Ein dunkelgrünes Shirt spannt über seiner breiten Brust, betont seine starken Arme und die schmalen Hüften. Seine muskulösen Beine stecken in Jeans. Mein Blick wandert wieder höher und trifft den seinen. Verwirrung breitet sich auf seinen Zügen aus, schlägt erst zu Erkenntnis, dann zu Wut um.

»Du hast den Schnapsladen verpasst«, beschwert sich Mom, als ich stärker auf das Gaspedal steige.

»Wir schauen auf dem Rückweg vorbei«, verspreche ich, während ich versuche, meinen Herzschlag zu beruhigen.

»Oder wir gehen direkt in eine Bar.«

Auch wenn ich mir geschworen habe, alles zu tun, um sie in den nächsten Wochen oder Monaten glücklich zu machen, setze ich keinen Fuß in eine Bar. Nicht in dieser Stadt. »Wir holen dir was zu trinken, wenn wir heimfahren«, murmle ich und halte an einem Food Truck, vor dem vier große Picknicktische stehen. Sie sind in einem roten und weißen Karomuster gestrichen. Ich steige aus dem Wagen und atme tief ein. Diese Stadt ist nicht groß genug für Austin und mich. Wie konnte ich bloß denken, ich würde ihm nicht ein einziges Mal begegnen, während ich hier bin? Bestimmt brodelt die Gerüchteküche schon. So läuft das in Kleinstädten: Jeder kennt jeden und weiß alles über seine Mitmenschen. Dass ich nach all den Jahren zurückgekommen bin, ist sicher die Neuigkeit des Tages.

»Bist du okay, Schatz?«

Ich schaue über das Autodach hinweg zur Beifahrerseite und zwinge mich zu einem Lächeln. Ich habe in den letzten Stunden so oft daran gefeilt, vielleicht kauft sie es mir ab. »Nur hungrig«, antworte ich, bevor ich die Wagentür zuwerfe und um die Kühlerhaube herumlaufe. Ich führe meine Mom rüber zu dem Bestellfenster, wo wir uns Hamburger ordern, dann setzen wir uns an einen der bereitgestellten Tische. Schon beim ersten Bissen weiß ich, dass ich mich nicht getäuscht habe, denn das hier ist mit Abstand der beste Burger meines Lebens. Einen bitteren Beigeschmack hat dieses Abendessen jedoch, und der kommt von der Erinnerung an den Ausdruck in Austins Augen, als er mich vorhin entdeckt hat.

Lea

»Guten Morgen, Schatz«, grüßt Mom, als ich die Küche betrete.

»Morgen.« Ich setze mich an den Küchentisch und beobachte, wie sie in einer Pfanne Speck wendet und anschließend Eier in eine andere gibt. »Erwartest du eine Armee zum Frühstück?«, frage ich, als sie einige Pancakes auf einen bereits immens hohen Stapel legt.

»Rhonda hat mich angerufen. Ben musste frühmorgens zur See und sie will nicht den ganzen Tag allein zu Hause rumsitzen, also leistet sie uns Gesellschaft. Anschließend wollen wir uns den neuen Garn- und Handarbeitsladen ansehen, der in der Stadt eröffnet hat.«

»Wie lange sind sie und Ben schon ein Paar?« Ich kann meine Neugier nicht zurückhalten. In der Highschool war Ben wie die meisten Jungs und hatte ständig eine Neue am Start. Rhonda hingegen war lieb und schüchtern; sie verbrachte die meiste Zeit allein oder mit den wenigen Freundinnen, die sie sich erlaubte. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich die beiden je miteinander sprechen sehen habe.

»Bald sind es fünf Jahre, glaube ich. Sie ging auf ein College außerhalb, als sie zurückkehrte, hat es zwischen ihnen gefunkt. Seitdem sind sie unzertrennlich.«

»Ich freue mich für sie. Rhonda war immer nett und Ben ist ein guter Kerl.«

»Ben vergöttert sie, kein Wunder, denn sie ist nett. Tatsächlich erinnert sie mich an dich.«

»Wirklich?«

»Ja, sie ist unglaublich nett, wenn sie für eine Behandlung hierherkommt. Sie hilft mir bei allem, was ich brauche, oder kommt auf einen Besuch vorbei.«

»Es tut mir leid, dass ich nicht da war«, flüstere ich, als mich die Schuldgefühle übermannen.

»Dazu gibt es keinen Anlass. Du weißt, ich bin immer sehr gern zu dir nach Montana gereist. Es ist schön, mal für eine Weile hier rauszukommen. Außerdem musstest du dir dein eigenes Leben aufbauen. Es ist ja nicht so, als hätten wir uns in der Zeit nie gesehen.«

»Ja, aber ... Ich wünschte, ich hätte nicht ganz so weit weg gewohnt oder dass ich früher hätte herkommen können. Nicht erst gestern.«

»Ken ist ein Arsch.«

»Mom.« Ich seufze.

»Nein.« Sie zeigt mit dem Pfannenwender auf mich. »Er ist ein selbstverliebter Egomane, der denkt, die Welt drehe sich nur um ihn. Was zwischen euch passiert ist, war nicht deine Schuld. Wie er sich verhalten hat, als er herausfand, dass du herkommen würdest, um bei mir zu bleiben? Einfach erbärmlich.«

Hierbei muss ich ihr recht geben. Als ich Ken erzählte, dass ich fortgehen und mich um meine Mom kümmern würde, beharrte er darauf, dass ich blieb, bis wir unser gemeinsames Eigentum offiziell zwischen uns aufgeteilt hatten. Wofür ich ihn hasse. Es war schon hart genug, mit ihm und seiner Freundin in derselben Stadt zu leben; es mir auch noch so schwer zu machen, für meine kranke Mutter zu sorgen, war das Letzte. Diese Seite an ihm hatte ich zuvor nicht gekannt. »Da gibt es vieles, von dem du nicht weißt«, beginne ich. Doch warum sollte ich mir die Mühe machen, es ihr zu erklären? Sie hat recht, was Ken betrifft. Trotzdem fühlt es sich noch so an, als hätte ich mich mehr bemühen oder eine bessere Ehefrau sein müssen. Was dämlich ist.

»Ich habe mehr als genug gehört«, bekundet Mom, und ehe ich antworten kann, klopft es an der Hintertür. Gleich darauf geht sie ein Stück auf und Rhonda steckt den Kopf zu uns herein.

»Hey.« Sie lächelt, als sie mich entdeckt.

»Hi.« Ich erwidere die Geste, gezwungen wie immer. Es liegt nicht an ihr, dass ich mich unwohl fühle. Mir will die Geschichte mit Ben auf der Fähre nicht aus dem Kopf. Es gefällt mir nicht, wenn andere über mich urteilen. Ben hat ihr bestimmt berichtet, was vor fünfzehn Jahren geschehen ist.

»Setz dich, bevor du vornüberkippst«, witzelt Mom an Rhonda gewandt und bringt diese zum Lachen, ehe sie sich dem Kühlschrank widmet. Sie holt eine Flasche Sirup hervor.

»Tut mir leid wegen Ben«, entschuldigt sich Rhonda leise und ich schaue sie an. »Er hätte nicht so mit dir reden dürfen.«

»Schon okay«, flüstere ich zurück, damit Mom nichts mitbekommt. Sie soll sich keine Sorgen um mich machen, nicht im Moment.

»Worüber tuschelt ihr zwei?«, erkundigt sich Mom, während sie je einen Teller vor uns stellt.

»Ich sagte Rhonda bloß, dass sie hoffentlich Hunger mitgebracht hat, da du für zwölf anstatt für drei gekocht hast«, schwindle ich und entlocke Rhonda ein Kichern.

Sie legt die Hand auf ihren Bauch. »Ich esse für zwei, und weil der Kleine ganz nach seinem Vater gerät, vermutlich sogar für drei.«

»In der wievielten Woche bist du?« Es juckt mir in den Fingern, die Hand auszustrecken und ihre runde Babykugel zu berühren.

»Im siebten Monat.«

»Meine Güte«, hauche ich. Wird es etwa ein Riese? Ich kann nur erahnen, wie sie am Ende ihrer Schwangerschaft aussehen wird.

»Ich weiß.« Sie nickt. »Ich sage Ben immer wieder, dass er das nächste kriegen muss. Ich hatte keine Ahnung, dass ich aufgehen würde wie ein Wal.« Sie lächelt.

»Du sieht wunderschön aus. Die Schwangerschaft steht dir gut«, erwidere ich leise.

»Ich kann es nicht erwarten, ihn endlich im Arm zu halten«, fügt Mom hinzu und ein Ziehen geht durch mein Inneres. Ich wollte immer Kinder. Wenn ich eines Tages auf einen Mann treffe, mit dem ich eine Familie gründen kann, werde ich nichts davon mit meiner Mutter teilen können. Sie wird niemals ihre Enkel an sich drücken können; sie wird nicht mal als stützende Schulter für mich da sein, wenn ich Sorgen oder Fragen habe, die nur eine Mutter beantworten kann.

»Sorry, bin gleich wieder da«, entschuldige ich mich und flüchte ins Badezimmer. In der Sekunde, in der die Tür hinter mir zufällt, weine ich bittere und stumme Tränen. Wie soll ich das hier überstehen? Mom meint, wir hätten Glück, weil wir wissen, dass sie sterben wird, aber für mich fühlt es sich dadurch noch schlimmer an. Die ganze Zeit kann ich nur daran denken, wie viele Dinge sie verpassen wird. Was ich alles ohne sie erleben muss. Wäre sie einfach aus dem Nichts von uns gegangen, wäre ich gezwungen gewesen, es zu akzeptieren, von da an weiterzumachen. Stattdessen komme ich mir vor, als würde ich feststecken. Ich kann nicht über ein Ereignis hinwegkommen, während ich darauf warte, dass es eintritt.

Alles, was sich meine Mom wünscht, ist mein Glück. Es wäre schön, wenn ich ihr sagen könnte, dass ich es gefunden habe. Die Wahrheit ist, dass ich innerlich sterbe und ständig um Atem ringe, zumindest fühlt es sich so an.

»Schatz, das Frühstück wird kalt«, ruft Mom durch die Badezimmertür.

»Ich bin gleich bei euch.« Ich spritze mir etwas kaltes Wasser ins Gesicht, trockne mich ab und kehre in die Küche zurück, wo die zwei nah beieinander sitzen und sich leise unterhalten.

»Deine Mom hat erzählt, du arbeitest als Buchhalterin«, beginnt Rhonda, als ich mich setze, und verfrachtet einen Pancake auf meinen Teller.

»Ja, die meisten finden Zahlen langweilig, ich habe sie immer schon geliebt. Was ist mit dir? Was machst du beruflich?«

»Ich bin geprüfte Krankenschwester. Hier in der Stadt kümmere ich mich hauptschlich um Privatpatienten. Ich führe sogar eine eigene Praxis mit drei Angestellten.«

»Das ist großartig. Welche Art von Pflege?«

»Wir helfen älteren Einwohnern, die es nicht mehr zu ihren Ärzten schaffen, und bieten auch Palliativpflege an, wenn sie benötigt wird«, erklärt sie, und ich lenke den Blick von ihr zu Mom.

Es wird vielleicht eine Zeit kommen, in der sie dieselbe Unterstützung braucht. Dass jemand in der Stadt lebt, der sich auf diese Weise um sie kümmern kann, erleichtert mich. Sie muss nicht aus ihrem Haus gerissen werden und ich werde nicht auf mich selbst gestellt sein, wenn dieser Tag eintrifft. Ein wenig überrascht es mich, dass Mom Rhonda in keinem unserer früheren Gespräche erwähnt hat. Bei ihrem Job und der nicht zu übersehenen Nähe zwischen den beiden, hätte Rhondas Name einmal fallen müssen.

»Seit Larry vor ein paar Monaten in den Ruhestand gegangen ist, suche ich nach einem neuen Buchhalter«, merkt Rhonda an und holt mich damit aus meinen Gedanken.

»Ich kann dir aushelfen, bis du Ersatz findest.« Das wäre eine gute Stelle für die Zeit meines Aufenthalts und zum Glück ist Buchhaltung etwas, das ich von überall aus erledigen kann. Man braucht nicht viel mehr als einen Computer.

»Das wäre perfekt. Solltest du dich dafür entschließen, in der Stadt zu bleiben, kenne ich viele Leute, die ebenfalls jemanden dafür suchen.«

So ist das, wenn man auf einer kleinen Insel in Alaska lebt: Es gibt für jeden Job eine einzige Person, die ihn ausführt, wenn diese aufhört, gibt es keinen mehr. Es sei denn, ein anderer mit demselben Beruf zieht in die Stadt.

»Denk mal nach, du könntest dein eigenes Unternehmen gründen. Larry würde dir seine Bürofläche sicher verkaufen, wenn du ihn danach fragst«, verkündet Mom aufgeregt. Sie scheint bereits Feuer und Flamme für diese Idee zu sein. In mir wallt hingegen Übelkeit, aber ich zwinge mich mit einem Lächeln zum Rückzug. Keine Ahnung, was ich machen oder wohin ich gehen werde, nachdem meine Mom gestorben ist. Das Haus, das Ken und ich in Montana besitzen, wird in ein paar Wochen verkauft sein und der Rest meiner Sachen hat bei einem großen Flohmarkt in meinem Garten den Besitzer gewechselt. Ich habe bloß meine Kleidung zusammengepackt, alles in mein Auto verfrachtet und bin nach Seattle gefahren, um von dort eine Fähre nach Anchorage zu nehmen.

»Ich denke darüber nach«, sage ich und beobachte, wie Mom Rhondas Hand drückt.

»Meine Babyparty findet nächste Woche statt. Es würde mich sehr freuen, wenn du und deine Mom kommen könntet«, lädt Rhonda mich ein, als wir den Garn- und Handarbeitsladen betreten.

»Sehr gern«, lüge ich, um ihre Gefühle nicht zu verletzen.

»Hey, Rhonda«, sagt jemand in meiner unmittelbaren Nähe, und als ich zur Seite schaue, stehe ich einer schönen, gertenschlanken Blondine gegenüber; derselben Frau, der Austin die Tür zur Bar aufgehalten hat. Es ist leicht zu erkennen, was er an ihr anziehend findet. Sie ist fast so groß wie er, ich hingegen bin einen guten Kopf kleiner. Während ihr Körper die perfekten Proportionen aufweist, bin ich kurviger gebaut, was von ein oder zwei Schokoladestücken zu viel herrührt.

»Hi, Anna«, grüßt Rhonda mit einem leicht bitteren Unterton. Woher der wohl rührt?

»Du musst Lea sein«, sagt Anna und unterzieht mich einer eingehenden Musterung. Zum Glück habe ich heute etwas mehr Zeit in mein Erscheinungsbild investiert und nicht bloß das erste Paar Jeans angezogen, das ich zwischen die Finger bekam. Stattdessen trage ich schwarze Cordhosen mit ausgestelltem Bein, einen cremefarbenen Sweater mit U-Ausschnitt und Boots in derselben Farbe, die dem ganzen einen lässigen, aber sexy Touch verleihen. Abgerundet wird das Outfit mit meiner schwarzen, ärmellosen Weste, die ein bisschen oversized geschnitten ist und für das Frühlingswetter in Alaska perfekt passt.

»Ich wusste nicht, dass du in der Stadt bist«, meint Rhonda und Annas Blick wandert zu ihr.

»Austin hat mich gebeten, für ein paar Tage vorbeizukommen.« Sie zuckt mit den Schultern.

»Anna ist Flugbegleiterin. Sie wohnt in Anchorage«, informiert Rhonda mich. Ich schaue zwischen den beiden hin und her, dann lächle ich, weil ich dem sonst nichts hinzuzufügen habe. Ich habe kein Recht darauf, eifersüchtig zu sein, weil sie Zeit mit Austin verbringt. Er gehört schon sehr lange nicht mehr zu mir. Eine Tatsache, die meine Eifersucht kaum beeindruckt, denn sie steigt trotzdem in mir auf.

»Es muss schön sein, so viel zu reisen«, bemerke ich und sehe mich in dem Laden um, um herauszufinden, wohin Mom verschwunden ist. Ich bete darum, dass sie zu meiner Rettung kommt.

»Ist es. Ich überlege trotzdem, hierherzuziehen und diese Stadt zu meiner Homebase zu machen. Was man nicht alles für die Liebe tut, nicht wahr?« Bei Annas Worten wird mein Herz schwerer. Sie und Austin sind offenbar verliebt. Vermutlich würden sie bald in einem Haus leben und eine Familie gründen. »Wie dem auch sei, Austin wartet bestimmt schon auf mich. Wir sehen uns.«

»Bye«, murmle ich und beobachte, wie sie den Laden verlässt.

»Gott, ich hasse sie«, verkündet Rhonda und zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. »Nur, dass du es weißt, zwischen ihr und Austin ist es nicht so ernst, wie sie es aussehen lässt. Sie treffen sich, wenn sie in der Stadt ist, Ben zufolge ist aber nicht Austin die treibende Kraft dahinter.« Ich habe keine Antwort darauf. Keine Ahnung, was ich mit den Emotionen anstellen soll, die im Moment in mir herumschwirren. »Lass uns deine Mom suchen.«

»Ja«, stimme ich zu und folge ihr einen der Gänge entlang, wo meine Mutter steht und sich Sticker für Fotoalben ansieht. »Hast du etwas gefunden, das dir gefällt?«, frage ich, als ich neben ihr stehen bleibe.

»Ich bin nicht sicher, ob ich genug Geduld für das Erstellen von so einem Album aufbringen kann, aber die Sachen sind alle so süß, dass ich beinahe Lust darauf bekomme.«

»Ich helfe dir. Wir können eines gemeinsam machen«, schlage ich vor.

»Vielleicht mit all den Bildern von deinem Dad und dir«, murmelt sie und nimmt eine Packung mit Aufklebern von Booten und Wellen.

»Das würde mir gefallen.« Trotz der vielen Jahre, die Dad nun schon nicht mehr unter uns weilt, fühlen sich die Wunden, die sein Verlust hinterlassen hat, immer noch frisch an. Die erste Zeit nach seinem Tod haben wir kaum über ihn gesprochen. Ich glaube, keiner von uns hat seinen Tod je richtig verarbeitet.

»Es würde uns guttun«, meint sie und blickt von den Stickern in ihren Händen hoch zu mir. »Wir sollten ihn endlich loslassen. Vielleicht nimmt Ben uns auf seinem Boot mit raus zu der Stelle, wo dein Dad verschollen ist. Wir können uns dort von ihm verabschieden?«

»Das wäre schön«, versichere ich ihr, und ihre Augen füllen sich mit Tränen.

Sie nickt. »Es ist längst überfällig«, wispert sie.

Ich schlinge einen Arm um ihre Schultern und lehne den Kopf gegen ihren. Sie hat recht. Es ist höchste Zeit, dass wir ihm auf Wiedersehen sagen.

Während der nächsten Stunde wählen wir Sticker für unser Album aus. Es fühlt sich gut an, zu lachen und miteinander über die schönen Momente zu sprechen, die wir mit Dad teilen konnten.

»Ich bin am Verhungern«, verkündet Rhonda, als wir unsere Tüten hinten in Moms SUV verstauen.

»Was haltet ihr von Tacos?«, schlägt Mom vor, während ich mich hinters Steuer setze und sich die zwei anschnallen.

»Ja«, stimmt Rhonda stöhnend zu und bringt mich zum Lachen. Dass sie aktuell für drei isst, war keine Übertreibung. Seit wir heute Morgen aufgebrochen sind, habe ich sie schon drei Müsliriegel verschlingen sehen, die sie in ihrer Handtasche versteckt hatte.

»Passt das für dich, Schatz?«

»Klingt gut.« Ich lege den Gang ein und fahre los. Heute war einer der besten Tage seit Langem. Mom ist seit jeher wie meine beste Freundin; ich verbringe stets gern Zeit mit ihr. Rhonda ist lustig und ich fühle mich in ihrer Gegenwart wohl. Ich hatte ganz vergessen, wie es ist, sich mit Freundinnen auszutauschen. In Montana gehörte ich Kens Clique an. Nachdem ich von seiner Affäre erfahren hatte, fand ich heraus, dass die meisten unserer Bekannten über seine Beziehung mit Courtney Bescheid wussten. Niemand wollte der Überbringer dieser Nachricht sein, weshalb ich auf mich allein gestellt war. MeineFreude lebten unterdessen friedlich weiter und taten, als wüssten sie nicht, dass mein Mann ein betrügerischer Arsch ist.

»Baja Tacos ist unten in der Nähe vom Pier«, leitet Mom mich vom Rücksitz aus an. Als ich die gewünschte Gegend erreiche, verstehe ich, wie sehr sich dieser Ort verändert hat. Mittlerweile sind die kleinen Geschäfte, die zuvor entlang des Piers lagen, von großen Neubauten ersetzt worden.

»Bei der nächsten musst du links abbiegen«, weist Rhonda mich an und ich fahre auf eine kleine unbefestigte Straße, die sich hinter ein paar der größeren Gebäude entlangschlängelt und vor einer roten Hütte auf Stelzen endet. Davor befindet sich eine große Terrasse mit weißer Überdachung.

»Wie lange gibt es den Laden schon?«, frage ich und stelle den Motor ab.

»Es wurde vor ein paar Jahren eröffnet. Die Besitzer waren sogar vor einer Weile im Food Network zu sehen, zum Thema Best of Alaska«, antwortet Rhonda, steigt aus und schließt die Tür.

»Das ist so genial.« Ich lächle im Rückspiegel meine Mom an, bevor ich rausspringe.

»Austin«, ruft Rhonda und schließt die Tür. Ich beobachte, wie sie über den ungepflasterten Parkplatz in Richtung der Stufen hoch zum Restaurant geht, auf die auch Austin und Anna gerade zusteuern. Als Rhonda vor ihnen hält, breitet sich ein Lächeln auf Austins Gesicht aus, das mir den Atem raubt. Er beugt sich vor, gibt ihr einen Kuss auf die Wange und sagt etwas zu ihr. Als sie mit dem Daumen über ihre Schulter zeigt, spannt er sich an. Er sieht auf und unsere Blicke treffen sich. Ein heftiger Schmerz durchzieht meinen Körper.