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Alfred Bekker Finstere Geheimnisse 8 unheimliche Romane Gesamtumfang: ca. 800 Normseiten INHALT Haus der Schatten Die Angst verfolgt dich bis ans Ende Das unheimliche Schloss Krähen Sara und der Kult der Schlange Das Phantom von Tanger Dunkler Reiter Dein Albtraum wird zur Wirklichkeit Über den Autor Alfred Bekker schrieb diese fesselnden Romantic Thriller. Seine Romane um DAS REICH DER ELBEN, die GORIAN-Trilogie und die DRACHENERDE-SAGA machten ihn einem großen Publikum bekannt. Er schrieb für junge Leser die Fantasy-Zyklen ELBENKINDER, DIE WILDEN ORKS, ZWERGENKINDER und ELVANY sowie historische Abenteuer wie DER GEHEIMNISVOLLE MÖNCH, LEONARDOS DRACHEN, TUTENCHAMUN UND DIE FALSCHE MUMIE und andere. In seinem Kriminalroman DER TEUFEL AUS MÜNSTER machte er mit dem Elbenkrieger Branagorn eine Hauptfigur seiner Fantasy-Romane zum Ermittler in einem höchst irdischen Mordfall. Im Dezember 2012 erschien DER SOHN DER HALBLINGE, sein nächster großer Fantasy-Epos bei Blanvalet.
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Seitenzahl: 880
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Alfred Bekker
Finstere Geheimnisse
8 unheimliche Romane
Gesamtumfang: ca. 800 Normseiten
Ein CassiopeiaPress E-Book
© by Author (Alfred Bekker)
© 2012 der Digitalausgabe 2012 by AlfredBekker/CassiopeiaPress
www.AlfredBekker.de
1. digitale Auflage 2014 Zeilenwert GmbH
ISBN 9783956173646
Cover
Titel
Impressum
Über den Autor
Haus der Schatten
Die Angst verfolgt dich bis ans Ende
Das unheimliche Schloss
Herrin der Krähen
Sara und der Kult der Schlange
Das Phantom von Tanger
Dunkler Reiter
Dein Albtraum wird zur Wirklichkeit
Alfred Bekker schrieb diese fesselnden Romantic Thriller. Seine Romane um DAS REICH DER ELBEN, die GORIAN-Trilogie und die DRACHENERDE-SAGA machten ihn einem großen Publikum bekannt. Er schrieb für junge Leser die Fantasy-Zyklen ELBENKINDER, DIE WILDEN ORKS, ZWERGENKINDER und ELVANY sowie historische Abenteuer wie DER GEHEIMNISVOLLE MÖNCH, LEONARDOS DRACHEN, TUTENCHAMUN UND DIE FALSCHE MUMIE und andere. In seinem Kriminalroman DER TEUFEL AUS MÜNSTER machte er mit dem Elbenkrieger Branagorn eine Hauptfigur seiner Fantasy-Romane zum Ermittler in einem höchst irdischen Mordfall. Im Dezember 2012 erscheint mit DER SOHN DER HALBLINGE sein nächster großer Fantasy-Epos bei Blanvalet.
Alfred Bekker
Romantic Thriller/Unheimlicher Roman
Der vorliegende Roman erschien ursprünglich unter dem Autorenamen Leslie Garber, einem Pseudonym von Alfred Bekker.
© 1990 by Alfred Bekker
www.AlfredBekker.de
All rights reserved
Ein CassiopeiaPress Ebook
Ausgabejahr dieser Edition: 2012
http://www.bookrix.de/-cassiopeiapress
http://www.beam-ebooks.de/suchergebnis.php?Type=&sw=CassiopeiaPress&x=0&y=0
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"Es ist kalt geworden … Ja, es wird Herbst!"
Der Wind fuhr pfeifend durch die uralten, knorrigen Bäume, die den Friedhof umgaben.
Die ersten braunen Blätter wurden von den zuweilen ziemlich heftigen Windstößen von den Ästen gewirbelt. Nicht mehr allzu lange und sie würden völlig kahl sein.
Der ältere Herr, der sich an diesem stürmischen Tag hier her bemüht hatte, stand gedankenverloren da und starrte auf das Grab zu seinen Füßen.
John Baily - so stand es dort in den grauen Marmor eingraviert.
"John …", so flüsterte der Mann leise vor sich hin. Der Wind trug die Worte davon und verschluckte sie. John Baily, das war sein Sohn gewesen. Jetzt lag er hier zu seinen Füßen unter der Erde. Der ältere Herr wischte sich kurz über das Gesicht. Seine Augen hatten sich gerötet. Vielleicht lag das an dem scharfen Wind, vielleicht waren es auch ein paar verstohlene Tränen der Trauer und des Zorns. Dann schlug er sich mit einer schnellen Bewegung den Kragen seines Mantels hoch, um sich besser gegen den eisigen Wind zu schützen, der über die Gräber fegte.
"Möge deine Seele in Frieden ruhen", murmelte er vor sich hin und atmete tief durch.
Unweigerlich musste er an den Fluch denken, von dem man behauptete, dass er seit Jahrhunderten auf den männlichen Nachfahren der Bailys lastete …
Alles nur Gerede!, hatte er sich immer einzureden versucht.
Eine Legende, die sich im Laufe der Zeit gebildet hatte und an der wahrscheinlich nicht eine Spur von Wahrheit dran war!, so hatte er immer gesagt.
Aber in Augenblicken wie diesen fiel ihm die Geschichte in steter Regelmäßigkeit wieder ein.
Der Fluch …
Im Jahre 1697 war eine junge Frau als Hexe verbrannt worden. Es war in kleinen Stadt an der Küste Neuenglands gewesen, in der die Bailys zu jener Zeit gelebt hatten. Und einer von ihnen - Malcolm H. Baily - war damals als Zeuge der Anklage aufgetreten und hatte ausgesagt, er hätte die junge Frau bei der Ausübung schwarzer Magie beobachtet. Bevor die junge Frau schließlich auf dem Scheiterhaufen ein schreckliches Ende nahm, so hieß es, hatte sie dann ihren fürchterlichen Fluch ausgestoßen. Er sollte nicht nur Malcolm H. Baily selbst, sondern all seine Nachfahren treffen, die allesamt vor ihrer Zeit eines unnatürlichen Todes sterben würden. Doch damit nicht genug! Die Seelen der Bailys fänden nach dem Tod keine Ruhe und würden in finsteren Nächten die Lebenden heimsuchen und quälen … Ja, dachte Jeffrey J. Baily, der ältere Herr, der noch immer vor dem Grab seines Sohnes stand, allen Flüchen zum Trotz hast du deine Ruhe gefunden, mein Sohn!
*
Francine Baily spürte den Brief in ihrer Manteltasche und sie wusste noch immer nicht so recht, was sie nun eigentlich davon halten sollte.
Es war ein Brief von Dad, aber es war normalerweise gar nicht Dads Art, Briefe zu schreiben. Merkwürdig war auch, dass er maschinengeschrieben und nicht handschriftlich verfasst war.
Vielleicht hat er den Brief diktiert, hatte Francine spontan überlegt.
Und wenn sie genauer darüber nachdachte, dann kam sie zu dem bitteren Schluss, dass das unpersönliche Äußere dieses Briefes nur zu gut zu ihrem Vater passte! Es war der erste Brief, den ihr Vater ihr aus dem trüben, herbstlichen Neu-England ins sonnige Kalifornien geschickt hatte, seit sie ihn vor gut zwei Jahren zuletzt gesehen hatte.
Ja, sie erinnerte sich noch sehr genau daran.
Es war auf der Beerdigung ihres älteren Bruders John gewesen, der bei einem tragischen Verkehrsunfall ums Leben gekommen war.
Sie dachte an jenen kalten, unfreundlichen Tag und an die einschläfernden Worte des frierenden Geistlichen, auf dem Friedhof von Bangor, Maine.
Aber sie dachte in diesem Moment auch an das versteinerte Gesicht ihres Vaters.
Sie hatten an jenem Tag nicht miteinander gesprochen. Nicht ein Wort, obwohl sie beide in jener Stunde vielleicht ein paar Trostworte des anderen hätten gebrauchen können.
Aber sie hatten beide geschwiegen.
Vielleicht ist das falsch gewesen, dachte Francine jetzt. Vor allem nach diesem Brief, in dem ihr Vater sie bat, so schnell wie möglich nach Bangor zu kommen.
Er wollte sich mit ihr aussöhnen und hätte auch akzeptiert, dass sie ihren eigenen Weg ging, der so ganz anders war, als das, was ihr Dad sich für sie vorgestellt hatte.
Seltsam, dachte sie. Das klang alles so gar nicht nach ihrem Dad …
Aber vielleicht hatte er sich ja geändert und tatsächlich eingesehen, dass es nicht nur seine Sichtweise der Welt gab.
Francine studierte englische Literatur und würde eines Tages College-Lehrerin sein. Ihr Vater hingegen hatte immer gehofft, dass sie eines Tages ihren Platz in seinem Unternehmen finden würde - so wie John, der Dads Nachfolger hatte werden sollen.
Aber damit war es nun vorbei.
John war tot und für Dad bedeutete das, dass all das, wofür er sein Leben lang gearbeitet hatte, keine Zukunft hatte. Keine Zukunft über den Tag hinaus, an dem er die Augen schließen würde. Ich habe ihn sehr enttäuscht, dachte Francine, als sie den schweren Koffer nahm und die Bahnhofshalle von Bangor verließ. Ja, ich habe ihn enttäuscht und dennoch kam jetzt dieser Brief und dieses Angebot zur Versöhnung, nachdem wir jahrelang nicht miteinander gesprochen haben, ging es ihr noch einmal durch den Kopf. Bei dem Brief war auch ein Scheck gewesen, denn eine Reise von Kalifornien nach Maine war für eine Studentin, die sich mit Nebenjobs über Wasser hielt, ein ziemlich großer Brocken. Der Scheck bedeutete, dass das für sie nun kein Problem gewesen war. Er bedeutete aber auch, dass Dad es offenbar sehr ernst meinte … Vielleicht war er krank und wollte deshalb eine schnelle Versöhnung … Sie hatte nicht eine Sekunde überlegen müssen, um ihren Koffer zu packen und mit dem Flugzeug von San Francisco nach New York zu kommen. Und dann mit dem Zug weiter nach Norden, dem großen, düsteren Herrenhaus ihres Vaters entgegen, das irgendwo in der Nähe von Bangor lag.
"Francine?"
Es war eine dunkle Männerstimme, die da ihren Namen aussprach.
Francine Baily drehte sich herum und blickte in ein hartgeschnittenes Gesicht, in dessen Mitte zwei kalte graue Augen zu finden waren. Im ersten Moment erschrak sie etwas, aber dann entspannten sich Francines Gesichtszüge wieder.
"Du wirst doch nicht etwa behaupten wollen, dass du mich nicht mehr kennst", meinte der Mann und Francine versuchte ein Lächeln, das ihr allerdings nicht so recht gelingen wollte.
"Es war nur im ersten Moment …", begann sie und brach dann ab.
Natürlich kannte sie diesen Mann! Es war Mr. Colin Randolph, der Neffe ihres Vaters und seit vielen Jahren auch sein persönlicher Sekretär. Francine hatte Colin nie gemocht.
Sie wusste nicht recht, weshalb eigentlich.
Vielleicht lag es an der düsteren Ausstrahlung, die er hatte oder dem kalten Blick seiner grauen Augen, die alles zu durchdringen schienen.
Es war einfach ein Gefühl, das sie nicht näher erklären konnte.
"Ich bin mit dem Wagen hier", erklärte Colin mit bemühter Freundlichkeit und nahm ihr den Koffer ab.
"Wie geht es Dad?"
Colin zuckte mit den Schultern. Dann runzelte er die Stirn.
"Was meinst du damit, Francine? Eine Frohnatur ist er doch schon seit langem nicht mehr … Seit deine Mutter starb! Das hat ihn wohl so bitter und hart gemacht." Colin schien die Veränderung jetzt zu bemerken, die in Francines Gesicht vor sich gegangen war und meinte dann: "Verzeihung, ich hätte …"
"Nein, schon gut!"
"Ich wollte sagen: Ich hätte das nicht erwähnen sollen. Das war taktlos von mir. Entschuldige bitte!"
Francine schluckte.
Ja, dachte sie, das war taktlos.
Aber es waren Tatsachen. Tatsachen, die sich nicht verleugnen ließen. Francines Mutter war bei ihrer Geburt gestorben. Sie hatte sie nie kennen gelernt. Möglicherweise hatte Francines Vater sie unbewusst immer für den Tod seiner Frau verantwortlich gemacht oder sie zumindest damit in Verbindung gebracht. Vielleicht ist das der Grund, weshalb es nie zwischen Dad und mir gestimmt hat, dachte Francine plötzlich, während sie den Wagen erreichten. Es war ein flotter Sportwagen. Colin hatte eine Vorliebe für so etwas. Der Kofferraum war zu klein für Francines Gepäck, deshalb packte er es auf den schmalen Rücksitz. Dann machte er eine Geste, die einladend und galant wirken sollte, in Wahrheit aber nur steif war.
"Bitte, steig ein, Francine!"
"Danke."
*
Colin hatte einen rasanten Fahrstil, mit dem er Francine vielleicht imponieren wollte. Aber das konnte kaum irgend welchen Eindruck auf sie machen, jedenfalls keinen positiven. Sie ertappte sich dabei, wie sie sich angstvoll am Sitz festklammerte, obgleich sie angeschnallt war.
"Könntest du nicht etwas langsamer fahren, Colin?"
"Wenn du willst …" Ein ziemlich dünnes Lächeln machte sich um seine Lippen breit.
Francine blieb fest. "Ich will es. Sonst hätte ich auch mit einem Taxi fahren können, die rasen auch immer wie die Verrückten … Aber für die ist Zeit ja auch Geld."
"Für mich ebenfalls!"
Er verzog das Gesicht zu einer Maske.
Nein, entschied Francine. Es hatte sich nichts zwischen ihnen beiden geändert. Sie mochte Colin Randolph noch immer nicht … Er war ihr zu glatt, zu kalt - und zu undurchsichtig, um ihn sympathisch finden zu können! In schneller Fahrt verließen sie die Stadt, gelangten von großen, auf kleine Straßen und hatten schließlich das Haus von Jeffrey J. Baily erreicht, jenes Haus, in dem Francine großgeworden war. Eine hohe Mauer umgab das Anwesen wie ein Schutzwall, dahinter waren weiträumige Parkanlagen und dann schließlich das Haus selbst, sowie einige Gebäude, in denen Bedienstete einquartiert waren. Colin Randolph stoppte den Wagen vor dem herrschaftlichen Portal und Francine ging bei dem Anblick des riesigen, aus grauem, kaltem Stein erbauten Haus ein Schauer über den Rücken. Alles hier schien düster, kalt und feucht zu sein: Die Luft, das Wetter, der bewölkte Himmel, das Haus … Francine hatte schon gute Gründe gehabt, um diesen trüben Ort gegen das sonnige Kalifornien einzutauschen! Aber nun war sie wieder hier her zurückgekehrt und jetzt gab es wohl auch erst einmal kein Zurück mehr.
"Ich bringe den Wagen weg", meinte Colin. "Wenn du willst, kannst du schon einmal ins Haus gehen."
"Mein Koffer …"
"Darum kann ich mich kümmern!"
Er sagte das sehr bestimmt, so als wollte er unbedingt, dass sie jetzt den Wagen verließ, die Stufen des Portals hinaufging und im Haus verschwand.
Und dort würde sie unweigerlich auf Dad treffen! Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, dann musste sie zugeben, dass sie vor diesem Moment eine Heidenangst hatte. Sie versuchte sich selbst ein wenig zu beruhigen, indem sie sich sagte, dass ihr Dad sie schließlich nicht ohne Grund zu sich gerufen haben würde. Ganz gleich, wie das Zusammentreffen auch immer verlaufen mochte - schlechter konnte es zwischen ihnen beiden ohnehin kaum noch werden. Sie zuckte also mit den Schultern.
"Gut", meinte sie.
"Wir sehen uns dann sicher nachher noch, Francine …"
"Ja, sicher."
Sie sagte das wie in Trance. Mit den Gedanken war sie bereits ganz woanders.
*
"Wen darf ich bitte melden?", fragte ein schon etwas älterer und sehr steifer Majordomus, den Francine nicht kannte. Er war noch nicht im Haus beschäftigt gewesen, als sie das letzte Mal hier war. Seine sehr abweisende Art gefiel Francine nicht.
"Ich bin Francine, die Tochter von Mr. Baily. Mein Vater erwartet mich …"
Francine erntete dafür ein Stirnrunzeln. Aber dann wurde sie angehalten, dem Majordomus zu folgen. Sie kamen in ein Wohnzimmer mit hohen Fenstern. An einem der Fenster stand Dad.
Francine sah den Rücken seiner stattlichen Erscheinung und dachte: Was soll ich jetzt gleich sagen? Alles drehte sich in ihrem Kopf. Kein klarer Gedanke wollte sich bilden, so sehr sie sich auch zusammenzureißen suchte.
"Mr. Baily … Ihre Tochter!"
Mr. Baily drehte sich herum und musterte Francine mit einem halb verwunderten, halb nachdenklichen Blick. Seine Stirn lag in Falten und um seine Mundwinkel war ein harter, bitterer Zug. So kannte sie ihren Dad, genau so und nicht anders … Und doch liebte sie ihn von ganzem Herzen und das war es, was alles so kompliziert machte!
"Dad …"
"Francine!" Er sagte das, als würde er erst jetzt wirklich begreifen, dass seine Tochter vor ihm stand.
"Ich bin so froh …"
Wenn sie ehrlich war, dann musste sie sich eingestehen, dass sie nicht wusste, wie sie anfangen sollte. Zu lange hatte gegenseitiges Schweigen geherrscht und das rächte sich nun.
Und doch hatte Francine ein Gefühl von Zuversicht. Wenn sie beide es wirklich wollten, dann würden sie auch wieder zueinander finden können.
Jeffrey J. Bailys Stirn legte sich in Falten. Er unterzog seine Tochter einer kritischen Musterung.
Schließlich sagte er mit ruhiger Stimme: "Es überrascht mich, dich zu sehen, Francine!"
"Es überrascht dich, Dad?"
"Als wir uns das letzte Mal sahen, war das nicht gerade ein freundlicher Familienplausch …"
Francine machte eine hilflose Geste. Was hatte das zu bedeuten?
Hatte Dad sie etwa doch nicht erwartet? Es konnte ihn doch unmöglich überraschen, dass sie hier jetzt vor ihm stand. Schließlich hatte er sie doch in seinem Brief darum gebeten zu ihm zu kommen!
"Nein, eine nette Unterhaltung war es nicht gerade, Dad. Das stimmt. Aber ich habe gedacht …"
Er blickte sie durchdringend an.
"Was hast du gedacht, Francine?"
Sie schluckte und dann hörte sie die Stimme des Majordomus.
"Kann ich noch etwas für Sie tun, Mr. Baily?"
"Nein danke, Jenkins. Gehen Sie bitte."
"Jawohl, Sir!"
"Und lassen Sie uns bitte allein!"
"Ist gut, Sir!"
Und dann war Jenkins auch schon verschwunden. Mr. Baily sandte ihm einen nachdenklichen Blick nach und wartete, bis er gegangen war. Francine studierte genau sein Gesicht. Sie sah in müde, traurige Augen, die von dicken Tränensäcken noch unterstrichen wurden.
"Was soll dieser plötzliche Besuch, Francine? Hast du deine Meinung etwa doch geändert? Wenn das so ist, dann würde mich das freuen. Wirklich! Aber …"
"Ich habe meine Entscheidung nie bereut, Dad! Ich musste einfach meinen eigenen Weg gehen. Aber ich habe immer gehofft, dass du das eines Tages verstehen würdest …"
Mr. Baily schluckte. Als er dann antwortete, legte er die ganze Enttäuschung in seinen Tonfall, die er empfand. "Unter diesen Umständen weiß ich nicht, was wir uns zu sagen hätten", presste er heraus. "Warum bist du gekommen, Francine?"
Francine traf es wie ein Schlag vor den Kopf und es dauerte eine volle Sekunde, bis sie nach Luft geschnappt und sich wieder gefasst hatte.
"Dad, du hast mich doch hier her gerufen!"
Mr. Bailys Stirn legte sich in tiefe Furchen.
Er hob beide Augenbrauen und blickte seine Tochter ziemlich ungläubig an. "Was?", brachte er dann heraus.
Francine rang nach Atem.
"Ja! Du hast mir geschrieben!"
"Ich weiß nicht, was du meinst, Francine. Aber du bist meine Tochter und da du nun einmal hier bist - aus welchen Gründen auch immer - habe ich nichts dagegen, wenn du eine Weile hierbleibst. Dein altes Zimmer ist noch frei …"
"Es sind viele Zimmer hier frei, nicht wahr, Dad?"
Er nickte.
"Ja. Das Haus ist im Grunde viel zu groß für mich …" Dann blickte er auf und kam ein paar Schritte auf Francine zu.
"Warum muss es zwischen uns immer Krach geben, Kind?"
Francine seufzte.
"Ich weiß es auch nicht!"
"Ich wünschte, es wäre anders! Ich wünschte …" Und dann fielen sie sich in die Arme.
"Oh, Dad …"
"Vielleicht habe ich einiges falsch gemacht, Francine. Aber das ist jetzt wohl nicht wieder gutzumachen …"
"Es war nie meine Absicht, dich zu enttäuschen, Dad!"
"Ich weiß." Sie standen dann einige Augenblicke lang so zusammen da und schwiegen.
Ein seltsamer Tag, dachte Francine. Ein wirklich seltsamer Tag.
Aber wenn er eine Klärung und Versöhnung zwischen ihr und ihrem Dad bringen konnte, dann sollte es ihr recht sein. Dann löste sich Mr. Baily von Francine und meinte: "Ich habe noch ein paar Dinge vor dem Abendessen zu erledigen."
Sie nickte.
"Das verstehe ich, Dad."
"Wie gesagt, dein altes Zimmer ist frei. Aber du kannst auch eines der andere Gästezimmer haben, wenn dir das lieber ist …"
"Nein, ist schon in Ordnung."
Mr. Bailys Züge waren deutlich entspannter geworden.
"Gut, wir sehen uns dann zum Essen. Du bist ja keine Fremde, du weißt ja im Haus Bescheid, nicht wahr? In einer halben Stunde wird im Esszimmer aufgetragen …"
"Ich werde mich dann in der Zwischenzeit etwas frisch machen …"
"Tu das, Francine. Wir werden uns sicher noch viel zu erzählen haben."
"Das glaube ich auch."
Und dann wandte Francine sich zur Tür. Doch bevor sie hindurchgegangen war, hörte sie Mr. Baily noch einmal ihren Namen rufen.
"Francine - "
Sie blieb stehen, drehte sich noch einmal halb herum. Dann hob sie den Kopf und blickte geradewegs in die grauen Augen ihres Vaters, die auf einmal viel von ihrer vorherigen Kälte verloren zu haben schienen.
"Ja?"
"Es ist nicht leicht, den ersten Schritt zu tun, nicht wahr?"
"Nein, das ist nie leicht."
"Ich bin froh, dass du ihn getan hast, Francine. Ich glaube nicht, dass ich das geschafft hätte …"
Francine schüttelte verwirrt den Kopf.
"Aber Dad, ich …"
Sie hatte sagen wollen, dass es doch sein - Dads - Brief war, der den ersten Schritt bedeutet hatte, und nicht ihr Erscheinen hier. Er war es gewesen, der über seinen Schatten gesprungen war, nicht sie! Es wollte aus ihr heraussprudeln, doch da hatte er sie längst unterbrochen.
"Es ist mir oft durch den Kopf gegangen, dass man so nicht auseinandergehen sollte, Francine, so wie wir damals auseinandergegangen sind! Aber nun wird es ja vielleicht besser mit uns!"
"Bestimmt!"
"So, jetzt muss ich mich aber beeilen! Ein paar wichtige Telefonate warten noch auf mich!"
Francine sah ihren Vater am Schreibtisch stehen und den Hörer abnehmen und bedachte ihn mit einem nachdenklichen Blick. Dann ging sie endlich und schloss die Tür hinter sich. Ihr Inneres war aufgewühlt, so aufgewühlt wie schon seit langem nicht mehr.
*
"Francine!"
Sie erschrak und stand wie angewurzelt in dem halbdunklen Flur.
Dann entspannten sich ihre Muskeln und Sehnen wieder etwas und sie atmete auf.
"Du hast mich aber erschreckt, Colin!"
Colin Randolph trat aus dem Schatten heraus und lächelte dünn.
"Ich habe dir deine Sachen in dein altes Zimmer gebracht!", meinte er. "Ich denke doch, dass du dort wohnen wirst …"
Sie nickte.
"Ja, ich danke dir."
Sie drückte sich an ihm vorbei und wollte die Treppe hinaufgehen.
Da vernahm sie erneut seine Stimme, die in ihren Ohren irgendwie einen unangenehmen Unterton hatte.
"Sag mal, Francine …"
Sie hob die Augenbrauen.
"Ja?"
"Ich meine, du musst das nicht falsch verstehen … Es ist vielleicht eine etwas indiskrete Frage, aber …"
"Was ist es?", forderte Francine, fast etwas schroffer, als sie es eigentlich beabsichtigt hatte.
Colin drückte sich noch zwei Sekunden herum, dann brachte er es endlich heraus.
"Als ich deine Sachen vorhin hier vorbeigebracht habe, da …"
Francine runzelte die Stirn.
"Was war da?"
"Ich wollte nicht lauschen, Francine, wirklich nicht. Aber es war recht laut da drinnen, nicht wahr?"
"Zu Anfang, ja. Dann nicht mehr. Wir haben uns gut verstanden, Colin!"
"Naja, da gab es ja immer gewisse Meinungsverschiedenheiten zwischen dir und Onkel Jeffrey, deinem Dad - nicht wahr? Da verwundert es auch nicht, dass …"
"Was soll das, Colin?"
Francine bemerkte ihren eigen gereizten Tonfall. Sie spürte Ungeduld in sich aufsteigen, gemischt mit einer Spur Ärger.
Worauf wollte Colin eigentlich hinaus? Um welches Fettnäpfchen drückte er sich schon die ganze Zeit herum?
"Ich will dir meine Hilfe anbieten, Francine."
Francine musste unwillkürlich schlucken.
Ihre Erwiderung war dann sehr bestimmt und eindeutig.
"Ich brauche im Moment keine Hilfe. Wirklich nicht."
"Auch nicht, was deinen Dad anbetrifft? Ich meine, ich konnte nicht genau verstehen, was da drinnen gesprochen wurde, aber soviel ist für mich klar: Es war kein freundlicher Plausch."
"Es war eine ernsthafte Unterhaltung."
"Eher ein ernsthafter Streit …"
"Dad und ich haben ein paar Dinge zwischen uns geklärt. Wir verstehen uns besser als je zuvor …"
Colin zuckte mit den Schultern.
"Vielleicht habe ich mich ja auch nur verhört! Aber wenn ich dir irgendwie helfen kann … Ich habe einen - wie soll ich sagen? - einen gewissen Einfluss auf Mr. Baily!"
"Danke, Colin! Ich komme gut allein zurecht!"
"Wie du meinst! Aber vielleicht änderst du ja deine Meinung noch. Es sollte nur ein Angebot sein, mehr nicht."
Francine nickte. Und dann fragte sie sich, was Colin eigentlich eingefallen sein mochte, sich in ihre Meinungsverschiedenheiten mit Dad einzumischen. Ganz gleich, was zwischen ihr und ihrem Vater auch immer nicht stimmen mochte - Colin Randolph ging das nichts an! Aber Francine hatte im Moment keinerlei Neigung dazu, darüber zu diskutieren.
"Okay, Colin. Jetzt entschuldige mich bitte."
Er machte eine unbestimmte Geste, während sie bereits an ihm vorbeigeangen war.
"Natürlich, Francine. Bis nachher!"
*
Francine kam gerade noch rechtzeitig ins Esszimmer, bevor Bradley, der Butler die Suppe brachte.
Mr. Baily machte ein erfreutes Gesicht, als Francine den Raum betrat.
"Hier, setz' dich mir gegenüber, Francine", meinte er. Dann wandte er sich an die anderen Anwesenden. "Ich darf euch Francine vorstellen - meine Tochter! Einige kennen sie ja noch nicht. Francine, die Dame dort zur Rechten ist Mrs. Bellinda Randolph - Colins Frau."
"Oh, du hast geheiratet, Colin?", wunderte sich Francine.
"Ja."
"Und dies hier ist Mr. George Lamont, ein Anwalt, der für unser Haus tätig ist", fuhr Mr. Baily unterdessen fort.
Francine reichte zunächst Bellinda die Hand. Sie schien gut zu Colin zu passen, zumindest machte sie einen ebenso knochentrockenen Eindruck. Bellindas Wangenknochen waren hochstehend. Sie war sehr schlank, fast schon dürr. Aber das bemerkenswerteste an ihr waren die funkelnden Augen in ihrer Gesichtsmitte, in denen es böse blitzte. Das breite Lächeln passte nicht zu dem, was ihre Augen über sie verrieten.
"Es freut mich, Sie kennenzulernen …"
"Nenn mich Bellinda! Wir sind ja nun gewissermaßen verwandt."
"Ja, gewissermaßen …"
"Colin hat mir schon viel von dir erzählt, Francine …"
"Ach? Hat er das?"
Aber dann schüttelte sie bereits die Hand von George Lamont, einem scheu wirkenden Mann mit schütterem Haar und bleicher Haut. Er sah genau so aus, wie man sich einen Anwalt vorstellt. Und dann brachte Bradley endlich die Suppe. "Wie ist um diese Jahreszeit in Kalifornien?", fragte Bellinda mit verkniffenem Gesicht. Die wollte etwas Konversation machen.
Gut, dachte Francine. Meinetwegen.
"Es ist auf jeden Fall wärmer als hier im Norden!"
"Man sollte die kalte Jahreszeit im warmen Süden verbringen!", meinte Lamont dazu. "Aber leider bleibt einem dafür kaum die Zeit. Ein paar Tage zwischen Weihnachten und Neujahr. Mehr sitzt nicht drin …"
"Wobei die Frage erlaubt sein muss, ob es hier oben im Norden überhaupt noch etwas anderes als eine kalte Jahreszeit gibt!", erklärte Bellinda mit einem beißenden Unterton, der Francine nicht gefiel.
Colins Frau wandte sich erneut an Francine.
"Bei Studenten im sonnigen Kalifornien kommen solche Gedanken wohl kaum auf, was?"
Francine machte eine etwas verlegene Geste.
"Das mag wohl stimmen …"
"Was studierst du, Francine. Englische Literatur habe ich gehört …"
"Das ist richtig."
"Kann man damit Geld verdienen?"
Francine überhörte den boshafte Unterton, der in Bellindas Worten mitschwang.
Sie versuchte, gelassen zu bleiben.
"Man kann College-Lehrerin werden", erwiderte sie also ruhig.
"Naja …"
Bellinda lächelte gequält.
Wenn jemand wie sie von Geld spricht, dann meint sie damit nicht Summen in der Größenordnung eines Lehrer-Gehalts, dachte Francine.
Aber es war ihr im Grunde genommen gleichgültig. Sie hatte ihren eigenen Weg eingeschlagen und war auch fest entschlossen, ihn bis zu Ende zu gehen. Es war ihr Weg. Und allein darauf kam es an.
"Geld hat in unserer Familie immer eine große Rolle gespielt", meldete sich nun Mr. Baily zu Wort. "Vielleicht eine zu große Rolle …"
Er wirkte nachdenklich, viel nachdenklicher als sonst. Und fast schien es, als würde er mehr zu sich selbst, als zu den Anwesenden sprechen.
"Im Bangor Theatre läuft ein interessantes Stück. Eine Kriminalkomödie", meinte Colin. "Bellinda und ich werden uns die Vorstellung anschauen … Vielleicht hast du ja auch Lust, mitzukommen, Francine!"
Aber danach stand Francine nun wirklich nicht der Sinn. Ein Abend mit Colin und Bellinda war so ziemlich das letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte!
"Nein, danke!"
"Es wäre vielleicht ganz nett!"
"Ich möchte aber nicht. Trotzdem vielen Dank."
Colin Randolph wandte sich an Mr. Baily.
"Und wie steht es mit dir, Onkel Jeffrey?"
Aber Jeffrey J. Baily winkte entschieden ab und verzog das Gesicht zu einer Grimasse.
"Ich mag keine Theaterstücke!", brummte er "Und schon gar keine Komödien! Das weißt du doch!"
Colin lachte.
"Nun, es war nur so ein Gedanke …"
Mr. Baily wandte sich an seine Tochter.
"Vielleicht hast du nachher noch ein bisschen Zeit, dich mit mir zu unterhalten, Francine!"
"Aber sicher, Dad."
"Ich freue mich."
Francine lächelte.
"Ich mich auch."
Mr. Baily rief den Butler herbei.
"Bringen Sie uns bitte das Hauptgericht, Bradley!"
"Sehr wohl, Sir!"
"Sag mal, Dad, ist Miss Gormley noch immer die Köchin hier?", fragte Francine plötzlich.
"Aber sicher doch! Das, was du hier auf dem Tisch vorfindest, ist von ihr zubereitet! Sie ist eine ausgezeichnete Köchin!"
"Ja, das ist sie! Ich möchte mich nach dem Essen kurz mit ihr unterhalten! Wir haben uns immer sehr nahe gestanden."
"Tu das, Francine. Du dürftest sie in der Küche antreffen!"
*
Mr. Lamont, der Anwalt, erhob sich als erster, nachdem das Dessert vorbei war, aber die anderen folgten bald.
"Wir müssen uns beeilen, Schatz!", murmelte Bellinda Randolph mit ihrem typischen breiten Lächeln an ihren Mann gewandt.
Colin nickte. "Ja, sicher! Wir wollen ja schließlich nicht zu spät kommen!"
"Geht nur! Tut euch keinen Zwang an!", rief Mr. Baily. Dann wandte er sich an Lamont. "Ich sehe Sie morgen, Sir …"
Lamont schien sich aus irgendeinem Grund nicht recht wohl in seiner Haut zu fühlen.
Er hatte eine geduckte Körperhaltung und schwitzte, obwohl es eigentlich eher kühl im Haus war.
"Soll ich die Sache mit Strieber Inc. noch erledigen, Mr. Baily?"
Mr. Baily machte ein nachdenkliches Gesicht und musterte Lamont kühl. "Nein", murmelte er dann.
"Aber das wäre doch kein Problem! Ich bin doch für das Unternehmen zeichnungsberechtigt …"
"Nein, Lamont, es ist mir lieber so. Ich erledige das besser selbst."
Lamont schien irgendwie gekränkt. Aber er zuckte nur mit den Schultern. "Wenn Sie meinen …"
"Bis morgen, Mr. Lamont!"
Lamont machte eine etwas verlegen wirkende Geste mit der Rechten. "Auf Wiedersehen!"
Indessen ging Francine quer durch den Raum. Die Stimmen der anderen Anwesenden verhallten hinter ihr und wenig später war sie in der Küche. Miss Gormley war schon um die sechzig und schon so lange im Haus, wie Francines Gedächtnis reichte. Francine war ohne Mutter aufgewachsen und die gutmütige Miss Gormley war manchmal so etwas wie ein Ersatz für sie gewesen.
"Miss Francine!"
Die Köchin schaute von ihren Töpfen auf und strahlte über das ganze Gesicht, als sie Francine die Küche betreten sah.
"Oh, Miss Gormley …"
"Das freut mich aber, dass Sie mich nicht vergessen haben, Francine!"
Francine lächelte. "Oh, wie könnte ich das nur, Miss Gormley! Und wie können Sie so etwas nur denken!" Sie kam ein paar Schritte heran und nahm Francine bei den Schultern. Sie schien sich ehrlich über das Wiedersehen zu freuen. "Lassen Sie sich ansehen! Richtig erwachsen sind Sie geworden! Eine richtige Lady … Und so eine frische Gesichtsfarbe! Ja, die Sonne Kaliforniens … Wenn man hier in Bangor lebt, bleibt man sein Leben lang bleich, fürchte ich!" Es dauerte etwas, bis die anfängliche Befangenheit gewichen war. Aber dann ergriff Francine die Initiative und umarmte Miss Gormley.
"Ich bin froh, dass Sie immer noch hier sind, Miss Gormley! Sie sind der gute Geist dieses Hauses und geben ihm etwas …" Sie suchte nach dem passenden Wort und dann fand sie es. Als sie es dann aber aussprach, erschrak sie selbst ein wenig darüber. "…etwas Menschliches!", murmelte sie.
Miss Gormley lächelte. "Oh, Francine, Sie übertreiben!"
Aber Francine schüttelte energisch den Kopf.
"Nein, nein, keineswegs!", erwiderte die junge Frau heftig. "Ich meine, was ich sage, Miss Gormley!"
Jetzt machte die Köchin eine Geste, die Verlegenheit signalisierte.
"Ja, Francine, das ist wahr! Und damit konnte Ihr Vater wohl nie zurechtkommen, nicht wahr? Mein Gott, ich weiß noch, wie furchtbar Sie sich mit ihm gestritten haben."
"Das ist Vergangenheit."
"Sie haben mit ihm gesprochen?"
"Ja, und es ist wohl ein neuer Anfang zwischen uns gemacht!"
Ein herzlichen Lächeln ging über Miss Gormleys Gesicht. Ein warmes Lächeln, das sie aus ihren Kindertagen nur zu gut kannte.
"Das freut mich aber, Francine! Es war bestimmt nicht einfach!"
Francine nickte."Wem sagen Sie das!"
Miss Gormleys Gesichtsausdruck wurde jetzt wieder etwas ernster.
"Francine, ich bin immer gut mit Ihrem Vater ausgekommen, auch wenn es nicht immer ganz einfach gewesen ist."
"Ja, ich weiß", murmelte Francine.
Sie brauchte nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass Miss Gormley in den letzten Jahren einiges auszuhalten gehabt hatte. Aber Miss Gormley hatte ein dickes Fell - und wenn es jemanden gab, der Jeffrey J. Baily zu nehmen wusste, dann war sie es.
"Bleiben Sie etwas länger, Francine?"
"Ich weiß noch nicht, Miss Gormley … Vielleicht."
"Es würde mich freuen."
*
Wenig später stand Francine in dem leeren Esszimmer und blickte hinaus durch das Fenster, das zur Vorderfront des Hauses zeigte. Sie hörte, wie kurz nacheinander zwei Wagen angelassen wurden. Erst fuhr dann Lamont, der Anwalt mit einem gediegenen Mercedes los, dann folgten Bellinda und Colin Randolph in ihrem Sportwagen. Colin hupte ungeduldig. Schließlich sah Francine noch Miss Gormley hinüber zu ihrer Unterkunft laufen. Sie hatte jetzt frei. Einige Augenblicke lang stand sie noch so gedankenverloren am Fenster.
Sie und Dad waren jetzt allein in diesem großen Haus.
Und dann fragte sie sich auf einmal, wo ihr Dad jetzt wohl steckte?
Sie hatten sich eigentlich ja unterhalten wollen. Genug zu sagen hatten sie sich ja nach all den Jahren auch wohl. Francine verließ das Esszimmer und ging hinaus auf den Flur. "Dad?" Vielleicht war er in seinem Arbeitszimmer! Als sie die Tür erreicht hatte, klopfte sie zunächst. Aber es kam keine Antwort. Als sie die Tür berührte, um ein weiteres Mal anzuklopfen, bemerkte sie, dass sie gar nicht verschlossen war. Sie drückte etwas gegen das dunkle Holz und die Tür ging mit einem schrecklichen Knarren auf. Sie sah ihren am Schreibtisch sitzen.
Er wandte ihr den Rücken zu und rührte sich nicht. "Dad!"
Er antwortete nicht. Als sie seinen Sessel dann umrundet hatte und ihn von vorne sah, packte sie das Entsetzen!
"Nein … Dad!" Sie schluckte und stand wie angewurzelt da. Für einen Moment war sie unfähig, irgendeine Bewegung zu machen. Was sie sah, ließ sie frösteln. Der Kopf war Dad nach vorn gesackt und fast schien es, als würde er schlafen. Aber das dem nicht so war, das verriet der rote Fleck vorne auf seiner Anzugweste … Jeffrey J. Baily war tot!
"Oh, mein Gott!", flüsterte Francine und schluckte unwillkürlich. Es war so schrecklich, so furchtbar.
Alles in ihr krampfte sich zusammen, als sie begriff, was hier vorgefallen sein musste! Sie zitterte. Ihr Vater war ermordet worden, das war wohl eine unumstößliche Tatsache! Und man brauchte auch kein Kriminalpolizist zu sein, um das in diesem Fall erkennen zu können. Erst jetzt bemerkte Francine, dass das Fenster offenstand. Ein kalter Hauch kam von draußen herein und ließ sie frösteln.
*
Francine brauchte einige Augenblicke, bis sie wieder einigermaßen klar denken konnte. Dann verließ sie eilig das Haus und rannte hinüber zur Wohnung von Miss Gormley. Verzweifelt klopfte sie an der Tür. "Miss Gormley! Machen Sie auf! So machen Sie doch auf!"
Zunächst kam keine Antwort und so klopfte Francine noch einmal.
"Miss Gormley!"
Es dauerte eine Weile, bis Miss Gormley an der Tür war.
"Was ist denn. Francine! Was tun sie hier?"
Francine rang nach Atem.
"Etwas Schreckliches ist geschehen!"
"Sie sind ja ganz bleich, Francine!"
"Dad ist tot! Kommen Sie!"
"Einen Augenblick! Ich ziehe mir eben noch Schuhe an!"
Als sie dann wenig später in Mr. Bailys Arbeitszimmer standen, machte Miss Gormley ein sehr ernstes Gesicht.
"Francine", sagte sie, "Es gibt keinen anderen Weg. Wir müssen jetzt die Polizei benachrichtigen!"
"Natürlich …", murmelte Francine.
"Das hätten Sie als Erstes tun sollen, Miss!"
"Ja, aber ich war so aufgeregt und so verwirrt!"
Miss Gormley nickte verständnisvoll.
Als Francine dann den Telefonhörer abheben wollte, bemerkte sie, dass ihre Hände zitterten. "Miss Gormley …" Francine ließ die Schultern sinken. "Bitte, würden Sie für mich anrufen? Ich bin einfach zu durcheinander!"
"Natürlich." Und dann nahm die Köchin den Hörer. In Francines Kopf drehte sich alles. Sie atmete tief durch und versuchte sich selbst auf diese Weise etwas beruhigen. Aber es wollte ihr einfach nicht so recht gelingen …
*
Es dauerte nicht lange und das Haus der Bailys wurde von einem ganzen Tross von verschiedenen Wagen belagert. Streifenwagen waren gekommen, ein Krankenwagen und ein Arzt. Und dazu ein halbes Dutzend Polizisten, zum Teil in Uniform, zum Teil in Zivil. Francine nahm nur am Rande wahr, was um sie herum geschah. Es war ein hektisches Kommen und gehen, währenddessen sie wie betäubt im Esszimmer saß. Miss Gormley versuchte sie ein bisschen zu trösten, aber das war unter diesen Umständen nicht leicht.
"Wer kann so etwas nur tun?", fragte Francine.
"Ich weiß es nicht, Francine."
"Wir haben uns oft nicht gut verstanden - und gerade, als wir einen neuen Anfang gemacht und uns ausgesprochen haben …" Dann stand plötzlich einer der Zivilbeamten vor ihr. Sie blickte auf und sah in freundliche grün-blaue Augen. Der Mann konnte kaum älter als dreißig sein.
"Sie sind …?"
"Francine Baily. Die Tochter des Toten."
Er reichte ihr die Hand. "Es tut mir leid für Sie!", sagte er dann verständnisvoll. Seine Stimme hatte einen warmen Klang, die vertrauenswürdig klang. Francine blickte zu ihm auf. Der Mann, der vor ihr stand war etwa einen Kopf größer als sie und hatte ein sympathisches Gesicht, das von einem vollen, braunen Haarschopf umrahmt wurde. Er sah sie zunächst nur flüchtig an. "Mein Name ist Harris und ich leite diese Aktion hier." Er zeigte ihr seinen Dienstausweis. "Wenn Sie nichts dagegen haben, dann möchte ich Ihnen gerne ein paar Fragen stellen …"
"Miss Baily steht noch unter Schock", mischte sich Miss Gormley ein. Aber Francine winkte ab.
"Danke, aber es wird schon gehen …"
Harris setzte sich. Und dann trafen sich seine ruhigen Augen mit Francines Blick und sie hatte auf einmal das Gefühl, in guten Händen zu sein. Aber anstatt dass Harris ihr die erste Frage stellte, begann Francine zu fragen.
"Wie ist mein Dad umgekommen?"
"Durch einen Stich mit einem spitzen Gegenstand. Einem Messer oder Brieföffner oder etwas dergleichen … Sagen Sie, wann haben Sie ihren Vater zum letzten Mal gesehen?"
"Beim Essen. Dann bin ich zu Miss Gormley in die Küche gegangen und wir haben uns unterhalten, bis sie dann hinüber in ihre Wohnung gegangen ist … Ich habe Dad gesucht und ihn dann im Esszimmer gefunden."
"Sie waren allein im Haus?"
Francine schluckte. Sie zögerte mit der Antwort. Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Natürlich! Dieser Polizist musste selbstverständlich sie in erster Linie verdächtigen, ihren Vater umgebracht zu haben!
"Ja", murmelte sie fast wie in Trance. "Ich war allein …"
Sie blickte auf. "Glauben Sie, dass ich meinen Vater umgebracht habe?"
Harris machte ein hilfloses Gesicht. Er zuckte mit den Schultern.
"Ich weiß es nicht, Miss."
"Ich habe meinen Vater geliebt!"
"Sie glauben gar nicht, mit wie vielen Menschen ich schon zu tun hatte, die jemanden umgebracht haben, den sie liebten …"
In diesem Moment kamen Bellinda und Colin Randolph ins Esszimmer gestürmt. Francine wandte sich zu ihnen herum und runzelte dann verwundert die Stirn.
"Ihr seid schon zurück?"
"Ja, Bradley, der Butler hat im Theater angerufen und uns benachrichtigen lassen. Er hat wohl den ganzen Aufmarsch von Polizei und Krankenwagen da draußen von seinem Fenster aus gesehen …"
"Darf ich fragen, wer Sie sind?", erkundigte sich Harris.
"Ja, ich bin Colin Randolph, der Neffe von Mr. Baily. Und dies ist meine Frau."
"Wissen Sie beide schon, was geschehen ist?"
"Ja, einer Ihrer Kollegen hat es mir draußen gesagt. Das ist ja furchtbar …" Colin Randolph trat zu Francine heran und fasste sie von hinten bei den Schultern. Sie zuckte unwillkürlich zusammen.
Vielleicht sollte es eine Geste des Trostes sein, aber Francine empfand sie als unangenehm.
"Ich hoffe, du hast noch keine Aussage gemacht …", hörte sie Colin dann hinter sich sagen.
Francine wandte sich zu ihm um und hob die Augenbrauen.
"Weshalb?"
"Ich habe von unterwegs aus Mr. Lamont angerufen. Du solltest nichts sagen, bis er nicht dabei ist."
"Den Anwalt?"
Colin nickte. Seine Züge drückten so etwas wie Verlegenheit aus. Die ganze Situation schien ihm irgendwie peinlich zu sein. Francine blickte ihn offen an, seine Augen wichen ihr aus. "Ja", bestätigte er dann.
"Sie hat Mr. Harris bereits gesagt, dass sie allein im Haus war, als …", begann Miss Gormley und stockte schließlich.
Colin ließ Francines Schulter los.
"Oh Gott!", stieß er hervor.
Francines Stirn legte sich in Falten. Sie war noch wie betäubt von dem, was sich zugetragen hatte. Aber langsam dämmerte es ihr, in welche Richtung die Sache jetzt lief. Und diese Richtung gefiel ihr nicht! "Was soll das heißen, Colin?", fragte sie.
Colin hob die Hand. "Kein Wort mehr, Francine, hörst du? Erst wenn Mr. Lamont hier eingetroffen ist …"
Colin glaubt, dass ich Dad umgebracht habe, wurde es Francine klar.
Es schien für ihn überhaupt keine Frage zu sein. Es machte Francine den Eindruck, als wäre ihre Schuld für Colin bereits eine erwiesene Tatsache und als ginge es nur noch darum, irgendwelche mildernden Umstände zu erstreiten. Und Colin würde der einzige bleiben, der so über die Sache dachte … Warum auch nicht?, schoss es Francine bitter durch den Kopf. Es schien einfach das Naheliegendste zu sein, sie zu verdächtigen. Aber irgendetwas an der Art und Weise, wie er sie vor diesem Kriminalbeamten namens Harris zu schützen versuchte, gefiel ihr nicht. Vielleicht war es dieser seltsame Ausdruck in seinem Gesicht, den sie nicht zu deuten suchte, vielleicht auch einfach die Tatsache, dass er den Verdacht gegen sie durch seine Aktivitäten eher verstärkte als abschwächte.
"Wann haben Sie denn Mr. Baily zum letzten Mal gesehen?", fragte Harris jetzt an Colin und Bellinda gewandt. "Beim Essen!", kam die übereinstimmende Antwort.
"Und was war danach?"
"Danach sind wir sofort in die Stadt gefahren, um die Theatervorstellung nicht zu versäumen", meinte Colin.
Und Bellinda beeilte sich mit breitem Lächeln hinzuzufügen: "Dafür gibt es natürlich jede Menge Zeugen …"
Wie schön für euch beide!, dachte Francine sarkastisch.
"Falls Sie vorhaben sollten, Francine zu verhaften …", begann Colin, aber Harris brachte ihn mit einer Bewegung der Hand zum Schweigen.
"Nein, soweit sind wir noch nicht, Mr. Randolph. Keine Sorge!"
Colin atmete tief durch. "Das hätte ich Ihnen auch nicht geraten! Unser Haus wird von Mr. Lamont vertreten, der ein …"
"…ein ausgezeichneter Anwalt ist, ich weiß, Mr. Randolph!"
Harris wandte sich an Francine.
"Was wird nun?", fragte sie.
Harris versuchte, sie etwas zu beruhigen.
"Machen Sie sich keine Sorgen, Miss Baily!"
"Das ist leichter gesagt, als getan!"
"Ich möchte Sie übrigens bitten, sich für die nächsten Tage hier zur Verfügung zu halten und Bangor nicht zu verlassen."
"Ist in Ordnung!", meinte Francine.
Colin wollte zu einem Protest ansetzen, aber Harris kam ihm zuvor.
"Das gilt für alle hier!", meinte er. "Nicht nur für Miss Baily!"
*
Etwas später tauchte dann auch noch Lamont auf, während Harris mit seinen Befragungen fortgefahren war. Die Männer von der Spurensicherung waren unterdessen längst fertig und auch der Arzt hatte seine Arbeit getan. Der tote Jeffrey J. Baily war auf dem Weg in die Gerichtsmedizin, während sein Arbeitszimmer von Beamten sorgfältig versiegelt wurde. Niemand hatte Zutritt dorthin, sofern er nicht eine Erlaubnis der Polizei hatte. Zwischendurch hörte Francine einen kurzen Dialog zwischen Colin Randolph und Lamont, dem Anwalt. Sie glaubte schier ihren Ohren nicht zu trauen …
"Schirmen Sie Francine etwas von diesem Harris ab. Alles spricht gegen sie …"
"Ich tue, was ich kann, Mr. Randolph."
"Die Aktien der Baily Company werden fallen, wenn an den Tag kommen sollte, dass tatsächlich die Tochter des großen Baily ihn erstochen hat!"
"Und die Boulevard-Presse wird sich das Maul zerreißen!", setzte Bellinda hinzu. "Ich sehe schon die Schlagzeilen vor mir!"
"Ja", meldete sich nun wieder Colin Randolph zu Wort. "Wir sollten keinerlei Risiko eingehen …"
"Das mit den Aktien wird sich wieder legen!", meinte Lamont zuversichtlich. "Wenn erst einmal klar ist, wer in Zukunft das Sagen hat, werden sie bald wieder steigen."
Nun wandte sich Harris an Lamont und das Gespräch in dieser kleinen Gruppe erstarb augenblicklich.
"Sie sind der Familienanwalt?", fragte der Kriminalbeamte.
Lamont nickte. "Ja. Aber nicht nur das, ich bin auch zeichnungsberechtigt für die Baily Company."
"Ah, interessant. Bis zu welchem Limit?"
"Es gibt kein Limit. Mr. Baily und ich kennen uns seit der Schulzeit. Und wir haben einander absolut vertraut."
"Verwalten Sie auch das Testament?"
Nachdem Harris das gefragt hatte, war es auf einmal völlig still im Raum. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, so leise war es.
Lamont verzog das Gesicht zu einem dünnen, etwas gezwungenen wirkendes Lächeln. Auf Francine machte es den Eindruck, als wären Bellinda und Colin Randolph plötzlich aus einem unerfindlichen Grund ein wenig nervös geworden. Einen Moment lang geschah überhaupt nichts und alles schien irgendwie in der Schwebe zu hängen.
Dann endlich kam Lamonts Antwort. "Es gibt kein Testament!", sagte der Anwalt knapp.
Harris zog die Augenbrauen hoch, so als fiele es ihm schwer, das zu glauben.
"Und da sind Sie sich absolut sicher?"
"Ja, natürlich! Wenn es eines gäbe, dann hätte er es bei mir und keinem anderen hinterlegt, da bin ich mir absolut sicher!"
"Weshalb?"
"Er hat vor einigen Jahren einmal ein Testament verfasst und auch bei mir hinterlegt! Es war zu Gunsten seines Sohnes, der ja inzwischen gestorben ist. Er hat das Testament daraufhin vernichtet."
"Ist das nicht verwunderlich?", fragte Harris stirnrunzelnd. "Ein millionenschwerer Mann wie Baily - und macht sich keine Gedanken über den Tag seines Todes hinaus …"
"Das ist nicht wahr", mischte sich nun Francine ein.
Harris wandte sich zu ihr um. "Wie meinen Sie das?"
"Er hat in Wahrheit an nichts anderes gedacht. Zumindest seit mein Bruder John tot ist. Er hätte es gerne gesehen, wenn ich mehr Interesse für die Unternehmensbelange gezeigt hätte - so wie John es getan hat. Aber …" Sie zögerte bevor sie weitersprach. Dann flüsterte sie mit halberstickter Stimme: "Ich hatte andere Interessen …"
"Hat Mr. Baily noch andere Verwandte in direkter Linie - außer Ihnen, Miss?", fragte Harris.
Sie schüttelte den Kopf. "Nein."
"Dann werden Sie jetzt wohl alles bekommen, nicht wahr?"
"Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht …"
"Aber so ist es doch, nicht wahr?"
Natürlich war es so! Es passt alles zusammen!, durchfuhr es Francine wie ein Blitz. Alles, aber auch wirklich alles deutete auf sie als Mörderin ihres Vaters hin … Sie hatte das Gefühl, sich in einem furchtbaren Netz verfangen zu haben, in das sie sich immer mehr verstrickte … Alles, was sie tat oder sagte oder nicht sagte schien es nur noch schlimmer zu machen …
*
Francine versuchte einzuschlafen, aber sie fand einfach nicht die nötige Ruhe. Sie war völlig überreizt und verspannt. Gedanken wirbelten in ihrem Kopf herum. Harris, der Kriminalbeamte, hatte nicht so ausgesehen, als wollte er ihr um jeden Preis etwas am Zeug flicken. Ganz im Gegenteil. Er schien ihr sogar ein sehr sympathischer und attraktiver Mann zu sein. Aber die Umstände, unter denen sie sich kennengelernt hatten, waren denkbar ungünstig. Und wie die Dinge nun einmal lagen, musste Harris einfach zu der Überzeugung gelangen, dass sie, Francine Baily, die Mörderin ihres Vaters war. Sie hatte ein Motiv, sie hatte die Gelegenheit - was fehlte noch, um sie ins Gefängnis zu bringen? Nichts!, wurde es ihr klar. Sie selbst wusste, dass sie es nicht gewesen war und dass sie auch niemals zu einer solchen Tat fähig gewesen wäre. Aber dieses Wissen war in diesem Fall nichts wert, denn sie teilte es mit niemandem. Hier zählten nur Beweise und Indizien.
"Warum bist du gekommen, Francine?"
"Dad, du hast mich doch hier her gerufen!"
"Was?"
"Ja! Du hast mir geschrieben!"
"Ich weiß nicht, was du meinst, Francine."
Dieser Wortwechsel mit ihrem Vater klang in ihrem Inneren nach.
Sie war ihm gegenübergetreten und er war überrascht gewesen … Ein schrecklicher Verdacht kam in ihr hoch.
Dad hatte sie nicht gerufen! Und vielleicht war er auch nicht der Autor des Briefes, den sie erhalten hatte! "Ich weiß nicht, was du meinst Francine!" Sie fasste sich an den Kopf. Dad hatte das vielleicht nicht nur so dahingesagt. Er schien wirklich nichts gewusst zu haben.
Als diese Worte über Dads Lippen gekommen waren, hatte sie gar nicht richtig hingehört. Und dann war die Versöhnung gekommen und alles andere schien unwichtig geworden zu sein all das, was sie sich zuvor gegenseitig an den Kopf geworfen hatten. Irgend jemand hatte sie mit dem Brief hier gelockt - und sie war prompt in die Falle gegangen. Und jetzt mussten alle den Eindruck haben, dass sie für den Tod ihres Vaters verantwortlich war.
Der Brief!, dachte sie. Sie musste sichergehen!
Der Brief war ein wichtiger Beweis! Und wenn sich ihr Verdacht bestätigte, dann erklärte das auch die Tatsache, dass dieser Brief nicht handschriftlich geschrieben worden war. Es war also durchaus möglich, dass man sie auf diese Weise getäuscht hatte. Aber wenn dieser Brief nicht von Dad geschrieben worden war, dann würde sich das vielleicht nachweisen lassen! Vielleicht ließ sich die Schreibmaschine herausfinden, auf der er getippt worden war! Der Brief musste noch immer in ihrer Manteltasche sein. Und der Mantel hing unten im Flur an der Garderobe. Sie hatte ihn während des Fluges von San Francisco nach New York mindestens ein Dutzendmal gelesen und sich dabei darüber gewundert, wie einfühlsam ihr Vater zu schreiben wusste … Der Brief war genau so geschrieben, dass er die richtige Seite in ihr zum Schwingen gebrachte hatte … Die Sache ließ Francine keine Ruhe mehr. Sie öffnete so leise wie möglich die knarrende Holztür ihres Zimmers und ging hinaus auf den dunklen Flur. Dann ging sie barfuß die Treppe hinunter und erreichte schließlich die Garderobe. Dort hing ihr Mantel neben einigen anderen Kleidungsstücken.
Francine griff in die rechte Tasche, in der der Brief sein musste. Es war, als würde sich ihr eine kalte Hand auf die Schulter legen … Der Brief war nicht mehr da!
*
Fieberhaft durchwühlte Francine nun auch die anderen Taschen ihres Mantels, aber der Brief fand sich nicht mehr, obwohl sie sich absolut sicher war, dass er hier sein musste! Jemand ist schneller gewesen!, dachte sie wütend. Irgend jemand hier im Haus hatte ihre Sachen durchwühlt und den Brief wieder an sich genommen … Und wenn dann dieser Harris von der Kriminalpolizei wieder auftauchte und sie nach dem Grund für ihren Aufenthalt hier im Haus von Jeffrey J. Baily fragte - was sollte sie ihm da antworten? Dass sie auf Grund eines mysteriösen Briefes gekommen war, der mit einem Mal nicht mehr auffindbar war? Sie konnte sich das Stirnrunzeln in Harris' Gesicht schon jetzt lebhaft vorstellen. Es war, als hätte sich fast unmerklich eine Schlinge um ihren Hals gelegt, die sich nun unerbittlich zusammenzog. Dann zuckte Francine auf einmal zusammen. Sie hörte ein Knarren und Schritte und erschrak. Das Licht ging an und dann sah sie Colin Randolph. Er hatte einen Morgenmantel übergeworfen und warf Francine einen etwas misstrauischen Blick zu.
"Francine! Du bist noch auf?", fragte er dann schließlich. Francine konnte den harten Unterton seiner Stimme nicht überhören. Sie schluckte, während Colin sie mit seinen eisgrauen Augen musterte.
"Nein", sagte sie. "Ich konnte nicht schlafen", meinte sie.
Colin zuckte mit den Schultern.
"Mir ist es ähnlich gegangen. Ich habe im Wohnzimmer gesessen und etwas gelesen. Und nun hoffe ich, dass ich müde genug bin, um endlich einschlafen zu können …"
"Es ist so furchtbar, was geschehen ist!"
Er nickte.
"Ja, Francine …"
"Wer könnte Dad umgebracht haben?"
"Ich weiß es nicht. Das wird die Polizei hoffentlich herausfinden …"
Der Tonfall, in dem er das sagte, war irgendwie merkwürdig. Francine konnte nicht erklären, was ihr daran missfiel. Irgendetwas stimmte hier nicht! Und wie es schien, würde sie selbst herausfinden müssen, was das war, denn ansonsten schien niemand daran interessiert zu sein.
"Glaubst du, dass ich meinen Vater umgebracht habe, Colin?"
Sie sah ihn mit festem Blick an.
Colin machte eine unsichere Bewegung, fast so, als wollte er damit Verlegenheit signalisieren.
"Nun, ich …"
"Ich habe eine klare Frage gestellt und möchte eine klare Antwort, Colin!"
"Es scheint alles in diese Richtung zu deuten … Aber Mr. Lamont ist ein ausgezeichneter Anwalt und er wird die Indizien der Gegenseite im Prozess zu entkräften wissen, davon bin ich fest überzeugt!"
"Du glaubst also, dass ich tatsächlich angeklagt werde?"
Er zog die Augenbrauen in die Höhe.
"Ist das denn so unwahrscheinlich - nach allem, was geschehen ist?"
Nein, dachte Francine. Da hat er Recht! Das ist wirklich alles andere als unwahrscheinlich geworden. Und für Colin Randolph schien es schon fast so etwas wie eine Tatsache zu sein … Colin ging an ihr vorbei.
"Gute Nacht, Francine."
"Gute Nacht."
*
Auch im weiteren Verlauf dieser Nacht schlief Francine nicht gut.
Immer wieder wälzte sie sich im Bett hin und her und konnte keine Ruhe finden. Und wenn sie dann doch zwischendurch von der Müdigkeit übermannt wurde, dann wachte sie wenig später schweißgebadet und von Alpträumen gequält wieder auf. Schließlich gab sie es erst einmal auf. Sie schlug die Bettdecke zur Seite und ging zum Fenster ihres Zimmers, von dem aus man die gesamte Vorderfront des Baily-Hauses überblicken konnte. Draußen tobte der Wind, der pfeifend um das Haus ging. Der Himmel war bewölkt und weder Mond noch Sterne waren sichtbar. Nur ein schwaches Leuchten drang durch die dichte Wolkendecke.
Und dann geschah es! Francine erstarrte, als sie die Stimme hörte. Es waren dumpfe, abgehackte Worte, die Francine das Blut in den Adern gefrieren ließen.
"Ich …finde …keine …Ruhe …!" Francine schluckte. Sie wirbelte herum, um zu sehen, woher diese Stimme kommen mochte. Aber außer ihr wahr niemand im Raum, das Radio lief nicht. "…keine Ruhe …", kam es wieder dumpf an ihre Ohren und es war Francine, als würde sich eine eiskalte Hand auf ihre Schulter legen und sie frösteln lassen.
Ich kenne diese Stimme!, hämmerte es in ihrem Kopf.
Und dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Als die Erkenntnis über sie hereinbrach, glaubte sie im ersten Moment, den Verstand zu verlieren und wahnsinnig zu werden. Diese Stimme, da war sie sich auf einmal ganz sicher, war die Stimme ihres Vaters!
Etwas verändert zwar, etwas dumpfer und so seltsam abgehackt in der Sprechweise - aber für Francine gab es keinen Zweifel. In einem fort murmelte die Stimme vor sich hin. Manches verstand Francine nicht, manches schien auch keinerlei Sinn zu ergeben. Aber ein Satz kehrte immer wieder: "Ich finde keine Ruhe!" Francine spürte ihr Herz bis zum Hals schlagen. Kalter Schweiß brach ihr aus.
Sie war eine aufgeklärte, moderne junge Frau, die studiert hatte. Mit Aberglauben, übernatürlichen Erscheinungen und Okkultismus hatte sie nicht das Geringste im Sinn.
Aber diese Stimme ließ sich nicht wegdiskutieren! Sie war da!
Francine hörte sie schließlich deutlich genug! Immer noch ließ sie den Blick kreisen und ging in ihrem Zimmer umher, um den Ursprung dieser unheimlichen Stimme zu ergründen. Sie machte Licht und blickte sich um. Das Licht nahm ihr ein wenig von ihrer Furcht, aber die Stimme vertrieb es keineswegs. "…keine Ruhe …" kam es dumpf an ihr Ohr. Die Worte schienen keinerlei Ursprung zu haben. Die Stimme schien von allen Seiten mehr oder weniger gleichmäßig zu kommen.
Dann war Francines Belastbarkeitsgrenze überschritten.
"Mein Gott!", keuchte sie.
Sie hielt sich verzweifelt die Ohren zu. In ihrem Kopf rasten die Gedanken. Werde ich wahnsinnig?, durchzuckte es sie wie ein greller Blitz. Es war im Grunde schon gar keine wirkliche Frage mehr für sie, sondern ein furchtbarer Verdacht, der in ihr Gestalt angenommen hatte. Es ist unmöglich!, sagte sie sich immer wieder. Sie hatte ihren Vater tot gesehen, ein Arzt hatte seinen Tod bestätigt und die Polizei würde alles haarklein in ihren Berichten auflisten. Und dann kam ihr die Legende in den Sinn, die sie über ihre Familie gehört hatte. Die Legende von der Hexe und ihrem Fluch, der alle Nachkommen von Malcolm H. Baily traf und verhinderte, dass ihre Seelen nach dem Tod Ruhe fanden … Sie erinnerte sich genau. Ein Schulmädchen von acht Jahren war sie gewesen, als sie die Legende von Klassenkameradinnen erzählt bekommen hatte, die sie wiederum von Großmüttern gehört hatten. Damals hatte sie große Angst gehabt, schließlich war auch sie eine Baily. Sie war zu ihrem Vater gelaufen und der hatte sie zu beruhigen gewusst.
"Das ist nichts als hinterwäldlerischer Aberglauben!", hatte ihr Vater gesagt und bis jetzt war sie derselben Ansicht gewesen.
"Nein!", rief sie laut "Ich halte es nicht mehr aus!"
Und dann lief sie hinaus auf den Flur.
Sie atmete tief durch.
Die Stimme ihres toten Vaters war verstummt. Sie fühlte, wie sie sich nach und nach beruhigte. Ihr Atem wurde langsamer und gleichmäßiger, der Puls, der ihr gerade noch bis zum Hals geschlagen hatte, wurde jetzt ruhiger. Es müssen die Nerven sein!, dachte sie.
Vielleicht war das alles einfach zu viel für mich! Einen Moment noch stand sie in dem kühlen, zugigen Flur. Zunächst scheute sie instinktiv davor zurück, in ihr Zimmer zurückzukehren. Du musst wieder zu Verstand kommen!, sagte sich selbst und gab ihrem Inneren einen Ruck. Wenn du in dein Zimmer zurückkehrst, wirst du sehen, dass es keine Totenstimme gibt!, redete sie sich ein. Und so trat sie in ihr Zimmer. Sie sah sich um, als glaubte sie, dass dort etwas zu sehen sein müsse. Von der dumpfen Stimme war nichts mehr zu hören. Francine schloss die Tür hinter sich und atmete hörbar aus. Alles ist wieder gut!, dachte sie, als sie sich ins Bett legte. Das, was sie jetzt am dringendsten brauchte, war sicherlich Schlaf.
*
Als Francine am nächsten Morgen erwachte, fühlte sie sich zerschlagen und wie gerädert. Sie war die ganze Nacht über nicht richtig zur Ruhe gekommen. Als sie aufstand, um sich anzuziehen, fiel ihr die Stimme wieder ein und die Erinnerung genügte, um ihr einen kalten Schauer über den Rücken zu jagen. Aber es war wie eine Erinnerung aus sehr ferner Zeit oder aus einem Traum … Ich kann noch nicht einmal mit jemandem darüber reden, schoss es ihr durch den Kopf.
Man würde sie unweigerlich für verrückt halten.
Es deuteten schon genug Hinweise im Mordfall Jeffrey J. Baily in ihre Richtung. Wenn jetzt noch jemand erfuhr, dass sie des Nachts Stimmen von Toten hörte - was würde man dann noch auf ihre Aussagen geben? Nein, dachte sie. Das darf nicht passieren. Sie musste ihr seltsames Erlebnis, das sie noch nicht so recht einzuordnen wusste, für sich behalten. Eine andere Chance hatte sie nicht, denn sonst konnte sie nur noch auf mildernde Umstände wegen Schuldunfähigkeit hoffen. Doch das wollte sie nicht. Sie war unschuldig. Sie wusste ja schließlich, dass sie ihren Dad nicht umgebracht hatte - und dazu auch gar nicht fähig gewesen wäre.
Dann schluckte sie plötzlich. Sie spürte namenlose Furcht in sich aufsteigen. Weiß ich es wirklich?, ging es ihr durch den Kopf. Was, wenn sie tatsächlich verrückt war? War es dann nicht auch möglich, dass sie ihren Dad umgebracht hatte und sich jetzt nicht mehr daran erinnerte? Nein! Nein!, rief es in ihr. Sie wagte es nicht, diesen Gedanken weiter zu verfolgen. Er war einfach zu furchtbar.
*
Im Laufe des Vormittags tauchte Harris wieder auf, diesmal allerdings ohne den Tross von Beamten, der ihn am Abend zuvor noch begleitet hatte. Als Harris eintraf, saßen sie alle zusammen beim Frühstück im Esszimmer, das von Miss Gormley hergerichtet worden war: Die beiden Randolphs, Francine und Mr. Lamont, der über Nacht im Haus der Bailys geschlafen hatte. Als Harris hereingeführt wurde, bekam er gleich eine gallige Bemerkung von Bellinda zu hören.
"Ich hoffe, Sie werden nicht fortfahren, Schmutz über unser Haus zu werfen, Mr. Harris! Tun Sie Ihre Arbeit und finden Sie den Mörder von Mr. Baily!"
Harris blieb gelassen.
"Worauf Sie sich verlassen können, Mrs. Randolph! Worauf Sie sich verlassen können …"
Bellinda verzog ihren Mund zu einem breiten Lächeln.
"Das freut mich!"
Harris wandte sich an Francine. "Miss Baily …"
Francine blickte auf und sah nun geradewegs in Harris' ruhige Augen.
"Ja?"
"Ich bin Ihretwegen hier. Ich hätte Sie gerne gesprochen. Unter vier Augen, wenn's recht ist."
Francine war zunächst etwas verwirrt.
Dann sah sie, dass es auf einmal völlig still am Tisch geworden war.
Selbst Lamont, der Anwalt, der bis jetzt unermüdlich gekaut hatte, bewegte jetzt nicht einen Muskel in seinem Gesicht. "Ich habe nichts dagegen, Mr. Harris!"
"Aber nicht ohne Anwalt!", meldete sich nun Colin Randolph zu Wort. "Ich bestehe darauf, dass Mr. Lamont dabei ist …"
Harris zuckte mit den Schultern.
"Wenn Miss Baily dies wünscht …"
Alle Augen waren nun auf Francine gerichtet.
Wem kann ich trauen?, fragte sie sie sich.
Vielleicht Miss Gormley, vielleicht auch diesem Polizisten, der ja mit dem Mord an ihrem Dad wohl kaum etwas zu tun haben konnte!
Und sonst? Sie warf einen Blick zu Mr. Lamont, der gerade einen Schluck Kaffee nahm … Vielleicht war es besser, Mr. Lamont nicht dabeizuhaben … Irgendjemand hier im Haus intrigierte gegen sie - und es war nicht ausgeschlossen, dass Lamont damit zu tun hatte …
"Es ist schon in Ordnung so", sagte sie also. "Ich habe keine Angst vor Mr. Harris." Harris lächelte. "Das freut mich aber!" Francine erhob sich von ihrem Platz, nachdem sie ihren Kaffee ausgetrunken hatte.
"Gehen wir in mein Zimmer, Inspector. So sagt man doch, oder?"
Doch Harris winkte ab. "Auf diese Dinge kommt mir nicht so an!", gab er ziemlich gelöst zurück.
Und dann verließen sie beide den Raum.
Es war Francine fast so, als könnte sie die Blicke der Zurückgebliebenen auf ihrem Rücken spüren ….
*
Sie gingen zusammen die Treppe hoch und und wenig später führte sie ihn in ihr Zimmer.
"Hübsch haben Sie es hier!", meinte er.
"Bitte nehmen Sie Platz!"
"Danke."
Er setzte sich in einem der Sessel, während Francine ans Fenster trat, zunächst nachdenklich hinausblickte und sich dann herumdrehte.
"Sie halten mich für die Mörderin, nicht wahr?"
Er hob die Augenbrauen und machte eine unbestimmte Geste. Aber Francine war sich ziemlich sicher, dass sie mit ihrer Vermutung genau richtig lag.
"Nun", meinte Harris schließlich. "Es deutet einiges in ihre Richtung …"
Francine nickte matt.
"Ich weiß …"
Ihr war klar, dass sie ihrem Gegenüber keinerlei Vorwurf machen konnte. Wahrscheinlich hätte selbst in dieselbe Richtung gedacht, wenn sie an seiner Stelle gewesen wäre.
"Mr. Randolph hat gestern Abend ausgesagt, dass er einen Streit zwischen Ihnen und Ihrem Vater mitbekommen hat …" stellte Harris dann fest.
"So? Das hat er gesagt?"
Harris nickte.
"Ja."
"Ich war es aber nicht, Mr. Harris!"
"Wir stehen erst am Anfang der Ermittlungen. Und ich kann Ihnen versichern, dass wir jeder Spur nachgehen werden."
Francine seufzte.
"Mr. Harris, auch wenn Sie mir jetzt nicht glauben werden, aber ich muss Ihnen trotzdem etwas sagen."
"Bitte!"
"Es ist richtig, dass mein Vater und ich uns nicht besonders verstanden haben. Vor allem, seitdem mein Bruder tot ist … Dad war sehr enttäuscht darüber, dass ich kein Interesse an einer Position in seiner Firma hatte, sondern meinen eigenen Weg gehen und College-Lehrerin werden wollte …"
"Wie dem auch sei, Miss: Jetzt gehört die Firma wohl Ihnen, nicht wahr?"
"Ja. Aber ich habe sie nicht gewollt. Auch wenn mir das jetzt natürlich niemand glaubt."
"Das Unternehmen Ihres Vaters ist eine der renommiertesten Adressen im weltweiten Teehandel - ich habe mich informiert, wie Sie sehen."
"Ja, und die Baily Company gibt es schon fast zweihundert Jahre …"
"…und wirft nach wie vor Millionengewinne ab, nicht wahr? Schwer zu glauben, dass jemand daran nicht interessiert sein könnte."
"Ich weiß. Vielleicht ist das etwas viel verlangt. Aber wie auch immer. Mein Vater und ich hatten uns an jenem Abend kurz vor seinem Tod ausgesöhnt. Seit Jahren hatten wir keinen Kontakt mehr.
Dann kam eines Tages ein Brief, in dem er mich bat, hier her zu kommen. Aber das Merkwürdige ist, dass Dad nichts von dem Brief wusste …"
Harris runzelte die Stirn.
"Wo ist der Brief?", fragte er.
Francine machte ein hilfloses Gesicht.
"Er ist nicht mehr da. Ich hatte ihn in meiner Manteltasche, aber dort ist er nicht mehr … Jemand muss ihn herausgenommen haben!"
"Wer sollte so etwas tun?"