FINALE FANALE - Hartmut Höhne - E-Book

FINALE FANALE E-Book

Hartmut Höhne

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Beschreibung

Die vier Mitglieder der linksterroristischen Zelle FINALE ­FANALE führen ein unauffälliges, bürgerliches Leben. Die Bedrohung der Menschheit durch die bevorstehende Klimakatastrophe lässt aus ihrer Sicht keine Zeit mehr, um auf friedlichem Weg für eine herrschaftsfreie, ­gerechte Welt zu kämpfen. Die noble Hamburger Adresse Blankenese gilt ihnen als Symbolort für Reichtum und ­Kapitalismus. Durch einen Sprengstoffanschlag bringen sie oberhalb des Treppenviertels einen massigen Terrassenbau zum Absturz, der viele Bewohner unter sich begräbt. Darunter befinden sich auch die Teilnehmer des ­Extremismus- und Terrorabwehrzentrums, die in Sagebiels Fährhaus ihre Jahrestagung ­abhalten. Hamburg befindet sich im Ausnahmezustand. Wird es Hendrik Palmer vom BKA gelingen, die Urheber des Anschlags, deren Leben fortan im Untergrund stattfindet, zu fassen?

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Seitenzahl: 323

Veröffentlichungsjahr: 2016

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ISBN 978-3-89876-854-2 (Vollständige E-Book-Version des 2016 im Husum Verlag erschienenen Originalwerkes mit der ISBN 978-3-89876-838-2) Umschlagabbildung: Blankenese, Treppenviertel/Fotolia © 2016 by Husum Druck- und Verlagsgesellschaft mbH u. Co. KG, Husum Gesamtherstellung: Husum Druck- und Verlagsgesellschaft

FINALE FANALE

„Gut 45.000 Euronen, mein Lieber“, frohlockte Georg, wobei er mit einem Bündel Hunderter wedelte, „ich wusste es!“

Der Aufwand stünde in keinem angemessenen Verhältnis zum Ertrag, klagte Victor gelegentlich, doch heute hatte er keinen Grund zu hadern.

Der Stoffbeutel mit der Beute klemmte zwischen seinen Füßen. Victor lächelte. Er gönnte seinem Genossen den Triumph, der Erfolg gab ihm schließlich recht. Und damit war auch klar, dass es heute die letzte Bank war, die sie um ihr Bargeld erleichtert hatten.

„Damit haben wir unser Sparziel von 200.000 Euro für unsere Aktionskasse sogar leicht übertroffen, mein Herr“, flachste Georg.

„Sparziel! Du redest wie ein Bankberater“, amüsierte sich Victor, „oder wie die schwäbische Hausfrau.“

Wer hätte vor einem halben Jahr geahnt, dass es dafür sieben „Bankbesuche“ brauchen würde? Zwei in Kiel, zwei in Hannover und drei in Berlin, in unregelmäßiger Abfolge. Die meisten in Stadtrandnähe. Da war nicht viel zu holen, aber dafür war es auch weniger riskant als in den Innenstädten. Und man war schneller auf der Autobahn nach Hamburg, ihrem Standort.

Hamburg war tabu. Auf keinen Fall konnten sie es riskieren, sich hier verdächtig zu machen. Die Stadt war als Bühne für das ganz große Theater vorgesehen.

Übermütig trommelte Victor auf dem Lenkrad herum, ja, überraschenderweise stieß er sogar einen verhaltenen Freudenschrei aus. Sein Nachbar sah ihn irritiert an, es war so ungewöhnlich.

„Konzentriere dich aufs Fahren“, mahnte er, „und nimm besser den Fuß vom Gas. Nicht, dass uns kurz bevor wir zu Hause sind, noch die Bullen stoppen.“

„Und du pack das Geld in den Beutel zurück“, konterte Victor, „was denkt wohl jemand, der uns damit sieht?“

„Er denkt, oh, die haben bestimmt eine Bank überfallen, und dann fährt er grinsend weiter, weil er sich selbst nicht glaubt. Bankräuber gibt’s doch nur im Krimi.“

„Aber du siehst aus wie ein Bankräuber, guck mal in den Spiegel“, feixte Victor.

Georg zückte sein Handy und besah sich in der spiegelnden Oberfläche. Ja, sein Äußeres hatte heute etwas leicht Verwegenes. Struppiges, schwarzes, sichtbar ungewaschenes Haar und unrasiertes Kinn, dazu die dunklen Augen mit ebensolchen Ringen darunter, da könnte er die gängigen Vorurteile schon bedienen. Es war eine lange, schlaflose Nacht gewesen. Er war erst kurz vor dem vereinbarten Zeitpunkt aufgestanden und hatte es verpasst, eine Dusche zu nehmen. Victor hatte sich vorhin schon über seinen strengen Geruch mokiert, was ihm peinlich gewesen war. Auch Ulla hatte sich beschwert, als er sich am Morgen von ihr verabschiedete:

„Aah, du stachelst, verdammt!“ Sie tat etwas eingeschnappt: „Und wenn es Zeugen gibt, werden sie sich deinen Geruch merken!“

„Was denn?!“, hatte er zurückgemault, „soll ich vielleicht Armani auflegen?“

„Wasser und Seife tun’s auch, mein Lieber!“

Georg wusste, wie zänkisch Ulla frühmorgens war, deshalb dachte er sich nicht viel dabei. Wie er sie kannte, hätte sie sich nur zu gerne noch einmal im Bett auf die andere Seite gewälzt, aber sie konnte auch nicht so tun, als ginge sie die Geldbeschaffungsmaßnahme nichts an. Sie war sogar maßgeblich an den Recherchearbeiten beteiligt gewesen. Dann hatte sie ihm aber doch noch viel Glück gewünscht, und dass sie sich nicht erwischen lassen sollten, sonst müsse sie ihn und Victor im Knast besuchen. Dann hatte sie ihm sogar noch hinterhergewinkt, so wie man es aus amerikanischen Filmen kannte, in denen glückslächelnde Ehefrauen vor dem Reihenhaus standen und ihre Männer in den harten Arbeitsalltag entließen. Hoffentlich hat das keiner gesehen, dachte Georg nur.

Die schöne Ulla. Die meisten Männer würden ihn beneiden. Wie sie da so im Türrahmen stand, sich das lange, braune Haar hinter die Ohren strich, den Mund leicht geöffnet hielt, und dann dieses sanftmütige Madonnenlächeln. Es war ihr schönstes Gesicht. Obwohl hoch gewachsen, wirkte ihre Statur schmächtig, fast zierlich. Die Arme hielt sie unter ihren Brüsten verschränkt, zum Winken löste sie den rechten Unterarm und bewegte nur die Finger zum Gruß. Den Kopf hielt sie dabei leicht seitlich geneigt. Wie kokett sie doch sein kann, wunderte sich Georg einmal mehr über seine Liebste.

Victor hatte leicht reden. Er war aber auch ein cooler Hund! Bestimmt hatte er die ganze Nacht ruhig durchgeschlafen. Mitunter konnte er einem mit seiner Gemütsruhe gehörig auf die Nerven gehen, nicht jeder hatte so kaltes Blut in sich. Meistens aber fand Georg es beruhigend, ihn um sich zu haben, zumal bei diesen nervigen Raubzügen. Er machte kaum Fehler aus Nervosität und er strahlte Ruhe aus.

Für den Auffahrunfall zwei Wagen vor ihnen konnte er nichts. Reaktionsschnell stand er auf der Bremse, sonst wären sie mitten in den Opel gekracht. Der Idiot hinter ihnen hupte.

So. Nichts ging mehr. Sie waren eingekeilt, hier, auf der Straße im Osten Hamburgs, wenige Kilometer nur von ihrem Standort entfernt. Bislang war alles gut gelaufen, sieben Brüche, die vielen Kilometer mit dem Wagen, kein Ärger mit der Polizei oder mit übereifrigen Bankangestellten. Und nun das!

„Das Geld“, rief Victor, „schnell, mach.“ Georg ließ die Tasche unter dem Rücksitz verschwinden. „Pistole, die Hauben, auch unter den Rücksitz!“ Georg nahm rasch die beiden Sturmhauben aus seiner Jackentasche und – kurz zögernd – seine Pistole, da klopfte es an der Scheibe. Im Nu ließ er die gesicherte Waffe vor sich auf den Boden fallen. Es war der Idiot aus dem Geländewagen hinter ihnen. Hatte er die Pistole gesehen?

„Mist“, murmelte Victor, „der fehlt uns gerade noch.“ Georg reichte ihm, betont unaufgeregt, die in der Hand zerknüllten Sturmhauben, der sie nun seinerseits in die Jackentasche stopfte. Georg öffnete das Seitenfenster. Ein geckenhaft wirkender Jungspund machte sich wichtig:

„Das war knapp, Mann! Fast wäre ich hinten reingekachelt!“

„Hast du den Unfall vor uns nicht mitgekriegt?!“, blaffte Georg zurück, „mach nicht so ’ne Welle!“ Damit ließ er das Fenster wieder nach oben gleiten, machte aber noch eine wegwerfende Geste. Der Typ glotzte immer noch in das Wageninnere.

Kurz darauf rollte von der anderen Seite der Kreuzung ein Einsatzwagen heran.

„Na großartig“, presste Georg hervor, „auf den letzten Drücker noch sowas!“

Victor schob die Makarow unter den Sitz seines Beifahrers, zögerte dann aber einen Moment und nahm sie zu sich auf seine Seite hinüber. Es dauerte seine Zeit, bis die Polizisten den Sachverhalt geklärt hatten und die Schuldfrage dokumentiert war. Für Georgs Geschmack dauerte es zu lange, obwohl durchaus alles zügig, routiniert vonstatten ging. Ihre Zeugenaussage war zum Glück nicht nötig, da alles eindeutig war.

Immer mehr Autofahrer waren ausgestiegen. Sie lehnten mit verschränkten Armen an ihrem Wagen oder sie schlenderten gemächlich die Blechschlange rauf und runter. Auch Victor hielt es nicht mehr auf seinem Platz, er hatte sich mit dem Rücken gegen die Fahrertür gelehnt, in der Hand einen Zigarillo. Mit seinem düster wirkenden Grüblerblick und dem vorzeitig ergrauten Haar wirkte er älter als Mitte vierzig.

Was hatte der Jungspund da mit der Polizistin zu verhandeln? Was hatte er sich in die Abläufe einzumischen? Ab und zu guckten sie in ihre Richtung, es sah sogar so aus, als zeigte der Typ mit dem Finger auf sie, oder täuschte das? In Georg brodelte es gewaltig, seine Gesichtsmuskulatur spannte sich. Er hatte nicht übel Lust, dem Typ in die Schnauze zu latschen, aber bei dem Wunsch musste es natürlich bleiben.

Das sinnlose Herumsitzen im Wagen brachte nichts. Er stieg ebenfalls aus, kramte seinen Taschenkalender und einen Kugelschreiber hervor und notierte unauffällig das Kennzeichen des Geländewagens. Victor stellte sich zu ihm.

„Hat er was gesehen?“, fragte er, „was meinst du?“

„Schon möglich“, sagte Georg. „Ich bin nicht sicher, aber möglich wär’s, so aufdringlich, wie der geguckt hat.“

„Wenn er das der Polizistin erzählt, sind wir dran.“

„Der glotzt schon wieder zu uns rüber“, knurrte Georg, „was machen wir, wenn sie uns filzen?“

„Das werden sie nicht“, stellte Victor mit entschlossener Miene fest, wobei er den Blick auf seine linke Jackentasche richtete. Er zog die Makarow ein kleines Stück hervor.

„Bist du verrückt?“, zischte Georg.

„Willst du lieber in den Knast? Reiß dich zusammen! Ein Warnschuss reicht schon!“

Natürlich wollte Georg nicht in den Knast, was für eine Frage. Schließlich stand ihnen der eigentliche Coup noch bevor, auf keinen Fall durften sie ihr Projekt gefährden, sonst wäre aller Aufwand umsonst gewesen. Er hatte eine Idee.

„Pass auf! Ich packe alles in die Tasche mit dem Geld und verziehe mich damit hier ins Wohngebiet. Wir sehen uns um 17 Uhr am Standort.“

Victor überlegte kurz und nickte.

Georg zog den Beutel mit dem Raubgeld hervor, Waffe und Sturmhauben verschwanden unauffällig darin.

Langsam schlenderte er damit die Autoschlange entlang, so, als wollte er sich die Beine vertreten. Schließlich überquerte er im Sichtschutz eines Transporters die Straße und tauchte in das unbekannte Backsteinquartier ein, wo er einer unter vielen war.

Es war bereits später Nachmittag, als Klaas den verabredeten Treffpunkt ansteuerte, einen Rastplatz in der Nähe von Maribor. Ein unscheinbarer Treff, gepflegt, ein paar Bänke und Holztische, Abfallbehälter und ein Toilettenhäuschen.

Vor allem aber ein unbelebter Ort. Wer in Richtung Norden fuhr, machte gerne im benachbarten Österreich Rast, wer aus der Steiermark kommend nach Slowenien fuhr, wollte entweder direkt nach Maribor, in die Hauptstadt Ljubljana oder weiter an die kroatische Küste. Für alle Ziele war der Rastplatz entweder überflüssig oder nicht günstig gelegen, und deshalb war er für Klaas’ Zwecke ideal.

Es war deutlich wärmer, als er vermutet hatte, obwohl es schon Mitte September war. Das hatte er von einem früheren Besuch anders in Erinnerung gehabt. Er lockerte seine Krawatte und entledigte sich seiner Anzugjacke. Ohnehin fühlte er sich darin unwohl, wie in einer Uniform. Für die ungewohnte Kleidung hatte er sich auch nur entschieden, weil sie ihm eine gewisse bürgerliche Seriosität verlieh. Ebenso, wie er sich beim Autoverleih in Hamburg für einen guten Mittelklassewagen entschieden hatte. Sein falscher Pass gab ihm zusätzliche Sicherheit. Man wusste ja nicht, was während einer so langen Autofahrt alles passieren konnte. Auf keinen Fall durfte er auffallen, und schon gar nicht durfte er bei einer Kontrolle aufgehalten werden. Nicht mit der Ladung, die er hier in wenigen Minuten in Empfang nehmen würde.

Eigentlich müsste ich aufgeregt sein, prüfte sich Klaas, während er sich die Füße vertrat. Aufgeregt, nervös, ein wenig bange vor dem, was kommt, aber ich bin es nicht. Dafür habe ich in den letzten fünf Monaten zu viel Kraft, Zeit und Nerven investiert, als dass ich jetzt noch in Hektik verfallen würde.

Gut, ich musste nicht ganz bei Null anfangen, da sind meine persönlichen Kontakte nach Südosteuropa schon recht brauchbar. Allerdings liegt eine größere Menge Sprengstoff auch in dieser Gegend nicht mehr überall herum. Die Balkankriege der 1990er-Jahre sind längst vorbei. Dennoch gibt es immer noch leichteren Zugang zu dem Zeug als in anderen Regionen Europas. Damals ist vieles aus den Militärdepots verschwunden, wer weiß schon so genau, wohin? Letztlich ist es eine Frage des Geldes, ob man damit bedient wird. Auch eine Frage der Kontakte natürlich und der Belastbarkeit der Kontakte. Und Vertrauen ist wichtig. Er dachte mit einem gewissen Unbehagen an die letzten Monate zurück. Sie, die Verkäufer der brisanten Ware, hatten so manche falsche Fährte gelegt, ihn in Kroatien, dem ursprünglichen Übergabeland, ziellos durch die Gegend fahren lassen, um ihn zu beobachten. Damit er auch schön alleine agierte, wie vereinbart. Bei näherer Betrachtung wusste er ihre professionelle Herangehensweise natürlich zu schätzen, auch wenn er sich inzwischen vorkam wie ein Schüler in kurzen Hosen. Diese verdammten Wichtigtuer!

Umgekehrt musste er in seine alten und neuen Kontaktleute ebenso Vertrauen setzen, spätestens, als er eine mittlere fünfstellige Summe als Baranzahlung leistete. Er war in Vorleistung getreten und der große Rest der vereinbarten Summe war heute fällig, bei der Übergabe. Außerdem hatte Klaas darauf bestanden, dass die Übergabe in Slowenien stattfinden sollte. Kroatien gehörte zwar inzwischen zur EU, war aber noch kein Mitgliedsland des Schengen-Raums. Er hatte wirklich keine Lust, mit einer Ladung TNT über eine bewachte Grenze einzureisen, das Risiko sollte bei denen liegen. Schon hatte sich wieder der Kaufpreis erhöht, klar, aber der Preis war es wert, notfalls müssten Victor und Georg eben noch mehr Bares beschaffen.

Er blickte auf seine Armbanduhr. Okay, langsam wird’s Zeit, dachte er. Er hasste es, zu warten.

Der Standort befand sich im äußersten Westen Hamburgs, in Rissen, kurz vor der Landesgrenze zu Schleswig-Holstein. Ein Zweifamilienhaus, Nachkriegsbau, gutbürgerliches Umfeld, einfach, unauffällig, schmucklos, ein Häuschen wie viele in der Gegend.

Es war Georg gewesen, der den Begriff Standort eines Tages eingeführt hatte. Er klang konspirativer, nicht so spießig wie Häuschen oder Zuhause, fand er. Ulla und Victor hatten sich inzwischen daran gewöhnt, obwohl sie es anfangs etwas peinlich fanden, von Standort zu sprechen. Vor allem Ulla tat sich zunächst schwer damit, denn es war ihr Elternhaus.

Vor ein paar Jahren waren kurz hintereinander ihre Eltern gestorben. Die Mutter war vorangegangen, dem Vater war kurz darauf der Lebenswille abhandengekommen, also folgte er ihr. Ulla, das jüngste der Kinder, war als Einzige an der Übernahme des Hauses interessiert. Ihr Bruder und ihre Schwester hatten sich anderweitig orientiert, und sie bestanden auch nicht darauf, ausbezahlt zu werden. Ohne zu Zögern hatte Ulla ihre teure Wohnung im Univiertel aufgegeben und war an den Stadtrand zurückgezogen. Dorthin, wo sie die ganze Nachbarschaft kannte, wo sie ihre Kindheit und Jugend verbracht hatte, wo sie ihr Abiturzeugnis entgegengenommen hatte, und wo sie zum ersten Mal mit einem gleichaltrigen Jungen namens Michi geschlafen hatte.

Das war lange her und nun, mit Mitte vierzig, redete sie von Standort, wenn sie ihr Elternhaus meinte.

Erst war Victor zu ihr gezogen, mit dem sie bis vor vier Jahren zusammen gewesen war. Nachdem sie die Liebesbeziehung mit ihm beendet hatte – es hatte eher etwas mit ihr als mit ihm zu tun gehabt –, bezog er die obere Wohnung, die gerade frei geworden war. Er erhielt einen Mietvertrag und wurde ganz offiziell ihr Mieter. Sie hatten eine geringe Miete vereinbart, dafür übernahm er anfallende Handwerks- und Hausmeisterarbeiten, und er besorgte auch einen Teil der Gartenarbeit.

Ab und zu verbrachten sie noch eine gemeinsame Nacht bei ihr oder bei ihm, aber eines Tages lernte sie Georg kennen, der so nach und nach immer mehr Sachen in ihre untere Wohnung brachte und irgendwann ganz da war. Für keinen von ihnen war das ein Problem, Eifersüchteleien spielten keine Rolle. Auch Victor brachte manchmal eine Frau mit. Ab und zu einmal eine Bemerkung, eine Anspielung, ein wissendes Lächeln, das war alles.

Was die Nachbarn davon hielten, war ihnen nicht bekannt. Es war auch nicht so wichtig. Wahrscheinlich waren die auch eher von der aufgeklärten, toleranten Art, jedenfalls schien es kein großes Gerede hinter ihrem Rücken zu geben.

Zunächst war Ulla der gemeinsame Bezugspunkt gewesen, man hatte sich über sie kennengelernt. Schon bald aber entwickelte sich auch zwischen den Männern eine kumpelhafte, nachbarschaftliche Beziehung und schließlich, nach etwa einem Jahr, auch eine freundschaftliche Vertrautheit.

Ulla verfolgte es mit aufmerksamem Interesse, gelegentlich auch mit einem Schmunzeln.

„Da heißt es immer, Gegensätze ziehen sich an. Bei euch sehe ich keine Gegensätze und ihr versteht euch trotzdem gut. Hoffentlich wird es nicht langweilig.“

Dabei hätte sie sich ohne Weiteres miteinbeziehen können, denn sie war Teil des Gleichklangs.

Alle Mitte vierzig, gehörten sie einer Generation an, die von den Kämpfen der Linken in den 1980er-Jahren, wenn überhaupt, nur noch die Ausläufer miterlebt hatten. An die dogmatischen, theorielastigen Siebziger hatten sie keine eigenen politischen Erinnerungen mehr, sie waren Kinder gewesen.

Sich parteipolitisch zu organisieren, erschien ihnen ohne Reiz. Die Vorstellung, alles mittragen zu müssen, was Delegierte auf ritualisierten Parteitagen ausklamüserten, behagte ihnen nicht. Wozu hatten sie einen eigenen Kopf?

Die GRÜNEN waren ihnen zu prinzipienlos, die hatten doch so ziemlich alles verraten, was ihnen mal wichtig gewesen war, ein neoliberaler Haufen. Die SPD war spätestens unter dem Schröder-Fischer-Regime gänzlich verrottet, eine Bande von Arbeiterverrätern, moralisch völlig verwahrlost, übler noch als die CDU. Bei der wusste man wenigstens, woran man war. Die LINKE war nur der bessere Teil der deutschen Sozialdemokratie, mehr aber auch nicht. Sie wollten den Kapitalismus von innen heraus verändern, durch Reformen. Wie naiv. Die Linken in der Linken hatten keine Chance, einen revolutionären Weg durchzusetzen. Die Anarchisten gab es in organisierter Form praktisch nicht mehr, und eine stalinistische Politsekte kam schon gar nicht in Frage. Die Gewerkschaften waren zu angepasst und sozialpartnerschaftlich orientiert. Ein Anhängsel der SPD.

Ulla und Victor hatten sich bei einer international agierenden NGO kennengelernt. Dort engagierten sie sich auf dem Gebiet „Sozialpolitik“. Das war eine sehr intensive Zeit gewesen. Nie zuvor hatten sie so viel „Papier gefressen“ wie zu jener Zeit, Buch um Buch, Statistik um Statistik, Gutachten um Gutachten. Je mehr Expertenwissen sich bei ihnen ansammelte, desto mehr öffnete sich der Blick für andere Themengebiete, die im Grunde doch alle sehr dicht beieinanderlagen und einander bedingten, etwa die Wirtschaftspolitik, Entwicklungspolitik, Ökologie, Bildung und Kultur.

Ihre Weltsicht radikalisierte sich, nicht zuletzt auch, weil sie innerhalb und außerhalb der Organisation schnell und immer wieder an Grenzen stießen. Man wolle keine Leute verprellen, man sei ja keine revolutionäre Zelle, wolle sich taktisch geschickt verhalten, „um die Menschen abzuholen und mitzunehmen“. Vor allem Ulla bekam diese „Phrasenscheißerei“ schnell satt, sie konnte sich Besseres vorstellen, als sich von einer trägen Mehrheit gängeln zu lassen. Sie steige da aus, teilte sie Victor eines Abends mit, und er hatte ihr in die Augen gesehen und nach kurzer Überlegung zugestimmt: „Ich auch.“

Georg hatte Ulla zunächst am Telefon kennengelernt. Es ging um eine mögliche Zusammenarbeit mit einer Anti-Lobby-Organisation. Seine Stimme klang sympathisch, er gab sich interessiert, kooperativ und unkompliziert und so trafen sie sich, um nähere Absprachen zu treffen.

Schon bald trafen sie sich gelegentlich auch im privaten Rahmen, gingen ins Kino und vor allem ins Theater. Ullas Leidenschaft, zugleich aber auch eine ihrer Einnahmequellen. Sie kannte außer Georg keinen, der mit ihr mehr als einmal in eine Vorstellung ins Thalia Theater oder in das Schauspielhaus gegangen wäre. Auch Victor lehnte dankend ab. Nicht, dass sie es mit Kunstbanausen zu tun gehabt hätte, das nun wirklich nicht. Sie schrieb Kritiken aller Art, auch Theaterkritiken. Als Kulturwissenschaftlerin hatte sie es stets abgelehnt, sich auf eine Kunstsparte zu kaprizieren. Die Literatur und die Bildenden Künste waren genauso ihr Feld, wie das Theater oder das Kino.

In politischer Hinsicht merkte sie ihm anfangs deutlich an, dass es ihm schwerfiel, sein Temperament zu zügeln. Indem er sich um einen diplomatischen Sprachgebrauch bemühte, kamen nur halbgare Statements zustande. Es wirkte krampfig, bemüht, nicht überzeugend. Wahrscheinlich gehörte er zu jenen Zeitgenossen, die schlechte Erfahrungen gemacht hatten, wenn sie frei heraus sagten, was sie wirklich dachten. Vielleicht hatte es auch etwas mit seiner DDR-Vergangenheit zu tun. Er wollte einfach nicht das Klischee des verbitterten Jammerossis bedienen. Nur wenn zwischendrin einmal die Pferde mit ihm durchgingen, er nicht kontrolliert sprach, erkannte Ulla den echten Georg.

Und sie erkannte sich auch ein wenig in ihm wieder. Oft schon hatte sie den Vorwurf gehört, sie sei für eine Frau „ganz schön hart drauf“, unerbittlich, ein Betonkopf. So wie sie rede, passe es nicht zu ihrer äußeren, weiblichen Erscheinung. Schönheit und Dogmatismus schlössen sich aus. Sie schlage mit ihrer Art Menschen vor den Kopf. Sie wusste das alles. Eigentlich wollte sie Menschen in ihrer Nähe nicht enttäuschen, warum auch. Wenn sie mit Victor oder Georg zusammen war, spielte dieser Aspekt ihrer Persönlichkeit keine Rolle. Die waren auf ähnliche Weise ebenso isoliert, weil man Menschen mit einer permanent kritischen Lebenshaltung als anstrengend und nervtötend empfand.

Es dauerte noch einige Zeit, bis Ulla und Georg ein Paar wurden.

Seit drei Tagen war Klaas jetzt schon hier. Am ersten Tag passierte nicht viel. Ein Treffen in einem Restaurant am Fluss, Smalltalk, sie wollten wohl ganz genau wissen, mit wem sie es zu tun hatten und für welche Zwecke er den Sprengstoff brauchte. Natürlich blieb er im Vagen, deutete nur an, dass es sich um eine außergewöhnliche Aktion handelte und dass er nicht alleine sei. Sie sollten das ruhig wissen, fand er, dass er nicht alleine war, nur für den Fall, dass sie auf dumme Gedanken kämen. Sein Kontaktmann, auf den er sich verlassen konnte, war nicht mehr im Spiel, leider. Dafür, dass sie sich als Geschäftsleute ausgaben, waren sie ganz schön neugierig. Man verabredete sich für den nächsten Tag.

Am zweiten Tag dann die Einweisung in die Besonderheiten des Sprengstoffs und seine fachgerechte Handhabung. Natürlich nur in der Theorie, an einem Modell. Es dürfte wohl keine Schwierigkeiten geben, schließlich hatte er mit Sprengstoffen bereits Erfahrungen aus der Zeit in einem militärischen Ausbildungslager, das er mit Victor zusammen durchlaufen hatte.

Schwierigkeiten hatte Klaas nur mit diesen Idioten hier, die glaubten, sie müssten sich wichtigmachen. Er kam mit der Mentalität der Leute hier einfach nicht zurecht. Es kam zu einem Wutausbruch, er ließ sich auch zu Beleidigungen hinreißen, sogar zu kleineren Rangeleien, weil sie ihn hinhielten. Sie wollten sogar die Übergabe abbrechen, Klaas habe sie in ihrer Ehre verletzt. Er musste sich entschuldigen, aber er spürte, dass sie ihm die Entschuldigung nicht abnahmen. Egal. Aus ihren Augen blitzte der Zorn, aber vielleicht dachten sie auch an die zweite Rate. Geschäft war Geschäft. Also setzten sie den Tag der Übergabe auf den nächsten Tag fest. Ein weiteres Machtspielchen. Warum, zum Teufel, überließen sie ihm nicht einfach die Ware, packten ihr Geld ein und gut?

Heute also. Und da. Endlich! Ein Wagen bog geschmeidig auf den Rastplatz ein, gefolgt von einem weiteren. Klaas erkannte im ersten Fahrzeug seinen kroatischen „Ansprechpartner“, der auch die Verhandlungen führte. Die beiden Typen im hinteren Wagen hatte er noch nie gesehen. Sie stiegen auch nicht aus. Der Boss, den er unter dem Namen Drago kannte, kam mit gemessenen Schritten auf ihn zu. Edler Anzug, blasses Gesicht, ausdrucksloser Blick. Er reichte Klaas die Hand.

„Hast du das Geld?“

Klaas nickte.

„Und die Ware?“

„Bekommst du. Aber nicht hier. Wir machen einen kleinen Umweg. Du fährst mir hinterher, gut?“

„Gar nicht gut“, polterte Klaas, „die Übergabe sollte hier stattfinden. Was soll das Theater?“

„Wir bestimmen die Spielregeln! Willst du das Feuerwerk haben oder nicht?“

„Was bleibt mir übrig!“, knurrte Klaas.

„Also los. Ist nicht weit. Du bleibst hinter mir!“, befahl Drago.

Verdammte Spinnerei, ärgerte sich Klaas, und dieser Kasernenhofton! Was glaubt er, wer er ist! Und was hat das zu bedeuten? Noch eine Sicherheitsmaßnahme? Wie viele denn noch? Haben sie die Knaller überhaupt? Bin ich in Gefahr? Nehmen sie mir das Geld ab und werfen mich dann mit einem Loch im Anzug in die Drau? Ich habe keine Wahl mehr.

Er stieg in seinen Wagen und hielt sich hinter Drago. Hinter ihm folgten die beiden Typen. Immerhin hatte Drago nicht gelogen. Es war wirklich nicht weit bis zu ihrem Ziel. Runter von der Autobahn, rein in ein Industriegebiet von Maribor. Eine halb verfallene Lagerhalle, düster, unübersichtlich.

Langsam rollten sie in die Halle. Neonleuchten flackerten plötzlich auf, bedrohlich hingen sie von der Decke herunter. Und da, noch zwei Gestalten mit humorlosen Mienen. Ein flaues Gefühl überkam Klaas. Nicht, dass er zu Ängstlichkeit neigte, da hatte er in seiner Zeit in Mosambik ganz andere Situationen erlebt, dennoch wäre er jetzt lieber an einem anderen Ort gewesen. Wie viele Leute steckten hier denn noch mit drin?!

Zugleich verfestigte sich aber auch seine Wut. Über dieses peinliche Machogetue vor allem, aber auch über seine Reaktion darauf. Er sollte gelassener damit umgehen. Der Kerl da mit dem starren Basiliskenblick machte ihn nervös. Nahezu bewegungslos hatte er sich aufgepflanzt. Sein Blick klebte förmlich an ihm, der Ausdruck seines Gesichts wirkte wie gelähmt und irgendwie beleidigt. Klaas fühlte sich sofort schuldig. Für nichts! Er hasste es, angestarrt zu werden, eine Befindlichkeit, die er wohl mit den meisten Menschen teilte. Er versuchte, seinem Blick standzuhalten, was sich als zwecklos erwies. Auch die international verständliche Geste des ausgestreckten Mittelfingers zeitigte keine Wirkung. Drago, der es bemerkte, schüttelte nur den Kopf. Klaas spürte, wie ihm das Blut in den Kopf blubberte. Am liebsten hätte er gegen etwas getreten, am allerliebsten in die Basiliskenfresse. Komm runter, dachte er, von allen Leuten hier in der Halle bist du körperlich der Schwächste, am Ende ziehst du doch den Kürzeren. Das ist es nicht wert. Warum so angespannt? Schon bald ist alles vorbei.

Die beiden Typen hinter ihm sicherten den Eingang der Halle, die beiden anderen Handlanger von Drago schlossen jetzt auf ein Nicken von ihm einen Stahlschrank auf und hoben eine Holzkiste heraus. Die stellten sie auf eine Hobelbank, dazu noch zwei leichtere Alubehälter. Sie sahen aus wie Blechbüchsen für Pausenbrote, nur größer.

Drago öffnete die Kiste mit dem Sprengstoff. Er winkte Klaas heran, der warf einen Blick hinein. TNT, gut gepolstert, die Menge schien zu stimmen. Er war ohnehin darauf angewiesen zu glauben, was man ihm versicherte. Die Blechbüchsen enthielten das nötige Zubehör, Sprengkapseln, Booster, ein elektronisches Zündgerät, eine Art Fernbedienung.

Klaas schaute Drago tief in die Augen. Der hielt dem Blick stand, Ehrensache. Es war eine stille Übereinkunft, Fragen mussten nicht gestellt werden. Wort gegen Wort. Klaas´ Sorgen verflüchtigten sich.

„Und?“, fragte Drago in forderndem Tonfall.

Klaas ging zum Auto und zog unter dem Fahrersitz eine Ledertasche hervor, die übergab er Drago. Der gab sie an einen seiner Helfer weiter, der das Geld zählte, zumindest oberflächlich. Anscheinend gingen auch sie davon aus, dass der vereinbarte Betrag stimmte.

Die Ladung wurde in Klaas’ Kofferraum gehoben, in Decken eingeschlagen, es konnte nichts passieren.

Man brachte ihn auf die Autobahn zurück und kurz darauf war das Begleitfahrzeug verschwunden. Jetzt konnte Klaas nur noch darauf hoffen, dass er in keinen Unfall verwickelt würde und in keine Fahrzeugkontrolle geriet. Es würde schon gutgehen, sagte er sich. Wann war er zuletzt in eine Kontrolle geraten? Wie wahrscheinlich war das? Nicht sehr.

Am Abend steuerte er einen kleinen Ort in Bayern an, um dort zu übernachten. Als er in seinem Hotelzimmer war, fühlte er sich erschöpft. Er hängte sein Jackett über die Stuhllehne und griff nach seinem Mini-Tablet, das er in seiner Jackentasche vermutete. Es war nicht da. Er durchsuchte alle Taschen, sah sich im Zimmer um, durchwühlte seine Reisetasche, nun immer hektischer, kniete sich auf den Boden, aber nein, da lag es nicht und auch nicht unter dem Bett, verdammt. Er musste es bei den Wichtigtuern verloren haben, vielleicht gestern bei dem Gerangel mit dem Dicken, oder hatten sie es etwa geklaut, weil sie sich Informationen erhofften?

Informationen! Ja, allerdings waren auf dem Teil auch persönliche Daten gespeichert, auch einige Telefonnummern. Zum Beispiel die von Victor. Jetzt wurde ihm doch ein wenig schwindelig, eine ungewohnte panische Reaktion. Wie hatte ihm das passieren können? Wie unprofessionell! Nie im Leben hätte er das kleine Tablet mitnehmen dürfen! Nun war es zu spät, er konnte keinen Kontakt mehr zu den Leuten aufnehmen, sie waren es gewesen, die stets auf ihn zugekommen waren. Es blieb ihm nichts weiter übrig, als darauf zu hoffen, dass sie die Informationen für sich behielten.

Am Nachmittag darauf erreichte er Hamburg.

Ein großer Schritt war getan.

Die Bürotür flog auf. Typisch Jens. Ungestüm wie immer. Georg konnte sich einfach nicht daran gewöhnen, obwohl er seit fast zehn Jahren mit Kollege Jens Toller Tür an Tür arbeitete. An ihrer Büronachbarschaft hatte sich auch nach dem Umzug der Behörde nach Wilhelmsburg nichts geändert.

„Mittag“, rief Jens, „kommst du mit in die Kantine.“ Georg konnte nicht einschätzen, ob das eine Frage war oder eine Anweisung.

„Mensch, Jens, was brüllst du denn so! Ich bin kurz vorm Herzkasper!“

„Wieso?“, brüllte er, „ich brüll doch nicht. Los, mach hinne, sonst verhunger ich noch!“

Nun, verhungern wirst du bestimmt nicht, bei dem Rippenspeck, den du mit dir herumschleppst, war Georg sich sicher, aber das behielt er für sich.

„Was gibt’s denn heute?“, erkundigte er sich.

„Kartoffelgrateng. Kann man essen. Jetzt mach die Kiste aus und komm!“

Dagegen war nichts zu machen. Und gegen Bärbels Kartoffelgratin war auch wirklich nichts einzuwenden, sie konnte es einfach. Er kannte die Kantinenköchin sogar schon länger als Jens und er wusste auch, was sie in der Behördenkantine für ein strenges Regiment führte. Da wurde sogar der polterige Kollege etwas kleinlauter, wenn sie ihn bei der Essensausgabe anblaffte, weil er mit seiner Fragerei nach der Herkunft der Zutaten und möglicher gefährlicher Inhaltsstoffe „den ganzen Laden aufhalte“. Einer ihrer Lieblingssprüche war: „Ich hab heut keine Sprechstunde, junger Mann. Nehmen Sie’s oder lassen Sie’s!“ Die gute Bärbel. Sie hatte bestimmt schon zwei Mitarbeitergenerationen erzogen und schreckte auch nicht vor den Behördenleitern zurück, die sich manchmal in die Kantine verirrten.

Als Georg vor einem Jahr beschloss, sich auf 30 Wochenstunden setzen zu lassen, um mehr Lebenszeit zu haben, war Jens mindestens eine Woche lang eingeschnappt gewesen.

„Lebenszeit! Spinnst du? Deine Lebenszeit vertickt genau hier! Was willst du zu Hause, sag mir das!“

Er fühle sich „zurückgelassen“, und Georg musste ihn trösten. Außerdem kam es seitdem auch immer öfter vor, dass Georg einen oder sogar zwei Tage lang fehlte.

„Du weißt, wie viele Überstunden ich noch auf dem Zettel habe“, sagte er dann, wenn er Jens’´ missmutigen Blick sah. Er konnte ihm ja schlecht erzählen, dass er an diesen Tagen eine Bank ausräumte.

Beide waren sie Geografen. Sie kannten sich noch aus Studienzeiten. Irgendwann hatte sie der Zufall in der Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt wieder zusammengeführt.

Zurzeit waren sie, gemeinsam mit weiteren Kollegen, mit einem Großprojekt beschäftigt, der Neuen Mitte Altona. Der Altonaer Fernbahnhof sollte eineinhalb Kilometer weiter in nördlicher Richtung verlegt werden. Kopfbahnhöfe waren für die Bahn nicht mehr zeitgemäß, wegen der aufwendigen Rangierarbeiten und des Zeitverlusts.

Die riesige frei werdende Fläche sollte mit Wohngebäuden, einer Grünfläche, Büros und Ladengeschäften bebaut werden. Ein weiträumiges neues Quartier sollte entstehen, ein ganzer Stadtteil.

Derzeit waren Georg und Jens mit der Änderung des Flächennutzungsplans befasst, nachdem die Bahn endgültig grünes Licht für die Räumung des Bahngeländes gegeben hatte. Die weitverzweigten Gleisanlagen konnten schon bald abgebaut werden, dann konnte etwas Neues entstehen. Konkret: 3.500 Wohnungen, in zwei Bauabschnitten, für Tausende neuer Bewohner. Es war eines dieser städtebaulichen Vorhaben, an dem Georg gerne beteiligt war.

Auch mochte er den Gedanken, dass er mit seiner Arbeit zumindest keinen großen Schaden anrichtete. Da konnte er sich üblere Jobs vorstellen.

Zu Jens und seiner Frau Mara hatte er im Laufe der Jahre eine Art freundschaftliche Beziehungen entwickelt. Sie besuchten sich ab und zu, oder sie unternahmen etwas außer Haus. Mit Jens ging Georg gerne zu St. Pauli ins Stadion. Sie besaßen beide eine Saisonkarte und feierten einen Sieg ebenso wie eine Niederlage. Mara zeigte Verständnis für die Jungs und gönnte ihnen den Spaß, kam aber selten mit zum Millerntor. Ulla ließ sich da schwer einbinden, für Mara war sie zu intellektuell. Da war eine Distanz zwischen den beiden, die Mara als unterkühlt wahrnahm. Sie fühlte sich in ihrer Nähe nicht wohl. Ulla ging es mit Mara ähnlich, wenn auch aus einem anderen Grund. Jens und seine Frau ergänzten sich in puncto Lautstärke optimal. Alles, was sie sagten und taten, war laut und bollerig. Selbst der ganz normale Sprechakt war einfach nur laut, ihr Organ war so beschaffen.

„Und wenn sie lacht“, behauptete Ulla über Mara, „dann lauter als fünf kanadische Holzhacker zusammen. Es ist infernalisch, Georg, bitte verschone mich mit den beiden.“

Auch Georg gab sich zurückhaltender, als es in einer bedingungslosen Freundschaft üblich war, und zwar immer dann, wenn es um politische Einschätzungen und Statements ging. Auf keinen Fall wollte er sich hier zu offenherzig in seiner extremen Grundhaltung offenbaren. Kapitalismuskritik nur in homöopathischen Dosen und innerhalb der Systemgrenzen, da musste Georg sich mitunter schon sehr kontrollieren. Zum einen wollte er sich nicht als Radikalinski unnötig verdächtig machen, zum anderen war ihm nicht daran gelegen, liebe Menschen zu kompromittieren. Jens und Mara waren dem sozialdemokratisch-grünen Spektrum zuzurechnen. Wenn sie wüssten, dachte Georg manchmal, und dieser Gedanke lag ihm richtig bitter auf der Seele.

Victor hatte sein zweites Zimmer aufgeräumt. Es war nach und nach immer mehr zu einem nahezu unbewohnten Ort innerhalb der Wohnung geworden, denn in der Regel hielt sich Victor nur in einem seiner beiden Räume auf. Es war Büro, Wohn- und Schlafzimmer zugleich. Er hatte für seinen persönlichen Bedarf noch nie viel Platz beansprucht. In den nächsten Tagen benötigte er den anderen Raum als Gästezimmer für Klaas. Er hatte das Klappbett vom Dachboden geschleppt und das Bettzeug frisch überzogen. Das Fenster war bereits seit gestern gekippt, bei dem milden Septemberwetter war das kein Problem. In letzter Zeit rauchte er wieder mehr, der Qualm seiner Zigarillos war in der ganzen Wohnung zu riechen. Wenn Klaas kommt, gehe ich zum Rauchen auf den Balkon, hatte er beschlossen. Der konnte Tabakrauch nicht vertragen, bekam Kopfschmerzen davon.

Er hatte sich damals schon so angestellt, während ihrer Zeit in Mosambik. Dort hatten sie sich kennengelernt, beide waren sie in dem bescheidenen Hotel, wie es sich nannte, untergebracht. Zwei Jahre hatten sie dort unter einem Dach gewohnt, hatten häufig zusammen gekocht, sich Geschichten erzählt, philosophiert und vor allem politisiert. Klaas sprach ein recht gutes Deutsch, wie so viele Niederländer, und noch drei weitere Sprachen.

Victor hatte sich für zwei Jahre als Entwicklungshelfer verpflichtet. Als Bauingenieur war er maßgeblich am Bau eines Gemeindehauses in einer Randgemeinde nahe der Hauptstadt Maputo beteiligt gewesen. Klaas war Pharmazeut, in Mosambik war er jedoch vor allem mit der Aufklärung über HIV/AIDS beschäftigt.

Aufgrund seiner hageren Statur wirkte er zerbrechlich, auch von seiner Körpergröße her mochte er die Einmetersiebzig kaum erreichen. In seinem weißen Arztkittel, den er immer trug, weil er ihn angeblich in seiner Autorität unterstützte, wirkte er ein wenig verloren, weil er ihm eine Nummer zu groß geraten war. Mit seinen zweiundfünfzig Jahren verwandelte sich sein blondes Haar allmählich in ein gelbliches, isabellfarbenes Etwas. Auch lichtete es sich bereits und er kämmte es auf althergebrachte Weise mit Wasser nach hinten.

Victor kannte Klaas, und er wusste, dass man sich um ihn, wegen seiner zierlichen Art, keine Sorgen machen musste. Gegenüber Georg hatte er einmal geäußert: „Zäh ist er, zäh und ausdauernd wie ein Schlittenhund.“

Sein Engagement in Afrika ging weit über den festgelegten, vereinbarten Rahmen hinaus. In den Abendstunden engagierte er sich, nachdem er zwischendrin eine bescheidene Mahlzeit eingenommen hatte, in der Alphabetisierung der Bevölkerung. Nur jeder zweite Einheimische konnte lesen und schreiben. Klaas unterrichtete erwachsene Männer und Frauen, besorgte ausreichend Lehr- und Schreibmaterial und sorgte für eine regelmäßige Teilnahme am Unterricht. Er genoss in der Gemeinde ein wirklich hohes Ansehen, auch ohne seinen zu groß geratenen Arztkittel. Ja, auch Victor bewunderte ihn.

Die sozialistische Regierung tat, was sie konnte, war jedoch auch nicht in der Lage, alle Probleme gleichzeitig anzugehen und zu bewältigen, schon gar nicht ohne Hilfe von außen.

Victor und Klaas entwickelten schnell ein freundschaftliches Verhältnis. Wie oft diskutierten sie über den Zusammenhang zwischen dem Reichtum im Norden und der Armut im Süden. Immer mehr Beispiele sammelten sie, planten sogar eine gemeinsame Veröffentlichung, nahmen dann aber doch wieder Abstand von diesem Plan. Es gab schließlich keinen Mangel an einschlägiger Literatur, die Verhältnisse lagen klar und eindeutig zutage, seit langem schon.

Der ungleiche Handel, die verfehlte Entwicklungspolitik, die die regionale Wirtschaft schwächte, die überteuerten Medikamente der westlichen Pharmakonzerne, die unsichere Lebensmittelversorgung, der Mangel an Ärzten, die Ausbeutung der Rohstoffe durch die reichen Länder, die Ausbeutung der Arbeitskraft der einheimischen Bevölkerung durch internationale Konzerne, und, und, und. Die Liste war zum Speien lang und das Dilemma war allen bekannt.

Es war nicht die Zeit, ein weiteres Buch für eine intelligente Leserschaft auf den Markt zu bringen, die ohnehin nicht mehr aufgeklärt werden musste. Es war die Zeit, sich um Kontakte zu bemühen, um sehr spezielle Kontakte. Um Personen, die besondere Güter beschaffen konnten, die man auf dem regulären Markt nicht einfach kaufen konnte. Klaas lernte solche Personen kennen, er lernte auch, sich nicht so direkt auszudrücken, sondern hintergründig, verschwurbelt. Es war an der Zeit zu handeln, und sei es durch symbolische Aktionen.

Eigentlich wollte Klaas letzte Woche schon zum Standort gekommen sein, direkt nach seiner Rückkehr aus Slowenien, doch dann war ihm unversehens etwas dazwischen gekommen. Zwar hatte er seine brisante Ladung, wie abgesprochen, in Hamburg deponiert, war aber anschließend gleich mit seinem eigenen Wagen nach Amsterdam weitergefahren.

Seine Wohnung war bei einem Zimmerbrand nebenan in Mitleidenschaft gezogen worden. Nichts Dramatisches, aber es war eben lästig. Die Hausverwaltung hatte ihn über das Handy erreicht. Wie sich herausstellte, war jemand in seiner Wohnung gewesen, vielleicht der Hausmeister, vielleicht die Feuerwehr? Die Räume rochen stark nach Rauch, die eigentlich weißen Wände waren jetzt deutlich dunkler, grauer, rußiger. Jemand hatte die Fenster geöffnet und die Balkontür.

Schöner Mist, hatte Klaas geflucht. Für den materiellen Schaden kam die Versicherung auf. Was ihn am meistens entsetzte, war, dass ein Fremder seine Wohnung betreten hatte und er nicht wusste, wer es war, und ob derjenige sich ein wenig genauer umgesehen hatte.

Er schloss die Augen und überlegte, was ein Eindringling, der neugieriger war als erlaubt, bei ihm hätte aufstöbern können. Sein PC war mit einem komplizierten Passwort gesichert. Unwahrscheinlich, dass es von jemandem geknackt wurde, der nicht darauf vorbereitet war. Über seinen Hausmeister konnte er eigentlich auch nichts besonders Schlechtes sagen, außer, dass er ein Trinkgeldjäger war, wie die meisten Hausmeister hier in den Hochhäusern. Er hätte auch gar nichts Verfängliches auf seiner Festplatte finden können, alles Wichtige zog Klaas regelmäßig auf einen Stick, den er anschließend in einem Bankschließfach verwahrte. Ebenso wie diverse Papierdokumente, Aufzeichnungen, Skizzen und Pläne. Nein, da konnte nichts anbrennen.

Endlich hatte er nun den Beweis dafür, wie wichtig es war, subversive Verhaltensmaßregeln ernst zu nehmen. Die Hamburger sollten sich ein Beispiel nehmen, vor allem Ulla mit ihren „sozialen Netzwerken“, in denen sie sich so gerne tummelte. Er musste das demnächst mal ansprechen. Aber dann fiel ihm sein eigenes Missgeschick ein, das verloren gegangene Tablet in Slowenien. Sein Magen krampfte sich zusammen.

Ulla loggte sich ein.

Konspiration und soziale Netzwerke, ein Dauerthema, vor allem zwischen ihr und Klaas. Konnte das zusammenpassen? Ulla sah kein Problem darin, eher ein Spiel. Solange man das Spiel kannte, konnte man es auch beherrschen. Sollen sie mein Userverhalten speichern, rastern, analysieren und ein Profil von mir erstellen. Es wird immer falsch sein, wenn ich es will. Ich lege falsche Spuren, führe sie auf eine verschlungene Fährte, lasse sie wie die Tanzbären im Kreis marschieren, ich bin für sie nicht greifbar, weil ich das Spiel verstehe. Ich verwende auch nicht meinen Klarnamen, sondern ein Alias. Als Kulturjournalistin habe ich natürlich einen offiziellen öffentlichen Account. Da schreibe und kommentiere ich nach Lust und Laune und versende Links zu kulturellen Ereignissen. Wer in der Öffentlichkeit steht, braucht das einfach. Verdächtig macht sich doch nur, wer Facebook & Co nicht nutzt! Privat interessiere ich mich dort für Musik, die ich nie höre, für Bücher, die ich niemals lesen werde, trete Gruppen bei, die mich nicht die Bohne interessieren. Ich bleibe vage, like nur selten (vielleicht süße Tierfotos) und halte mich aus politischen Diskussionen raus.