Finnland - Katharina Füllenbach - E-Book

Finnland E-Book

Katharina Füllenbach

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Beschreibung

Eigentlich hat Katharina Füllenbach seit Jahren mit Zentralasien und Afrika klar definierte Reiseziele, die sie im regelmäßigen Wechsel jeweils im Frühjahr und Herbst immer wieder bereist und über deren verschiedene Länder sie bereits in zahlreichen Reisebüchern berichtet hat. Das Coronajahr 2020 hat dieser lieb gewordenen Gewohnheit allerdings einen Strich durch die Rechnung gemacht, denn viele Länder hatten im Schatten der Pandemie komplette Reiseverbote für Europäer ausgesprochen oder die Einreise an langwierige Bedingungen geknüpft, die jedwede Planung obsolet machten. Auf der Suche nach einem unter diesen Umständen noch möglichen interessanten Ziel fiel Füllenbachs Wahl schließlich auf Finnland, das nördlichste und zugleich jüngste Land Europas, welches mit seiner wechselvollen Geschichte für viele Entwicklungen steht, die zuweilen Einfluss auf den gesamten Kontinent hatten. Füllenbach konzentrierte sich während ihrer sechswöchigen Reise von Helsinki bis Rovaniemi auf diese Aspekte, besuchte historische Orte und zeichnet in ihrem nun vorgelegten Reisebericht die dortigen Ereignisse, angereichert mit eigenen Beobachtungen auf unterhaltsame Weise nach. Ihre Entscheidung, in den meisten der neun besuchten Städte in privaten Unterkünften zu wohnen und das Leben ihrer jeweiligen Gastgeber, wenn nicht zu teilen, so doch zumindest zu beobachten, tut ein übriges, dem Leser einen Einblick in den finnischen Alltag unter Covid-19 Bedingungen zu gewähren, den man anders als selbst erlebt kaum irgendwo finden kann.

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KATHARINA FÜLLENBACH

FINNLAND

NOTIZEN ZU EINER REISE IM HERBST 2020

Reisepostillen Band 11

© 2021 Katharina Füllenbach

Umschlag, Illustration, Photos: Katharina Füllenbach,

Titelphoto: 

Eingangsportal des Hauptbahnhofs von Helsinki im Jahr 2020

Lektorat:

Dr. Hildegard Bodendiek-Engels, Hans-Henner Becker, Magdalena Füllenbach

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halereie 42, 22359 Hamburg

Paperback

ISBN  978-3-347-01626-2

Hardcover

ISBN  978-3-347-01627-9

e-Book

ISBN  978-3-347-01628-6

Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung und öffentliche Verbreitung.

Vorbemerkung

Reisen in Zeiten von Corona stellt eine besondere Herausforderung dar und ich habe in den letzten Monaten zum einen viele Pläne streichen müssen und balge mich zum anderen immer noch mit Fluggesellschaften um die Rückerstattung zu Jahresbeginn bereits gebuchter Tickets. Anfang August habe ich mich für eine Herbstreise nach Finnland entschieden, eine europäische Region, die mich immer schon interessiert hat, aber ohne Pandemie für 2020 nicht zwingend auf der Agenda gestanden hätte.

Zum Zeitpunkt der Ticketbuchung schien das Land trotz Corona als Destination unspektakulär, die Fallzahlen dort waren niedrig und die in Deutschland boten als Herkunftsland keinen Anlass, sich Gedanken über eventuelle Reisebeschränkungen zu machen. Dies änderte sich zum Ende der Sommerferien, als unter anderem die Urlaubsrückkehrer aus den Mittelmeerländern für einen sprunghaften Anstieg der Infektionen sorgten und damit Finnland veranlassten, für deutsche Touristen Restriktionen beim Grenzübertritt auszurufen. Man scheute ein komplettes Einreiseverbot und entwarf stattdessen diverse Kategorien für Ausnahmen wie Familie oder Grundbesitz in Finnland oder die berufliche Veranlassung für einen Besuch des Landes. Während ich auf dieser Basis noch an einer Lösung strickte, wurden die Reisebeschränkungen im Verlauf des Septembers wieder aufgehoben, um schließlich zwei Tage vor meinem Abflug neuerlich in Kraft gesetzt zu sein.

Solcherart Wirren sorgen nicht dafür, dass man sich uneingeschränkt auf die Entdeckung eines bisher unbekannten Landes freut. Vielmehr kreisen die Gedanken im Wesentlichen darum, ob man überhaupt hineinkommt oder ob man vielleicht am Zielflughafen höflich beiseite genommen und in einen Transitraum begleitet wird, von wo aus man ins nächste Flugzeug gesetzt zurück nach Hause fliegt. Überlegungen, Phantasien und Szenarien, die einem in normalen Zeiten allenfalls bei Nordkorea in den Sinn kommen (und selbst da vielleicht übertrieben sind).

Wie man aus dem nun vorliegenden Buch schließen kann, haben sich all diese Befürchtungen zu eventuellen Unwägbarkeiten am Ende als unnötig erwiesen und ich hatte sechs Wochen lang Gelegenheit, dieses fremde, wunderschöne und vollkommen andersartige Land hoch im Norden von Europa kennenzulernen und mich bei der Gelegenheit mit vielen historischen Themen zu beschäftigen, die für den ganzen Kontinent bestimmend waren. Eine Erfahrung, die ich nicht mehr missen möchte und von der ich hoffe, sie mit diesen Notizen zu teilen.

Katharina Füllenbach im Dezember 2020

Hamburg - Amsterdam - Helsinki

Für die Durch- und Umsetzung der vielfältigen Reisebeschränkungen und Sonderregelungen in Zeiten einer Pandemie kümmerten sich im Oktober 2020 im Vorfeld gebuchter Flüge auch die Airlines mit allerlei Aktionen. Mehrfach verschickte also KLM kurz vor dem Abflugtermin Warnmails, die offenbar den Reiseinteressierten decouragieren und von seinem Plan abbringen sollten und auch die Zahl der Flüge nach Helsinki wurde drastisch zusammengestrichen. Deswegen und nur deswegen bin ich am Tag des Abflugs frühmorgens um sechs in ein Flugzeug nach Amsterdam geklettert, anstatt, wie ursprünglich geplant, eine Maschine um freundliche zehn Uhr vormittags zu nehmen. Sechs Uhr Abflug bedeutet in meiner Vorstellungswelt spätestens um halb vier Uhr von zu Hause losfahren. Wahrscheinlich hätte ich locker eine halbe Stunde später starten können, aber wie immer haben mich Schreckensvorstellungen über eventuelle Pannen, Verzögerungen und ungeahnte Zwischenfälle mit deutlichem zeitlichen Sicherheitsabstand mitten in der Nacht aus dem Haus gejagt. S-Bahnen fahren in Hamburg um diese Zeit noch keine, das vorbestellte Taxi wurde von einem freundlichen Mosambikaner gelenkt, der sein deutsches Leben vor vierzig Jahren in der DDR begonnen hatte. Die zwanzig Minuten Fahrt zum Hamburger Flughafen waren zu kurz für ein ausführlicheres Gespräch über diese spezielle Lebenserfahrung, aber sie reichten für ein paar Gedanken anregende Sätze über seine Arbeit in einem Chemieunternehmen, dessen tausendfünfhundert Mitarbeiter zu DDR-Zeiten bei seinem Besuch vor fünf Jahren auf dreißig zusammengeschnurrt waren. Auch so eine Geschichte. _

Am Flughafen Hamburg waren alle Geschäfte um diese Uhrzeit geschlossen und sämtliche Kaffeeklappen lagen noch im Dunkeln, aber das insgesamte Passagieraufkommen deutete darauf hin, dass alle Airlines ihre Gäste auf mitten in der Nacht umgebucht hatten. Lange Schlangen bildeten sich kurz vor halb fünf Uhr vor den diversen check-in Schaltern, Reisende mit Gepäckgebirgen, die einen dauerhaften Umzug ins Zielland vermuten ließen, schoben mehrere Kofferwagen vor sich her und gaben ein halbes Dutzend Koffer mit geschätzten mehreren hundert Kilo Gepäck für den Weitertransport ab.

Beim Einchecken kümmerte sich ein KLM-Mitarbeiter mit investigativen Fragen um den Anlass meiner Reise und beim Boarding wurden Fragebögen ausgegeben, die vorgeblich für das bloße Betreten des Amsterdamer Flughafens nötig waren. Dort angekommen würde sich später kein Mensch mehr für diese Zettel interessieren. Der eingesetzte City Hopper mit geschätzt hundert/ hundertfünfzig Sitzplätzen war bei Abflug zu einem Fünftel besetzt. Trotzdem hatte das elektronische System es geschafft, dass wildfremde Menschen direkt nebeneinander auf den eng montierten und knapp bemessenen Plätze sitzen sollten. Das war unnötig muckelig und umso weniger nachvollziehbar als andererseits etliche Reihen leer blieben. Und genauso unsinnig mutete die Bewegung einer dreiviertel leeren Maschine nach Amsterdam insgesamt an. Der Flug dauert rund fünfundvierzig Minuten und man könnte (und ich würde) die Strecke problemlos mit dem Zug bewältigen, wenn man nicht ständig befürchten müsste, dass die deutsche Bahn ihre Fahrplanversprechen nicht einhält. _

Der Amsterdamer Flughafen war im Gegensatz zum Hamburger menschenleer und ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass das an der Uhrzeit lag. Vielmehr visualisierte sich hier live und in Farbe eine Tatsache, die ich bisher nur aus den Nachrichten kannte, nämlich dass der internationale Flugverkehr nahezu zum Erliegen gekommen ist.

Die verschiedenen Informationen über die derzeit geltenden Einreisemodalitäten nach Finnland bewahrheiteten sich vor Ort im Wesentlichen nicht. Im Vorwege zu lesen war die Notwendigkeit, einen maximal drei Tage alten Negativ-Test mitzubringen und grundsätzlich wurden vierzehn Tage Quarantäne angedroht, die man mit einem zweiten Negativ-Test drei Tage nach der Ankunft verkürzen könne. Am Flughafen in Helsinki wurden nun stattdessen alle Passagiere ausnahmslos und sofort getestet und bis zum vorliegenden Ergebnis in ein paar Tagen in Quarantäne geschickt. Mein mitgebrachtes drei Tage altes, negatives Testergebnis aus Deutschland führte wiederum dazu, dass man mich aus der langen Schlange der Ankommenden herauszog und an anderer Stelle eine Probe meines Rachen- und Nasenlebens nahm. Am nächsten Tag sollte entweder eine SMS kommen, dass alles in Ordnung sei oder ein Arzt würde anrufen und Alarm schlagen. Bis dahin war ich theoretisch in Quarantäne. Praktisch interessierte es ab dem Verlassen des Flughafens niemanden mehr, wo ich mich jetzt so herumtrieb und ob ich einkaufen ginge oder ohne Maske Passanten abknutschte. Allein der Umstand großer Müdigkeit ließ mich auf dem schnellsten Weg zum Hotel fahren und nach einer kurzen Dusche ins Bett krachen. Bis zum Ende meiner Quarantänezeit am nächsten Morgen würde ich jetzt einfach ausschlafen. _

Helsinki

Mein Test vom Flughafen ist negativ, die diesbezügliche SMS poppt am Vormittag auf meinem Telefon auf. Ich habe es eigentlich nicht anders erwartet, aber trotzdem bin ich erleichtert diese Ungewissheit zumindest für den Moment abhaken zu können.

Jede Reise hatte bisher noch immer ein Popanz-Thema, irgendeine Komplikation, irgendeine Fragestellung, die nie ein für alle Mal abschließend geklärt werden konnte und sich als ständig wiederkehrender hässlicher Problemfaden durch den gesamten Aufenthalt zog. Diesmal fürchte ich, wird Covid-19 die Dauerschleife der aktuellen Reise sein, obwohl der finnische Alltag diesbezüglich auf den ersten Blick wesentlich entspannter zu sein scheint, als man es aus Deutschland kennt. Masken tragen - selbst in öffentlichen Verkehrsmitteln - wirkt wie eine fakultative Angelegenheit mit reichlich Lust an der Unterlassung, wenngleich zumindest bei den Sitzplätzen das Gebot des Abstandhaltens beachtet wird. In den Geschäften findet wiederum die Maske so gut wie gar nicht statt und man sieht allenfalls das Personal hinter mit mannshohen Plexiglasscheiben bewehrten Verkaufstresen stehen. Im Laufe der Zeit werde ich lernen, dass die politisch Verantwortlichen auf der aktuellen rechtlichen Grundlage offenbar keine Möglichkeit haben, ihre Bürger zum Maskentragen zu zwingen. Rechtlich bindende Verordnungen oder gar Bußgelder, für die es dem Vernehmen nach gar einer Verfassungsänderung bedürfte, stehen entsprechend nicht zur Diskussion. Trotz des, oberflächlich betrachtet, entsprechend eher lässigen Umgangs hat das Virus aber auch hier auf eine scheinbar unaufgeregte Art und Weise ins Leben der Menschen Einzug gehalten. An allen öffentlichen Türen finden sich Schilder mit Anleitungen zum richtigen Händewaschen und der Bitte, seinen Mitbürgern nicht zu nahe zu kommen. Geschäfte limitieren am Eingang die Zahl der eintretenden Kunden, eine Vorsichtsmaßnahme, die oft genug überflüssig ist, weil kaum Kaufwillige unterwegs sind. Selbstredend stehen überall Pumpflaschen mit Desinfektionsflüssigkeiten bereit, die Unterrichtsräume der Universität von Helsinki sind geschlossen, Lehrveranstaltungen werden über Zoom angeboten und lediglich die Bibliotheken sind für die Buchentleihe und -rückgabe geöffnet.

Ganz im Gegensatz zu diesem zwangsberuhigten Leben steht das Treiben in der Oodi, der Zentralbibliothek von Helsinki, im Herzen der Stadt, nahe dem Hauptbahnhof, gegenüber der Musikhalle und neben dem Kiasma-Museum gelegen. Hier brummt und brodelt es bei meinem Besuch vor Benutzern, die die verschiedenen Angebote der Bibliothek wahrnehmen, als gäbe es kein Morgen. Das Gebäude, ein Projekt anlässlich des hundertsten Geburtstags der finnischen Unabhängigkeit wurde am 5. Dezember 2018, eröffnet und ist in der offiziellen Hausbroschüre bei Konzeption und inhaltlicher Befüllung als Ergebnis eines längeren Beteiligungsprozesses mit hunderten Anregungen und Vorschlägen der Helsinkier Bürger beschrieben. Die nämlich konnten in einem offenen Dialog kundtun, wie sie sich ihre Bücherei der Zukunft vorstellen, was sie sich von ihr erwarten und es macht den Eindruck, als hätten beide Seiten von diesem Verfahren stark profitiert. So wird einer der bei diesem Dialog aktiven Bürger auf der Internetseite der Oodi wie folgt zitiert: „I began experiencing ownership of the city, and for the first time in my life I felt I was truly a Helsinkian.“

Das finnische Büro ALA-Architekten und die Stadt Helsinki setzten die Wünsche und Ideen der Bürger um und herausgekommen ist nicht nur eine spektakuläre Architektur, sondern vor allen Dingen auch ein Angebotemix, der weit über das klassische Bibliothekswesen mit seinem traditionellen Buchbestand hinausgeht. Im dritten, obersten Stockwerk laden vielfältige und großzügig angelegte Leseinseln in einer umfangreichen Präsenzbibliothek zum Verweilen ein. Für Kleinkinder ist ein Spielbereich eingerichtet, für deren Mütter (und natürlich alle anderen Besucher) steht eine Cafeteria bereit. Man kann hier stundenlang verweilen und das Buch am Ende doch ausleihen und mit nach Hause nehmen, grad so, wie man Zeit und Lust hat. Die Oodi ist zudem Teil der HelMet, einer überregionalen Plattform, die neben Helsinki die Bibliotheken der Städte Espoo, Vantaa und Kaunianen vernetzt. Die Bewohner dieser Städte haben damit die Möglichkeit, per Fernleihe Medien an ihren eigenen Standort zu bestellen und dort zu lesen oder auszuleihen.

Mit der kostenlosen Bibliothekskarte können die Menschen im zweiten Stock auch ihren künstlerischen Impulsen nachgehen. Hier nämlich werden schalldichte Studios zur Aufnahme der eigenen Platten- und CD-Träume angeboten und - falls gewünscht - auch die dafür benötigten Instrumente leihweise bereitgestellt. Anderen kreativen Geistern stehen ein Dutzend Nähmaschinen zur Verfügung, an denen sie ihre Gardinen- oder Kleiderideen verwirklichen. Damit das Ergebnis auch gleich richtig einschätzbar ist, gibt es ein Bügelbrett nebst – eisen und einen lebensgroßen Spiegel, in dem man das Ergebnis auf den eigenen Körper übergestreift begutachten kann. Beflockungsmaschinen werden für die T-Shirt-Bedruckung ebenso angeboten wie mehrere 3D-Drucker, mit denen lediglich gegen ein kleines Materialentgelt die auf dem Stick mitgebrachten Entwürfe ausdruckbar sind. Einen Tisch weiter stehen mehrere leistungsstarke Rechner für die Photo- und Videobearbeitung zur freien Verfügung. Co-Working-Spaces für Hausaufgaben - oder Gemeinschaftsarbeitsgruppen beziehungsweise Besprechungen von beispielsweise Nachbarschaftsinitiativen runden das Spektrum ab. Soweit ich beobachten kann, werden die meisten Angebote von Kindern und Jugendlichen wahrgenommen, sodass der pädagogische Wert dieser neuartigen, unkonventionellen Bibliotheksbereiche nur gefeiert werden kann.

Treppenhaus in der Oodi

Im Erdgeschoss findet der Besucher neben einem Bistro auch einen interaktiven Informationsraum zum Sinn und Wesen der Europäischen Gemeinschaft sowie ein kleines Kino mit drei bis fünf täglichen Vorstellungen zu wechselnden Programmschwerpunkten. Außer bei Speisen und Getränken ist der Kinobesuch das Einzige, für das man in der Oodi Geld in die Hand nehmen muss. Und das auch nur, weil das Kino von der Bücherei nicht selbst betrieben wird, sondern an eine finnische Kinoorganisation untervermietet wurde.

Es ist über die Maßen sinnfällig und gewiss kein Zufall, dass in dem eingangs erwähnten, offenen, demokratischen Mitspracheprozess aus rund 1600 Vorschlägen die Wahl für die Namensgebung auf den Begriff ‚Oodi‘, das finnische Wort für ‚Ode‘, fiel als eine kurzformige, ehrerbietige Referenz an das Buch, das Wissen und die Menschen, die mit all dem umgehen. Besser kann man den Geist dieses wundervollen Ortes begrifflich wahrscheinlich nicht auf den Punkt bringen. _

Beide Photos: Kreativbereich in der Oodi, Helsinki

Design wird in Helsinki nicht nur bei der Architektur groß geschrieben, sondern mit einem allumfassendem Ansatz versucht, in allen Lebensbereichen zur Geltung kommen zu lassen. Es ist quasi omnipräsent und erhebt den Anspruch, jedes noch so banale Ding neben hoher Funktionalität auch schön zu gestalten. Attraktive Alltagsgegenstände sind zudem keine Frage einer bestimmten Bevölkerungsschicht oder wie es die Professorin für visuelle Kultur an der Universität Stockholm, Annamari Vänskä, in einem Zeitungsinterview ausgedrückte: „Die Finnen sind es gewöhnt, gut gestylte Tassen, Besteck, Teller und Möbel zu besitzen. Es ist schon fast die Norm. Nirgends sonst auf der Welt ist Design ein solch integraler Bestandteil des täglichen Lebens und für jedermann da, nicht bloß für die Eliteschicht wie in vielen anderen Teilen der Welt.“

Begonnen hat der Aufstieg des finnischen Designs im Grunde genommen mit der Unabhängigkeit von Russland und im Schatten der russischen Revolution 1917. Bis dahin war die finnische Ästhetik geprägt von russischem Einfluss, ein Umstand, der der Stadt Helsinki keinesfalls schlecht getan hat, aber davon an anderer Stelle später mehr. Bereits bei der Weltausstellung 1930 in Stockholm wurde deutlich, in welche Richtung sich Finnland ästhetisch entwickelte, unter anderem maßgeblich angetrieben von der innovativen Schaffenskraft Alvar und Aino Aaltos, mit der er zu diesem Zeitpunkt schon einige wichtige Gebäude errichtet und sie beim Möbel- und Glasdesign wegweisende Entwürfe in den Modernismus vorgelegt hatte.

Beide Photos: Designmuseum Helsinki

Nach dem zweiten Weltkrieg nahm Finnland seine erfindungsreichen Bemühungen um die Schönheit im Alltag wieder auf und hatte es bis Mitte der Fünfzigerjahre geschafft, sich als ein führendes Designland zu etablieren. Zu dieser Entwicklung trug unter anderem vor allem die dauerhaft erfolgreiche und regelmäßig preisgekrönte Teilnahme an der Designmesse in Mailand bei, deren Beschickung in den Fünfziger- und Sechzigerjahren vom Finnischen Kunstgewerbeverein verantwortet wurde. In diesem Zeitraum intensivierte sich auch die Zusammenarbeit mit den Nachbarländern und es wurde ein skandinavisches Design als gemeinsame ästhetische Sprache propagiert. In den Siebzigerjahren gelangten schließlich zum einen neue Kunststoffe und Materialien wie beispielsweise Glasfaser in die Produktionsprozesse, zum anderen wurde aber auch mehr Aufmerksamkeit auf industrielles Design gelegt und von den Unternehmen hierfür verstärkt Fachkräfte eingestellt. Die Politik erkannte sehr schnell den Wert dieser Entwicklung und beförderte sie gezielt, unter anderem mit der Gründung des finnischen Designforums, das den Auftrag erhielt, finnische Ästhetik weltweit zu vermarkten. Diese Weichenstellungen kamen dem Land in den Neunzigerjahren sehr zupass, als der traditionell starke Osthandel mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion unvermittelt und abrupt kollabierte. Die Entscheidung der damaligen Verantwortlichen, Finnland von einer klassischen Industrie- zu einer Dienstleistungs- und Hochtechnologiegesellschaft umzugestalten, hatte unmittelbaren Einfluss auf den Stellenwert und die weitere Förderung des Designs als Wirtschaftsfaktor. So veröffentlichte die Finnische Nationale Stiftung für Forschung und Entwicklung (SITRA), im Jahr 2000 ein Strategiepapier mit dem programmatischen Titel ‚Design 2005’ als industrielle Marschrichtung für das neue Jahrhundert. Weitere langfristig angelegte Entwicklungen wurden vom nationalen Designkomitee und dem Designium, einem Forschungszentrum für Designinnovationen, formuliert und gelenkt. Letztere Einrichtung ist bis heute organisatorisch an die Hochschule für Kunst und Design angegliedert und sammelt durch Umfragen und Forschungen für die Regierung wichtige Informationen, unter anderem über ästhetische Vorstellungen der Bevölkerung. Auch hier greift also die Methode - und das offenbar sehr erfolgreich -, die Menschen nach ihren Wünschen und Bedürfnissen zu befragen.

All diese Bemühungen wurden belohnt, als 2012 der International Council of Societies of Industrial Design (ICSID) Helsinki zur Designhauptstadt der Welt kürte. Seitdem strahlt Helsinki unangefochten am Ästhetikhimmel und liefert mit einem entsprechenden Museum und einem weitläufigen innerstädtischen Designdistrikt dem Helsinki Besucher kreative Impulse und Anregungen für das eigene Leben, bis er schielt. Mir jedenfalls ging das so, nachdem ich erst das Museum besucht und mich anschließend stundenlang durch gefühlt hunderte Geschäfte und Boutiquen gepflügt hatte. Um in diesem Kosmos fundiert zu differenzieren, müsste man sich allerdings ein paar Tage ausschließlich damit beschäftigen. Vielleicht wiederhole ich also den Parcours in den nächsten Wochen noch einmal, aber für den Moment hat mir der eine Tag gereicht - nicht zuletzt auch, weil man in diesem Viertel so schrecklich schnell sein Reisebudget verdampfen sieht. _

Besonders gefesselt hatte mich bei diesem Streifzug eine Gruppe von sieben Künstlern, die sich zusammengetan und für zwei Wochen einen Galerieraum gemietet hatten, den sie nun mit einer gemeinsamen Pop-up-Ausstellung von Bronze- und Keramikarbeiten bespielten. Allein diese unternehmerische Initiative beeindruckte mich und offenbar waren sie sehr erfolgreich, denn viele Objekte trugen bei meinem Besuch bereits die roten ‚Verkauft‘-Punkte. Unausweichlicherweise musste ich diesem Szenario noch zwei Punkte hinzufügen, habe die Arbeiten aber erst einmal in der Galerie gelassen. Es macht einfach keinen Sinn, die nächsten Wochen mit fragilen Keramiken im Koffer durch das Land zu ziehen, immer Gefahr laufend, dass sie beim Transport zerbrechen. Nun habe ich also das Vergnügen einer persönlichen Verabredung mit der Künstlerin, die mir am Telefon versprach, die Arbeiten nach der Show aufzubewahren und mich für die Abholung am Ende meiner Reise in ihrem Atelier zu empfangen. Es bleibt mir gar nichts anderes übrig: Auf diese Begegnung muss ich mich jetzt einfach freuen. _

Reisen im 21. Jahrhundert ist – jenseits von Pandemiebedrohungen – im Grunde genommen ja oftmals ein Klacks. Man schaut zum Beispiel morgens im Internet nach, wie das Wetter wird, zieht sich entsprechend an und packt gegebenenfalls weiteres Outdoorzubehör in den Rucksack. (Ich sehe in diesen Momenten vor meinem inneren Auge immer ein Photo von Ella Maillart, aufgenommen in den Dreißigerjahren irgendwo in Zentralasien. Es zeigt sie mit einem Seesack auf der Schulter, bereit für die nächste mühsame Etappe. Da war Reisen, im Gegensatz zu heute, noch richtig anstrengend.) Für mich bedeutet der aktuelle Internetwettercheck lediglich den momentweisen Abschied von einem herrlichen Indian Summer, der den bisherigen Helsinki-Aufenthalt versüßt hatte. Sonnenschein und angenehme