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Aus Schreibaufgaben entstanden, präsentiert Axel Burghausen in vielfältigen Texten seinen Blick auf das Innere des Menschen und dessen Wahrnehmung der äußeren Welt.
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Seitenzahl: 67
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Die Texte dieses Buches sind im Rahmen eines Online-Seminars Schreiben an der VHS Duisburg entstanden. Da ich jeweils auf die mir gestellten Aufgaben – wenn auch häufig sehr frei – reagiert habe, sind sehr unterschiedliche Texte dabei entstanden, die wahrscheinlich nur in Ansätzen einen persönlichen Stil erkennen lassen. Dennoch hat sich in den zwei Jahren meiner Kursteilnahme einiges entwickelt.
Ich habe mich dazu entschlossen, meine Texte nicht in der Reihenfolge des Entstehens, auch nicht alphabetisch, sondern in loser Form nach Themen geordnet zu präsentieren. Einiges hätte ich auch anders zusammenfügen können.
Die Kurzgeschichten sind alle im Rahmen des Schreibseminars entstanden. Mit dem kurzen Text „SZ 2235A“ hatte ich mich zu Beginn vorgestellt. „Weihnachtlicher Monolog“ ist eine Kurzfassung meiner „Spiegelgeschichte“, die ich mit dem Gedicht „Im Spiegel“ bei einer Studioaufführung des VHS-Theaterkurses vorgetragen habe. Der Haiku „Corona“ entstand unabhängig von VHS-Aktivitäten.
Ich danke Elke Bockamp (Schreiben) und Marion Bachmann (Schauspiel) für die Kursleitung und ihre jeweiligen Anregungen. Vor allem danke ich Dr. Claudia Schadt-Krämer für die Begleitung meiner Bemühungen, die technische Hilfe und ihre Mitarbeit bei der optischen Gestaltung meines Buches. Das Titelbild entwarf Marthe Herchert, der ich ebenfalls herzlich danke.
SZ2235 A
Spiegelgeschichte
Weihnachtlicher Monolog
Tee-Zeit
Zwei Stück Zucker
Pythi
Innenwelt der Außenwelt
Ein Vater
Martha
Ellen
Auch eine Fortbildung
Auf den Hund gekommen
Am Innenhafen
Gleichgewichtsverlust
Größte Herausforderung
Klang der Leere
Ewiger Karneval Ein Blick ins Jahr 2023
Ein Problem
Das wird bleiben…
Schattenexistenz
Begegnung
Todesbeschimpfung
Des Pudels Kern
Corona mordet Tom nicht
Kofferparabel
Ich drücke die Klinke. Ich zögere noch. Dann schiebe ich die Tür auf. Zögerlich, doch unwiderruflich. Noch ist niemand da. Ein heller Raum, Da sind Tische, da sind Stühle. Ich setze mich. Ich warte. Gelegentlich blicke ich auf die Tafel. Steht dort eine Tafel? Ich fühle mich verunsichert: der falsche Raum, die falsche Zeit? Ist der Kurs abgesagt worden? Das müsste ich doch wissen. Warum erscheint nicht wenigstens die Kursleiterin?
Ich sitze in einem Raum ohne Kursleiterin, ohne Teilnehmer, allein, auf einem Stuhl mit Lehne. Doch kann ich mich hier zurücklehnen? Ich sitze in einem Kursraum ohne Kurs. Spreche ich mit mir selber? Sehe ich mich selber? Ist da ein Spiegel?
Ich sitze nicht in einem Raum und schaue nicht auf eine Tafel. Es gibt keinen Kurs, es gibt keine Kursleiterin. Sie ist digital, ich kann sie anstellen und abstellen, ich kann mit ihr reden, ohne dass sie existiert. Existiere ich? Bin ich nur das, was ich hier eintippe? Bin ich auch nur digital? Ich bin doch analog, oder?
Im Spiegel
Der Spiegel spiegelt das Bild ins Spiegelbild Doch wo stecke
ich
Könnte es der Spiegel gewesen sein?
Zwei Tage vor Weihnachten kam Oma. Sie bat mich, einen Baum zu kaufen, und gab mir eine Liste von Lebensmitteln, die ich besorgen sollte. Ich beeilte mich, ihre Wünsche zu erfüllen.
Bei meinen Nachbarn erbettelte ich mir einen alten Ständer und Baumschmuck. Eine Lichterkette hatte ich nicht mehr. Sehr geschickt bin ich nicht: Unser Weihnachtsbaum stand krumm und schief, doch er stand.
In der Zwischenzeit arbeitete Oma konzentriert in der Küche. Manchmal half ich ihr.
Natürlich habe ich mich gewundert. Oma ist seit 42 Jahren tot. Ich hätte wohl fragen sollen, wo sie herkam, aber sie trat so selbstverständlich auf, dass ich nicht dazu kam. Es war ja auch noch so viel zu tun.
Am Heiligen Abend saßen wir an dem großen Esstisch im Wohnzimmer. Im Hintergrund ertönte leise Weihnachtsmusik von einer CD und wir stießen mit Sekt an. Wir aßen die Vorspeise, Karpfensuppe, pikant gewürzt und mit Backerbsen bestreut. Ich erinnere mich, dass ich mich als Kind an diesen Fisch, der traditionell in unserer Familie nur zu Weihnachten gegessen wurde, erst gewöhnen musste. Heute gehört er für mich dazu. In den letzten Jahren hatte ich einen mir bekannten Koch gebeten, den Karpfen und die Suppe für mich zuzubereiten. Aber jetzt war ja Oma da.
Während ich noch etwas nachnahm, holte sie schon die panierten Fischstücke und den warmen Kartoffelsalat. Wir konnten jetzt in Ruhe miteinander essen und uns unterhalten. Oma erzählte von ihrer Jugend in Siebenbürgen, von ihrer Hochzeit mit Opa und der Geburt ihrer Tochter, meiner Mutter, dem gemeinsamen Leben und dem Haus in der Bukowina, von Krieg, Vertreibung und Flucht, dem Wiederaufbau in Duisburg, von vergangenen Weihnachtsfeiern, aber z.B. auch von ihrer Diamantenen Hochzeit, die gefeiert wurde, als ich noch zur Schule ging. So viel auf einmal hatte sie noch nie erzählt. Vielleicht lag das daran, dass wir nur zu zweit am Tisch saßen. Immer wieder versuchte ich zu fragen: Wo kommst du her? Und wie? Und warum? Wie ist es dort? Wie geht es dir? Was ist mit den anderen Toten der Familie? Warum bist du allein gekommen? Und nie bekam ich eine Antwort. Sie wurde mir nicht verweigert, sondern Oma nahm meine Fragen überhaupt nicht wahr. Sie sprach nur über die Vergangenheit der Familie. Auch für mein jetziges Leben schien sie sich nicht zu interessieren.
Nach dem ersten Hauptgang las ich die Weihnachtsgeschichte vor. Anschließend war Bescherung.
Ich hatte ihr in aller Eile ein Fotobuch mit Familienbildern zusammengestellt. Sie freute sich sehr und gab mir einen vorsichtigen Kuss auf die Wange. Ich bin jetzt ja nicht mehr das kleine Kind, allerdings bleibe ich wohl immer „der Kleine“. Mein Geschenk, so sagte sie, sei das Essen. Und in der Tat hätte sie mir nichts Schöneres geben können. Denn die Erinnerung an die Familie, auch wenn schon alle tot sind, geht durch den Magen.
Und meine Vorfreude auf den zweiten Hauptgang war groß: Galuschti, rumänische Krautwickel, hatte ich seit Jahren schon nicht gegessen. Locker und saftig, scharf gewürzt, waren sie ein wahrer Leckerbissen, der zu unserer Familie gehörte und den ich sehr vermisst hatte.
Gemeinsam sangen wir „Stille Nacht, heilige Nacht“. Zum Nachtisch gab es, natürlich wie immer, Apfelstrudel. Oma nahm nur noch ein kleines Stück, denn sie war schon sehr satt. Während ich weiter aß, ging sie schon in die Küche, um abzuwaschen. Ich hörte das Klappern des Geschirrs. Zwar habe ich einen Geschirrspüler, aber den kannte Oma noch nicht.
Als ich mit meinem Strudel-Stück fertig war, brachte ich meinen Teller in die Küche. Oma war nicht mehr da. Das Fotoalbum lag noch im Wohnzimmer. Sie hatte es nicht mitgenommen.
Es muss der Spiegel gewesen sein. Ich habe gelesen, dass er der Zugang zu anderen Welten ist. Ich stehe jetzt davor. Aber ich sehe nur mich.
Soll ich es wagen hindurch zu schreiten? Vielleicht finde ich mich in einer weiten, sonnigen Ebene wieder, vielleicht aber auch auf einer staubigen Straße. Wen treffe ich? Werde ich erwartet?
Ich denke an meine Schwester, die ich nie kennengelernt habe. Wie hätte sie sich wohl entwickelt. Ich denke an Oma und Opa, innerhalb einer Woche gestorben, an meinen Vater, schon 34 Jahre tot, meinen älteren Bruder, jetzt schon fast 20 Jahre, Herzinfarkt. Vor fünf Jahren starb dann auch meine Mutter.
Vermisse ich sie alle? Fühle ich mich einsam? Fehlt mir etwas? Manchmal vielleicht schon. Die Möglichkeit zum Austausch, auch nur zu erzählen, was ich erlebt habe, das Gefühl, dass jemand da ist, die Nähe.
Ich denke aber auch an meine Freunde und vor allem meine Schüler. Als ich einmal von meiner Familiengeschichte erzählte, sagte eine Schülerin: „Herr B., wir sind jetzt Ihre Familie.“
Ich stehe vor dem Spiegel und sehe mich an. Heute bleibe ich hier.
Zwei Tage vor Weihnachten kam Oma. Sie bat mich, einen Baum zu kaufen, und gab mir eine Liste von Lebensmitteln, die ich besorgen sollte. Ich beeilte mich, ihre Wünsche zu erfüllen.
Bei meinen Nachbarn erbettelte ich mir einen alten Ständer und Baumschmuck. Eine Lichterkette hatte ich nicht mehr. Sehr geschickt bin ich nicht: Unser Weihnachtsbaum stand krumm und schief, doch er stand.
Oma arbeitete konzentriert in der Küche. Manchmal half ich ihr.