RUSSLAND - Katharina Füllenbach - E-Book

RUSSLAND E-Book

Katharina Füllenbach

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Beschreibung

Mit Sibirien, von dem Dostojewski meinte es liege am "ewigen Rand der Welt" verbinden viele Menschen irgendeine Vorstellung, ohne dass sie konkret viel darüber wüssten. So ging es der Autorin, Katharina Füllenbach, vor Antritt ihrer Reise auch und sie beschreibt ihre diesbezüglichen Phantasien mit einer Ansammlung von ausschließlichen schwarz/weiß Assoziationen, die diffus changierten zwischen ewigem Eis und Schnee, grauenhaften Gefangenenlagern und verborgenen sowjetischen Waffenlagern. Im Herbst 2018 machte sie sich auf, diese vagen Bilder und Vorstellungen zu überprüfen und startete in Vladivostok am japanischen Meer zu einer Reise quer durch Sibirien bis nach Moskau. Mit der russischen Staatsbahn fuhr sie zwei Monate lang rund zehntausend Kilometer durch das Land, machte dabei in vierzehn Städten auf der Strecke Station und versuchte bei jeweils mehrtätigen Aufenthalten nicht nur die kulturellen, ethnischen und historischen Besonderheiten des jeweiligen Ortes zu erfassen, sondern auch von den aktuellen Lebensumständen der Bevölkerung einiges mitzubekommen. Ihre Erlebnisse und Beobachtungen hat Katharina Füllenbach in einem informativen und kurzweilig geschriebenen Reisebericht zusammengefasst. Er ist eine lesenswerte und ergänzende Lektüre für alle, die sich für die russische Gegenwart, abseits von Moskau und St. Petersburg interessieren und mit dem Gedanken spielen, das riesige Land jenseits des Urals selbst zu bereisen.

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Katharina Füllenbach

RUSSLAND

Notizen zu einer Reise im Herbst 2018

Reisepostillen Band 7

© 2018 Katharina Füllenbach

Verlag und Druck: tredition GmbH, Hamburg

Technische Unterstützung: Johannes Lamberts

Lektorat: Dr. Hildegard Bodendieck-Engels

ISBN

Paperback:

978-3-7469-8383-7

Hardcover:

978-3-7469-8384-4

e-Book:

978-3-7469-8385-1

Das Werk, einschließlich seiner Teile und Photos, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Vorbemerkung

Sibirien ist eine Gegend auf der Welt, mit der viele Menschen irgendeine Vorstellung verbinden, ohne dass sie konkret viel darüber wüssten. Das ging mir vor Antritt dieser Reise genauso und meine diesbezüglichen Phantasien bestanden aus einer Ansammlung von ausschließlichen schwarz/weiß Assoziationen, die diffus changierten zwischen ewigem Eis und Schnee, grauenhaften Gefangenenlagern und verborgenen sowjetischen Waffenlagern.

Umso dankbarer bin ich nun, am Ende dieser Reise, für die Erlebnisse und Erfahrungen der letzten Wochen, die diese Bilder und Vorstellungen stark verändert und korrigiert haben. Gleichzeitig muss ich mir und Ihnen eingestehen, dass all das hier Niedergeschriebene nicht mehr ist, als eine Sammlung kleiner subjektiver Wahrnehmungsblitze und winziger angeschauter Punkte innerhalb einer ungleich komplexeren Situation, auf deren Grundlage dieser Reisebericht auf keinen Fall den Anspruch erheben darf, die heutige russische Wirklichkeit umfassend darzustellen.

Als Besucher transportiert man in seine Reiseumgebung auch immer die eigene Vorstellungswelt als eine Matrix, einen fremden Blick, auf dessen Grundlage man die Lebensumstände der Anderen wahrnimmt.

In dem Bewusstsein, dass man sich aus dieser eigenen Programmierung nicht einfach verabschieden kann und sie immer und überall die eigene Wahrnehmung mitbestimmt, habe ich trotzdem versucht, Gesehenes und Erlebtes nicht aus dem Blickwinkel einer persönlichen Wertung zu beschreiben und weiterzugeben. Wenn mir dies an manchen Stellen nicht gelungen ist, sehen Sie es mir nach.

Katharina Füllenbach, Herbst 2018

Berlin/ Moskau/Vladivostok 23. und 24. September 2018

Die Reise von Moskau nach Vladivostok ist weiter und dauert länger als von Hamburg nach - sagen wir mal - Denver oder Dallas. Während wir bei den amerikanischen Zielstädten den Kontinent wechseln und dabei noch den Atlantik überqueren, bedeutet der Flug von Moskau nach Vladivostok lediglich eines langen Tages Reise durch die Nacht und acht (von insgesamt zehn) Zeitzonen in ein und demselben Land.

Begonnen hat das Ganze schon Stunden zuvor in Berlin Schönefeld. Der Flughafen ist seit dem letzten Abflug nicht schöner geworden, aber diesmal fuhr gestern Morgen ein Bus bis vor den Terminaleingang und übersprang so zumindest die Vorplatzimpressionen der untergegangenen Republik (… Die Holzbaracke mit den Geflügelschnittenreminiszenzen der ein oder andere erinnert sich vielleicht). Ansonsten war alles wie letztes Jahr: Schnell noch den letzten Schluck aus dem Jägermeister-Flachmann in sich hineinkippende Heimkehrer in den Warteschlangen beim check- in und den Sicherheitskontrollen, ein durchweg freudloses Flughafenpersonal und alles eingebettet in jede Menge emotionale und ästhetische Vor-Wende-Anmutung.

Welch eine positive Überraschung demgegenüber später der Flughafen von Vladivostok. Er ist modern und sauber und ein Expresszug verbindet ihn in einer knappen Stunde mit dem Hauptbahnhof in der Innenstadt. Die tiefenentspannte Weiterreise vom Bahnhof zum vorab reservierten Minihotel blieb erhalten bis zum Ausstieg an der Zielbushaltestelle, respektive dem Beginn der Hoteladressensuche.

Das Etablissement liegt in eher trister Stadtrandlage und die angegebene Straße verbindet, ausgefranst wie ein Flussdelta, alle kreuz und quer in die Landschaft errichteten Wohnhäuser der post-sozialistischen Plattenbauarchitektur. Nachträglich noch dazwischen gefriemelte oder vielleicht beim Abriss vergessene kleinere Häuser bekommen hier, zu einer bereits vergebenen Hausnummer, ein b oder c verpasst, wobei die Nummer selbst nicht zwingend mit dem Nachbargebäude in Zusammenhang stehen muss. Ensembles von Hausnummer 100 neben 106b wurden in den nächsten zwei Stunden ebenso gesichtet wie 102 als nächstes Gebäude zu Nummer 140 und die gebuchte Unterkunft stellte sich schließlich heraus als im ersten Stock eines insgesamt zweistöckigen Gebäudes gelegen, das allein schon aufgrund seiner Winzigkeit in dieser Satellitenbautenumgebung kaum zu orten und von drei Seiten nur zu Fuß, auf Insiderpfaden und unbefestigtem Grund zu erreichen ist.

Das alles hätte jetzt so am Ende der Anreise nicht sein müssen, ist aber inzwischen schon wieder verwunden. Das Zimmer ist ok, die Umgebung verspricht keinerlei Schönheiten, dafür aber jede Menge Alltagsrealität und wird morgen, hoffentlich ohne tiefergehenden Jetlag, näher untersucht.

Vladivostok 25. September 2018

Der Gott der älteren, allein reisenden Frauen hat ein Einsehen gehabt und mir für diese ersten Tage im fremden Land ganz wunderbares, sonniges und gar nicht kaltes Herbstwetter geschenkt. Dieser Umstand ist ein unschätzbarer psychologischer Vorteil, denn der gestern flüchtig wahrgenommene Stadtrand entfaltet heute bei näherem Hinsehen genau die Vorstadttristesse, die sich bei Ausstieg aus dem Bus bereits andeutete. Die Wohnhochhäuser stehen – wie schon beschrieben - eng und ungeordnet mit grauen, schmucklosen Fassaden nah beieinander, die Hauseingänge wirken eng und schmuddelig, vor jedem aber steht eine Bank, auf der sich die älteren Bewohner zum Plausch treffen, und zu jedem Wohnhaus gehört ein einfacher Kinderspielplatz, der offenbar von Groß und Klein tüchtig benutzt wird. Mütter oder Großmütter mit vor der Zeit gealterten Gesichtern sitzen, nachlässig gekleidet in Jogginghosen oder Kittelkleider, an Holztischen oder auf einfachen Bänken, weniger um die Kinder zu beaufsichtigen, denn eher zum Plausch mit den Nachbarinnen und auch ein Frotteebademantel, hellgelb, kniekurz und ein wenig franselig, ward in diesem Umfeld schon gesehen.

Wenngleich nur schmale Fahrwege gerade genug Platz zum Rangieren geben, haben Autos hier offenbar für die Bewohner einen zentralen Stellenwert. Manche werden irgendwo am Haus geparkt, für die meisten jedoch haben ihre Eigentümer auf nahegelegenen, unbebauten Grundstücken hügelabwärts regelrechte Garagendörfer errichtet, die in einem ähnlich planerischen Wildwuchs entstanden zu sein scheinen, wie die Wohnhochhäuser der Autobesitzer. Einzig die Notwendigkeit einer Fahrbahndefinition ist gemeinsame Baugrundlage, bei allen anderen Gestaltungsfragen und Ausstattungsdetails scheinen dem jeweiligen Erbauer die Hände völlig ungebunden. Und so gibt es also Garagen aus allen möglichen verfügbaren Materialien von Altmetall bis neuem Stein, mit nach draußen geführten Ofenrohren zur Abwehr winterlicher Kälte oder/und Werkstattausstattung bis hin zur Arbeitsgrube, um auch Reparaturen am Wagenboden bequem selbst durchführen zu können.

Neben diesen Heimwerkerparadiesen ist die ganze Siedlung umgeben von großen und kleinen Schrauberwerkstätten, in denen es von früh bis spät rund zu gehen und fast nicht vorstellbar scheint, dass sich die ortsansässigen Männer in ihrer Freizeit noch mit etwas anderem beschäftigen.

Der fernöstliche, russische Automarkt wird im Übrigen maßgeblich bestimmt durch die geographische Nähe zu Japan und eine enge Exportzusammenarbeit zwischen beiden Ländern, die die japanischen Fahrzeuge unschlagbar günstig macht. Nissan, Toyota, Suzuki und Co. liefern folglich den Löwenanteil der Fahrzeuge in den hiesigen Straßenverkehr und dieses Phänomen ist umso erstaunlicher, als Russland ja auch selbst Autos baut; sie scheinen aber zumindest in dieser Gegend des Landes keine Liebhaber zu finden.

Die Versorgung der Wohntrabanten mit Alltagsnotwendigkeiten erfolgt über eine Reihe kleinerer Geschäfte und jede Menge Eigeninitiative. Menschen mit Garten oder Ackerland beladen ihre Autos mit allem, was die Scholle hergibt und bieten ihr Obst und Gemüse zwischen den Hochhäusern oder am Straßenrand aus dem aufgeklappten Kofferraum heraus an. An der Bushaltestelle gibt es einen winzigen Markt mit kleinen Verkaufsständen für Brot, Fisch, Fleisch und Milchprodukte und auch diese Händler scheinen von der Hand in den Mund zu leben, aber das mag täuschen. Drumherum haben sich die üblichen Filialversorger angesiedelt: eine Bank, ein Technikladen, eine Spielhölle, ein Geschäft mit Haushaltswaren.

Garagenneubau, Vladivostok

Garagensiedlung, Vladivostok

Dazwischen, und zum Teil als Shop im Shop auch mittenmang, findet man immer wieder Verkaufsstände mit Tiernahrung und – zubehör. Gefühlt ist dieses Angebot, gemessen an den wahrnehmbaren sonstigen Lebensumständen der örtlichen Bevölkerung, völlig überdimensioniert, aber auf den Gedanken könnte man ja bei der Fülle von Autos auch kommen. Man sollte es also vielleicht einfach nicht hinterfragen und lieber bei der Feststellung belassen, dass es so ist, wie es ist.

Vladivostok 26. September 2018

Die große Zeit dieser Stadt an der Grenze zu Asien begann Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Bau der Eisenbahnlinie nach China, heute als Transsibirische bekannt. Wesentliche Teile des Stadtzentrums stammen aus dieser Epoche und bestechen mit traumhafter Gründerzeit- und Jugendstilarchitektur. Neben vielen wunderbar erhaltenen bzw. sorgfältig restaurierten Gebäuden stellt in diesem Zusammenhang das Kaufhaus GUM eine Besonderheit dar. Gegründet in Vladivostok 1864 von den Hamburger Kaufleuten Gustav Kunst und Gustav Albers, beauftragte deren Firma für einen Vergrößerungsneubau um die Jahrhundertwende den deutsch-russischen Architekten Georg Junghändel, der ein Juwel in schönstem Art Déco an die Uferstraße baute. Das Gebäude hat die Wirren der Jahrzehnte architektonisch einigermaßen überstanden, ist inzwischen mit Liebe zum Detail instandgesetzt und steht heute als Zeichen von Tradition und zugleich großer Aktualität mitten in der Stadt. Den Umstand, dass die spanische Modefirma ZARA hier ihren flagstore eingerichtet hat, sollte man dabei vielleicht als Menetekel des Wandels in einer globalisierten Welt begreifen. Jenseits politischen Gepolters und gegenseitiger Vorwürfe über dies und das (wahlweise garniert mit Sanktionen und anderen Strafmaßnahmen) vernetzt sich die Welt über Warenströme und Dienstleistungen immer weiter und kreiert damit ein Zusammenwachsen und den Austausch zwischen verschiedenen Lebensentwürfen. Postgelbe DHL-Transporter mit deutscher Firmierung gehören folglich in Vladivostok ebenso zu Straßenbild und Alltag, wie amerikanische Kinofilme und italienische Pizzerien.

Bei ZARA trifft man dann auch ein überwiegend junges, gutverdienendes und -situiertes russisches Publikum, das ohne Probleme die hier aufgerufenen westeuropäischen Preise bezahlt und von meiner Vorstadtnachbarschaft ein Sonnensystem weit entfernt scheint. Diese Menschen sind der aktive Teil einer neuen, postsozialistischen Gegenwart und haben es offenbar geschafft, ihre Weichen rechtzeitig und vollständig umzustellen.

Vladivostok 27. September 2018

Georg Junghändel erbaute um die Jahrhundertwende neben dem GUM zahlreiche Gebäude, unter anderem auch ein hochherrschaftliches Wohnhaus für die Kaufmannsfamilie Brynner, die in Vladivostok seit den 1870er Jahren ansässig war und es zu erheblichem Wohlstand gebracht hatte. Ihre Verdienste um die Entwicklung der Stadt sind unbestritten, aber heute wären ihre Spuren im kollektiven Gedächtnis, abgesehen von besagtem Wohnhaus an der ulitza Aleutskaja, längst verweht, gäbe es nicht den 1920 in Vladivostok geborenen Sohn Yul.

Die Familie verließ infolge der Revolution das Land und emigrierte 1928 erst nach China, dann nach Paris und 1940 schließlich in die Vereinigten Staaten, wo aus Yul Brynner ein international bekannter Filmschauspieler wurde, dessen Karriere ein Oscar krönte. Die Sowjetunion erlaubte ihm zu Lebzeiten keinen Besuch in seiner Vaterstadt und von seinen vielen Filmen wurde während all dieser Jahre nur ein einziger gezeigt (Die glorreichen Sieben). Seit dem Ende des Sowjetsozialismus erinnert man sich in Vladivostok jedoch wieder gerne an den berühmten Sohn und hat ihm, neben der obligatorischen Plakette am Geburtshaus, auch eine ansehnliche Gedenkstatue davor errichtet; das Haus selbst wird privat genutzt und ist für die Öffentlichkeit nicht zugänglich.

Geburtshaus Yul Brynners, in der Nachbarfassade gespiegelt

Bei Brynners Denkmal trifft man, wie an sämtlichen anderen touristisch interessanten Punkten der Stadt, in großen und kleinen Gruppen japanische Touristen. Sie sind ganz unermüdlich mit ihren Handysticks und Selfieposen, vor allem, was eine Bedeutung haben mag, aber auch überaus höflich, hilfsbereit und freundlich, wenn man verloren auf der Straße steht. In den Museen bevölkern sie in Scharen die Ausstellungen und lassen sich von japanisch sprechenden russischen Führern die Exponate erklären. Gerne gesehene Kunden sind sie, neben den unzähligen Souvenirshops, auch in den Militärläden, die man in der Stadt gar nicht so selten findet. Hier wird vieles von dem verkauft, was einen echten Kerl offenbar glücklich macht: Messer und Macheten für den Großstadtdschungel, Tarnfleckhosen für den Garten. Dazu Rasierschaum und after shave, mit Geruchsnoten, wie wahrscheinlich nur Naturburschen und harte Hunde sie klasse finden. Japanische Männer decken sich hier nach meinen Beobachtungen weniger mit militanten Accessoires ein, kaufen dafür aber gerne T-Shirts mit Aufdrucken der russischen Armee oder der Pazifikflotte. Ich für meinen Teil habe hier bereits meine Putin-Kaffeetassen-Sammlung erweitert und schleppe nun die nächsten Wochen porzellanenen Hausrat durch das Land. Ganz super.

Museums-U-Boot in Vladivostok

Vladivostok 28. September 2018

Immer noch lässt der Reisegott die Sonne scheinen und erwärmt die Tage auf um die zwanzig Grad. Diese Klimasituation macht das Leben leicht und einen Spaziergang am Ufer des japanischen Meeres zu einem Vergnügen. Die Promenaden sind gut ausgebaut, in langen Budenreihen werden Souvenirs und Snacks angeboten und japanische Touristen, russische Einheimische und eine Deutsche teilen sich die friedliche Schönheit dieser Umgebung. Erneut fällt die große Differenz zwischen meiner Vorstadthölle und dem Leben hier in der Innenstadt auf. Längst haben die kommunalen Verantwortlichen begriffen, welch ein Juwel sie mit ihrer Stadt in Händen halten und sind insbesondere seit 2008 mit Unterstützung Moskaus modernisierend, Instand setzend und restaurierend ans Werk gegangen, diesen Schatz an der Grenze zu China zu heben. „ Vladivostok ist weit weg, aber es gehört uns“, meinte schon Lenin, und daran orientieren sich auch heutige Verantwortliche, aus wirtschaftlichen, aber nicht zuletzt auch aus wohlfeilen geostrategischen Interessen.

Ussuri Bahn 28.-29. September 2018

Am Abend fahre ich mit der Ussuri Bahn nach Chabarowsk. Das Ticket kann man bequem im Internet buchen, es werden mehrere Kategorien angeboten, vom transsibirischen Eisenbahntraum mit viel rotem Plüsch und wunderbarem Service über zweite und dritte Klasse Liegewagen (ich glaube, der Unterschied hier liegt in mehr oder weniger Service) bis hinunter zum dritter Klasse Sitzplatz. Als Testlauf habe ich für diese Fahrt die letztgenannte Kategorie gebucht. In Europa reist man nachts auch im Sitzen mit dem Zug (ich glaube sogar, die deutsche Bahn hat die Liegewagen inzwischen komplett abgeschafft) und es ist den Versuch wert, dies in Russland erst einmal auszuprobieren. Wenn’s nicht geht, kann ich mich für die nächsten Etappen immer noch upgraden.

Vor der Zugfahrt gilt es, mit dem Gepäck den bei Anreise beschriebenen Weg vom Hotel zur Bushaltestelle zu bewältigen. In den letzten Tagen deutete sich immer wieder an, dass hier untereinander und unbekannterweise im Alltag offenbar keine Hilfe angeboten wird und die Menschen bemerkenswert dickfellig und ignorant miteinander umgehen. Ich nehme es also nicht persönlich, dass mehrere junge Männer rauchend dabei zusehen, wie ich meinen Koffer eine Treppe herunter schleppe und an der Bushaltestelle andere junge Männer achtlos an mir vorbei in den Bus einsteigen, während ich den Koffer hochwuchte. Eine interessante Erfahrung. Von Iran bis Togo strecken sich jemandem in so einem Moment sofort helfende Hände entgegen, aber hier hat man das Gefühl, sie graben sie noch ein bisschen tiefer in die Taschen, wenn Gefahr droht, zu etwas beigezogen zu werden. An der Endhaltestelle und beim Ausstieg aus dem Bus springt mir - surprise, surprise - der Busfahrer bei. Er verändert die russische Stieselstatistik jedoch nicht, denn er ist, zumindest von der Optik her beurteilt, nicht von hier.

Bevor der Zug nicht auf dem Gleis eingefahren ist, dürfen die Passagiere in Vladivostok den Bahnsteig nicht betreten. Hierfür werden Sicherheitsgründe angegeben und sie passen zum übrigen Securitygebahren, denn der Bahnhof wird streng kontrolliert und kann nur über eine Schleuse und nach einer ausführlichen Gepäckdurchleuchtung betreten werden. Vor Einstieg in den Zug werden die Pässe der Reisenden kontrolliert und die Daten mit der Fahrkarte abgeglichen. Irgendwie ist es aber heute einem Passagier gelungen, diese Personenkontrolle ohne gültigen Pass zu überwinden, das fällt jedoch bei einer zweiten Billetkontrolle im Zug auf und endet mit dem Auftritt zweier Polizisten, die ihn nach kurzer Unterhaltung aus dem Abteil begleiten.

Waren zu Beginn der Zugfahrt noch einzelne Plätze frei und wurde damit die Hoffnung genährt, sich zu späterer Nacht auf zwei Sitzen ausstrecken zu können, so stellt sich bei den folgenden Haltebahnhöfen heraus, dass diese Sitzplätze auf der Strecke noch verkauft und nachbesetzt werden. Zwei Stunden nach Fahrtbeginn ist der Waggon voll und wird - Lüftungsanlagenfrei - von mehreren Dutzend Menschen beatmet. Das Geräuschszenario dieses vollbesetzten Großraumwagens ähnelt dem schon oft irgendwo auf der Welt Erlebten und auch die stattfindenden Veränderungen im Verlauf einer Nacht sind, wie immer, gleich. Die ersten Stunden wird geredet, telefoniert und Tante Ilse bzw. hier Onkel Wanja Bescheid gegeben, dass man gerade auf der Strecke von x nach y im Zug sitzt, Knabbertüten knistern, Getränkeflaschen öffnen sich mit einem leisen Zischlaut, Kleinkinder suchen mit spitzen, unartikulierten, aber durchdringenden Schreien, die Aufmerksamkeit ihrer Mütter zu wecken. An jedem Bahnhof steigen Fahrgäste zu, die mit unrunden Kofferrollgeräuschen durch den Mittelgang rumpeln und ihren Sitzplatz suchen.

Im Verlauf des mittleren Abends, so gegen zehn, wird dieser Geräuschemix leiser, gegen Mitternacht ist er in der beschriebenen Zusammensetzung weitgehend erstorben, dafür dudelt jetzt leise, aber durchdringend, ein russischer Radiosender aus einem Smartphone und verschiedene Mitreisende führen atemstark vor, was echtes Schnarchen sein kann. Insgesamt sind alle Passagiere deutlich ermattet und stürzten sie zu Beginn der Fahrt noch fast alle bei einem Halt hinaus auf den Bahnsteig, um eine schnelle Zigarette zu rauchen, bleiben die Raucher jetzt sitzen und zünden sich ihre Kippen im Zug an.

Die Schaffnerin hat kurz nach Beginn der Reise die Fahrkarten aller Passagiere eingesammelt. In den folgenden Stunden kommt sie in unregelmäßigen Abständen und gibt denjenigen die Fahrkarte zurück, die beim nächsten Halt aussteigen müssen. In Anbetracht nicht vorhandener Lautsprecherdurchsagen ist dieses System sehr hilfreich und überaus effektiv, denn so verschläft niemand seinen Zielbahnhof.