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Elise Kova

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Beschreibung

***Like Fire Love Burns*** Vhalla ist nun Eigentum des Reiches. Gemeinsam mit der Armee marschiert sie gen Norden. Kaiser Solaris verspricht sich von ihrer Wind-Magie den Sieg über die Rebellen, der Senat will ihren Tod und auf Vhalla wartet der Kampf ihres Lebens. Kann sie ihre Menschlichkeit bewahren oder wird sie doch zu dem Monster, das der Kaiser in ihr sieht? Verschüttete Wahrheiten kommen ans Licht, die alte Loyalitäten auf eine harte Probe stellen und Vhallas Liebe zu Aldrik noch unmöglicher machen … Die magische Romantasy-Saga um Windläuferin Vhalla geht weiter: mehr Action, mehr Drama und immer diese bittersüße Liebe zum Dahinschmelzen! Alle fünf Bände der Serie »Die Chroniken von Solaris«: Air Awoken (Band 1) Fire Fallen (Band 2) Earth Ending (Band 3) Water's War (Band 4) Crystal Crown (Band 5)

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Elise Kova

Fire Fallen

Aus dem Englischen von Susanne Klein

***Like Fire Love Burns***

Vhalla ist nun Eigentum des Reiches und marschiert gemeinsam mit der Armee gen Norden. Kaiser Solaris verspricht sich von ihrer Wind-Magie den Sieg. Während der Senat sie weiterhin am liebsten tot sehen würde, setzt Aldrik alles daran, sie zu beschützen. Vhalla weiß nur eines: Auf sie wartet der Kampf ihres Lebens. Kann sie ihre Menschlichkeit bewahren oder wird sie doch zu dem Monster, das der Kaiser in ihr sieht? Lang verborgene Wahrheiten kommen ans Licht, die alte Loyalitäten auf eine harte Probe stellen und Vhallas Liebe zu Aldrik noch unmöglicher machen …

Wenn sich Wind und Feuer vereinen – mehr Action, mehr Drama, mehr bittersüße Liebe!

Wohin soll es gehen?

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Landkarte

Danksagung

Viten

Für meine größten Fans:Mom, Dad und Mer – die Menschen,denen ich buchstäblich alles verdanke.

EINS

Die Welt war ein Inferno.

Dichter Rauch. Asche. Glühende Hitze.

Vhalla rannte an schemenhaften Gestalten vorbei. Schneller und schneller durch die Nacht, von einem grauenvollen Schauplatz zum nächsten, als liefe sie direkt auf das Ende der Welt zu. Die finsteren, gesichtslosen Gestalten kamen immer näher, stellten sich ihr in den Weg, nahmen ihr die Luft zum Atmen.

Tränen befleckten bereits ihre Wangen, als Vhalla die erste Gestalt beiseiteschubste. Die Erscheinung stieß einen gellenden Schrei aus, wurde entzweigerissen und löste sich in wehenden Rauch auf. Vhalla berührte die nächste Gestalt – wieder ein Schrei. Sie wollte nicht weitergehen, aber ihr Herz schlug im Takt eines einzigen Wortes – schneller, schneller, schneller.

Also rannte Vhalla. Sie rannte, und jede schemenhafte Erscheinung, mit der sie in Berührung kam, verschmolz mit der Dunkelheit, die sich um sie herum ausdehnte. Nichts brachte die Mark erschütternden Todesschreie der Schattengestalten zum Verstummen – weder ihre Hände auf den Ohren noch Vhallas eigene Schreie.

Und dann plötzlich: Stille.

Langsam nahm Vhalla die Hände weg, öffnete blinzelnd erst ein Auge, dann das andere. Hinter ihr befand sich nichts, neben ihr befand sich nichts, nur der Weg vor ihr wurde von einer letzten hellen Flamme erleuchtet, die ein Gebäude verschlang, das bereits in sich zusammengebrochen war. Von einer unsichtbaren Kraft angetrieben setzte Vhalla vorsichtig einen Fuß vor den anderen, immer auf den Trümmerhaufen zu. Sie kam wieder zu spät. Sie kam jedes Mal zu spät. Jede Nacht.

Vhalla räumte die Trümmer beiseite, Steinbrocken für Steinbrocken, das Feuer leckte an ihren Händen, verbrannte sie aber nicht. Es fühlte sich nicht einmal heiß an. Er lag ganz unten und wartete auf sie. Vhalla barg den zerschmetterten, blutüberströmten Körper ihres toten Freundes in ihren Armen und weinte, bis ihre Kehle schmerzte.

»Sareem«, schluchzte sie an seiner blutigen Schulter. »Ich verspreche, nächstes Mal schneller zu sein. Bitte warte nicht auf mich.«

Seine Hände erwachten zum Leben, er packte sie an den Armen. Mit jäher Kraft rang er Vhalla zu Boden. Sein Körper drückte sie gegen das Kopfsteinpflaster. Die eine Hälfte seines Gesichts war nur mehr ein grauenvoller Brei, aus dem Blut auf ihre Schulter tropfte.

»Vhalla«, zischte er. Ein Teil seines Kiefers war verschwunden und der restliche Knochen bewegte sich in seltsamer Schieflage. »Warum bist du nicht gekommen?«

»Ich habe es versucht!«, schluchzte, nein flehte Vhalla. »Es tut mir leid, Sareem, es tut mir leid!«

»Du warst nicht da.« Der Leichnam ihres Freundes beugte sich zu ihr hinunter und berührte beinah ihr Gesicht. »Du warst nicht da. Deinetwegen bin ich gestorben.«

»Es tut mir leid!«, schrie Vhalla.

»Du warst bei ihm.« Sein Griff war so fest, dass er Vhalla das Blut in den Armen abschnürte und ihre Finger taub wurden. »Du warst bei ihm!« Er schüttelte Vhalla. »Wo ist er jetzt? Wo ist er jetzt?«, wollte ihr Freund aus Kindertagen wissen und schüttelte sie wie eine Lumpenpuppe. Vhallas Kopf schlug auf den Pflastersteinen auf.

Vhalla wehrte sich gegen die Arme, die sie umschlungen hielten und sie schüttelten.

»Nein, nein! Ich wollte dich retten!«, schluchzte sie.

»Vhalla, wach auf!«, befahl eine Stimme und Vhalla riss die Augen auf.

Larel fuhr mit den Händen über Vhallas Arme. Ihre dunklen westländischen Augen waren voller Sorge. Vhalla blinzelte Larel an, und das Bild ihres toten Freundes verschwand. Bei dem Gedanken an Sareem revoltierte ihr Magen. Sie drehte sich zur Bettkante und übergab sich in eine vorsorglich bereitgestellte Bettpfanne.

»Das ist die dritte Nacht in Folge«, sagte eine Stimme von der Tür her. Dieselbe Stimme, die Vhalla auch schon in den vergangenen beiden Nächten gehört hatte.

Sie schaute auf und wischte sich den Speichel vom Kinn. In der Tür stand ein Magier, der nicht gerade erfreut wirkte.

»Hab Verständnis für sie.« Larel war ganz offensichtlich verärgert.

»Hab Verständnis für mich.« Der Mann gähnte, beherzigte aber den warnenden Unterton in Larels Stimme. Er sah nur noch einmal mit spitzem Blick zu Vhalla, dann warf er die Tür betont laut hinter sich ins Schloss.

Vhalla hustete. In dem Maß, in dem sie sich Stück für Stück wieder der Realität zuwandte, kehrten auch ihre Lebensgeister zurück. Sie setzte sich auf und rieb sich über die Augen, um die letzten Überbleibsel ihrer Vision zu vertreiben.

»Vhalla«, flüsterte Larel leise, wobei sie ihr die flache Hand auf den Scheitel legte. Sie ließ sich auf der Bettkante nieder und nahm Vhalla in die Arme.

»Mir geht es gut. Es ist alles bestens«, murmelte Vhalla und überließ sich der tröstenden Umarmung ihrer Freundin.

»Ich werde bei dir bleiben.«

»Nein, du kannst nicht jede Nacht bei mir sein«, widersprach Vhalla, schüttelte aber Larels Hand, die ihr beruhigend über den wirren Haarschopf strich, nicht ab.

»Wer sagt das?« Die junge Frau legte sich zwischen Vhalla und die Wand. Es war ziemlich eng zu zweit, aber Vhalla war zu erschöpft, um zu protestieren.

Sie lagen einander zugewandt und hielten sich fest bei den Händen. Im schwachen Licht des Mondes versuchte Vhalla mit zusammengekniffenen Augen Larels Gesicht zu erkennen. Die junge Magierin erwiderte ihren Blick. Als Feuerzähmerin hätte Larel mit einem bloßen Gedanken eine Flamme heraufbeschwören und ihnen Licht schenken können, tat es aber nicht.

»Larel«, wimmerte Vhalla leise.

Allein am Ton von Vhallas Stimme schien Larel zu merken, dass ihre Freundin kurz vor dem Zusammenbruch stand. »Du solltest jetzt ein bisschen schlafen.«

»Morgen ist der letzte Tag.« Nach dem grässlichen Albtraum drohten Vhallas Gefühle sie wie eine Lawine an den Rand einer Felskante zu schieben. Sie schien keine andere Möglichkeit mehr zu haben, als es geschehen zu lassen. Seit ihrer Verurteilung vor fünf Tagen war sie von vollkommener Hoffnungslosigkeit erfüllt.

»Das stimmt, und Majorin Reale wird dich noch härter rannehmen.« Aus Larels Stimme sprach ihre absolute Entschiedenheit, unverrückbar wie ein Fels. Sie war der einzige Anker, den Vhalla noch hatte.

»Aber wozu?«, fragte Vhalla mit bebenden Lippen. »Sobald es richtig in die Schlacht geht, bin ich tot.«

Anfänglich hatte Vhalla noch darüber spekuliert, wie ihre Zukunft im Norden aussehen mochte – in dem vom Krieg gebeutelten Land, in das sie als zwangsrekrutierte Soldatin des Reiches einmarschieren würde. Doch die Träume und ihre Schuldgefühle hatten ihre Tatkraft aufgerieben, bis nichts mehr davon übrig war.

»Bist du nicht«, beharrte Larel.

»Ich kann so gut wie nichts bewirken!« Sie hörte sich erbärmlich an, selbst in ihren Ohren. Aber das war Vhalla egal. Um es durch die Verhandlung zu schaffen, hatte sie eine Kraft vorgetäuscht, die sie längst nicht mehr besaß.

»Still jetzt«, befahl Larel und beendete damit die Diskussion. »Du musst schlafen.«

Vhalla presste die Lippen aufeinander. »Wirst du mich aufwecken?«, fragte sie schließlich.

»Natürlich«, erwiderte Larel, wie sie es jede Nacht machte.

»Ich weiß nicht, wie ich ohne dich während des Marsches schlafen soll«, jammerte Vhalla.

»Mach dir keine Gedanken darüber, sondern ruh dich aus.«

Larel küsste Vhalla leicht auf die Fingerknöchel, und endlich ließ Vhalla sich fallen und schloss die Augen.

Der Schlaf war kurz, aber immerhin war es Schlaf. Larel musste Vhalla nur einmal aufwecken, was im Vergleich zu den vorangegangenen vier Nächten schon eine Verbesserung war.

Am nächsten Morgen war die Westländerin so rücksichtsvoll, kein Wort über Vhallas nächtliche Albträume zu verlieren. Bei Anbruch der Dämmerung verließ sie leise Vhallas Zimmer, damit diese sich für den Tag bereit machen konnte.

Vhallas ganzer Körper war steif und schmerzte, sodass sie zum Anziehen doppelt so lange brauchte wie sonst. Sie bewegte die Schultern und neigte den Kopf nach links und rechts, während sie in ihre schwarze Kleidung schlüpfte. Unwillkürlich musterte sie ihr Spiegelbild. Dunkelbraune, goldgesprenkelte Augen in einem ausgezehrten Gesicht mit dunklen Augenringen. Selbst ihre typisch ostländische bernsteinfarbene Haut war grau wie Asche. Vhalla fasste sich in ihr kurzes Haar und dachte an den Nachmittag nach der Urteilsverkündung, als sie ihre langen Haare radikal abgeschnitten hatte.

»Ich hasse es«, sagte sie, ohne genau zu wissen, ob sie damit ihre Haare oder ihre ganze Erscheinung meinte.

Vhalla ging dem Strom von Leuten entgegen, die unterwegs in Richtung Küche und Speisesaal waren. Sie hatte keinen Hunger. Wahrscheinlich würde sie heute keinen Bissen herunterbekommen. Ihr blieb noch ein Tag, ehe sie alles hinter sich lassen würde, was sie bislang gekannt hatte. Ihr ohnehin nicht besonders reger Appetit war vollkommen verflogen.

Sie betrat den Übungsraum des Turms, der ein ganzes Stockwerk einnahm. Der runde Raum war von einer niedrigen Mauer gesäumt, hinter der sich mögliche Zuschauer und wartende Eleven des Turms aufhalten konnten.

An einem hohen Pult stand bereits eine Frau.

»Majorin«, begrüßte Vhalla sie beim Eintreten.

»Yarl.« Majorin Reale war eine Südländerin, deren Körper aus Stahl zu sein schien und die auch eine ebensolche Herzlichkeit ausstrahlte. Eine Augenklappe aus Metall, die direkt mit ihrem Jochbeinknochen verschraubt worden war, bedeckte ihr linkes Auge. »Du bist früh dran.«

»Ich kann es eben nicht abwarten«, gab Vhalla in sarkastischem Ton zurück, einem Tonfall, der sich bei ihr immer häufiger einschlich. Vhalla hatte keine Ahnung, was der Grund dafür war, und sie war zu müde, um sich darüber Gedanken zu machen.

»Du wirst heute nicht mit mir trainieren.« Die Majorin schaute nur kurz auf, dann wandte sie sich wieder ihren Papieren auf dem Pult zu.

»Werde ich nicht?« Wo sollte sie dann sonst hingehen? Auf Anordnung des Senats durfte Vhalla den Turm nicht verlassen. Sie war Eigentum der Krone, bis der Krieg im Norden ein Ende fand – oder sie tot war.

»Der Minister will dich sehen.«

Vhalla wusste, wann sie nicht länger erwünscht war. Majorin Reale war nicht gerade der freundlichste Mensch im Turm.

Da das Frühstück in vollem Gange war, begegnete ihr im gewundenen Korridor des Turms kaum jemand. Die meisten Turmbewohner hielten sich ein paar Stockwerke höher in der Küche und im Speisesaal auf. Als Vhalla dort vorbeikam, drang Lärm an ihr Ohr, aber sie war zu benommen, um wirklich hinzuhören.

Auch ihr Zimmer ließ sie links liegen, stattdessen lief sie bis ganz nach oben, wo das Arbeitszimmer des Ministers für Magie und seine Gemächer lagen. An jeder Tür prangte eine silberne Tafel mit dem Namen des Bewohners, nur an seiner war das Symbol des Turms der Magier angebracht: ein in zwei Hälften zerbrochener silberner Mond, um den sich ein silberner Drache schlängelte.

Vhalla schaute geradeaus.

Es gab noch eine weitere Tür, die sie gerade so an der Biegung vor sich ausmachen konnte. An ihr befand sich keinerlei Zeichen, und obwohl es niemand mit Sicherheit bestätigen konnte, hatte Vhalla eine Vermutung, wem der Raum gehörte. Sie hatte seit Tagen nichts von ihrem Phantom gesehen oder gehört und konnte auch keinen Kontakt zu ihm aufnehmen – ganz gleich, wie sehr sie es sich auch wider besseres Wissen wünschte. Vhalla schluckte und klopfte, ehe sie noch auf dumme Gedanken kam, an die Tür des Ministers.

»Komme sofort!«, rief eine Stimme von drinnen. Die Tür schwang auf und ein Südländer mit kurzen blonden Haaren und eisblauen Augen begrüßte sie. Sein Mund mit dem Spitzbart verzog sich zu einem Lächeln. »Nur herein, Vhalla, nur herein«, drängte sie Minister Anzbel.

Sie betrat sein nobles Arbeitszimmer, das einen Reichtum ausstrahlte, an den Vhalla sich noch immer nicht gewöhnt hatte. Üppige Teppiche unter ihren Stiefeln erinnerten sie auf fast schmerzhafte Art an die kaiserliche Bibliothek. Rasch ließ sie sich auf einem der drei Stühle nieder, die vor dem Schreibtisch standen.

»Ich habe gerade fertig gefrühstückt. Hast du Hunger?« Victor Anzbel zeigte auf einen Teller mit verschiedenen Gebäckstücken.

»Nein.« Vhalla schüttelte den Kopf und begann nervös mit den Fingern zu spielen.

»Nein?« Der Minister legte den Kopf schief. »Du kannst doch noch gar nicht gegessen haben.«

»Ich habe keinen Hunger.«

»Nun komm schon, Vhalla«, ermunterte er sie in vertraulichem Ton, »du musst doch bei Kräften bleiben.«

Vhalla blickte auf das Gebäckstück in seiner ausgestreckten Hand. Die langen Ausbildungsjahre als Elevin machten sich bemerkbar und sie folgte seiner Aufforderung. Lustlos nahm sie ein paar Bissen, was dem Minister zu genügen schien.

»Morgen ist es also so weit«, verkündete er, was sie beide schon wussten.

»So ist es.« Vhalla nickte.

»Ich würde gern noch ein oder zwei Dinge mit dir besprechen, ehe du dich in Marsch setzt.« Vhalla aß noch ein bisschen von dem Gebäck. »Als Erstes sollst du wissen, dass niemand im Turm irgendeinen Groll gegen dich hegt.«

Vhalla hatte einige blaue Flecken von Majorin Reales Training, die eine andere Sprache sprachen, aber sie blieb stumm und beschäftigte sich lieber mit dem Essen.

»Ich habe alle Mitglieder der Schwarzen Legion gebeten, dich stets im Auge zu behalten und zu jeder Zeit zu verteidigen«, fuhr Victor Anzbel fort. »Du bist die erste Windläuferin seit fast einhundertfünfzig Jahren, es ist mein Wunsch, dass du lang genug lebst, um im Turm ausgebildet zu werden.«

»Habt Ihr dem Senat diese Entscheidung auch mitgeteilt? Ich bin mir nämlich ziemlich sicher, dass seine Mitglieder mich tot sehen wollen«, erwiderte Vhalla teilnahmslos.

»Verbitterung steht dir nicht.« Der Minister lehnte sich in seinem Stuhl zurück und drückte die Fingerspitzen aneinander.

»Bitte verzeiht«, entschuldigte sich Vhalla halbherzig. Sie legte das angebissene Gebäckstück zurück auf den Teller.

»Du musst lebend zurückkehren, Vhalla.« Der Minister für Magie betrachtete sie nachdenklich. »Und du musst daran glauben, dass du das auch schaffen wirst.«

Wie konnte man von ihr erwarten, dass sie am Leben blieb, wenn sie ihre magischen Fähigkeiten so wenig unter Kontrolle hatte? Bei der Mutter, sie konnte ja nicht mal für ein paar Minuten die Augen schließen, ohne dass sie von Albträumen heimgesucht wurde.

»Also gut«, sagte Vhalla mit geheuchelter Zustimmung.

Ihre Antwort ließ den Minister aufseufzen. »Hilft es dir vielleicht, wenn ich dir für die kommende Zeit eine Aufgabe übertrage?« Der Minister stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch und beugte sich vor, als wollte er ihr ein bedeutendes Geheimnis anvertrauen. »Es gibt da etwas, das ich brauche … Und nur du, eine Windläuferin, kannst es beschaffen.«

Unwillkürlich machte Vhalla sich kerzengerade auf ihrem Stuhl. »Was?«, fragte sie, als er sich nicht weiter erklärte.

»Im Norden ist etwas Mächtiges verborgen. Je länger sich niemand darum kümmert, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass es den Falschen in die Hände fällt oder gegen unsere Streitkräfte eingesetzt wird, falls die Clans des Nordens begreifen, was sie da besitzen.«

Vhalla fragte sich, wie ihr diese Informationen helfen sollten. »Was ist es denn?« Jetzt siegte doch die Neugier.

»Es ist eine uralte Waffe aus einer anderen Zeit, als Magie noch ungezügelter und göttlicher war.« Anzbel schien seine nächsten Worte sorgfältig abzuwägen. »Eine Streitaxt, die angeblich alles durchtrennen kann, selbst eine Seele.«

»Warum sollte es einen solchen Gegenstand geben?« Vhalla fiel einfach kein Grund ein.

»Nun, die letzten Aufzeichnungen darüber klingen ebenso märchenhaft wie wahr.« Der Minister rieb sich den Spitzbart.

»Wie könnt Ihr dann sicher sein, dass die Axt wirklich existiert?«

»Ich habe gute Gründe, es anzunehmen«, sagte der Minister und kam zu seinem eigentlichen Anliegen zurück. »Du musst sie finden und sie hierher zurückbringen.«

»Aber wenn diese Axt so gefährlich ist …«, überlegte Vhalla laut. Es schien ganz so, als ob Victor Anzbel ihr bewusst etwas Wichtiges vorenthielt.

»Wie ich schon sagte, die Axt darf nicht in falsche Hände gelangen. Denn sie würde ihren Besitzer nahezu unbesiegbar machen.«

Minister Anzbel ließ diese Aussage im Raum stehen, und Vhalla war klug genug, um sich zusammenzureimen, was er ihr sagen wollte. Wenn der Besitzer der Axt nahezu unbesiegbar war und es ihr gelänge, die magische Waffe zu finden, würde sie vielleicht lebend aus dem Norden zurückkehren.

»Wirst du mir in dieser Angelegenheit helfen, Vhalla?«, fragte er.

Sie zögerte einen Moment lang und blickte in die eisblauen Augen des Ministers – die Augen desjenigen Mannes, der sie bei ihrer ersten Begegnung entführt hatte. Doch es waren auch die Augen des Mannes, der Vhalla in seine Obhut genommen, sie gesund gepflegt und sie beschützt hatte, als die Welt gewillt war, sie in Stücke zu reißen. Der Turm war ein Ort voller Rätsel, aber sie wusste, wann jemand aufrichtig war.

»Natürlich, Minister«, sagte Vhalla gehorsam.

Der Turm kümmerte sich selbst um seine Belange.

ZWEI

In der folgenden Nacht schlief Vhalla nicht. Sie blieb wach, kämpfte sich durch die bangen Stunden mit einem Buch, das sie nie zu Ende lesen würde, wie ihr rasch klar wurde. Erst als der Himmel langsam heller wurde, klappte Vhalla es zu und verstaute es in ihrem Schrank.

Eine bodentiefe Scheibe diente als Fenster und Tür. Durch sie gelangte man nach draußen auf einen steinernen Fenstersims mit Geländer, der Vhalla als zweiter Zugang zur Welt diente. Wollte man großzügig sein, so hätte man es einen Balkon nennen können. Mit jedem Windstoß kündigte sich ein böser Winter über der Stadt an. Vhalla hielt das Gesicht in die Kälte, bis ihre Wangen taub waren, und sah zu, wie sich mit dem Erwachen von Mutter Sonne der Horizont allmählich rot färbte.

Ein Klopfen an der Tür lenkte ihre Aufmerksamkeit nach drinnen. Larel hatte versprochen, Vhallas Rüstung zu bringen und ihr dabei zu helfen, sie zum ersten Mal anzulegen. Vhalla holte tief Luft und kratzte das bisschen Mut zusammen, das sie in der Nacht zuvor gesammelt hatte.

Doch als sie sah, wer auf sie wartete, blieb ihr die Luft weg und sie gab einen erstickten Laut von sich.

Sein Haar war so schwarz wie das Gefieder eines Raben, seine Augen von durchdringender Finsternis und die hohen Wangenknochen zeichneten sich wie gemeißelt unter seiner Alabasterhaut ab. Er trug makellos geschnittene und aufs Sorgfältigste geplättete Kleider – alles saß absolut perfekt. Er war das Gegenteil von ihr, der hageren Frau, deren Kleider mit jedem Tag mehr um ihren Körper schlotterten. Aber wie sollte es auch anders sein, schließlich war er der Kronprinz.

Hilflos stand Vhalla vor ihm, und auch er schien bei ihrem Anblick nicht mehr weiterzuwissen. Keiner von ihnen sagte ein Wort.

Voller Befangenheit wurde ihr klar, dass er sie das erste Mal sah, seit sie sich die Haare abgeschnitten hatte. Doch spielten ihre Haare überhaupt eine Rolle, wenn sie nicht einmal wusste, ob Aldrik ihren Anblick überhaupt noch ertragen konnte?

»Ich habe deine Rüstung.« Seine Stimme war wie Balsam für ihren ruhelosen Geist.

Vhalla hörte die Aufforderung hinter seinen Worten und trat zur Seite, damit Aldrik einen kleinen hölzernen Ständer für die Rüstung in ihr Zimmer schieben konnte.

Er schloss die Tür hinter sich und sie erschauderte vor Nervosität. Das letzte Mal war Vhalla am Tag der Urteilsverkündung mit dem Prinzen allein gewesen. Danach hatte sie ihn noch kurz bei der Verlesung des Urteils gesehen, ehe sie von zwei bewaffneten Wachen aus dem Gerichtssaal geführt worden war. Das Urteil erlaubte Aldrik, sie zu töten, falls sie sich einem Befehl widersetzte.

Aber Aldrik würde sie nicht töten. So wie er sie ansah, bestand daran kein Zweifel. Er konnte sie nicht töten, wenn die magische Verbindung zwischen ihnen – das Band – wirklich existierte.

»Wo ist Larel?«, wollte sie wissen und hätte im selben Augenblick am liebsten ihren Kopf gegen die Wand geschlagen. War das alles, was ihr einfiel?

»Ich dachte, ich könnte dir vielleicht helfen.« Aldrik wirkte verlegen, alles zwischen ihnen wirkte verlegen. Es war fast so, als seien fünf Jahre und nicht fünf Tage vergangen.

Alles hatte sich verändert.

»Das kann ich Euch wohl kaum abschlagen, mein Prinz.« Sie spielte nervös mit ihren Fingern.

Anstatt sie wie üblich für diese schlechte Angewohnheit zu schelten, ergriff Aldrik ihre Hand.

»Warum so förmlich?«, fragte er leise und zog ihr Handschuhe über.

»Weil …« Die Worte blieben Vhalla im Hals stecken.

»Einfach nur Aldrik«, erinnerte sie der Prinz.

Vhalla nickte stumm. Noch immer versuchte sie die verknoteten Silben in ihrem Mund zu entwirren. Nach den Handschuhen reichte ihr Aldrik ein Kettenhemd. Es hatte lange Ärmel, die bis hinab zu den Stulpen der Handschuhe reichten. Überrascht bemerkte sie die Kapuze aus winzigen Kettengliedern. Der Prinz musterte sie so intensiv, dass Vhalla aufhörte, verlegen an ihren Haarspitzen zu zupfen, und ihn direkt ansah.

»Du hast dir die Haare abschneiden lassen.« Seine Hand blieb auf der Rüstung liegen.

»Ich habe sie abgeschnitten«, korrigierte Vhalla ihn und schaute weg. Fast kam es ihr vor, als stünde sie wieder vor Gericht.

»Gefällt mir«, sagte Aldrik nach einer Weile, die Vhalla wie eine Ewigkeit erschien.

»Ja wirklich?«, fragte sie verblüfft.

»Lang oder kurz … es steht dir.« Der Prinz zuckte mit den Schultern.

Vhalla wies ihn nicht darauf hin, dass er sich gerade selbst widersprochen hatte. Ihre Gefühle waren in Aufruhr, und auf einmal war ihr nach Weinen zumute. Es gefiel ihm? Was an ihr konnte einem überhaupt noch gefallen?

Die Rüstung, in die sie nun hineinschlüpfte, bestand aus kleinen schwarzen Stahlplatten. Sie reichte Vhalla bis zur Mitte der Oberschenkel. Die Schulterplatten schränkten ihre Bewegungsfreiheit kaum ein. Widerstreitende Gefühle tobten in ihrem Innern, während der Prinz ihr mit seinen langen Fingern zeigte, wo sich die Riemen an der Vorderseite der Rüstung befanden.

»Jetzt bleiben nur noch die Bein- und die Armschienen.« Aldrik zeigte auf die restlichen Teile der Rüstung.

Wieder nickte Vhalla nur stumm.

Der Prinz verweilte noch einen Moment lang, dann ging er zur Tür. »Ich muss mich jetzt ebenfalls umziehen.«

»Aldrik.« Mit leicht zitternden Fingern hielt Vhalla ihn am Jackenärmel fest, ehe sie überhaupt begriff, dass sie sich bewegt hatte.

»Vhalla?« Er blieb stehen und schaute sie an.

»Ich kann nicht«, flüsterte sie.

Schmerz zeichnete sich in der Miene des Prinzen ab, als ihm klar wurde, was sie ihm damit sagen wollte.

»Doch, du kannst.«

Ganz langsam wandte er sich ihr zu – wie bei einem wilden Tier, das man allzu schnell verscheuchen konnte. Eine warme Hand umschloss die ihre. Es war eine ganz zarte Berührung, die aber alle Last der Welt in sich barg.

»I-ich bin in allem furchtbar schlecht und ich …«

»Weißt du noch, was ich dir gesagt habe?«, fragte er, als ob er spürte, dass ihre Gefühle sie zu überwältigen drohten. »Am Tag der Urteilsverkündung?«

»Ja.« Vhalla erinnerte sich, wie Aldrik ihre Hand an seine Hüfte gelegt hatte – auf die Stelle, an der er ein paar Monate zuvor tödlich verwundet worden war, als er während eines Sommersturms buchstäblich in ihr Leben geritten war. Aldrik wäre an der Verletzung gestorben, hätte Vhalla ihn nicht mit ihrer Magie gerettet, wodurch unbeabsichtigt das magische Band entstanden war, das sie nun aneinanderschmiedete.

»Vhalla, ich …« Draußen auf dem Flur war das Zuschlagen einer Tür zu hören, dann verklang das Geräusch von schweren Schritten in Rüstung langsam auf dem Gang. Aldrik hielt den Blick unverwandt auf die Tür gerichtet. »Ich muss gehen.«

Sie nickte.

»Ich sehe dich schon bald, beim Marsch.«

Wen von ihnen beiden wollte er beruhigen?

Vhalla nickte noch einmal.

»Uns bleibt viel Zeit, bis wir den Norden erreichen. Ich werde persönlich dafür sorgen, dass du dann bereit bist«, versprach der Prinz. Er entzog sich nicht seiner Verantwortung für sie.

»Danke.« Das eine Wort schien nicht annähernd auszureichen, doch zu mehr war Vhalla gerade nicht fähig, und Aldrik akzeptierte ihren Dank, ehe er schweigend zur Tür hinausschlüpfte.

Um ihren inneren Aufruhr in den Griff zu bekommen, stand Vhalla einige Augenblicke lang bloß da und machte lange, tiefe Atemzüge, bis sie sich annähernd bereit fühlte. Dann griff sie nach dem kleinen Tornister, den sie ihr gegeben hatten, um ihre wenigen persönlichen Habseligkeiten einzupacken. In ihrem Schrank lagen Aldriks Briefe, Larels Armreif und drei Briefe, die an ihren alten Meister in der kaiserlichen Bibliothek, ihre Freundin Roan und ihren Vater adressiert waren. Sie hatte Fitz, der faktisch Oberster Bibliothekar des Turms war, und seinem Freund Grahm von den Briefen erzählt. Falls ihr das Schlimmste zustieß, würden diese Briefe verschickt werden.

Ihre Augen blieben an ihrem Spiegelbild hängen. Vhalla betrachtete sich, erkannte die Frau im Spiegel aber nicht. Tief liegende Augen und strubbelige Haare in schwarzer Rüstung – das Gesicht einer Kriegerin und Magierin.

Nochmals holte sie tief Luft und trat dann hinaus auf den Flur, ohne sich noch einmal umzublicken. Sie machte sich nicht einmal die Mühe, ihre Tür zu verriegeln. Der Wendelgang war voller Leute, doch niemandem schien nach Reden zumute zu sein, es war nur das Klirren der Rüstungen zu hören. Die der anderen ähnelten der von Vhalla, sahen jedoch nicht halb so edel aus. Ihr selbst waren die kleinen goldenen Verzierungen auf ihrem Brustharnisch natürlich schon aufgefallen, und der ein oder andere schien es auch zu bemerken, aber keiner sagte etwas.

Der Wendelgang mündete am Fuß des Turms in einer großen Halle, dem einzigen öffentlichen Zugang. Vhalla lehnte sich schweigend an die Wand. Alles in allem war man im Turm sehr freundlich zu ihr gewesen. Aber sie hatte nur zwei wirkliche Freunde unter den Magiern, und die beiden lagen wohl noch immer schlafend in ihren Betten.

Einsamkeit packte sie. Im Raum drängten sich Westländer mit schwarzen Haaren und olivfarbener Haut, Ostländer mit einem bernsteinfarbenen Hautton und braunen Haaren und natürlich die hellhäutigen blonden Menschen des Südens. Es gab die verschiedensten Kombinationen von Augen- und Haarfarben, und doch kam Vhalla niemand davon vertraut vor.

Einige der Soldatinnen und Soldaten verfielen in nervöses Plappern, andere wirkten so gelassen, dass dies unmöglich ihr erster Einsatz sein konnte. Obwohl Aldrik ihr das Gegenteil versprochen hatte, war Vhalla allein. Unglücklich musterte sie ihre Zehenspitzen – sie brachte ohnehin nur Tod und Zerstörung; also war es wohl besser so.

Durch all das Selbstmitleid drang endlich eine bekannte Stimme an Vhallas Ohr. »Siehst du, ich habe dir doch gesagt, dass wir nicht zu spät kommen«, sagte ein Mann.

»Wären wir aber, wenn ich dich nicht aus dem Bett geworfen hätte«, antwortete eine Frau.

»Aber jetzt kannst du aufhören, an mir herumzuzerren.«

Vhalla hob den Kopf und sah, wie Larel Fitz mit festem Griff in die Halle zog. Verblüfft stellte sie fest, dass die beiden wie alle anderen eine Rüstung trugen.

»Fitz, Larel?«, rief sie zaghaft.

»Vhalla!« Der blonde Südländer winkte begeistert und ließ Larel eiligst stehen, die ihm gemächlich hinterhertrottete.

»Was macht ihr denn hier?«, fragte Vhalla entgeistert, als die beiden ihre Tornister auf dem Boden absetzten.

»Ist das nicht offensichtlich?«, antwortete Fitz, der sich mit der Hand durch seine wilden Locken fuhr. »Wir kommen mit dir.«

»Aber keiner von euch ist bei der Armee«, protestierte sie.

»Wir sind brandneue Rekruten«, sagte Fitz grinsend.

Fragend schaute Vhalla zu Larel.

»Du hast doch nicht ernsthaft geglaubt, ich würde meine erste junge Elevin allein in den Krieg ziehen lassen, oder?«, tadelte Larel sie milde, ohne zu erwähnen, warum statt ihrer vorhin der Prinz bei Vhalla aufgetaucht war. »Welche Mentorin würde so etwas tun?« Sie verschränkte die Arme vor der Brust.

»D-das dürft ihr nicht.« Vhallas Herz begann heftig zu klopfen. Sie legte Fitz die Hände auf die Schultern, und mit einem Mal blickte sie ein anderes Paar südländischer blauer Augen an – die Augen eines jungen Mannes, an dessen Seite sie erwachsen geworden war. Der ihr ein guter Freund gewesen war. Nun waren es die Augen eines Toten. »Ich ertrage es nicht, dass meinetwegen noch mehr Menschen sterben.« Fast wäre ihr die Stimme gebrochen.

Larel verdrehte die Augen. »Behandle uns nicht wie kleine Kinder.«

Fitz nahm Vhalla bei den Händen. »Es ist nicht deine Aufgabe, uns zu beschützen. Wir wissen schon, was wir tun.« Bekräftigend drückte er ihre Finger.

»Ihr seid Idioten«, sagte Vhalla mit leiser Verzweiflung.

Fitz lachte. »Ich bin schon übler beschimpft worden. Und du, Larel?«

»Viel übler«, bestätigte die Westländerin und lächelte.

»Du siehst übrigens großartig aus, Vhalla!« Fitz hob ihre Arme an, um Vhallas Rüstung betrachten zu können. »Aber ist ja auch kein Wunder, schließlich bist du doch unsere Windläuferin.«

Vhalla ließ Fitz herumschwadronieren und Larel lächelnd vor sich hin summen. Während der vergangenen paar Tage waren die beiden die Einzigen gewesen, in deren Gegenwart sie sich wie ein Mensch gefühlt hatte. Und obwohl sie geschockt war, die beiden in Rüstung zu sehen, gesellte sich doch auch ein kleines egoistisches Frohlocken hinzu. Halbherzig antwortete sie auf Fitz’ Fragen und behielt gleichzeitig Larel im Auge.

Erst als die ganze Halle in Schweigen verfiel, verstummte auch der aufgedrehte Fitz. Majorin Reale kam herein, in schwarzer Rüstung wie alle anderen, aber mit einem schwarzen Umhang dazu. Darauf prangte ein zerbrochener silberner Mond. Zusammen mit dem Rest der Anwesenden begrüßte Vhalla die Majorin mit einem Faustschlag auf die Brust. Dann imitierte sie das Symbol des zerbrochenen Mondes, indem sie die Hände an den Handgelenken aneinanderdrückte und dazu eine Hand in die Höhe streckte, während die andere nach unten zeigte.

Der Mond markierte die Begegnung zwischen Tag und Nacht, war das Licht in der Finsternis, in die er nicht gehörte. In seinem Innern hatte der Vater der Legende nach das Geschöpf Chaos eingesperrt. Der zerbrochene Mond des Turms stand für Stärke. Ein Symbol dafür, dass jene, die dieses Abzeichen trugen, genug Magie besaßen, um das Firmament zu durchdringen und zu beenden, was die Götter vor Ewigkeiten begonnen hatten.

Seit sie dem Turm angehörte, war Vhalla viel zu müde gewesen, um sich über das Zeichen Gedanken zu machen, geschweige denn über dessen Bedeutung. Doch je länger sie darüber nachdachte, desto besser schien es zu ihr zu passen. Ihr haftete etwas Zerbrochenes und Raues, etwas Beflecktes an. Und doch bildeten die einzelnen Bruchstücke ihres Selbst ein Furcht einflößendes Ganzes. Vhalla wollte zu etwas werden, wovor der Senat zu Recht Angst hatte. Warum nicht den Himmel zum Einsturz bringen?

»Wenn das kein trauriger Haufen ist, den ich die Ehre habe in den Krieg zu führen!« Die Majorin ließ den Blick über die versammelten Magier schweifen. »Wer hier zieht um des Ruhmes willen in den Krieg?«

Ein jäher Schrei der Zustimmung brandete durch die Halle.

»Geht mir aus den Augen«, knurrte die Majorin, was die eben noch so überschwängliche Menge jäh zum Schweigen brachte. Mit einem strengen Blick ihres gesunden Auges hatte Majorin Reale ihre Entschlossenheit ins Wanken gebracht. »Unter meinem Kommando ist kein Platz für Helden. Die meisten von euch marschieren in einen undankbaren Tod. Eure Kameraden in Silber werden euch fürchten, sie werden euch hassen, eure Leistungen missachten und eure Siege für sich verbuchen.«

Vhalla dachte an den Senat, in ihren Ohren war mit dem »sie« der Majorin eine gänzlich andere Gruppe gemeint.

»Aber diejenigen unter euch, die nicht vollständig vertrottelt sind«, höhnte Majorin Reale mit einem breiten Lächeln auf den Lippen, »diejenigen von euch, die sich dem Feind mit ebenbürtiger Unerschrockenheit, Schläue und Kampfkraft entgegenstellen, werden vielleicht das Ende dieses Krieges erleben. Also steht loyal zu mir, zu euren Brüdern und Schwestern in Schwarz. Wir reiten dem Sieg entgegen, und wer den Weg dorthin nicht erkennt, der sollte jetzt gehen.«

Die Majorin strebte dem Ausgang des Turms zu. Sie machte sich nicht die Mühe, sich zu vergewissern, ob ihr jemand folgte.

Alle folgten ihr.

Draußen wurde Vhalla von der Sonne geblendet. Kurz schaute sie zurück zum Turm, der einen dunklen Schatten warf, ehe er mit dem Rest des am Berghang gelegenen Palasts verschmolz.

Zu Hause. Seit ihrem elften Lebensjahr war dieses prachtvolle Gebäude ihr Zuhause gewesen. Als Tochter eines Bauern war sie dorthin gelangt, nun verließ sie den Palast als Soldatin. Vhalla warf sich den Tornister auf die Schultern und zog die Lederriemen fest. Sie versuchte ihre Nervosität, ihre Ängste und Unsicherheiten zu einer Kugel zu formen, die sie in einem dunklen Loch in ihrem Innern verbarg.

Die Schwarze Legion marschierte geradewegs zu den Ställen. Keiner sagte ein Wort. Zu den Geräuschen des erwachenden Palasts und dem Klirren der Rüstungen der Magier gesellte sich schon bald der Lärm von Pferden und Männern. Was sich im und um den Stall abspielte, übertraf Vhallas kühnste Vorstellungen. Hunderte von Menschen drängten sich dort, allesamt in silberner Rüstung. Einige sattelten ihre Streitrösser, andere schirrten Karren an.

Ein scharfer Befehl der Majorin riss sie aus ihrem ehrfürchtigen Staunen. Vhalla wurde in einen kleinen Nebenstall geschickt. Sie hatte nicht damit gerechnet, ihr eigenes Pferd zu bekommen. Es war ein fast schwarzer Hengst mit einer weißen Blesse auf der Stirn. Vhalla tätschelte ihm den Hals, und er schüttelte energisch protestierend die dunkle Mähne. Es kann nicht schaden, wenn er ein bisschen Temperament hat. Das passt zu mir, dachte sie.

Ein Stalljunge machte einen weiten Bogen um Vhalla, legte dem Pferd rasch Zügel an und sattelte es. Gern hätte sie den sichtlich verängstigten Jungen beruhigt, brachte aber nicht die Kraft auf, jemand anderem Trost zu spenden. Selbst für ein Lächeln war sie in zu düsterer Stimmung, weshalb es keine Überraschung war, dass der Junge fast zu Tode erschrak, als Vhalla ihn schließlich doch ansprach.

»Wie heißt er?«

»Er-er ist neu. Hab ihn diese Woche zum ersten Mal gesehen. Glaub, er hat noch keinen Namen.« Der Junge war fast fertig und befestigte nun kleine Satteltaschen zu beiden Seiten des Sattels. In einer befanden sich Vorräte, in die andere passten Vhallas spärliche Besitztümer, ein wenig Platz blieb übrig. Sie trat vor das Pferd und betrachtete es.

»Blitz«, entschied sie. Das war zwar nicht besonders originell, aber das Tier brauchte einen Namen und Blitz war so gut wie jeder andere. Ein Blitz war Feuer am Himmel, er war strahlend, er war schnell und er zerschnitt das Firmament.

Vhalla setzte den linken Fuß in den Steigbügel, schwang sich auf den Pferderücken und ergriff die Zügel. Sie hatte zwar nie offiziell Reiten gelernt, aber auf ihrem Hof hatten sie immer ein oder zwei Pferde besessen. Also war Vhalla von Kindesbeinen an geritten. Weshalb sie sich auch jetzt mühelos im Sattel halten konnte, was für manch andere Rekruten nicht so selbstverständlich war, wie Vhalla bald feststellte.

Sie nahm die Zügel in eine Hand, drückte dem Hengst die Stiefelabsätze in die Flanken und lenkte ihn aus dem Stall. Ihre Rüstung schepperte leise, während sie sich dem Rhythmus des Pferdes anpasste. Sie ritt hinüber zur Majorin, die gerade eine Marschordnung formierte

»Majorin«, sagte Vhalla.

»Gut, dass du mit Pferden umzugehen weißt.« Majorin Reale sah Vhalla prüfend an – von Vhallas Füßen in den Steigbügeln bis zu der Art, wie sie die Zügel hielt. »Du wirst stets in der Mitte des Trupps bleiben, Yarl, und zu meiner Rechten reiten.« Und an Fitz und Larel gewandt, die sie ebenfalls mit ihren Nachnamen anredete: »Charem bleibt auf deiner anderen Seite, dahinter folgt Neiress. Und alle anderen, bei denen ich darauf vertrauen kann, dass sie nicht beim kleinsten Scharmützel draufgehen, reiten an den Flanken oder bilden die Nachhut.«

Vhalla ordnete sich mit dem Pferd in die Reihen ein, mit ausreichend Platz zu beiden Seiten. Hinter ihr entstand ein kleiner Aufruhr. Als sie sich im Sattel umdrehte, öffneten sich unter dem Klirren und Rasseln einer großen Kette die riesigen, prachtvollen Palasttore und die drei Männer der kaiserlichen Familie traten nach draußen in die Sonne.

Prinz Baldair trug seine goldene Rüstung, die im hellen Licht strahlend glänzte. Der Kaiser war in ähnlicher Kriegsmontur, doch bei ihm war alles in Weiß gehalten. Wie immer hob sich Aldrik deutlich von ihnen ab. Er hatte eine schwarze Schuppenrüstung angelegt, die seinen ganzen Körper bedeckte und der von Vhalla ähnelte. Über dem Schuppenpanzer waren große schwarze, in Gold eingefasste Arm- und Beinschienen sowie Brust- und Schulterplatten befestigt. Alle drei hatten einen Helm unter den Arm geklemmt und hinter ihnen flatterten lange weiße Umhänge, die den Männern bis zu den Waden reichten.

Aldrik besaß nicht mehr die geringste Ähnlichkeit mit dem Prinzen, den sie noch wenige Stunden zuvor gesehen hatte. Dennoch war er ihr noch immer vollkommen vertraut.

Dem Kaiser und Baldair wurden ihre Pferde gebracht, doch niemand schien sich darum zu reißen, Aldriks Hengst aus dem Stall zu holen. Also ging er selbst zu dem stampfenden Streitross, beruhigte es mit ein paar Streicheleinheiten und führte es aus der Box.

Erst als Larel und Fitz zu ihr geritten kamen, riss sich Vhalla von seinem Anblick los.

»Charem zu Yarls Rechten, Neiress dahinter«, bellte die Majorin und Fitz und Larel scharten sich um Vhalla.

»Du hältst die Zügel zu fest«, sagte Vhalla leise über Fitz hinweg zu Larel, die Schwierigkeiten damit zu haben schien, ihr Pferd in den Griff zu bekommen. Larel warf ihr einen dankbaren Blick zu. Auch wenn Vhalla die beiden lieber in der Sicherheit des Turms gewusst hätte, war sie doch froh, ihre Freunde bei sich zu wissen.

Immer mehr Soldatinnen und Soldaten formierten sich um sie herum. Vhalla registrierte ihre befremdeten Blicke. Es gab definitiv eine scharfe Trennung zwischen denjenigen, die in Silber und Weiß gekleidet waren, und der Schwarzen Legion in Silber und Schwarz. Sie würde auf dem Marsch nicht gerade besonders viele Freunde hinzugewinnen.

Hinter Vhalla wurde es still und die Majorin wandte sich um. Aldrik saß auf seinem riesigen Streitross und schloss durch die Lücke zu Majorin Reale auf.

»Mein Prinz.« Die Majorin neigte den Kopf.

»Majorin Reale.« Aldriks Stimme klang schneidend. »Wie viele Krieger haben wir?« Er ließ den Blick über die Rekruten schweifen.

»Knapp fünfzig«, erwiderte die Majorin und bestätigte damit Vhallas Vermutung, dass sie in der Heerschar die kleinste Gruppe bildeten.

»Dann möchte ich, dass auch knapp fünfzig nach Hause zurückkehren.« Der Prinz ergriff die Zügel, und die Majorin nickte. Er lenkte sein Pferd durch die Reihen, nahm sich aber die Zeit, noch kurz zu Vhalla hinüberzuschauen. Ihre Blicke trafen sich und für einen Moment entspannten sich seine Gesichtszüge, sodass die widerstreitenden Gefühle in seinem Innern offen zutage traten.

Vhalla legte so viel Strenge wie möglich in ihren Blick und nickte ihm ganz leicht zu. Aldrik stieß seinem Pferd die Absätze in die Flanken, es verfiel in Trab und er setzte sich an die Spitze der Streitmacht.

Die Zeit von Trauer und Selbstmitleid war vorbei. Das Mädchen, das mit elf in den Palast gekommen und in der Bibliothek sein Leben verbracht hatte, gab es nicht mehr; sie war von den Senatoren getötet worden, die geschworen hatten, sie zu beschützen, wie man ihr immer erzählt hatte. Die Frau im Sattel brauchte jetzt ein Herz geschmiedet aus schwarzem Stahl. Sie musste überleben und sei es aus dem einzigen Grund, der Welt zu trotzen.

Die Heerschar war versammelt. Männer und Frauen rutschten unruhig auf ihren Sätteln herum. Vhalla umklammerte die Zügel. Sie würde es schaffen, redete sie sich ein und log sich dabei vor, dass ihre Knie nicht zitterten.

»Öffnet die Tore!«, rief der Kaiser.

Die Tore in der Wehrmauer ächzten und schwangen auf, um die Schar von Kriegern passieren zu lassen. Der Kaiser führte den Trupp an, der sich unter donnerndem Hufklappern in die am Berghang gelegene Hauptstadt ergoss. Irgendwo weiter vorne stimmten die Soldaten einen Ruf an, einen Kriegsschrei, der von Blutdurst, Angst, Sieg und Hoffnung kündete.

Vhalla gab keinen Laut von sich.

DREI

Das Donnern der Pferdehufe auf den Kopfsteinpflasterstraßen dröhnte in Vhallas Ohren. In flottem Tempo ging es durch die Stadt und an den Menschenaufläufen vorbei. Mehr als einer der Zuschauer musterte die vorbeireitende Schwarze Legion mit makabrer Neugier oder Angst. Vhalla versuchte den Gaffern keine Beachtung zu schenken.

Irgendwann ließ sie trotzdem den Blick schweifen. Man musterte sie mit einer Mischung aus Entsetzen, Furcht und Zorn. Magier waren Außenseiter, unerwünschte Geschöpfe, und wenn es nach einer Vielzahl von Leuten in der Menge ging, dann hatten sie eine Grenze überschritten, in dem Augenblick, in dem sie den Turm verlassen hatten. Mehr als einmal war jemand so kühn, ihre Schar mit irgendetwas zu bewerfen, wobei sie die Schwarze Legion meistens verfehlten und einen Lanzenträger ganz vorne oder einen Bogenschützen am Ende des Heereszuges trafen. Schließlich war die Schwarze Legion im Vergleich zu den übrigen Truppen verschwindend klein.

An der zunehmenden Verwüstung in der Stadt merkte Vhalla, dass sie sich dem Platz der Sonne und des Mondes näherten. Jene grauenvolle Nacht des Feuers und des Windes lag nur wenige Tage zurück, noch immer war alles voller Trümmer. Schuldgefühle überfielen Vhalla mit solcher Heftigkeit, dass ihr schwindlig wurde.

Als sich das Heer der Wehrmauer im unteren Teil der Stadt näherte, wurden die Häuser kleiner und weniger prachtvoll – was die Stadtmauer umso eindrucksvoller wirken ließ. Der erste Verteidigungswall der Hauptstadt war ein massives Bauwerk, das sich die natürlichen Gegebenheiten und die Felsen des Berghangs zunutze machte. Die Zugbrücke des Haupttors wurde bereits gesenkt, damit die Heerschar hindurchmarschieren konnte.

»Reitet eng zusammen!«, rief Majorin Reale zu Vhallas Linken.

Vhalla lenkte ihr Pferd ins Zentrum der Kolonne, dann passierten sie das Tor. Auch jenseits der Mauer, auf der anderen Seite des in den Wintermonaten stets ausgetrockneten Grabens, erstreckten sich Teile der Stadt. Noch ärmlichere Behausungen säumten den Berghang bis ins darunterliegende Tal.

Die Straße, auf der sie marschierten, ging nach kurzer Zeit in die Große Reichsstraße über – eine Verbindung, die von der Grenze des Reiches im Norden bis zum Meer im Süden führte. Das Heer schlug den Weg nach Norden ein und der gepflasterte Weg war breit genug, um elf bis fünfzehn Soldatinnen und Soldaten nebeneinander marschieren oder reiten zu lassen.

Sobald sie in den Wald gelangten, erscholl der lang gezogene, tiefe Ton eines Horns. Das Heer verlangsamte sein Tempo und die Heeresführer befahlen eine veränderte Formation.

Majorin Reale zeigte nach rechts: »Macht Platz!«, befahl sie und alle gehorchten.

Vhalla schaute nach vorn: Die gesamte Armee marschierte weiter, ließ in ihrer Mitte jedoch eine Lücke. Aldrik, der links von seinem Vater an der Spitze ritt, zügelte sein Pferd, und die Soldaten marschierten an ihm vorbei. Dann brachte auch der Kaiser sein Pferd zum Stehen und schließlich der goldene Prinz. Die Mitglieder der kaiserlichen Familie ordneten sich in die Reihen ein.

Prinz Baldair blieb im vorderen Teil des Heeres bei den Schwertkämpfern. Der Kaiser begab sich zu den darauf folgenden Lanzenträgern. Und ein paar Reihen dahinter kamen Vhalla und der Kronprinz, der jetzt seinen Platz zwischen ihr und der Majorin einnahm. Sein Streitross war so riesig, dass Vhallas Taille sich auf der Höhe von Aldriks Knien befand.

Sie schaute kurz zu ihm auf und ertappte ihn dabei, wie er sie anblickte. Vhalla neigte den Kopf.

»Mein Prinz«, sagte sie respektvoll. Er nickte fast unmerklich und wandte sich dann wieder der Majorin zu. Vhalla schaute sich um. Sie hätte gern geglaubt, dass es reiner Zufall war, wie sie die Formation geändert hatten, doch sie war zu klug dafür. Der Mann zu ihrer Linken überließ nichts dem Zufall.

Tatsächlich war Vhalla sich ziemlich sicher, dass ihr Platz die sicherste Position im ganzen Heer war: fast in der Mitte und neben einem der mächtigsten Magier des Großen Kontinents. Die Wärme, die sich zwischen ihren Schulterblättern ausbreitete, schrieb sie der Erleichterung zu, weil er in ihrer Nähe war.

Die Truppe bewegte sich nun im Schritttempo und die Fahnen wurden eingeholt. Mit dem Pomp und Gepränge war es vorbei, alle schienen sich auf einen langen Weg nach Norden einzurichten. Schon seit vier Jahren wütete der Krieg, und am Ende dieses Winters würden sie den Sieg davontragen. Zumindest hatte der Kaiser das gesagt.

Vhalla warf einen Blick über die Schulter. Zwischen den beiden hinter ihr marschierenden Trupps rumpelten die Karren mit den Vorräten. Es war eine sehr große Menge an Vorräten, wenn man bedachte, dass sie schon in wenigen Monaten siegen würden. War der Kaiser bei seiner Vorhersage vielleicht nicht ganz aufrichtig gewesen?

Der Wald wurde immer dichter, schon bald kamen sie kaum noch an Häusern vorbei. Hier und da zweigten Wildspuren und Jagdwege von der Straße ab, sonst nichts. Die Bäume brachen das Licht von Mutter Sonne, sodass die Straße vor ihnen mit Lichtflecken gesprenkelt war. Um Vhalla herum wurde munter geredet, es war ein ziemlich friedvoller Ritt.

Durfte auch sie sich friedvoll fühlen? Durfte sie locker im Sattel sitzen und über dieses oder jenes plaudern? Jedes Ächzen ihrer Rüstung erinnerte sie daran, weshalb sie hier war. Sie war jetzt eine Soldatin, Eigentum der Krone.

»Wie lange ist es her, dass du die Hauptstadt mal verlassen hast?«, wollte Fitz wissen. Offenbar hatte der Südländer nicht vor, tatenlos zuzusehen, wie sie stumm vor sich hin brütete und sich in ihrem Elend suhlte.

»Es ist schon eine Weile her«, antwortete Vhalla schließlich.

»Wirklich?« Er wirkte überrascht. »Wie oft reist du denn nach Hause?«

»Das letzte Mal, dass ich zu Hause war …« Vhalla verstummte, sie dachte an ein Bauernhaus inmitten goldener Weizenfelder. Sie hatte vor Kurzem einen Brief an ihren Vater geschickt, damit er die Neuigkeiten von ihr selbst erfuhr, ehe ihn die Gerüchte erreichten. Bei dem Gedanken bekam Vhalla einen Kloß in der Kehle – als hätte sie die glücklichen Zeiten mit ihrer Familie durch ihre Magie und ihre Taten verdorben. »Als ich volljährig wurde, glaube ich?«

»Was?« Fitz war fassungslos. »Mit fünfzehn? Es ist drei Jahre her, seit du zu Hause gewesen bist? Meine Mutter und meine Schwestern würden mir das Fell über die Ohren ziehen, wenn ich drei Jahre lang nicht nach Hause käme.« Er lachte sein ansteckendes Lachen.

Vhalla verzog die Lippen zu einem kleinen Lächeln. »Du hast schon mal von deinen Schwestern erzählt … Wie viele hast du noch mal?« Als Einzelkind fragte sie sich manchmal, wie es wohl gewesen wäre, Geschwister zu haben.

»Vier hat er«, mischte sich Larel ein. Nun da ihr Pferd gemütlich vor sich hin trottete, schien sie sich sehr viel wohler zu fühlen. »Und du solltest sie mal zusammen sehen. Der Mutter sei Dank, dass sie nicht alle magische Fähigkeiten haben, sonst hieße es, die Charems gegen den Rest der Welt.«

»Du kennst sie?« Jetzt war Vhallas Neugier geweckt.

»Ich habe sie einmal getroffen.« Larel nickte.

»Und wie lange kennt ihr beiden euch schon?«

Fitz und Larel sahen sich an. »Sieben Jahre«, sagte Larel.

»Acht Jahre«, hielt Fitz dagegen.

Sie funkelten sich an.

»Nein, sieben. Du bist ein Jahr nach meiner Volljährigkeit in den Turm eingetreten«, zählte Larel an ihren Fingern ab.

»Nein, acht, ich war gerade erst dreizehn geworden«, widersprach Fitz.

»Ja, du wurdest dreizehn, aber erst nachdem wir uns schon kennengelernt hatten.«

»Ihr beiden erinnert mich an einen alten Freund von mir«, murmelte Vhalla leise.

»Wen?«, wollte Fitz wissen, der den Kummer in ihrer Stimme offenbar nicht gehört hatte.

»Sein Name war Sareem.« Vhalla spielte mit Blitz’ Mähne.

»Lebt er im Palast?«, Fitz legte den Kopf schief.

»Er starb in der Nacht des Feuers und des Windes.« Unversehens überfielen sie ihre nächtlichen Albträume vom zerschmetterten und zerstörten Gesicht ihres Freundes. Es war ihre Schuld. Sie hatte zu lange gebraucht und er hatte zu lange auf sie gewartet.

»Das tut mir leid, Vhalla. Hat er dir sehr viel bedeutet?«, riss Fitz Vhalla aus ihren selbstzerstörerischen Gedanken.

»Er war ein enger Freund, fast wie ein Bruder.« Vhalla schüttelte sich, um die Bilder aus ihrem Kopf zu vertreiben, und merkte dann, wie jemand zu ihrer Linken sie anstarrte. Noch eine Frage zu Sareem, und Vhalla würde verrückt werden, deshalb beschloss sie, das Thema zu wechseln. »Wie lange werden wir heute reiten?«

»Noch weitere zwei oder drei Stunden«, antwortete eine sonore, tiefe Stimme.

Vhalla drehte sich zum Kronprinzen. »Länger nicht?«

Aldrik nickte. »Es dauert einige Zeit, bis ein Heer dieser Größe sich niedergelassen und ein Lager aufgeschlagen hat. Und das möchten wir nicht im Dunkeln tun.«

Vhalla neigte kurz den Kopf und wandte sich dann rasch wieder ab, ehe sie sich nicht mehr von Aldrik losreißen konnte. Fitz und Larel begannen eine Unterhaltung, aber sie klinkte sich nicht ein. Sie fühlte sich erschöpft und verbrachte die restlichen Stunden in einem Zustand ziemlicher Benommenheit.

Als die Sonne zwei Drittel ihres Weges am Himmel zurückgelegt hatte, erscholl der Ruf des Horns zweimal, das Signal zum Haltmachen.

»Schlagt auf der linken Seite das Lager auf!«, bellte Majorin Reale und die Schwarze Legion gehorchte ihrem Befehl.

Aldrik sonderte sich von ihnen ab. Erst, als er sich zwischen der Schwarzen Legion und den Lanzenträgern befand, stieg er vom Pferd. Das Zelt seines Vaters wurde in der Mitte seiner Truppen errichtet, das von Aldrik am Rand der seinen.

Die erfahreneren Soldaten, die bereits wussten, was zu tun war, stellten Zelte auf. Die der kaiserlichen Familie waren deutlich größer und besaßen ein Zeltdach aus vier Stoffbahnen. Kleinere Gruppen von Soldaten liefen hinüber zu den Hoheiten, um ihnen beim Aufbau ihrer vorübergehenden Heimstatt zu helfen.

Es tat gut, aus dem Sattel zu steigen. Vhalla lockerte ihre Beine und ignorierte ihre steifen, schmerzenden Gliedmaßen, während sie Blitz an einem tiefhängenden Ast festband. Sie vermutete allerdings, dass das Pferd ohnehin zu klug war, um wegzulaufen.

»Vhalla, wir teilen uns ein Zelt!«, rief Larel und kam mit einem Bündel Segeltuch zu ihr herüber.

Erleichtert zog Vhalla ihre zusammengerollte Decke von Blitz’ Rücken. Larel würde bei ihr sein. Sie fühlte sich schuldig, weil die junge Magierin zu ihrer Hüterin geworden war, doch ihre geistige und körperliche Erschöpfung war zu tief, um viel Energie auf dieses Gefühl zu verschwenden.

Auch die übrigen Soldaten zogen ihre persönlichen Sachen wie Decken oder kleine Kissen aus den Satteltaschen und machten es sich in ihren beengten Zelten so gemütlich wie möglich. Einige von ihnen betrachteten Vhalla neugierig, andere schienen zwiespältige Gefühle zu haben, was immer noch besser war als die anzüglichen Blicke, die ihr sogar Angehörige der Schwarzen Legion zuwarfen.

Larel bohrte zwei Stangen, an denen die Zeltbahnen befestigt wurden, in den Boden. Ihre Schlafstätte war ein einfaches Dreieckszelt. Abgeschirmt waren sie durch zwei Stoffklappen vorn und hinten, die man verschließen konnte. Das Zelt bot gerade genug Raum für ihre beiden Decken.

»Das Abendessen wird bald fertig sein«, verkündete Larel, nachdem sie sich eingerichtet hatten.

»Was gibt es denn?« Vhalla folgte der Westländerin, die auf eins der Lagerfeuer zuging.

»Was immer die Jäger auf die Schnelle auftreiben konnten«, erwiderte Larel.

An diesem Abend schien das etwas Hochwild, ein Hase und ein Fasan zu sein, deren Fett bereits vom Drehspieß ins Feuer tropfte. Vhalla bekam einen Fetzen Fleisch direkt in die Hand. Sie dachte an die Mahlzeit, die sie mit Prinz Baldair an dessen vornehmer Tafel eingenommen hatte. Aß er jetzt auch mit den Fingern?

»Gar nicht so schlecht«, murmelte sie und knabberte halbherzig an dem Fleisch herum.

»Soweit ich weiß, ist der Südländische Wald der einfachste Teil der Strecke.« Larel riss mit den Zähnen einen Streifen Fleisch ab und verschlang ihn gierig. »Dafür ist es in der Westlichen Wüste umso schwieriger, und wenn wir jetzt schon unsere Vorräte angreifen, schaffen wir es nie durch diese Ödnis.«

Plötzlich sprangen alle auf und grüßten auf die Art der Schwarzen Legion. Bei Vhalla dauert es ein bisschen, bis sie die Faust an den Oberkörper legte. Mit herrischen Schritten und auf dem Rücken verschränkten Händen näherte sich der Kronprinz ihrem Kreis. Er musterte sie ausführlich, nickte schließlich mit dem Kopf und die ganze Truppe entspannte sich. Dann begab er sich auf die andere Seite des Lagerfeuers und ließ sich dort neben einer Frau nieder, die Vhalla noch nie gesehen hatte. Ihre Haut hatte einen dunklen Braunton und ihre Haare sahen typisch nordländisch aus.

Augenblicklich war ihr beklommen zumute. Ohne sich dessen bewusst zu sein, betastete Vhalla mit den Fingerspitzen ihre Wange und fuhr über die schwache rote Linie frisch verheilter Haut. Ihre Gedanken schweiften zur Nacht des Feuers und des Windes. Die Korkenzieherlocken der Frau ringelten sich wild um ihr Gesicht. Um sie zu bändigen, hatte sie sich ein schmales Tuch um den Kopf geschlungen. Eindrucksvolle grüne Augen stachen aus ihrem ein wenig kantigen Gesicht hervor. Wenn man vom Gefühl des Unwohlseins absah, das Vhalla bei ihrem Anblick empfand, war die Frau wirklich schön.

Während der dunkelblaue Himmel sich allmählich tintenschwarz färbte, verfolgte Vhalla das für ihren Geschmack recht eigenartige Miteinander der beiden. Aldrik saß mit aufgestelltem Knie da, auf dem er sich mit einem Arm locker aufstützte. Seinen Umhang hatte er abgelegt, nun hockte er nur in seiner Rüstung am Boden. Die Frau lachte, und auch auf Aldriks Gesicht deutete sich ab und an ein Lächeln an. Ein Lächeln, wie er es bisher nur ihr geschenkt hatte.

»Wer ist das?«, fragte Vhalla, um Aldriks kehliges Lachen, das der Wind zu ihr herübertrug, nicht hören zu müssen.

»Wer?« Mit zusammengekniffenen Augen schaute Larel über das Lagerfeuer hinweg.

»Die Frau, mit der sich der Prinz gerade unterhält. Ich habe sie nie zuvor gesehen.« Falls die Frau im Turm lebte, dann war es verblüffend, dass Vhalla das noch nicht mitbekommen hatte. Allein der Anblick der Frau machte sie nervös.

»Ah, die.« Erst jetzt schien Larel sie richtig sehen zu können. »Fitz, weißt du, wer das ist?«

»Die da drüben?« Nun schaute auch Fitz hinüber und schüttelte dann den Kopf. »Ich bin mir nicht sicher. Ich glaube, sie haben auch Leute mitgenommen, die sich im Norden gut auskennen.«

»Meint ihr, wir können ihr trauen?«, fragte Vhalla. Sie wurde das ungute Gefühl einfach nicht los.

»Der Prinz tut es augenscheinlich«, antwortete Larel achselzuckend.

Vhalla schaute wieder hinüber zu den beiden. Ihr Gespräch schien sich einem anregenden Thema zugewandt zu haben, denn die lebhafte Diskussion ging hin und her. Aldrik veränderte die Sitzhaltung, und als ob er ihr Starren gespürt hätte, bedachte er Vhalla plötzlich mit einem durchdringenden Blick seiner dunklen Augen. Rasch schaute sie zur Seite.

Während des restlichen Abendessens vermied sie es, zu ihm hinüberzusehen. Lustlos zupfte Vhalla an ihrem Fleisch. Sicherlich ging es im Gespräch der beiden um den Norden, wenn das der Grund war, warum diese Frau mit ihnen reiste. Obwohl Aldriks entspanntes Lächeln und seine lässige Haltung den Eindruck vermittelten, als würde sich die Unterhaltung nicht unbedingt um den Krieg drehen.

»Iss, Vhalla«, forderte Larel sie auf. »Du brauchst Energie.«

Vhalla zwang sich, die Hälfte des Fleisches aufzuessen, als wäre es eine Medizin. Ihr Wunsch nach Geselligkeit war erloschen und sie erhob sich.

»Ich gehe schlafen«, sagte sie zu ihren Freunden.

»Ja, wir haben morgen einen langen Ritt vor uns«, bestätigte Larel nickend.

»Wir sehen uns morgen früh«, sagte Fitz und verabschiedete sie mit einem Lächeln.

Vhalla drehte sich um und ging zu ihrem Zelt. Sie war nicht im Geringsten müde.

VIER

Vhalla war gefangen im Labyrinth ihrer Albträume. Wieder zersplitterten die schemenhaften Gestalten, verwandelten sich in Rauch, zerfielen unter ihrer Berührung. Sie lief an ihnen vorbei, spürte das Tosen des Windes am Rand ihres Bewusstseins. Schreiend rannte Vhalla durch Finsternis und Feuer.

Zwei Arme zogen sie hoch und schüttelten sie.

Sofort begann Vhalla mit dem anderen Körper zu ringen, wollte sich aus dem Griff der Person befreien. Ihre Stirn war klebrig vor Schweiß, ihre Kleider nass geschwitzt. Wind heulte aus den Bergen herab und kündigte einen Sturm an.

»Vhalla, hör auf.« Larel nahm sie fest in die Arme, drückte Vhallas Kopf an ihre Brust und schirmte sie so von der Welt ab.

»Du bist in Sicherheit, dir geht es gut. Ich bin hier.«

Vhalla zitterte und klammerte sich an Larel, wie in jeder vorangegangenen Nacht, in der sie so aufgewacht war. Ihre Beine hatten sich nicht so in der Decke verheddert wie sonst. Larel konnte sie schneller aus ihren Albträumen aufwecken, wenn sie direkt neben ihr lag. Vhalla drückte ihr Gesicht an die Brust der Westländerin und rief sich ins Gedächtnis, dass die Person, die sie im Arm hielt, nicht der verstümmelte Körper ihres verlorenen Freundes war.

»Tut mir leid«, murmelte Vhalla, als sie sich endlich von Larel lösen konnte.

»Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen müsstest«, sagte Larel in so bestimmtem Ton, dass Vhalla ihr glaubte.

Da es kurz vor Anbruch der Dämmerung war, beschlossen sie, sich nicht noch einmal hinzulegen. Sie halfen sich gegenseitig, ihre Rüstung anzulegen, dann bauten sie das Zelt ab. Vhallas Haut fühlte sich zugleich heiß und kalt an. Es war, als könnte sie noch immer die Hitze des Feuers aus dem Albtraum und das kalte Grausen angesichts der Schreie im Dunkel spüren. Wenn sie es kaum durch die Nacht schaffte, wie sollte sie dann einen Krieg überstehen?

»Möchtest du darüber reden?« Es war nicht das erste Mal, dass Larel diese Frage stellte.

»Nein«, erwiderte Vhalla, die kein Interesse daran hatte, die in ihrem Innern brodelnde Finsternis, die genauso bedrohlich war wie die Sturmwolken am heller werdenden Himmel, mit jemandem zu teilen.

»Guten Morgen«, mischte sich da eine unbekannte Stimme ein, sodass Larel sie nicht weiter befragen konnte.

Gern hätte Vhalla der Person für die Unterbrechung gedankt, doch dann sah sie das Gesicht, das zu der Stimme gehörte. Mit der halb zusammengefalteten Zeltbahn in der Hand erstarrte sie und blickte in smaragdgrüne Augen, die im frühen Licht des Morgens strahlend funkelten.

»Guten Morgen«, grüßte Vhalla leise zurück. So unmittelbar nach ihren Albträumen dieser nordländischen Frau zu begegnen, bedrückte sie.

»Guten Morgen«, erwiderte auch Larel in höflichem Ton. »Können wir dir helfen?«

»Vhalla Yarl, die Windläuferin.« Das war keine Frage, und der Satz verunsicherte Vhalla. »Keine Ahnung, was ich nach den Geschichten erwartet habe, aber dich ganz bestimmt nicht«, sagte die Frau mit einem Lachen.

»Und wer bist du?«, fragte Larel.

»Oh, wo sind meine Manieren? Elecia.« Die junge Frau hielt erst Larel, dann Vhalla die Hand hin. Nach kurzem Zögern griff Vhalla zu. »Sag mal, bist du sicher, dass du wirklich diesen Sturm heraufbeschworen hast, von dem alle reden? Du siehst nämlich selbst so aus, als ob du ganz schön durch den Wind wärst.« Elecia lachte wieder, und obwohl es ein freundliches Lachen war, knirschte Vhalla mit den Zähnen.

»Das habe ich. Frag doch einen von den Senatoren. Ich kenne einen oder zwei, die dir jene Nacht nur zu gern in den blühendsten Farben ausmalen würden.«