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Im Thalia Theater wird ausgelassen gefeiert. Als Max Schwartau, Bildhauer und Maler, tot aufgefunden wird, übernimmt Kommissar Jakob Mortensen den Fall während der laufenden Festveranstaltung. Der erste Verdacht fällt auf die russischstämmige Alina Krylow, später auch auf Eva Scheller, die Frau eines Galeristen. Während Mortensen zusehends Alina verfällt, verliert er den Fall komplett aus den Augen und riskiert damit seine berufliche Stellung - und seine Beziehung. Dann geschieht ein zweiter Mord.
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Seitenzahl: 368
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Hartmut Höhne
Mord am Thalia
Kriminalroman
Hamburg 1921 Im Thalia Theater findet ein groß angelegtes, dreitägiges Künstlerfest statt. Clara Mortensen ist an der Vorbereitung maßgeblich beteiligt, sie hat das Bühnenbild entworfen und gemalt. Als sie auf der Galerie die Leiche von Max Schwartau entdeckt, nehmen die Feierlichkeiten einen dramatischen Verlauf. Kommissar Jakob Mortensen, Claras Bruder, wird mit dem Fall betraut. Mortensen und sein Team finden schnell heraus, dass der eigenwillige Bildhauer und Maler mit mehreren attraktiven Frauen aus der Kunstszene liiert war. Vor allem die russischstämmige Alina Krylow, später auch Eva Scheller geraten ins Visier der Ermittler. Eva Schellers Mann, ein einflussreicher Galerist, unterstützte den Toten auf Drängen seiner Frau finanziell. Alina ist eine Femme fatale, die sich als Künstlerin einen Namen machen möchte und auf Max’ Unterstützung hoffte. Hat eine der Frauen den Künstler auf dem Gewissen?
Hartmut Höhne, geboren 1958, lebt seit 1984 in seiner Wahlheimat Hamburg, der er sich in kritischer Sympathie verbunden fühlt. Als Erzieher und Diplom-Soziologe übte er Tätigkeiten in diversen Branchen wie der Kinder- und Jugendarbeit, im Gesundheitswesen, in Umfrageinstituten und in der Erwachsenenbildung aus, aber auch im gewerblichen Bereich (Brauerei, Hafen). Er schreibt Romane, Erzählungen und Kurzprosa. »Mord am Thalia« ist sein zweiter Krimi im Gmeiner-Verlag.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
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© 2024 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Herstellung: Julia Franze
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © ullstein bild / mauritius
ISBN 978-3-7349-3054-6
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
»Du meine Güte«, ätzte Ellen, »die reinste Räucherkammer. Wenn du hier ein paar Fische aufhängst, sind sie in einer Stunde durch.«
Clara verzog den Mund zu einem gepressten Lächeln. Etwas in der Art hörte sie an jedem der drei Nachmittage, an denen sie hier, im Café Ha-Ka, Gäste bediente. Und wenn sie an manchen Tagen auch abends aushalf, hörte sie es erst recht.
»Frische Luft ist hier nicht erwünscht«, erwiderte sie, »wenn ich die Tür aufmache, erfrieren mir die Herrschaften. Jedenfalls tun sie so. Soll ich mal?« Ihr Finger wies zur Tür.
Ellen, ihre ältere Schwester, nickte mit einem schelmischen Blick.
Kaum stand die Eingangstür einige Sekunden lang offen, folgten die ersten launigen Kommentare: »Wollen Sie uns umbringen, Frollein Clara? Wie in Sibirien!«, »Soll ich mir den Tod holen?«, »Wir haben tiefsten Winter, meine Liebe, bitte schließen Sie doch diese Tür, ja?!«
»Na, was sag ich?«, fragte Clara.
»Ja, ich seh schon. Du bist wirklich nicht zu beneiden.«
»Nein, nein, lass mal. Was meinst du, wie froh ich bin, dass ich diese Stelle gefunden habe. Na ja, eigentlich hat sie ja eher mich gefunden, aber das hab ich dir ja schon erzählt.«
Ellen nickte. Ja, da hatte ihre Schwester Glück gehabt, dass ihr Professor von der Kunstgewerbeschule ihr diese Anstellung als Bedienung so rasch verschaffen konnte. Er gehörte zu den Stammgästen, kannte hier alles und jeden. Es war in finanzieller Hinsicht ein Stückchen Unabhängigkeit für sie. Im Übrigen erhielt sie durch den ständigen Kontakt der ein und aus gehenden Künstlerinnen und Künstler allerlei Informationen rund um das kulturelle Leben in Hamburg. Vieles wurde lediglich über informelle Kanäle verhandelt, Aufträge, Verbindungen zu Galerien, neue Ausstellungsorte, wer mit wem ein Problem hatte und überhaupt: Ja, Klatsch und Tratsch aus der Szene gehörten auch dazu. Großartig und höchst nützlich.
Anni, Claras Chefin, die ebenfalls mit »Frollein« angesprochen wurde, machte sich hinter dem Schanktresen bemerkbar, deutete auf das Tablett mit den gefüllten Biergläsern und zwei Kaffeetassen. Wie üblich saß ihre aufwendige Wasserwellenfrisur perfekt, da war sie eigen, selbst bei der Tresenarbeit. Ihr halb langes Haar wirkte noch blonder als sonst.
»Bin schon da, Anni. Entschuldige, ich schnacke so viel mit Ellen und du machst die ganze Arbeit. Ich gelobe Besserung.«
»Na, lass man, Deern, muss auch sein, ist ja noch nicht so viel Betrieb, gerade erst fünf. Nett, deine Schwester, guckt so goldig in die Welt. Schneiderin ist sie, hast du gesagt?«
Clara lachte laut auf. »Goldig ist gut, Anni, ich werd’s ihr ausrichten. Ja, eine richtig tolle Schneiderin ist sie.« Sie schnappte sich das Tablett und verteilte die Biergläser an eine Gruppe männlicher Nachmittagsgäste.
Das Ha-Ka stand als Abkürzung für »Hamburger Kammerspiele-Klause«. Vor zwei Jahren war das Privattheater Hamburger Kammerspiele hier am Besenbinderhof in St. Georg eröffnet worden. Eine Treppe führte hinunter zu der neuen Spielstätte und dem Café. Es lag rückwärtig in einem Hinterhof. Viele hatten sich nicht vorstellen können, dass sich ein Publikum finden würde, welches sich in diese düstere Gegend verirrte. Es war tatsächlich recht zentral gelegen, Nähe Hauptbahnhof, dennoch seitlich abgelegen, und es wirkte alles ein wenig finster. Doch dann wirtschafteten die Kammerspiele von Beginn an erfolgreich. Die Aufführungen des Theatergründers und Regisseurs Erich Ziegel – mit einer Mischung aus jungen, erfahrenen Schauspielern und einer beherzten Auswahl an ungewöhnlichen Stücken – bildeten den Zeitgeist ab. Die neue Epoche brachte frischen Wind in die Stadt, man wagte Experimente, lebte freier, stellte neue Fragen an die Gegenwart, gemäß der Devise: Es lebe die Republik, nichts bleibt, wie es war. Und: Die Menschen gierten nach Orientierung und kultureller Belebung.
Längst hatte sich das Ha-Ka zum beliebtesten Treffpunkt für Künstler entwickelt, vor allem für Schauspieler, Literaten, Maler und Bildhauer. Die hiesige Boheme hatte in diesem Hof ihren Anlaufpunkt gefunden. Mancher kreative Geist sah im Ha-Ka eine Art zweites Wohnzimmer. Frollein Anni kannte sie alle, samt ihren Marotten, Schnurrigkeiten, Vorlieben und Geldnöten.
In einer der kabinettartigen Nischen saßen zwei Frauen, die eine im mittleren Alter, vielleicht Anfang vierzig, die andere Ende fünfzig. Die Ältere zeigte ihrem Gegenüber eine Zeichnung in einem Skizzenblock. Ein Entwurf, flüchtig dahingeworfen mit Grafit, nicht ausgearbeitet, aber er enthielt bereits alles Wesentliche, wie Clara sofort auffiel, als sie den beiden ihren Kaffee servierte. Eine Biergartenszene über der Elbe, wahrscheinlich auf dem Süllberg in Blankenese.
»Danke, Liebes«, bemerkte die Jüngere an Clara gewandt.
Die errötete leicht, weil es nicht üblich war, dass die Gäste sich bei der Bedienung bedankten, wenn sie ihnen ihre Bestellung brachte. Sie tat eben ihre Arbeit. Dennoch gefiel es ihr, es hatte etwas Respektvolles. Sie mochte es umso mehr, da sie die beiden Frauen kannte und schätzte. Es waren Malerinnen, Alma del Banco, die Ältere, und ihre Kollegin Gretchen Wohlwill. Clara stellte noch ein Glasschälchen mit Keksen auf den Tisch. Dabei ärgerte sie sich über sich selbst. Dieses kindchenhafte Erröten, es war nicht auszuhalten. Mit bald siebenundzwanzig Jahren sollte das eigentlich kein Thema mehr sein. Es passierte ihr in aller Regel, wenn sie von einer Person gelobt wurde, die sie als natürliche Autorität anerkannte. Wehe dem, der sie daraufhin ansprach, gar noch in Gegenwart anderer. Dann konnte es passieren, dass ihre sanftmütigen hellbraunen Augen Zornesblitze abfeuerten, die ihr niemand zugetraut hätte. Einer ihrer Berliner Studienkollegen hatte sich einmal zu der Bemerkung verstiegen, sie sei anscheinend autoritätsfixiert, worauf sie ihn furchterregend angefunkelt und schließlich über Wochen hinweg keines Blickes gewürdigt hatte. Seine Werbungsversuche hatten sich damit von selbst erledigt. Die beiden Frauen hier am Tisch enthielten sich jedes Kommentars.
Die Tür flog auf, eine weitere Gruppe betrat den Gastraum. »Moin allerseits«, lärmte einer. Alles wandte sich zur Tür, grüßte zurück oder hielt sich die Ohren zu.
»Otto, was brüllst du denn so?«, rief die Wirtin, ebenfalls mit einer volltönenden Stimme ausgestattet.
»Oha«, ahnte Alma del Banco, »jetzt ist es vorbei mit der Ruhe.«
Ihre Tischgenossin nickte. Halb an Carla gewandt, sagte sie: »Pass mal auf, gleich gibt’s wieder den Kampf der Klötze. Da haben sich drei gefunden, so unterschiedlich sie auch sind.«
Clara stimmte zu, wenngleich nicht klar war, ob Gretchen Wohlwill sie angesprochen hatte oder die Freundin.
Genau genommen handelte es sich nicht nur um drei männliche Klötze, die das Ha-Ka lautstark in Besitz nahmen, sie hatten noch zwei junge, gut gelaunte Frauen im Schlepptau. Die waren nicht weniger laut, aber wohl nicht prominent genug, um Beachtung zu finden. Ihre Frisuren waren dem neuen Lebensgefühl entsprungen: Beide trugen Bubikopf. Das Haar war knabenhaft kurz geschnitten, es bedeckte gerade einmal die Ohren. Die eine hatte die unteren Enden spitz zu den Wangen hingelegt, sie erreichten beinahe die Nase und wiegten sich mit jedem Schritt. Nicht so die Schmachtlocke auf der rechten Stirnseite, die wirkte wie angeklebt. Bei der anderen war das schwarze Haar knapp unter dem Ohr in einer geraden Linie geschnitten, von Ohr zu Ohr. Vorn fiel es ihr als Pony in die Stirn. Die Lidränder waren mit Kajal nachgezogen, was ihre Augen noch größer erscheinen ließ. Überhaupt fehlte es nirgends an Schminke. Viele Frauen zeigten ihr neues Selbstbewusstsein inzwischen auf diese Weise.
Ellen saß noch immer in der Nähe des Tresens an einem schlichten runden Tisch. Sie tauschte vielsagende Blicke mit Anni. Sie kam sich fast alt vor mit ihren vierunddreißig Jahren. Dabei verstand sie sich auf das Modische. Als Schneiderin war sie keine ausgewiesene Frisurenexpertin, aber sie wusste, wie man sich vorteilhaft und zeitgemäß kleidete. Die weit ausgestellte Hose der einen wäre für sie ganz gewiss nichts. Und diese riesige rote Schleife um den Hals, nein, das würde nicht zu ihr passen. Auch zu Clara nicht, die doch immerhin fast acht Jahre jünger war, das Nesthäkchen in der Familie. Sie mochten es beide dezenter, eleganter, weniger burschikos. Ellen trug ihr Haar schulterlang, die Schwester ließ es wachsen, und jetzt, während der Arbeit, band sie es zu einem Pferdeschwanz zusammen.
»Bier, Frollein Anni, und Likör für die Damen«, rief einer der Klötze. Es war Emil Maetzel, wusste Clara, Maler und Sammler sogenannter Negerplastiken. Er war ganz eingenommen von der Kunst urwüchsiger Völker. Somit folgte er einem Trend in der aktuellen Kunstszene. Auf jeden Fall fand Clara es außergewöhnlich, sie hatte sich bislang nicht damit beschäftigt, kannte lediglich einige seiner Bilder. Sie wunderte sich, dass er um diese Uhrzeit schon mit Malerkollegen auf Zechtour war, wo er als Architekt und Oberbaurat doch einem ehrbaren Brotberuf in der Hamburger Baudeputation nachging. Ein echtes Alphamännchen.
Ebenso wie seine beiden Kollegen, Otto Tügel, der sich gerne Tetjus nannte, ein Was-kostet-die-Welt-Typ und Maler wie der Dritte im Bunde: Max Schwartau. Von seiner Statur her wirkte er schmalbrüstig. Max war auch bildhauerisch tätig und in seiner künstlerischen Ausrichtung sicher einzigartig in Hamburg.
Die beiden jungen Frauen hatte Clara noch nie gesehen, vielleicht waren sie früher schon mal hier gewesen, sie bediente ja noch nicht lange im Café. Allerdings hatte sie in ihren Abendschichten bemerkt, dass sich die weiblichen Begleitungen öfters änderten. Die Herren schätzten offenbar die Abwechslung. Es sollte ihr egal sein. Selbst wenn Emil Maetzel bestimmt schon Mitte vierzig war, vier Kinder hatte und ebenfalls mit einer Malerin verheiratet war. Einer, die Clara, die ja selbst den Pinsel schwang, verehrte: Dorothea Maetzel-Johannsen. Die hatte ihren Stil gefunden, das konnte man sagen, und die wollte sie unbedingt kennenlernen. Sie war die bessere Malerin in der Familie, Emil habe es neidlos eingeräumt, hieß es.
Ellen schien derweil in ein Flüstergespräch mit Anni vertieft zu sein. Clara lächelte. Sie hatte geahnt, dass die beiden nicht lange brauchen würden, um ins Gespräch zu kommen. Sie unterhielten sich wohl über die lautstarke Gruppe. Anni zapfte Bier, zwischendrin füllte sie zwei kleinformatige Gläser mit Sahnelikör, der war hier sehr beliebt und exklusiv.
»Alma, Gretchen, ihr beiden Süßen, natürlich seid ihr schon hier. Schönes Lotterleben, haha. Kommt, setzt euch zu uns, hier ist mehr Platz.«
Gretchen winkte ab. »Nee, nee, Otto, wir haben hier noch was zu beschnacken, kommen aber später drauf zurück, halt uns mal einen Platz warm.«
»Geht klar.«
Die Maler im Café kannten einander, waren vertraut, nicht nur beruflich, auch über wiederkehrende gesellige Veranstaltungen. Sie waren Mitglieder der Hamburgischen Sezession, einer Vereinigung von Künstlern, 1919 gegründet, mit hohen, überaus elitären Ansprüchen. Die nahmen nicht jeden auf, was manche ihrer Kollegen als dünkelhaft empfanden, weshalb sie sich von der Sezession abwandten, sogar solche, die bereits Aufnahme gefunden hatten. Auch Bildhauer und Architekten waren dabei und ein paar wenige Literaten und Kunstkritiker ehrenhalber. Hamburg gehörte nicht zu den Kunstmetropolen im Lande, also wollte man durch gewisse Qualitätsmaßstäbe das Niveau heben, wenngleich es sich über den Qualitätsbegriff natürlich trefflich streiten ließ.
Max Schwartau hob den Arm in Richtung Tresen, um sich bei Anni bemerkbar zu machen. »Ich nehm lieber erst mal einen Grog, bei der Kälte.« Er rieb seine Hände und klatschte ein paarmal, um sie zu beleben. »Vorhin waren meine Handschuhe weg, wer weiß, wer sich da wieder bedient hat.«
»Na, ich nicht, guck nicht so«, sagte eine der Frauen.
»Wer guckt denn?«
Die andere stieß sie an.
»Wieso? Warst du denn bei Max? Hast du etwa Geheimnisse vor mir?«, fragte sie mit neckischem Unterton.
»I wo, du weißt doch, unser Mäxchen hat seine schöne Russin, er ist da ganz ausgelastet.«
Sie kicherten.
»Gänse seid ihr«, rief Max, konnte sich aber ein verschmitztes Grinsen nicht verkneifen. Sicher gefiel es ihm, als Liebling der Frauen dazustehen.
»Alina«, mischte sich Otto ein, »für die würde ich auch alles andere stehen lassen, das könnt ihr man glauben.«
Max winkte ab, Emil lachte zustimmend, nickte eifrig. »Wir verdursten, Frollein Anni«, dröhnte er durch den Raum.
»Kommt!«, rief es zurück.
»Ja, Russin, viel Temperament bestimmt«, schwärmte Emil, »sie lebt schon lange in Hamburg, oder? Ist der Vater nicht Fellhändler? In den Colonnaden, glaube ich. Er soll wohl ziemlich reich sein, der kann mal was für den Kunstverein spenden.«
Max nickte, machte einen betretenen Eindruck, als wollte er das Thema wechseln.
»Und Alina ist ebenfalls künstlerisch tätig, wie man hört. Grafik, oder? Sehr interessant übrigens, wie diese Dada-Künstlerin, die die Fotomontage erfunden hat, Hannah Höch heißt sie.«
»Jaja, ich weiß, hab sie mal in Berlin kennengelernt«, erwiderte Max in seiner angestrengten, mauligen Art, »Alina macht das auch. Collagen aus Fotos, frei montiert und arrangiert, kombiniert mit Zeitungsausschnitten, Reklame und allem möglichen Alltagskram.«
»Kann man denn mal was von ihr sehen?«, fragte Emil.
»Hm, vielleicht demnächst. Ich glaube, sie bereitet was vor, für eine Galerie.«
»Du glaubst?«
»Gott, ja, was weiß ich!«
Emil musterte ihn mit befremdlichem Blick, hakte aber nicht weiter nach.
Clara schlängelte sich mit der Bestellung durch die Stuhlreihen. Nicht mehr lange und ihre Armmuskulatur würde sich straffen, bei den Gewichten, die sie stemmen musste. Sie stellte das Tablett lautstark auf dem Tisch ab.
»Hoppla, junge Frau. Sie gehen ja ordentlich drauflos«, witzelte Otto.
»Ist es denn nicht die große Liebe, Mäxchen, mit dir und der schönen Alina? Sag doch mal«, bohrte die mit den Kajalaugen.
»Ach, halt die Klappe, was geht’s dich an«, reagierte er unterdessen in einem seltsam bitteren, verdrießlichen Tonfall.
Sie setzte ob seiner uncharmanten Reaktion eine beleidigte Miene auf und wandte ihr Gesicht ab. Die andere stieß einen empörten Laut aus, schüttelte den Kopf.
»Na, na, na«, meinte Emil, »seid mal friedlich, ihr, also Prosit erst mal!«
Mehr schien ihm nicht einzufallen, wahrscheinlich redete er in dieser Weise auch mit seinen Kindern. Fehlte nur noch der Spruch »Nun gebt euch die Hand und vertragt euch«. Er hob sein Bierglas und nickte versöhnlich in die Runde. Die anderen ließen es gut sein und schlossen sich an.
Er war es dann natürlich wieder, der das Gespräch auf die großen Fragen der Kunst lenkte, obwohl dieses Thema vermintes Gelände war.
»Hab ich euch schon von meiner neuen Holzmaske erzählt? Letzten Sonnabend habe ich sie einem anderen Sammler abgekauft, hundert Mark hat der Hund dafür genommen, aber ich bereue es nicht.«
»Für hundert Mark hätte ich dir selbst so eine Maske geschnitzt, mein Lieber. Na, du kannst es dir ja leisten, Herr Oberbaurat«, frotzelte Max.
»Vergiss das. So eine afrikanische Maske von der Westküste hättest du nie hinbekommen. Dieser Ausdruck, diese Ausstrahlung, da steckt richtig Seele drin. Ich werde sie malen, als Stillleben, mit einer exotischen Pflanze, kann’s kaum erwarten.«
»Hast du nicht schon ein paar Dutzend Masken-Stillleben gemalt, Emil?«, fragte Alma amüsiert über zwei Tische hinweg. Seine Stimme war einfach nicht zu überhören gewesen.
»Nicht nur Masken, Alma. Ich besitze eine ganze Sammlung afrikanischer Stammeskunst, wie du weißt. Zum Beispiel Vasen, Schalen, bestens verziert mit gezackten Mustern, Tierfiguren aus Ton und aus Holz, dazu Speere und Trommeln. Das nenne ich wahre Kunst, natürlich und unverbildet.«
»Und fast schon in expressionistischer Manier, find ich. Es passt auch gut zu den gezackten Mustern, die man jetzt überall sieht«, warf die Frau mit der Schmachtlocke ein.
»Genau, Hedi, das passt prima zusammen.«
Otto kratzte sich das Kinn, den Kopf leicht geneigt, nachdenklich. »Weißt du, das mag alles ganz originell sein, und es gibt ja Käufer dafür, aber ich finde, es ähnelt einander so. Es verbraucht sich schnell.«
Emil kannte die Kritik, er hatte sie oft genug gehört, und er störte sich nicht mehr daran. Damit konnte er leben, denn die Aussteller, Galeristen und Kunstkritiker bedachten seine Kunst mit viel Lob. Und die positive Einschätzung seiner Frau sprach für seinen Stil, sie würde das sonst nicht sagen. Gelegentlich nahm sie selbst eines seiner Exponate in ihre Bilder auf. So falsch konnte er also nicht liegen. Zudem hatte er sich mit der Idee, das anstehende Künstlerfest unter dem Motto »Götzenpauke« laufen zu lassen, durchgesetzt. Es beschäftigte sich mit afrikanischer und ozeanischer Kunst, zumindest mit dem, was man dafür hielt. Gerade vorhin erst hatten sie ein Treffen vom eigens gegründeten Verein Künstlerfest Hamburg e. V. gehabt, das letzte vor dem gewichtigen Ereignis. Otto und Max waren ebenso mit von der Partie wie einige andere Malerkollegen. Ein solches Programm für drei Tage zu gestalten war mühselig und anstrengend. Am Sonnabend würde es endlich losgehen, dann weiter am Sonntag und schließlich noch einmal am Dienstag kommender Woche. Die halbe Stadt sprach davon, Hamburgs Künstlerfeste machten mittlerweile von sich reden.
Mit einem großmütigen Lächeln wandte Emil sich an Otto.
»Deine Produktion ist dagegen die reinste Wundertüte, mein Freund. Immer was Neues auf Lager, oder?«
»Ja nun, bloß nicht stehen bleiben, denk ich mir. Stillstand ist der Tod. Es gibt zum Glück nicht nur einen Stil, das ist doch beruhigend. Mich interessiert alles Mögliche, und Ausprobieren verbessert die Technik, nicht wahr?«
»Hast du nicht beim letzten Mal was von Surrealismus erzählt? Träume und so?«
Max brummte einen undefinierbaren Laut vor sich hin, Otto bezog ihn sofort auf sich.
»Na, was brummst du denn so, Maxe! Du mit deinen geometrischen Figuren! Ja, ich habe mit einem Bild angefangen und bin schon weit damit. Träume sind auch eine Realität, nicht wahr, und sagen was über dich und deine Beziehung zur Welt aus.«
»Über meine Beziehung zur Welt?«, fragte Max ungläubig.
»Klar doch, das gilt für uns alle. Im Gegensatz zu dir male ich meine Bilder gegenständlich, nicht so abgehoben abstrakt, damit keiner was kapiert. Nur verfremdet eben, in ungewohnten Zusammenhängen, nicht wahr? Du nickst, Lissi, du hast es sofort verstanden, oder?«
»Na klar, was meinst du, was ich nachts alles träume«, bestätigte diese, »da kommst du nie drauf.«
»Das kann ich mir denken«, feixte Max, der sich erneut einen bitterbösen Blick einhandelte.
»Du bist so ein Idiot heut, Pinselquäler«, fauchte Lissi ihn an.
Emil seufzte. »Och, Kinners …«
»Mit deinem Supremadingsbums. Allein schon das Wort«, setzte sie in gekränkter Manier nach. »Wer hängt sich denn so was in die Stube? Du bist der Einzige, der in Hamburg solche Sachen malt, dieses Superdingens, gibt dir das nicht zu denken?«
Den beiden Kollegen gelang es nicht, ihr vielsagendes Grinsen zu verbergen.
»Da hörst du es«, meinte Otto achselzuckend.
»Es heißt Suprematismus, Lissi, Su-pre-ma-tis-mus. Ach, was bringt es, mit Banausen über Kunst zu verhandeln! Du hängst dir eher den röhrenden Hirsch vom Königssee in die Stube, was? Kein Wunder, wenn du komische Sachen träumst …« Er imitierte einen röhrenden Hirsch, dass es eine Freude war. Sogar Lissi huschte ein Sekundenlächeln über ihre Kirschlippen, Hedi lachte wie ein Kind.
Der Gastraum füllte sich nun merklich. Manche schauten nur kurz herein, befanden, dass es zu voll oder zu verqualmt war, und zogen weiter.
Clara fiel die Gestalt einer Frau auf, die sich hinter der Garderobe aufhielt, ohne abzulegen, als wollte sie im Verborgenen bleiben. Versteckte sie sich? Der voll behangene Garderobenständer ragte ein Stück in den Eingangsbereich hinein. Die Frau lugte an den Mänteln vorbei in den Saal, als suchte sie jemand Bestimmten. Ihr Gesicht war von einer auffallenden Schönheit, fand Clara. Es hatte etwas Madonnenhaftes. Das dunkle brünette Haar, das sie offen trug, umspielte ihre Wangen und fiel in Wellen bis auf die Höhe ihrer Brust hinunter, es war dicht und hatte eine beachtliche Fülle. Auf dem Kopf saß als farblicher Kontrast eine schräg sitzende rote Baskenmütze. Einzelne Schneeflocken hatten sich auf ihrem Haar niedergelassen, sie waren noch nicht geschmolzen. Ihr Blick schien sich an Max Schwartau zu heften. Wie fein ihre Gesichtskonturen geschnitten waren, konnte ein Augenmensch wie Clara selbst auf mehrere Meter durch die trübe Wand aus Zigarettenrauch hindurch erkennen. Dann verstellte ein Gast Claras Blick und sie wandte sich ihrer Arbeit zu. Sie sah nur noch im Augenwinkel, wie die Eingangstür zufiel.
Weitere Gäste blickten zum Tisch der Maler hinüber, mehr oder weniger amüsiert. Ein röhrender Hirsch war selbst in diesem Lokal nicht alltäglich. Emil vergrub sein Gesicht in den Händen, sodass nur der Bart zu sehen war. Behäbig bewegte er den Kopf hin und her. Otto hatte seine Arme vor der Brust verschränkt und guckte aus dem Fenster, als würde er nicht dazugehören, und Max schlürfte vernehmbar einen Schluck Grog aus seinem Glas. Gretchen und Alma kicherten, sie kannten das exzentrische Gehabe ihrer männlichen Kollegen längst. Warum musste Emil immer wieder mit der Malerei anfangen? Andererseits: Es war ihre gemeinsame Berufung, ihre gemeinsame Leidenschaft, es war ihr Leben. Etwas anderes, als Kreatives zu schaffen, wollten sie nicht. Sie hatten nun einmal dieses Talent. Gretchen konnte es gut verstehen. Über was hätten sie reden sollen? Nur dass sie unterschiedliche Vorstellungen von einem gelungenen Kunstwerk hatten und von den verschiedenen Stilen und Wegen, die zu ihm führten.
Max galt als derjenige, der in der Kunsttheorie sehr gut beschlagen war, und war mit seinen vierundfünfzig Jahren der Älteste am Tisch. Er hatte viele Kurse in Arbeiterbildungsvereinen gegeben, war es gewohnt zu reden. Gleich würde er wieder eine Kostprobe geben, nur etwas geschwollener, man war ja unter sich. Und so kam es.
»Mein guter Freund Kasimir Malewitsch, den ich 1915 in Russland besuchte, hatte eine Ausstellung in Petrograd, wo er sein Bild ›Schwarzes Quadrat‹ zeigte. Ihr kennt es, nur ein schwarzes Quadrat auf weißem Grund. Phänomenal! Alle waren wie Lissi, haben nichts verstanden, aber keiner ging unberührt nach Hause.«
»Soso, der Kasimir …«, ulkte die Angesprochene despektierlich. Sie war noch immer gereizt.
»Jawohl, meine Liebe. Er hat sich vollkommen vom Gegenständlichen gelöst, sprach sogar von der ›Diktatur des Gegenständlichen‹. Es ging ihm um die reine Empfindung der Form, auf die alles Gegenständliche zurückzuführen ist, nicht um die Gegenstände an sich, sondern um die reine Abstraktion. Das schwarze Quadrat steht für die Empfindung und das weiße Drumherum für das Nichts außerhalb der Empfindung. Dargestellt in geometrischer Formensprache. Das ist revolutionär.«
Nach und nach hatten sich sämtliche Gäste zu Max und seinen Freunden gewandt, einer klatschte, andere machten interessierte Gesichter, manche runzelten die Stirn, aber alle schwiegen.
»Weg mit dem Ballast der Gegenständlichkeit, es lebe die Gegenstandslosigkeit«, rief er sein Credo in den Raum, sein Manifest, sein Programm, ausgedrückt in einem Satz. Die Lautstärke nahm zu, Klatschen und vereinzelte Bravo-Rufe bestärkten den Redner wieder einmal. Wenn es drauf ankam, wenn er sich gefordert fühlte, konnte er seine Zuhörer mitreißen. Ob die ihn allerdings wirklich verstanden, wer wusste das so genau?
Emil hielt sein Bierglas in Annis Richtung und rief: »Machst du uns mal ’ne Runde, Frollein Anni? Und schreib’s auf meinen Deckel.«
Auf die Fahrt mit der Straßenbahn hatten die beiden verzichtet. Mehr als dreißig Minuten dauerte der Fußmarsch bis zur elterlichen Wohnung in der Hopfenstraße auf St. Pauli. Richtig kalt war es an diesem Dienstag in den winterlichen Straßen, kalt und dunkel, aber die frische Luft tat ihnen gut. Nun half nur eine heiße Tasse Tee, oder zwei.
»Sag den Eltern bitte nicht, dass ich mich von Edgar trenne. Das werde ich selber machen müssen, aber nicht heute«, bat Ellen.
»Ich sage schon nichts, wo denkst du hin. Aber wie soll es denn jetzt weitergehen? Du kannst nicht erwarten, dass Edgar aus eurer Wohnung auszieht, er hat sich im Grunde nichts zuschulden kommen lassen«, gab Clara zu bedenken.
»Das würde ich auch nicht von ihm verlangen, es geht nur einfach nicht mehr mit uns. Seine Trägheit bringt mich um. Als ob er schon tot wäre. Er kommt von der Arbeit, isst sein Abendbrot, setzt sich aufs Sofa, liest die Zeitung, redet nur das Allernötigste und um halb zehn macht er sich bettfertig. Ein grundanständiger Kerl, aber von einer Bräsigkeit, die sich kein Mensch vorstellen kann. Er hat für nichts Interesse, und wenn ich ihm was erzähle, macht er ›Hm‹ und ›Hm‹ und immer nur ›Hm‹. Wenn ich dieses ›Hm‹ schon höre, bin ich kurz vor dem Koller. Verstehst du das?«
Erstaunlich, wie lebensnah sie ihren Ehemann parodieren konnte, den trüben Gesichtsausdruck, das behäbige Wiegen des Kopfes, seine ganze schwerfällige Art.
»Aber ja, Ellen, so wie du es erzählst, klingt es schon fast wieder komisch, aber natürlich kann man so nicht leben, so viel steht fest.«
»Als ich ihm sagte, dass ich ihn verlasse, fragte er nur, ob ich einen anderen Mann habe. Als ich sagte ›Nein, Edgar, das ist es nicht‹, schien er richtig erleichtert zu sein, aber du kannst dir denken, dass er nicht viele Worte gemacht hat. Er hat nur ein paarmal geschluckt und seine Augen wurden noch matter, sonst hat er sich nichts anmerken lassen. Mir graut davor, nach Hause zu gehen, aber solange ich nichts anderes habe, bleibt mir nichts übrig.«
»Als du ins Ha-Ka kamst, hab ich mir schon so was gedacht. Wenn du nicht zu Hause an deiner Nähmaschine sitzt, muss etwas passiert sein. Ich freue mich jedenfalls, dass du mich eingeweiht hast, große Schwester. Weiß Jakob schon Bescheid?«
»Nein, außer dir weiß es keiner.«
Das war nun wirklich rührend, fand Clara. Wie sich die Zeiten doch änderten. Es hatte zwar immer schon ein herzliches Verhältnis zwischen den Mortensen-Geschwistern bestanden, doch war der Altersunterschied zwischen ihr und Ellen fraglos eine deutliche Barriere gewesen. Wenn die Große früher ein Problem gehabt hatte, hatte sie sich eher an Jakob, den Bruder, gewandt, der nur zwei Jahre jünger war als sie. Er konnte furchtbar vernünftig sein und im nächsten Augenblick richtig albern, so als wollte er sich nicht für eine Seite entscheiden. Und solche Anwandlungen zeigte er ab und zu bis heute, was ziemlich verwirrend sein konnte, vor allem bei Menschen, die ihn nicht kannten. Ellen kam damit gut zurecht. Seitdem Clara den Sprung nach Berlin gewagt hatte, um dort ihre ersten drei Semester Malerei zu studieren, hielt die Schwester sie offenbar für ausreichend gereift für ein Gespräch zwischen zwei erwachsenen Frauen.
Überhaupt spielte ihr Nesthäkchen-Dasein in der Familie kaum mehr eine Rolle, hatte Clara mit einer gewissen Erleichterung festgestellt, nachdem sie seit Kurzem wieder in Hamburg lebte. Dass Ellen sie sogar als Erste ins Vertrauen gezogen hatte, war eine neue Erfahrung für sie, die ihr gefiel.
»Von Jakob wirst du kaum Kritik hören, er hat nie verstanden, wie du an Edgar geraten bist. Ich übrigens ebenso wenig, aber das weißt du ja.«
»Na ja, er ist wirklich kein schlechter Kerl, irgendwie tut er mir leid. Er will sich nichts anmerken lassen, aber er leidet wie ein Hund. Er kommt einfach nicht aus seinem Mustopf raus, und ich weiß, dass er sich nie ändern wird. Es ist besser so. Manchmal fühle ich mich wie lebendig begraben.«
Clara hakte sich bei Ellen unter. »Weißt du was, Schwesterherz, eigentlich sind wir jetzt beide in einer ähnlichen Lage, aus unterschiedlichen Gründen zwar, aber immerhin. Wir suchen beide eine neue Bleibe. Du wegen Edgar, und ich, weil ich bei den Eltern nicht mehr leben kann, sosehr ich auch an ihnen hänge. Sie sehen mich inzwischen zwar als erwachsen an, glaube ich, aber trotzdem. Ich muss raus aus dem Nest, Hamburg auf eigene Faust entdecken, es ist an der Zeit. Berlin hat mich schon sehr verändert, das merke ich erst jetzt, seitdem ich wieder hier bin.«
Ellen blieb einen Augenblick lang stehen. »Das hört sich ja an, als ob …«
»Als ob was?«
»Wie …«
»Na?«, lachte Clara, »komm schon, sprich es aus.«
»Du würdest mit einer alten Frau auf Wohnungssuche gehen?«
Die Jüngere nahm Ellen in den Arm und drückte sie fest an sich. Sonst war es immer umgekehrt gewesen. Sie setzte ein Zeichen. »So mookt wi dat, ole Fro«, meinte Clara mit einem Augenzwinkern.
Sie sahen sich an, dann prusteten sie los und lachten.
»Du, ich freu mich«, sagte Ellen.
Clara nickte fröhlich zustimmend, gab aber zu bedenken: »Zwei Frauen auf Wohnungssuche in Hamburg, wo es hier schon lange keine bezahlbaren Unterkünfte mehr gibt. Beide kein Geld, die eine von ihrem Mann getrennt, die andere eine studierende Malerin, unverheiratet. Wenn wir überhaupt was finden, geht es nicht ohne einen Bürgen. Bisher haben wir nur auf dem Papier die gleichen Rechte wie die Männer.«
»Jakob muss für uns bürgen. Er ist Beamter, das wird bestimmt reichen, da bin ich sicher«, warf Ellen ein.
»Ja, davon kann man ausgehen. Wir müssen uns ganz bald mit ihm treffen, am besten morgen, nach seiner Arbeit. Er soll sich ruhig umhören, er kommt ja beruflich viel rum. Und Ove ebenso.«
»Jaja, Ove«, wiederholte Ellen mit einem süffisanten Lächeln.
Die Jüngere knuffte sie in den Arm.
Sie waren in der Hopfenstraße angekommen, es brannte Licht in der elterlichen Wohnung.
»Ich komm noch mit hoch, Vater und Mutter begrüßen«, beschloss Ellen. »Du musst in den nächsten Tagen dein Kleid anprobieren, ich bin beinahe fertig damit. Dein Künstlerfest ist ja schon am Wochenende.«
»Oh, wie schnell du bist, das ist ja großartig. Ohne deine Schneiderkünste wäre ich aufgeschmissen. Dann komme ich morgen oder übermorgen zu dir. Im Moment weiß ich gar nicht, wo mir der Kopf steht, aber das ist in Ordnung. Ich spüre, dass es mir richtig guttut. Ach, wir müssen noch so vieles miteinander besprechen.«
Clara konnte sich von einem Moment auf den anderen für Neues begeistern und fühlte sich dann schnell bemüßigt, Verantwortung zu übernehmen. So wie jetzt. Es war Sonntag, der 13. Februar 1921, und sie befand sich im Thalia Theater am Pferdemarkt. Das Künstlerfest, eine Art Faschingsveranstaltung, das unter dem Motto »Die Götzenpauke« angekündigt worden war, lief heute den zweiten Tag. Clara engagierte sich seit Wochen für die Vorbereitungen, ihre Kolleginnen und Kollegen hatten bereits im vergangenen Herbst mit den Planungen begonnen. Da war sie noch in Berlin gewesen. Die aufwendige Dekoration und die Ausstattung der zahlreichen Räume und Säle hatte ihnen alles abverlangt. Das komplette Innenleben des renommierten Theaters sollte dem Motto des Festes angepasst werden, so war es besprochen worden.
Die Planung der Raumgestaltung lag in der Hand einiger Architekten, die der Hamburgischen Sezession angehörten, die konkrete Ausführung übernahmen Studenten und Professoren der Kunstgewerbeschule. Der Anspruch war, aus dem Fest und seiner dekorativen Ausgestaltung ein Gesamtkunstwerk zu schaffen. Tagsüber konnten neugierige Besucher gegen Eintritt die Räume besichtigen und die aufeinander abgestimmten bunten Kulissen bestaunen. Manche von ihnen mussten auf die Besucher wirken, als entstammten sie einem Märchen. Für die Studenten war die Arbeit nützlich und praktisch zugleich, sowohl in künstlerisch-gestalterischer als auch in handwerklicher Hinsicht. Natürlich hatte Clara an allen Festtagen freien Zutritt. Die teuren Eintrittskarten hätte sie sich sonst niemals leisten können. Das eingenommene Geld sollte für ein eigenes Ausstellungsgebäude des Kunstvereins angespart werden.
Gleich nachdem sie nach Hamburg zurückgekehrt war, hatte sie an der hiesigen Kunstgewerbeschule vorgesprochen und ihre sorgfältig vorbereitete Kunstmappe den beiden Dozenten Carl Otto Czeschka und Richard Luksch vorgelegt. Es war dann alles sehr rasch gegangen mit ihrer Aufnahme. Die gut bewerteten Leistungsbescheinigungen der Berliner Damenakademie für die bildenden Künste hatten das Ihre getan, waren allerdings nicht allein ausschlaggebend gewesen.
»Auf dem Weg machen Sie mal weiter, junge Frau«, hatte der Professor gesagt, »das macht sich.«
Das Lob hatte ihr gutgetan, aber natürlich hatte sie gleich wieder gespürt, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. Furchtbar! Immerhin war sie nun in der Czeschka-Klasse eingeschrieben, wo sie ihre Studien der Malerei und der Grafik weiterentwickeln konnte. Und Richard Luksch hatte ihr die frei gewordene Aushilfsstelle im Ha-Ka beschafft, ein reiner Glücksfall. Auf irgendeine Weise hatte sie seither das Gefühl, dass alles zusammenpasste und dass ihr in diesem neuen Lebensabschnitt nichts Dramatisches passieren konnte. Sie fühlte sich stark. Nachdem sie beiläufig erwähnt hatte, dass sie im Rahmen einer Theateraufführung in der Berliner Akademie schon einmal großflächig gemalt hatte, war dann auch gleich klar gewesen, an welcher Stelle sie eingesetzt werden sollte.
»Machen Sie doch einfach mal einen Entwurf für das zentrale Bühnenbild, das während des Festes ständig im Bühnenhintergrund zu sehen sein wird, Fräulein Mortensen, wie wär’s? Etwas Exotisches sollte es sein, nicht zu unruhig, eine traumhafte Weltgegend, unschuldig und unberührt, hell und freundlich, da, wo jeder einmal hinwill«, hatte Luksch ihr vorgeschlagen.
»Ich?«, hatte sie gestammelt. »Aber …«
»Schön, schön, dann zeigen Sie uns allen mal, was genau und wie Sie sich das so vorstellen, wie Sie bei der Umsetzung vorgehen wollen, in künstlerischer und handwerklicher Hinsicht. Ein Konzept. Wie berechnen Sie den Zeitaufwand, wie viele Helfer benötigen Sie, was brauchen Sie an Material und in welcher Menge? Wie viel kostet das? Denken Sie also bitte auch an den kaufmännischen Aspekt Ihres Projekts. Machen Sie eine Kostenaufstellung und begründen Sie alles gut. Kriegen Sie das hin?«
Ihres Projekts, hatte er gesagt, Ihres Projekts. So schnell ging das hier?
Clara hatte genickt, erst verhalten, dann etwas überzeugter, schließlich war ihr sogar ein breites Lächeln entkommen. Ihr Gegenüber hatte sich von seiner humorvollen Seite gezeigt, indem er zeitgleich ihre Mimik kopierte und ihr so einen Spiegel vorhielt. Demnach musste sie anfangs sehr skeptisch dreingeschaut haben. Aber ja, der Sprung ins kalte Wasser passte recht gut zu ihrem momentanen Lebensgefühl der inneren Stärke.
Einige Monate waren seither vergangen.
Gerade streifte sie durch das weitläufige Gebäude, so wie gestern. Sie wollte prüfen, ob oben auf dem Mittelrang eine der Wandverkleidungen hielt, da sie heute Mittag instabil gewirkt hatte. Einer der Studenten sollte ein paar zusätzliche Schrauben einziehen. Zudem hatte sie sich vorgenommen, das Treiben im Festsaal einmal von der Brüstung aus zu betrachten. Und dann musste sie sich unbedingt einen Eindruck von diesem grandiosen Kronleuchter machen, der dem Parkettsaal mit seiner Festbeleuchtung einen besonderen Glanz bescherte. Er stand gerade in voller Beleuchtung und brachte ihr Bühnenbild zur Geltung. Sie kam gegen ein Gefühl des Stolzes nicht an. Warum sollte sie auch. Sie wusste, dass ihr etwas gelungen war, und das Lob vonseiten der Künstlerschaft tat ihr gut.
Clara hatte sich von Ellen ein handliches Stofftäschchen aus einem übrig gebliebenen Flicken schneidern lassen, mit einer Kordel zum Umhängen. Die Kordel trug sie quer über den Oberkörper, sodass sie beide Hände frei hatte. In dem Täschchen hielt sie einen Papierblock und ein paar Grafitstifte parat, um diesen Leuchter zu skizzieren. In der Gewerbeschule würde sie sich dann an die Ausarbeitung machen.
Nicht so unbedenklich, wie man meinen könnte, so eine Großveranstaltung. Mehr als tausend Menschen fanden heute im Thalia Platz, eigentlich wären es noch mehr gewesen, aber den zweiten und dritten Rang hatte man nicht in die Planung einbezogen und gesperrt. Es wäre zu unübersichtlich geworden. Die geöffneten Räume, Säle, die gastronomischen Bereiche sowie die Foyers waren schon jetzt trotz einiger Lücken erfreulich gut gefüllt.
Clara wusste, dass sie vor übermütigen Männern auf der Hut sein musste. Sie war sich ihrer Wirkung auf das andere Geschlecht bewusst, und das bunte körperbetonte Flickenkleid, das Ellen ihr auf den schlanken Leib geschneidert hatte, verstärkte männliche Begehrlichkeiten. Da kursierten Anzüglichkeiten im Publikum, die ihr leicht zu viel werden konnten. Zotige Witze, das Betatschen weiblicher Hintern, das Grapschen geiler Hände, es schien heute alles erlaubt zu sein. Fasching eben, Ausnahmezustand. Sie hatte das durchaus kommen sehen, naiv war sie nicht. Jakob und Ellen, mit denen sie sich vorgestern getroffen hatte, um den Bruder über ihren Umzugsplan einzuweihen, waren nicht müde geworden, sie eindringlich vor »wollüstigen Böcken« zu warnen. Sie musste ihnen ja nicht gestehen, dass sie ähnliche Feste bereits aus Berlin kannte. Allerdings ging es hier ungezügelter zur Sache, nicht nur auf der Tanzfläche. Jakob hatte ihr in seiner fürsorglichen Art sogar vorgeschlagen, Ove zu fragen, ob er nicht »dienstlich« an der Festivität teilnehmen solle, um ein Auge auf sie zu werfen. Er hätte sich nicht lange bitten lassen, das war klar. Na, das fehlte noch, hatte Clara sich empört gegeben, sie sei schließlich kein kleines Mädchen mehr! Jakob sei ja schlimmer als der Vater! Tatsächlich, so gestand sie sich gerade ein, fände sie es überaus reizvoll, wenn Ove da wäre, um sie in ihrer figurbetonten Garderobe zu bewundern. Sie lächelte, denn sie wusste, dass Ove sie mit seinen runden großen Augen angucken würde und keinen Ton herausbrächte. Dazu kam, dass der leider viel zu brave Ove eine Macke hatte, die sich in Verbindung mit ihrer eigenen nicht besonders vorteilhaft ausnahm. So wie sie errötete, kam er leicht ins Stottern, wenn sie in seiner Nähe war. Kopfschüttelnd stellte sie sich dieses peinliche Szenario vor und war damit, wie es gerade war, doch ganz zufrieden.
Auf den beiden sanft ansteigenden Aufgängen, die vom Eingangsvestibül zum Logenrang und von dort aus weiter zum Mittelrang hinaufführten, saßen Dutzende Gäste auf den flachen Stufen. Clara versuchte, sich durch die Menschenmenge hindurchzuschlängeln, ohne die knutschenden und fummelnden Paare allzu sehr zu bedrängen. Überall abgestellte Gläser, bloß nichts umstoßen, dachte sie. Wahrscheinlich war auf der ersten Ranggalerie, die in diesem Theater den Mittelrang darstellte, noch am meisten Platz. Jedenfalls war sie die Einzige, die den Weg nach oben nahm. Wer mochte sich schon zwischen all die schwitzenden Menschenleiber hindurchknautschen, wenn es nicht unbedingt nötig war. Je höher sie stieg, desto schwächer erschien ihr die Treppenbeleuchtung und umso mutiger gingen die Paare zur Sache. Lustvolles Stöhnen war deutlich vernehmbar, dazu hochgeschobene Kleider, transparente Strümpfe, gebückte Haltungen, geöffnete Münder, aufgeknöpfte Hosen. Halb unterdrückte spitze Schreie hörte sie überall. Einer der Treppensitzer hielt von hinten Claras Beine umschlungen, während sich eine Hand unter ihr Kleid schob und am bestrumpften Innenschenkel zielstrebig hinaufwanderte. Ein raunendes, sabberndes Gebrabbel begleitete die Aktion. Sie klammerte sich an den Treppenlauf, riss ihr rechtes Bein entschlossen nach oben und hatte Glück, sie traf anscheinend eine empfindliche Stelle an seinem Kinn. Sie vernahm einen Schmerzenslaut, worauf sich die Hände sofort von ihrem Körper lösten. Clara stieß ein junges Paar unsanft zur Seite und überwand weitere Stufen. Nahm das denn gar kein Ende? Und wie erst würde es in den Logen zugehen? War sie hier in ein Freudenhaus geraten? Sie schüttelte sich kurz, fühlte sich nun doch ein wenig aus der Fassung gebracht. Ellen würde sich bestätigt fühlen, Jakob sowieso. Der musste davon nichts wissen.
Der Mittelrang verlief durchgehend an den beiden Längsseiten des Theaterraumes über eine der Schmalseiten glockenförmig zur Bühne hin. Hier hatten die Planer zusätzlich zu dem darunter liegenden Logenrang seitlich jeweils weitere fünf der in Hamburg so beliebten Logen eingebaut, mit guter Sicht auf die Bühne. Man war gerne unter sich und schätzte eine gewisse familiäre Intimität, selbst im Theater. Ansonsten war der Mittelrang mit zahlreichen Sitzplätzen ausgestattet.
Man hatte von hier aus einen ausgezeichneten Blick auf das Geschehen auf der Tanzfläche und vor allem auf diesen fantastischen Kronleuchter. Im Moment war ihr aber nicht mehr danach, ihn zu skizzieren, sie musste erst einmal durchatmen. O Gott, hoffentlich lief der Kerl ihr nicht hinterher. Ruckartig wandte sie sich um. Sie hatte fast nichts von ihm gesehen, nur seine Hand deutlich gespürt, sie würde ihn wohl nicht erkennen. Dieser besoffene Klappskalli, ärgerte sie sich. Unmöglich! Lieber in der Nähe anderer Leute bleiben.
Wie Clara vermutet hatte, war es hier oben nicht überfüllt, es gab großzügige Lücken zwischen den Zuschauergruppen. Jemand huschte an ihr vorbei, sie zuckte zusammen. Wo kam diese Gestalt denn plötzlich her? Mehr aus dem hinteren Bereich der Galerie, der nicht gut ausgeleuchtet war. Da reichte sogar das Licht des Kronleuchters nicht hin, er streute seine Helligkeit eher nach unten.
Ein dunkel gekleidetes Wesen, vom Bewegungsablauf her weiblich, maskiert wie die meisten Besucher, hochgewachsen, schmal, wendig. Ganz dicht wieselte es an ihr vorbei, streifte sie am Oberarm, murmelte etwas Unverständliches, vielleicht ein Pardon? Es trug eine schwarze, weit ausgestellte Pluderhose mit einem gestickten Muster. Ein in sich verschlungenes Motiv, nicht floral, eher kristallig. Ja, es sollten Eiskristalle sein. Sehr aufwendig und kunstvoll gearbeitet. Mutter hatte eine Brosche, die ähnlich filigran aussah. Was war denn das für ein betörender Duft? Eine frische Zitrusnote, es könnte Apfelsine sein, zugleich war da auch eine gewisse melancholische Tiefe, nur leicht, doch wahrnehmbar. Vielleicht Iris, Vanille und ein bekanntes Gewürz, Clara kam nicht drauf. Sinnlich auf jeden Fall, orientalisch, romantisch. Er passte nicht recht zu den Eiskristallen, fiel ihr auf, doch was machte es? Sie mochte den Duft sofort, gerne hätte sie sich nach diesem Parfüm erkundigt, aber die Gestalt war verschwunden. Einfach weg. Wahrscheinlich durch eine der Seitentüren. Der Duft wirkte noch einen Moment lang nach. Was für ein Abend.
Drunten im Parkett brodelte es. Die Lautstärke des Orchesters war enorm.
Es war bereits nach zweiundzwanzig Uhr und alles, was im Hamburger Kunstbetrieb Geltung beanspruchte, war erschienen, um ja nichts zu verpassen und natürlich um gesehen zu werden. Seit gestern wusste sie, was es hieß, die Nacht zum Tag zu machen. Die Zeit wurde schlankweg außer Kraft gesetzt. Vor allem die Vertreter der malenden Zunft verstanden es, auf die Pauke zu hauen, auf die »Götzenpauke« gewissermaßen. Die Herrschaften überboten sich auf der Tanzfläche förmlich in immer neuen Verrenkungen, Drehungen, Sprüngen und tierisch anmutenden Kapriolen, so als wären sie selbst Bühnendarsteller. Als Hamburgerin wusste Clara, dass man hier nicht so unterkühlt war, wie von Zeitgenossen aus anderen Landesteilen gern behauptet wurde. Allerdings war der Alkohol dabei durchaus förderlich. Es war, als müsste das verpasste Leben der letzten Jahre nachgeholt werden. Mittlerweile gab es auch wieder Hochprozentiges, zwar für teures Geld, doch es war erhältlich. Statt mit Sekt und Wein konnte man sich ebenso mit Bier begnügen. Viele der Künstler lebten das Jahr über nicht in Saus und Braus. Wer hatte sich in Kriegszeiten schon für die Malerei interessiert oder gar Kunstwerke gekauft? Das kulturelle Leben begann gerade erst wieder, Blüten zu treiben. Freilich hatten sich heute einige wohlhabende Maler eingefunden, die sich gegenüber ihren Kollegen großzügig zeigten, genau wie ein paar wenige Sammler, Mäzene und Kunstförderer, die gern gesehene Gäste waren. Sie waren für die hiesige Kunstszene unersetzlich, etwa als einflussreiche Vermittler, Käufer und Wohltäter im Hintergrund.
Der Kapellmeister der Hamburger Kammerspiele, Ernst Roters, hatte speziell für die »Götzenpauke« die Musik komponiert, laut, rhythmisch, elektrisierend, mit viel Getrommel. Das Ballorchester befand sich vor der Bühne, während sich auf ihr Bewegungskünstler aller Art abwechselten. Im Augenblick zeigten Lavinia Schulz und ihr Partner Walter Holdt einen ihrer expressionistischen Ausdruckstänze. Sie waren Maskentänzer, die weit über Hamburgs Stadtgrenzen hinaus berühmt waren. Die selbst entwickelten Ganzkörpermasken, unter denen sie sich verbargen, wirkten eindrucksvoll befremdlich. Alles, was zählte, war der künstlerische Ausdruck, die Bewegung, die Energie, die auf das Publikum überfloss. Das Paar war dafür bekannt, dass es für seine Darbietungen kein Geld nahm. Das hätte sie beleidigt, entsprach nicht ihren Vorstellungen von Kunst. Wovon sie lebten, war vielen ein Rätsel. Vielleicht von essbaren Zuwendungen? Es konnte nicht ausreichend sein, angeblich standen sie des Öfteren vor dem Hungertod. Von dieser Art der Selbstzerstörung waren sie nicht abzubringen. Ein sehr exzentrisches Paar, äußerst kreativ, vor allem Lavinia. Sie hatte sogar ein Aufzeichnungssystem erfunden für die Schrittfolgen und Besonderheiten ihrer Tänze.
Dieser Kronleuchter! Clara fixierte ihn, kniff ihre Augen bis auf einen schmalen Schlitz zusammen, bis sie ihn als riesige funkensprühende Lichtquelle wahrnahm, wie mit tausend Wunderkerzen bestückt. Faszinierend. Nie zuvor hatte sie Ähnliches gesehen, sie würde ihn auch ohne Skizze in ihrem Gedächtnis bewahren.