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Band 3 der magischen Romantasy-Saga, voller Action, Drama und einer bittersüßen Liebe zum Dahinschmelzen! Windläuferin Vhalla hat es an die Kriegsfront im Norden geschafft und sie ist stärker als je zuvor. Doch um ihr Herz liegt ein Panzer, geschmiedet aus Blut und Feuer. Nur so kann sie der letzten Schlacht des Solaris-Imperiums entgegenblicken. Denn Vhalla steht mittlerweile nicht mehr vor der Wahl zwischen Knechtschaft und Freiheit, sondern vor der zwischen Knechtschaft und Tod. Der Kaiser hält ihr Schicksal eisern in seiner Hand – und alles, was sie noch zu verlieren hat ... Alle fünf Bände der Serie »Die Chroniken von Solaris«: Air Awoken (Band 1) Fire Fallen (Band 2) Earth Ending (Band 3) Water's War (Band 4) Crystal Crown (Band 5)
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Elise Kova
Earth Ending
Aus dem Englischen von Susanne Klein
*** Eine Waffe aus Blut und Feuer ***
Windläuferin Vhalla hat es an die Kriegsfront im Norden geschafft und sie ist stärker als je zuvor. Doch um ihr Herz liegt ein Panzer, geschmiedet aus Blut und Feuer. Nur so kann sie der letzten Schlacht des Solaris-Imperiums entgegenblicken. Denn Vhalla steht mittlerweile nicht mehr vor der Wahl zwischen Knechtschaft und Freiheit, sondern vor der zwischen Knechtschaft und Tod. Der Kaiser hält ihr Schicksal eisern in seiner Hand – und alles, was sie noch zu verlieren hat ...
Schwere Entscheidungen und große Gefühle – die epische Romantasy-Saga geht weiter!
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Danksagung
Viten
Für Katie und Nick– für all die späten Abende,an denen ihr dafür gesorgt habt,dass die Windläuferin nicht den Verstand verliert.
EINS
Vhalla befand sich im freien Fall.
Der Wind dröhnte in ihren Ohren, als sie mit dem Kopf voran in die tiefste Schlucht des Großen Kontinents sprang. Ihre Magie sprühte Funken und sie versuchte, den Mann zu erreichen, der unter ihr ins Nichts stürzte.
Sie streckte den Arm aus, bis es schmerzte, und ihre Blicke trafen sich. Sie würde es schaffen. Sie würde seinen Fall abbremsen – sie musste es. Mit unendlicher Panik in den Augen starrte der dunkelhaarige Prinz zu ihr hinauf. Seine Lippen formten ihren Namen wie ein Gebet.
Vhallas blutige Finger griffen ins Leere, verfehlten seine nur knapp. Sie schrie auf vor Qual, streckte ihren Arm noch weiter aus in einem erneuten Versuch, ihn festzuhalten. Doch da schlug sein Körper schon auf dem felsigen Untergrund auf.
Vhalla schreckte hoch, stieß die Decken weg, die über sie gebreitet waren. Ihre Hand schoss vor, ins Leere. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn, in ihrem Kopf drehte sich alles. Zwei Hände packten ihre Finger, und Vhallas Blick wanderte über die südländisch helle Haut bis hinauf zu einem Paar blauer Augen.
»Fitz?«, fragte sie atemlos und verwirrt.
»Vhalla, der Mutter sei Dank!« Fitz gab ihre Hand frei und schlang ihr stattdessen die Arme um die Schultern.
Vhalla bemühte sich, einen klaren Kopf zu kriegen. Sie lag in einem Zelt, Licht sickerte schemenhaft durch das Segeltuch. Vhalla rieb sich die Stirn und ertastete dabei einen festen Verband.
Verband … Blut … Ein zerschmetterter Mann in schwarzer Rüstung in einer Lache seines eigenen Blutes.
»Aldrik?«, wandte sie sich mit großer Bestimmtheit an Fitz.
Der Südländer zuckte angesichts ihrer plötzlichen Schärfe zusammen. »Vhalla … Du … Elecia muss dich untersuchen, nun da du wach bist.« Fitz vermied es, sie anzusehen.
»Aldrik?«, wiederholte Vhalla. Ihre Stimme klang schrill.
»Ich gehe und hole sie. Du hast fast zwei Tage geschlafen und …«
Vhalla stürzte sich auf ihren herumstammelnden Freund und packte ihn am Hemdkragen. Ihre Finger krallten sich in den Stoff und sie starrte Fitz an. Grenzenloser Kummer und auch Angst spiegelten sich in seiner Miene. Vhallas Herz zog sich zusammen.
»Wo ist Aldrik?« Ihre Hände begannen zu zittern, weil sie Fitz’ Kragen so eisern umklammert hielt – und vor Entsetzen.
»Vhalla, der Prinz, der Sturz, er …« Fitz’ Blick sprach Bände.
»Nein.« Vom Schock überwältigt ließ Vhalla den Kopf sinken. Sie war nicht schnell genug gewesen. Sie war nicht schnell genug gewesen, und jetzt war Aldrik …
»Er lebt.« Fitz fasste Vhalla sanft bei den Armen, und sie war dankbar dafür, dass er sie stützte.
Mit bebenden Fingern fuhr sie über Fitz’ Wange, als wollte sie die Worte auslöschen, die seine Lippen gerade gesprochen hatten. Denn Vhallas aufkeimende Freude wurde vom gramerfüllten Blick ihres Freundes getrübt. »Was?«, krächzte sie. »Was ist denn?«
Fitz schüttelte langsam den Kopf. »Es steht schlecht um ihn.«
»Wo ist er?«, fragte Vhalla drängend.
»Vhalla, das geht nicht.« Fitz umfasste ihre Schultern fester.
»Wo ist er?« Vhalla bekam keine Luft mehr. Aller Sauerstoff schien verbraucht zu sein, und sie würde ersticken, wenn sie es nicht schaffte, zu Aldrik zu gelangen. »Ich muss ihn sehen.«
»Aber das geht wirklich nicht …«
Vhalla wollte keinen weiteren Einwand hören, sie war bereits aufgesprungen und aus dem Zelt gestürzt, ehe Fitz seinen Satz beenden konnte. Ihr tat alles weh, und von der schnellen Bewegung wurde ihr wieder schwindelig. Doch als sie sich im Lager umsah, verdrängte rationale Erkenntnis einen Moment lang ihren Schmerz. Sie hatten sich hier verschanzt. Die Zelte waren mit Zweigen, Blättern und Moos getarnt, in den Bäumen hielten Bogenschützen Wache, und ein Schutzwall umgab das Lager – das Heer richtete sich darauf ein, für längere Zeit hier auszuharren.
»Vhalla, bitte, du musst dich wieder hinlegen«, flehte Fitz, der ihr nach draußen gefolgt war.
»Wo ist er?« Vhalla riss sich von Fitz los und versuchte, das Zelt ausfindig zu machen, in dem der Kronprinz untergebracht sein könnte. Ihr Blick fiel auf zwei Soldaten, die vor einem Eingang Wache hielten, und sie rannte los.
Die Soldaten reagierten nicht schnell genug, sodass Vhalla es beinahe ins Zelt hinein geschafft hätte.
Beinahe.
Sie stieß mit dem Soldaten zusammen, der sich ihr hastig in den Weg stellte. »Lass mich durch«, sagte sie drohend.
»Unser Befehl lautet, dass nur der Kaiser, seine Familie und die Heiler das Zelt betreten dürfen.« Dem Soldaten fiel es offensichtlich nicht leicht, ihr das mitzuteilen, in jedem seiner Worte schwang Mitgefühl mit.
»Lass mich durch.«
»Tut mir leid, aber das dürfen wir nicht. Wir haben unsere Befehle.«
Er warb um ihr Verständnis. Oh ja, Vhalla verstand nur allzu deutlich. Sie verstand, dass man sie ohne Grund von Aldrik fernhielt. Sie musste ihren Prinzen sehen. Solange sie ihn nicht gesehen hatte, war er nicht wirklich am Leben.
Vhalla stemmte die Füße in den Boden und ballte die Hände zu Fäusten. Ihre Magie musste sich nach dem Kampf, in den sie vor dem Sturz verwickelt gewesen war, noch erholen. Und da auch ihr Körper noch heilen musste, fühlte sie sich schwach. Doch das würde sie niemanden merken lassen. »Lass mich durch oder ich werde …«
»Oder du wirst was?«
Vhalla gefror das Blut in den Adern. Langsam drehte sie sich zum mächtigsten Mann des Großen Kontinents um, zu Kaiser Solaris. Aldriks Vater musterte sie mit kaum verhohlener Verachtung. Er gab ihr die Schuld am Zustand seines Sohnes. Immerhin eine Sache, bei der sie sich einig waren.
»Du kehrst unverzüglich zu deinem Zelt zurück, Yarl«, befahl er.
Vhalla holte ein paarmal tief Luft. Sie war immer noch Eigentum der Krone. Sie gehörte diesem Mann, bis sie ihm den Sieg über den Norden schenkte. Und wenn das Ultimatum, das er ihr vor ein paar Tagen gestellt hatte, noch galt, dann hing ihre Freiheit auch daran, dass sie die Beziehung zu seinem Sohn beendete. Eine Beziehung, die fast ein Jahr zuvor ihren Anfang genommen hatte. Eine Beziehung, in deren Verlauf Vhalla zur geheimen Geliebten des Kronprinzen geworden war.
»Habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt?« Der breitschultrige Herrscher kam drohend auf sie zu.
Die Anspannung war fast mit Händen zu greifen, und die Soldaten hinter ihr hielten hörbar den Atem an, scharrten nervös mit den Füßen.
»Ah, Vhalla, sehr gut – du bist wach.« Vhalla fuhr herum und sah Elecia aus Aldriks Zelt schlüpfen. »Ich muss dich untersuchen und sehen, wie es dir geht.« Sie schob sich an den Soldaten vorbei und hakte Vhalla unter. Nie zuvor war ihr die dunkelhäutige Frau körperlich so nah gekommen. »Komm mit.«
Es war Elecias strenger Ton, der Vhalla schließlich zum Einlenken bewog. Sie ließ sich von der jungen Frau zurück zu ihrem Zelt führen, wobei ihr Blick jedoch trotzig auf den Kaiser gerichtet blieb. Solange noch ein Funken Leben in ihr war, konnte er Aldrik nicht von ihr fernhalten.
»Rein mit dir«, murmelte Elecia wütend und schubste Vhalla quasi ins Zelt, wo Fitz sie schon erwartete.
»Was ist denn los?« Vhalla blinzelte Elecia überrascht an. Plötzlich hatte die Frau rein gar nichts mehr von der besorgten Heilerin, die Vhalla eben noch durchs Lager geführt hatte.
»Was ist mit dir los?«, zischte Elecia und ging in die Knie. »Hast du bei dem Sturz in die Schlucht dein letztes bisschen Hirn verloren? Das ist kein guter Zeitpunkt, um den Kaiser herauszufordern.«
»Es schert mich einen Dreck, was der …« Fitz’ Hand verschloss Vhalla fest den Mund, bevor sie den verräterischen Satz zu Ende sprechen konnte.
»Können wir uns jetzt alle mal beruhigen, bitte?« Er machte eine beschwichtigende Geste in Elecias Richtung.
Vhalla schaute die Frau mit den lockigen Haaren wütend an. Freund oder Feind, noch immer wusste sie nicht, auf welcher Seite Aldriks Cousine stand. Der Schmerz und die Wut in Elecias smaragdgrünen Augen verrieten ihr, dass diese die gleichen Schwierigkeiten hatte, ihre Beziehung richtig einzuordnen.
»Wie geht es Aldrik?«, fragte Vhalla, sobald Fitz seine Hand von ihrem Mund genommen hatte, weil das die einzig unverfängliche Frage war.
Elecia schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie, »ich stelle hier die Fragen.«
»Also entschuldige mal!«
Elecia hatte Vhalla aus dem Konzept gebracht und nutzte die Gelegenheit, um vorzupreschen. »Wie ist das Band zwischen dir und meinem Cousin entstanden?«
Dies war die letzte Frage, mit der Vhalla gerechnet hätte. Sie war derart überrumpelt, dass ihr die Worte fehlten. »W-was?«
»Dass du es mir nicht erzählt hast, wundert mich nicht«, sagte Elecia schneidend, »aber Aldrik?« Verunsichert zupfte sie an ihren Korkenzieherlocken, doch dann verwandelten sich ihre Zweifel wieder in Wut. »Was hast du mit ihm gemacht? Mit was hast du ihm gedroht, damit er das für sich behält?«
»Wie kannst du es wagen!« Vhalla hätte Elecia am liebsten die Augen ausgekratzt. Oder ihr nacheinander Arme und Beine ausgerissen. »Wenn du glaubst, dass ich jemals etwas tun würde, das ihm schadet …« Vor lauter Wut bekam sie keinen geraden Satz heraus.
»Aufhören, alle beide!« Fitz’ Ton war überraschend streng, und die Frauen hielten verwundert inne. »Ihr seid keine Feindinnen, ihr kämpft für dieselbe Sache.«
Vhalla schaute Elecia finster an und erntete einen ebenso finsteren Blick von ihr.
»Elecia, du weißt genau, dass Vhalla Aldrik nie schaden würde. Und du, Vhalla«, wandte Fitz sich an die Windläuferin, »du musst doch wissen, welche Sorgen sich Elecia gemacht hat, um den Prinzen und um dich.«
Verärgert richtete Elecia den Blick in eine Ecke des Zeltes. Es passte ihr sichtlich nicht, dass Fitz ihre Gefühle preisgegeben hatte.
»Wie hast du es herausgefunden?« Vhalla schluckte ihre Frustration hinunter.
»Hätte ich nicht, wenn ich euch nicht beide behandelt hätte«, erklärte Elecia mürrisch. »Die meisten Heiler, Magier oder sonstige Quacksalber hätten das natürlich nie bemerkt.« Die Westländerin nutzte wirklich jede Gelegenheit, um sich zu brüsten. »Mir fiel auf, dass sich sein Zustand verbesserte, sobald es mit dir bergauf ging. Und als ich Aldrik mithilfe meiner magischen Sicht genauer untersucht habe, stellte ich Veränderungen an seiner Magie fest. Das war mir auch schon in Estrela aufgefallen, als ich seine schwere Verletzung geheilt hatte. Aber damals dachte ich, es läge an dem Gift. Solange es ihm gut ging, hat seine Stärke die Veränderung überdeckt. Deshalb war ich mir nicht ganz sicher, bis Fitz es mir bestätigt hat.«
Vhalla warf Fitz einen wütenden Blick zu, und der blonde Südländer war auf einmal vollauf mit dem Dreck unter seinen Fingernägeln beschäftigt.
»Wie ist es passiert?« Elecia holte tief Luft. »Beim Sturz in die Schlucht kann es nicht geschehen sein, es ist eine tiefere Verbindung – ein starkes, stabiles Band, das schon länger existiert.«
Seufzend rieb sich Vhalla die Augen. Sie wollte zu Aldrik. Aber wenn das nicht ging, dann war Elecia die beste Möglichkeit, etwas über seinen Zustand herauszufinden. Und wenn die Wahrheit Elecias Zorn beschwichtigte, dann würde Vhalla eben die Wahrheit sagen. »Ich war diejenige, die das Band geschaffen hat …«
Fitz kannte die Geschichte bereits, denn Vhalla hatte sie ihm und Larel, die jetzt tot war, schon vor Wochen erzählt. Einige Einzelheiten hatte sie allerdings ausgelassen, deshalb lauschte auch er interessiert. Elecia hingegen musterte Vhalla skeptisch, als könne sie die Geschichte von der Bibliothekselevin, die unwillentlich magische Objekte geschaffen hatte, die wiederum eine Verbindung – das Band – zum Kronprinzen geknüpft und dadurch sein Leben gerettet hatten, nicht ganz glauben.
Sobald sie einmal losgelegt hatte, konnte Vhalla sich nicht mehr bremsen. Sie rekapitulierte alles, was in den vergangenen Wochen und Monaten geschehen war, ließ nichts aus. Das Band, die Nacht des Feuers und des Windes, wie sie und Aldrik das Band in der Zusammenführung erweitert hatten. Dass seine Magie ihr nicht länger Schaden zufügen konnte. Vhalla offenbarte Fitz und Elecia alles. Sie hatte diese Geheimnisse sorgsam gehütet, nun teilte sie sie freimütig, nur um die Bestätigung zu bekommen, dass Aldrik noch lebte. Nur um das Vertrauen der Frau zurückzugewinnen, die ihr diese Information als Einzige geben konnte.
Nachdem Vhalla geendet hatte, fuhr sich Elecia nachdenklich mit dem Daumen über den Mund und knabberte dann nervös an ihrem Nagel herum – eine Angewohnheit, die Vhalla zuvor noch nie an ihr bemerkt hatte. »Nun, das erklärt eine Menge«, murmelte sie.
»Aber jetzt sag mir, wie es Aldrik geht«, bat Vhalla leise.
Elecia schüttelte bekümmert den Kopf. »Nicht gut.«
Vhalla beobachtete wie Elecia müde in sich zusammensackte, und wappnete sich für das Schlimmste.
»Eigentlich dürfte er nicht mehr am Leben sein.« Elecia seufzte schwer. »Doch jetzt verstehe ich, warum er noch atmet. Das Band zwischen euch ist eine sehr tiefe Verbindung. So etwas habe ich nie zuvor gesehen, allerdings habe ich auch keine großen Erfahrungen mit dieser Art von Verbindung … Aber egal, ich bin mir ziemlich sicher, dass du es bist, die ihn am Leben erhält.«
»Was?« Vhallas Erleichterung wurde von aufkeimender Angst verdrängt.
»Da du das Band zwischen euch geschaffen hast, funktioniert deine Magie wie ein Anker. Wie ich schon gesagt habe: Sobald es dir besser ging, hat sich auch sein Zustand stabilisiert. Denn als du wieder stärker wurdest, konntest du ihm mehr Kraft geben …«
»Dann wird er also wieder gesund?«, platzte Vhalla heraus, zu ungeduldig, um Elecia ausreden zu lassen.
»Das habe ich nicht gesagt.«
Die Worte bohrten sich wie ein Messer in Vhallas Brust.
»Aber, m-mir geht es doch besser«, stieß Vhalla hervor.
»Du bist weit davon entfernt, gesund zu sein.« Elecia ersparte ihr die Wahrheit nicht. »Du brauchst noch viel Zeit, um vollständig zu heilen, und Aldrik am Leben zu erhalten hat dein Koma um mindestens einen Tag verlängert. Dein Körper würde sich eigentlich viel schneller erholen. Ein Mensch kann nicht zwei Menschen am Leben erhalten. Dafür bist du nicht stark genug.«
»Er wird es schaffen.« Vhalla weigerte sich, etwas anderes zu glauben.
»Du hast ihn nicht gesehen!«, blaffte Elecia sie an. »Ich tue alles, was in meiner Macht steht, aber mit jedem weiteren Tag schwinden unsere Vorräte. Aldrik ist schwach und wird noch schwächer werden – bestenfalls kann ich seinen gegenwärtigen Zustand erhalten. Doch er kommt einfach nicht zu sich. Er hat viel Blut verloren, außerdem ist seine Kopfverletzung sehr ernst.« Elecias abgeklärte Haltung zeigte erste Risse angesichts dieser Tatsachen. »Und falls er aufwacht, weiß ich nicht, ob er noch der alte Aldrik sein wird.«
Sie verfielen in Schweigen, ließen diese Worte sacken. Vhalla krallte die Finger in ihre Tunika. Die Welt war grausam, zu grausam.
»Nein«, flüsterte sie. Sie weigerte sich, zu glauben, dass die Götter Aldrik am Leben gelassen hatten, nur damit sie dann zusehen musste, wie er doch noch starb oder nie mehr der Alte wurde. Entschlossen wechselte sie das Thema. »Und wie sind die weiteren Pläne für unseren Feldzug?« Man musste keine Militärexpertin sein, um zu wissen, dass es keine gute Idee war, mitten in feindlichem Gebiet das Lager aufzuschlagen.
»Das weiß ich nicht. Der Kaiser diskutiert das offensichtlich noch immer mit den Heeresführern. Er informiert mich nicht über seine Entscheidungen.« Elecias Ton ließ keinen Zweifel daran, wie sehr sie das kränkte.
Vhallas Verstand begann mit Hochdruck zu arbeiten, einmal mehr tauchte sie im Geiste in das umfassende Wissen der kaiserlichen Bibliothek ein. Ihre Gedanken kreisten dabei nur um eine Sache: die Rettung des Mannes, den sie liebte.
»Was brauchst du, um ihn am Leben zu erhalten?«
»Mehr Arzneimittel, sauberes Verbandsmaterial, die richtige Nahrung – auch wenn ich sie ihm zwangsweise eintrichtern muss –, einen Ort, an dem er sich ausruhen kann, ohne dass wir ständig der Gefahr eines Angriffs ausgesetzt sind«, zählte Elecia auf. Nichts davon überraschte Vhalla.
»Die Hauptstadt des Nordens, Soricium.« Diese wurde schon seit Monaten von der südländischen Armee belagert, wie Vhalla wusste. Es war mit das Erste gewesen, was der Kaiser bei seiner Rückkehr in die Hauptstadt verkündet hatte, damals, bevor Vhalla als Windläuferin Berühmtheit erlangt hatte.
Elecia nickte. »Das Problem ist, dass wir Aldrik in diesem Zustand nicht transportieren können. Dafür müsste er stabiler sein. Und wenn wir ihn dann transportieren, werden wir nur langsam vorwärtskommen und haben nicht genügend Männer, um Angriffe abzuwehren.«
»Dann brauchen wir hier vor Ort wirksamere Arznei, um ihn gesund zu machen; und mehr Soldaten, zum Schutz bei seinem Transport«, überlegte Vhalla laut.
»Was hast du vor?« Fitz hatte den Ausdruck in Vhallas Gesicht bemerkt.
»Jemand muss die Botschaft überbringen.« Vhalla hatte keine Ahnung, warum sie überhaupt noch »jemand« sagte. »Wie viel Zeit bleibt Aldrik?«
»Das weiß ich nicht genau; eigentlich müsste er längst tot sein«, erwiderte Elecia düster.
»Wie viel Zeit bleibt ihm noch?«, fragte Vhalla drängender.
»Vielleicht eine Woche, ohne geeignete Arznei.« Die Worte waren ein Todesurteil, und sie alle wussten das.
»Und bis nach Soricium braucht man auch eine Woche.« Die anderen korrigierten Vhallas Einschätzung nicht, denn sie hatte sich richtig gemerkt, was der Kaiser gesagt hatte, bevor sie an der Tiefe entlangmarschiert waren. Vhalla ballte die Hände. »Ich werde gehen.«
»Was?«, fragte Fitz perplex. »Vhalla, das bedeutet, dass du sieben Tage lang in feindlichem Territorium unterwegs bist – bis zu einem Ort, an dem du noch nie warst!«
»Niemand kann schneller reiten als ich.« Vhalla konzentrierte sich allein auf Elecia, als hinge ihr ganzer Plan nur von deren Zustimmung ab. »Ich kann das Tempo des Pferdes durch meinen Wind beschleunigen. Eine Gruppe von Soldaten, zumal einige zu Fuß unterwegs sind, wird eine Woche brauchen. Bei mir dauert es weniger als eine halbe.«
»Das ist unmöglich.« Elecia schüttelte den Kopf.
»Dein Vertrauen in mich ist beflügelnd«, sagte Vhalla scharf und Elecia schaute sie erschrocken an. Solche Töne war sie von Vhalla nicht gewohnt. »Ich werde gehen, und ich werde die schnellsten Reiter mit Arznei zurücksenden und dazu noch Frauen und Männer zur Verstärkung.«
»Warum sollte ich so eine Selbstmordmission gutheißen?«, fragte Elecia stirnrunzelnd. »Du bist doch das Einzige, was Aldrik am Leben hält.«
»Du hast es eben selbst gesagt: Auf Dauer kann ich das nicht schaffen«, wandte Vhalla ein, obwohl es ihr schwerfiel, das zu akzeptieren. »Vielleicht hat unser Band ihn davor bewahrt, ins Reich des Vaters zu stürzen. Aber ich kann ihn trotzdem nicht retten. Vielleicht sterbe ich, wenn ich gehe, vielleicht verliert er die Verbindung zu mir, und vielleicht stirbt dann er.« Die Worte schmerzten. »Aber wenn ich nicht gehe, wird er ganz gewiss sterben.«
Elecia schwieg eine Weile. »Angenommen, ich gebe diesem Wahnsinn nach«, sagte sie dann und hielt erneut inne, um an ihrem Daumennagel zu knabbern, »so heißt das noch lange nicht, dass der Kaiser es dir erlauben wird. Ich weiß nicht, wodurch du es dir so mit ihm verdorben hast, aber er wird dich auf keinen Fall aus den Augen lassen.«
»Dann gehe ich heute Nacht, während er schläft.«
»Meinst du das ernst?« In Elecias Miene zeigte sich etwas, das Vhalla erst ein Mal bei ihr gesehen hatte, damals nach dem Sandsturm: Respekt.
»Was soll er denn machen? Mir Reiter hinterherschicken?« Vhalla lächelte; Wahnsinn und Verzweiflung ergaben zusammen eine beruhigende Mischung. »Welches ist das schnellste Pferd?«
»Baston«, antwortete Elecia, ohne nachzudenken.
»Baston?« Vhalla wusste nicht, welches Pferd gemeint war.
»Aldriks Pferd … Aber das Tier lässt sich von niemandem anfassen. Wir konnten ihn nach Aldriks Sturz nicht mal am Zügel führen. Zum Glück ist er brav hinter dem Pferd hergetrottet, auf dem Aldrik transportiert wurde.«
Vhalla verdrängte den Gedanken an Aldrik, wie er blutverschmiert, sterbend, reglos über dem Rücken eines Pferdes hing. Wenn er aufwachte, würde das alles nur noch ein schlechter Traum sein. Er würde in Sicherheit sein, und er würde wieder aufwachen. »Dann nehme ich eben Baston.«
»Hast du neben deinem Verstand auch dein Gehör verloren?« Elecia verdrehte die Augen. »Baston wird dich nie …«
»Er wird mich auf seinem Rücken dulden.« In Vhallas Stimme lag eine ruhige Gewissheit, die Elecia verstummen ließ. Vhalla war neben Aldriks Schlachtross quer durch den Kontinent geritten und zudem mit seinem Reiter in der Zusammenführung verschmolzen. »Ich breche auf, sobald es dunkel ist. Aber ich brauche eine Karte, um den Weg zu finden.«
»Nein, ich besorge dir etwas Besseres«, verkündete Elecia. »Und zwar einen Kompass. Soricium liegt genau nördlich von hier.«
»Moment mal, du bist einverstanden?« Fitz blinzelte Elecia verblüfft an, ehe er sich an seine Freundin wandte. »Vhalla, das darfst du nicht tun.«
»Wie bitte?« Überrascht und wütend funkelte Vhalla ihn an.
»I-ich dachte schon, ich hätte dich auch noch verloren … Und jetzt, wo du wieder auf den Beinen bist … Du darfst nicht gehen …« Fitz’ Stimme erstarb zu einem Flüstern.
Und in diesem Moment wurde Vhalla etwas klar. Auch wenn sie sich in der Schlucht als Windläuferin zu erkennen gegeben und ihre Tarnung als Serien Leral aufgegeben hatte, brauchte sie doch weiterhin das kämpferische Herz dieser anderen Rolle. Sie brauchte weiterhin die aus Eisen und Blut geschmiedete Rüstung der Emotionslosigkeit, die sie sich als Serien zugelegt hatte. Wenn sie diese Haltung nicht wieder in sich wachrufen konnte, würde sie es nicht schaffen, zu gehen.
»Fitz«, flüsterte sie und streckte die Hand aus. Dann umarmte sie den Südländer fest. Tief in ihrem Innern umarmte sie sich selbst, umarmte mit aller Kraft das Mädchen, das noch immer am ganzen Körper bebte und zitterte und weinte. »Es wird alles gut werden. Ich muss das tun.«
»Warum?« Fitz schniefte.
»Du weißt, warum.« Vhalla lachte leise. »Ich liebe ihn.«
»Dann hat die Liebe dich dumm gemacht«, murmelte ihr Freund an ihrer Brust.
Vhalla schaute kurz hinüber zu Elecia. »Ich weiß.«
Aldriks Cousine musterte Vhalla ruhig, als überlegte sie, was Vhalla als Nächstes sagen würde.
»Aber wenn ich schon für jemanden eine Dummheit begehe, dann für ihn. Ich habe mich viel zu sehr in ihn verliebt, um jetzt aufzugeben, um ihn gehen zu lassen.«
»Du hast dich verändert, Vhalla.« Fitz löste sich von ihr und rieb sich die Augen.
»Ich weiß.« Ihr blieb nichts anderes übrig, als es zuzugeben.
Den ganzen restlichen Tag verbrachte Vhalla mit Fitz. Schließlich verabschiedete sie sich von ihm mit dem Versprechen, in Soricium auf ihn zu warten. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als auf dieses Versprechen zu setzen. Als Elecia Vhalla am Abend abholte, wirkte Fitz gelassener – schicksalsergebener.
»Was tun wir hier?«, fragte Vhalla im Flüsterton, sobald ihr klar wurde, auf welches Zelt sie zuhielten.
»Hast du wirklich geglaubt, ich würde dich ziehen lassen, ohne dass du ihn noch einmal sehen kannst?«, murmelte Elecia mit einem Seitenblick auf Vhalla und verwandelte mit diesen Worten ihr bisher eher angespanntes Verhältnis in eine Freundschaft.
»Und wenn der Kaiser es herausfindet …« Vhalla warf einen kurzen Blick über die Schulter. Sie dachte daran, was Elecia vorhin gesagt hatte.
»Das wird er nicht.«
Der Grund ihrer Zuversicht zeigte sich beim Zelteingang. Die zwei Soldaten, die dort Wache standen, trugen schwarze Rüstungen, was sie als Angehörige der Schwarzen Legion auswies – Magier. Vhalla kannte sie nicht, aber sie versuchte sich ihre Gesichter einzuprägen, als die beiden ihr wortlos Einlass gewährten. Denn es waren die Gesichter guter Männer.
Von außen hatte das Zelt unter der Tarnung aus Moos und Zweigen vollkommen dunkel gewirkt. Aber in der hinteren Ecke flackerte über einer flachen Metallschale eine einzelne Flamme, die den Innenraum ein wenig erhellte. Die Atmosphäre war bedrückend. Es roch nach Blut, Körperausdünstungen und Tod.
Bei Aldriks Anblick fiel Vhalla auf die Knie und schlug sich rasch die Hand vor den Mund, um nicht laut aufzuschreien – vor Qual und Freude zugleich.
Die Prellungen in seinem Gesicht hatten seine Augen zuschwellen lassen, und er verschwand fast unter einem Berg von Decken, dennoch schüttelten immer wieder Schauder seinen Körper, als wäre ihm kalt. Dies und das langsame Heben und Senken seines Brustkorbs waren die einzigen Lebenszeichen. Gazeverbände voller Eiterflecken bedeckten Aldriks Glieder. Doch das Besorgniserregendste war die große Wunde an seiner Schläfe, aus der unablässig Blut sickerte.
Vhalla ergriff vorsichtig die verbundene rechte Hand des Prinzen – die Hand, die ihr Briefe geschrieben hatte; die sich in ihrem Haar vergraben hatte, während sie schlief; die ihr Gesicht umfangen hatte, wenn er sie küsste. Es war eine wundervolle Hand mit unendlichen Fähigkeiten, die jetzt vollkommen reglos zwischen ihren Fingern lag.
»Wieso hast du mir das angetan?«, flüsterte Vhalla heiser. Mit aller Macht versuchte sie ein Schluchzen zu unterdrücken, das mit Sicherheit das ganze Lager aufgeweckt hätte.
»Damit du es siehst«, sagte Elecia feierlich.
»Damit es mich zerstört.« Wieder schaute Vhalla zu Aldriks Gesicht, und sein Anblick fuhr ihr in Kehle und Bauch wie ein unsichtbares Schwert. Die Kräfte, die sie mobilisiert hatte, waren wie weggeblasen. Seine Nähe ließ ihre Entschlossenheit schwinden. Sie konnte ihn jetzt nicht verlassen. Sie konnte es nicht.
»Damit du siehst, dass er sterben wird, wenn du es nicht tust«, flüsterte Elecia. »Dein Vorhaben ist töricht und wird dir und ihm sehr wahrscheinlich den Tod bringen. Er wäre wütend auf mich, weil ich es unterstütze. Aber sein Leben ist mir sehr viel mehr wert als deins.«
Vhalla lachte schwach. »Wir haben mehr gemeinsam, als wir früher gedacht haben.« Das brachte ihr ein kleines Lächeln von Elecia ein.
»Ich werde meinen Teil der Vereinbarung erfüllen«, gelobte Elecia. »Ich werde Aldrik mindestens weitere sieben Tage am Leben erhalten. Darauf hast du mein Wort.«
»So lange wird es nicht dauern.« Vhalla starrte ihren Prinzen an, ihre Brust zog sich vor Sehnsucht schmerzhaft zusammen. Zärtlich umfasste sie seine Wange, doch er regte sich nicht. »Ich werde schnell wie der Wind sein.«
»Hier.« Elecia hielt ihr ein paar Schriftstücke hin. »Diese Sachen müssen die Reiter mitbringen, die die Vorhut bilden, und diese Dinge die ihnen folgende Heeresgruppe. Gib die Dokumente Oberstmajor Jax und keinem anderen.«
Vhalla hatte den Namen schon mehrfach gehört und wusste, dass es sich um den obersten Anführer der Schwarzen Legion handelte. Sie nahm die Pergamente zusammen mit einem Kompass entgegen.
»Jax wird sich um alles kümmern, was Aldrik betrifft. Ich vertraue ihm.« Elecias Worte weckten Vhallas Interesse. Offenbar hatte dieser Mann Elecia von sich überzeugen können – eine Frau, mit der Vhalla noch immer eine engere Verbindung zu knüpfen suchte.
Einmal mehr wandte sie sich dem bewusstlosen Prinzen zu. Sie würde keine schicksalshaften Abschiedsworte sagen. Stattdessen beugte sie sich mutig vor und küsste seine gesprungenen, rissigen Lippen. Elecia rührte sich weder noch machte sie eine Bemerkung dazu, aber ihr Schweigen sprach Bände. Anscheinend akzeptierte sie Vhallas Beziehung zum Kronprinzen inzwischen.
Beklommene Stille umgab Vhalla und Elecia, als sie Aldriks Zelt verließen. Vhalla fühlte sich wie zweigeteilt: In ihr gab es eine Frau, die selbstsicher, souverän und fähig war. Das war die Frau, die ihren Prinzen – wieder einmal – retten und den Norden erobern würde. Und gleichzeitig gab es das Mädchen, das ihr kummervolles Gesicht am liebsten vor der Welt verborgen hätte, um zu Aldrik unter die Decken zu kriechen und ihr Schicksal den Göttern zu überlassen. Ob sie nun leben oder sterben würden – sie täten es Seite an Seite.
Baston war am Rand des Lagers untergebracht. Das Schlachtross blieb ruhig stehen und gab auch kein Wiehern von sich, als Vhalla sich näherte. Sie streckte die Hand aus und das Tier blickte ihr erwartungsvoll entgegen. Behutsam berührte sie seine Nüstern, ihre Finger wirkten klein und zart angesichts Bastons ungeheurer Größe. Das Pferd schnaubte ungeduldig.
Vhallas Mundwinkel verzogen sich zu einem verständnisvollen, traurigen Lächeln. Auch sie war voller Ungeduld.
»Er hat noch nie einen anderen Menschen außer Prinz Aldrik an sich herangelassen«, flüsterte eine Frauenstimme im Dunkel.
Vhalla und Elecia fuhren herum – voller Angst, dass man sie entdeckt hatte. Nur ein paar Schritte von ihnen entfernt stand Majorin Reale, beladen mit einem Kettenhemd und einer kleinen Kuriertasche. Stumm starrten sie die ältere Frau an.
»Denkst du etwa, du kannst so losreiten?« Die Majorin musterte Vhalla mit ihrem gesunden Auge. »Die Nordländer würden dich sofort niederstrecken.«
»Aber ohne Ausrüstung wiege ich weniger.« Vhalla blieb neben Baston stehen, jederzeit bereit, aufzusitzen und loszureiten, falls Majorin Reale sie doch an ihrem Vorhaben hindern wollte.
»Möchtest du denn nicht einmal das Kettenhemd mitnehmen, das er zu deinem Schutz geschmiedet hat?«
Vhalla erstarrte.
Die Majorin lachte dunkel. »Glaubst du etwa, wir hätten nicht eins und eins zusammengezählt?«, fragte sie mit gedämpfter Stimme. »Wir alle stehen loyal zum Prinzen, aber ich bezweifle, dass irgendjemand von uns zur Rettung eines anderen in eine Schlucht springen würde. Es sei denn, wir wären in diesen anderen verliebt.« Sie trat auf Vhalla zu und reichte ihr das Kettenhemd, das Aldrik vor ihrem Aufbruch aus dem Palast für sie geschmiedet hatte.
»Woher habt Ihr das?«, flüsterte Vhalla.
»Die falsche Windläuferin, die bei uns mitreitet, trägt deine Rüstung«, erklärte Majorin Reale, und Vhalla registrierte stumm, dass eine ihrer drei Doppelgängerinnen offensichtlich noch immer am Leben war. »Ich bin schon lange Zeit im Turm – wie viele unserer älteren Magierinnen und Magier. Ich habe Aldrik mit ausgebildet, als er noch ein Junge war.«
Vhalla blinzelte. Noch immer war der Gedanke seltsam, dass Aldrik mal ein anderer gewesen sein könnte als der unerschütterliche Prinz, den sie kennengelernt hatte.
»Ich habe unseren Kronprinzen aufwachsen sehen«, fuhr die Majorin fort, »habe seine Höhen und Tiefen verfolgt, habe ihn mal stark erlebt und mal nicht so stark, wie er die Leute gern glauben machen wollte.« In dem gesunden blauen Auge der Majorin blitzte tiefe Aufrichtigkeit auf. »Nie zuvor hat er sich so verhalten, wie er es in deiner Gegenwart tut, Vhalla Yarl. Und ich bin klug genug, um mir zusammenzureimen, dass du zufällig auch unsere beste Option bist, um sein Leben zu retten.«
In wehrloser Ergebenheit legte Vhalla das Kettenhemd an. Es passte ihr noch immer wie angegossen.
Als Nächstes reichte die Majorin ihr die Kuriertasche. »Ein bisschen Proviant – keine Angst, es ist nicht so viel, dass es Baston zu sehr beschweren würde – und eine Nachricht von mir für Oberstmajor Jax.« Als Vhalla sie forschend ansah, erklärte Majorin Reale: »Alle sollen wissen, was du für unseren Prinzen getan hast – was du gerade tust.«
Vhalla verstaute Elecias Schriftstücke und den Kompass in der Kuriertasche, als sie in der Hand der Majorin etwas Silbernes aufblitzen sah.
»Und eine Waffe.«
Vhalla nahm den kleinen nadelartigen Dolch entgegen, den sie mit Daniel in Estrela gekauft hatte. Eilig half ihr Elecia dabei, ihn am Arm zu befestigen.
»Warum tut Ihr das alles?«, flüsterte Vhalla. Das war mehr als die Liebe einer Untertanin zu ihrem Prinzen. Majorin Reale musste doch wissen, dass sie den Zorn des Kaisers auf sich ziehen würde, wenn sie Vhalla bei ihrem Vorhaben half.
»Ganz gleich, wo wir uns gerade befinden, der Turm kümmert sich selbst um seine Belange.«
Die Worte der Majorin brachten das Gefühlschaos in Vhalla vorübergehend zum Stillstand. Die Wachsoldaten vor Aldriks Zelt, Elecia und jetzt die Majorin. Wie viele andere kämpften wohl ihren eigenen Kampf als Magier in einer Welt, die ihnen nur Ablehnung entgegenbrachte? Vhalla ballte die Fäuste.
»Und jetzt ab mit dir.« Majorin Reale warf einen kurzen Blick über die Schulter. »Wenn das Biest hier losgaloppiert, wird es alle aufwecken. Du aber schaust nicht zurück, Yarl, hast du mich verstanden?«
Vhalla nickte und schwang sich in Bastons Sattel. Es kam ihr vor, als säße sie auf dem Rücken eines Riesen. Das Streitross war größer als viele Männer und sein kraftstrotzender Leib wirkte beruhigend auf die Windläuferin.
»Halte dein Wort«, flüsterte Elecia und trat zurück.
»Und du das deine.« Vhalla schaute in Elecias smaragdgrünen Augen. So besiegelten sie ihren Pakt um das Leben des Prinzen.
Während Vhalla nach den Zügeln griff und dabei all ihren Mut zusammennahm, zogen sich Majorin Reale und Elecia hastig in ein Gebüsch zurück. Vhallas letzter Blick galt dem behelfsmäßigen Zelt, in dem der Kronprinz lag. Ihr Herz pumpte Schmerz und Schuldgefühle durch ihre Adern und Vhalla spürte, wie sich beides in qualvoller Geschwindigkeit in ihrem ganzen Körper ausbreitete.
Sie drückte ihre Schenkel in Bastons Flanken. Als sie den Wind unter seine Hufe sandte, geriet das Pferd für einen kurzen Moment ins Straucheln. Aber das Schlachtross war ein intelligentes Tier und lernte rasch, der Reiterin zu vertrauen, die er als würdig erachtet hatte. Er trug Vhalla aus dem Lager, das in heillosem Chaos erwachte, vorbei an den Soldaten in schwarzer Rüstung auf der Wehrmauer und hinein in das unbekannte Dunkel.
ZWEI
Durch das dichte Blätterdach der Bäume drang kaum Mondlicht. Zweige zerkratzten trotz ihrer Kleidung Vhallas Beine, als sie sich vom Lager entfernte und so gut wie blind immer tiefer in den dunklen Wald hineinritt. Schon bald ließ sie den Lärm der jäh erwachten kaiserlichen Armee hinter sich. Das abebbende Getöse vermengte sich mit dem Rascheln im Unterholz.
Sie hätte nicht sagen können, was lauter dröhnte: der Schlag ihres Herzens oder Bastons Huftritte. Das hier war entweder das Klügste oder das Dümmste, was sie je getan hatte. Vhalla duckte sich, machte sich ganz klein auf Bastons Rücken, um nicht von einem niedrig hängenden Ast aus dem Sattel gehoben zu werden. Sie verließ ihren Posten; sie missachtete den Willen des Kaisers – des Mannes, dessen Eigentum sie war.
Mit jedem Akt des Ungehorsams hatte sie ihre Entscheidung aufs Neue getroffen. Von dem Moment an, in dem sie am Rand der Schlucht seine Truppen um sich geschart hatte, hatte sie eine rote Linie überschritten. Mochte der Kaiser auch über ihren Körper gebieten, über ihr Herz oder ihren Verstand gebot er nicht.
Das Urteil des Senats klang ihr in den Ohren. Sollte sie sich ihrer Pflicht entziehen, wird sie durch das Feuer des Kronprinzen sterben. Durch das magische Feuer eines Mannes, der sie gar nicht verletzen konnte. Und zwar wegen des Bandes, das zwischen ihnen bestand. Vhalla ballte die Hände und öffnete ihren Magiefluss so weit, wie es ging. Sie würde Erfolg haben und sie würden leben, oder sie würde versagen und sie würden sterben. Eine andere Möglichkeit gab es nicht.
Über den Lärm, den das Pferd im dichten Unterholz erzeugte, machte sie sich keine Gedanken. Bestimmt klang es wie Donnergrollen und fühlte sich an wie ein Erdbeben. Und sie selbst war nicht mehr als ein schwarzer Streifen in der Nacht. Mit dem Wind unter Bastons Hufen konnte niemand sie einholen.
Vhalla zog den Kompass aus ihrer Tasche und wartete auf ein bisschen Mondlicht, um die Richtung zu überprüfen. Sie ritt geradewegs nach Norden, wie geplant. Wenn ein Trupp Soldaten es in sieben Tagen schaffte, konnte sie es in dreien. Nein. Sie schüttelte energisch den Kopf. Sie würde es in zwei Tagen schaffen.
Doch in ihrer Magengrube nisteten sich Zweifel ein, die von Angst genährt wurden. Wenn sie nicht schnell genug war, wenn Elecia ihr Versprechen nicht halten konnte, würde Aldrik sterben. Der erste Mann, den sie wirklich aufrichtig liebte, würde sterben, während sie viele Tagesritte entfernt war. Er würde sterben, ohne dass sie sich von ihm verabschiedet hatte.
Vhalla schob die zerstörerischen Gedanken mit aller Macht beiseite. Nein! Aldrik würde leben. Jeder Schlag ihres Herzens sagte ihr das. Durch das Band konnte sie auch seinen Herzschlag spüren – die beruhigende Antwort auf ihre Zweifel. Noch immer waren sie durch die Zusammenführung miteinander verschmolzen, und dadurch wusste Vhalla, dass Aldrik am Leben war.
In strammem Tempo galoppierte Baston durch die Nacht. Das Pferd schien nicht zu ermüden, sodass Vhalla keine Pause einlegen musste und sich stattdessen im Sattel ihrer Erschöpfung hingeben konnte, die sie bei Anbruch der Dämmerung überfiel. Über ihr wurden die Äste der riesigen Bäume in flammendes Morgenlicht getaucht, dann in ein blasseres Orange und schließlich in gewöhnliches Tageslicht. Vhalla wurde nicht langsamer.
Im Gegenteil, sie trieb das Pferd noch mehr an. Tagsüber mussten sie noch schneller sein. Schließlich waren sie nun nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen und deshalb gezwungen, jeden möglichen Feind abzuhängen.
Die Sonne war bereits im Sinken begriffen, als die Bewaldung spärlicher wurde und Vhalla Baston zügeln musste. Entsetzt starrte sie auf das Wasser, das sich bis zum Horizont erstreckte. Kliffe ragten wie felsige Finger in die spiegelglatte Oberfläche. Panisch zog Vhalla den Kompass hervor. Den ganzen Tag lang hatte sie ihn wie besessen im Blick behalten und war nicht von ihrem Kurs abgewichen.
War sie schon an der Küste? Vhalla hatte viel über das Meer gehört. Eine gewaltige Menge Wasser von unvergleichlicher Größe. Seeleute erzählten sich Geschichten über die Gefahren des Meeres. Über Wellen, die ein ganzes Schiff verschlingen konnten, wenn sie brachen, über Seeungeheuer und über Piraten, die auf den Inseln zwischen dem Großen Kontinent und dem sagenumwobenen, brutalen Halbmondkontinent lauerten. Manche Seeleute behaupteten sogar, die Welt ginge noch darüber hinaus, aber die meisten hielten diesen Gedanken für vollkommen abwegig.
An den bebenden Flanken des Pferdes merkte Vhalla, dass Baston an seine Grenzen kam. Wie sie war er nur ein sterbliches Wesen und musste sich endlich ausruhen. Vhalla blinzelte und aktivierte ihre magische Sicht.
Um sie herum erstand die Welt neu. Bäume und Pflanzen nahmen diffuse Grautöne an. In ihrer unmittelbaren Umgebung konnte Vhalla keinerlei Bewegung entdecken – weder von gewöhnlichen Menschen noch von Magiern. Also wagte sie sich bis zum felsigen Strand vor.
Sie lenkte Baston zum Fuß einer Klippe, die vom Wald wegführte und am Wassersaum eine kleine höhlenartige Bucht bildete. Diese bot genug Platz für Pferd und Reiterin, um sich zu verbergen.
Als Vhalla abstieg, drohten ihre Beine vor Erschöpfung nachzugeben. Auch wenn sie schon den ganzen Kontinent auf einem Pferderücken durchquert hatte: Was sie gerade vollbracht hatte, war ein gänzlich anderer Ritt. Ihre Oberschenkel waren aufgescheuert und wund. Vhalla watete ins Wasser und empfand es so kühlend und lindernd, wie sie gehofft hatte.
Verblüfft stellte sie fest, dass es Süßwasser war. Über das Meer hatte sie immer nur gelesen, es sei salzig und nicht trinkbar. Doch als Vhalla mit dem Kopf unter die glasklare Oberfläche tauchte, merkte sie, wie gut man das Wasser trinken konnte.
Sie war gänzlich ausgedörrt, deshalb gelang es ihr nur mit Mühe, sich zurückzuhalten und nicht zu viel auf einmal zu schlucken. Sobald sie wieder im Sattel saß, würde sie dem Ruf der Natur nicht mehr nachgeben können und ihr aufgeblähter Magen würde sie mit Übelkeit plagen.
Vhalla legte den Kopf in den Nacken, damit sie nicht noch mehr trank, und blickte in den strahlend blauen Himmel. Es war eine ganze Woche her, seit sie zuletzt den freien Himmel gesehen hatte, und erst jetzt begriff sie, wie sehr ihr das gefehlt hatte.
Mit schweren, nassen Kleidern schleppte sie sich zum Strand zurück und brach neben Baston zusammen. Seriens Schutzmauer aus steinerner Härte bekam Risse und zerfiel. Zurück blieb eine Vhalla, die sich fühlte, als sei sie gerade an Land gespült worden. Tränen brannten in ihren Augen.
Sie zog die Knie an die Brust und presste die Stirn gegen die nasse Wolle. Statt sich dem Kummer hinzugeben, der seit Wochen ihr ständiger Begleiter war – dem Kummer über Larels Tod, darüber, so weit weg zu sein von allen, die sie je geliebt hatte, von allem, was sie gekannt hatte, und nun auch noch dem Kummer über Aldriks Lage –, dachte sie lieber an Landkarten und an das, was sie über den Norden gelesen hatte.
Sie ignorierte das Kribbeln ihrer Lippen, als sie sich dabei an die Küsse erinnerte, die Aldrik und sie in der Nacht, ehe sie in den Norden vorgedrungen waren, genossen hatten. Stattdessen überlegte Vhalla, wo sie sich wohl befand, und kam zu dem Schluss, dass es der Io-See sein musste. Sie verbannte Fitz’ besorgten Blick aus ihrem Kopf und versuchte einfach alle Informationen herunterzubeten, die sie über den größten Süßwassersee auf dem Großen Kontinent besaß.
Sie konnte nicht sagen, wann ihr die Augen zugefallen waren, doch als sie blinzelnd erwachte, stand die Sonne schon tief am Himmel. Mit schmerzverzerrtem Gesicht dehnte Vhalla ihre steifen Beine. Sie hatte vielleicht drei Stunden geschlafen. Das musste reichen.
»Aldrik«, flüsterte sie, »ich besorge dir schon bald Hilfe.«
Dieses Versprechen verlieh ihr neue Entschlossenheit und sie wiederholte es im Geiste immer wieder, während sie ihre Muskeln lockerte. Aldrik, Aldrik, Aldrik. Sein Name unterstrich jede qualvolle Bewegung, mit der Vhalla sich wieder an Bastons Rhythmus gewöhnte. Sie würde allen Schmerz auskosten, von ihren zitternden Muskeln bis zu ihrem wehen Herzen. Sie wollte sich nicht länger auf das kalte, gegürtete Herz von Serien verlassen. Vhalla musste dies hier ohne Hilfe tun. Aldriks Leben konnte nur durch ihre Hand zurückgewonnen werden.
Blindlings galoppierte Vhalla in den Tag hinein. Geschickt manövrierte Baston um Bäume herum und wich niedrigen Zweigen aus. Das Pferd schien neuen Schwung bekommen zu haben und spornte sich selbst zu einem gestreckten Galopp an. Vhallas Magiefluss war noch immer schwach, aber sie nutzte das bisschen Magie, um seinen Hufen noch mehr Wucht zu verleihen. Dazu verbot sie sich jede innere Debatte, ob sie Aldrik weiterer Kraft beraubte, indem sie ihre Magie anzapfte. Egal was sie tat, sie war verdammt, deshalb konzentrierte sie sich darauf, voranzukommen.
Dämmerung senkte sich über alles, der Tag ging in den Abend über. Immer wieder fielen Vhalla die Augen zu. Vom Sturz in die Tiefe hatte sie zahlreiche Verletzungen davongetragen, und jede dieser Wunden, sei sie auch noch so oberflächlich, riss nun wieder auf und blutete. Schließlich zwangen Bastons und ihre eigene Erschöpfung sie dazu, das Tempo zu drosseln. Lieber ritt sie im Trab oder Schritt – Hauptsache, sie blieben nicht ganz stehen. Die wenigen Stunden, die Vhalla geschlafen hatte, lasteten bereits schwer auf ihrem Gewissen.
Gegen die Müdigkeit anblinzelnd versuchte sie den Weg auszumachen. An dieser Stelle war das Blätterdach besonders dicht, sodass kein Funken Licht hindurchdrang. Vhalla legte den Kopf in den Nacken und hielt nach einer Lücke zwischen den Bäumen Ausschau, um im Mondlicht etwas erkennen zu können.
Und dann blieb ihr das Herz stehen.
Ganz hoch oben, sodass sie den Mond verdeckten, sah sie die Silhouetten von Behausungen und Laufstegen, die in die Bäume und zwischen die Äste gebaut waren. Vhalla hatte in Büchern über die Himmelsstädte des Nordens gelesen. Doch in den Büchern hatte es mehr wie eine Fantasie und nicht wie eine Tatsache geklungen. Obwohl sie sich jetzt direkt unter einer solchen Himmelsstadt befand, traute Vhalla ihren Augen kaum angesichts der Gebäude, die in und um die Baumkronen herum errichtet worden waren.
Sie zügelte Baston, bewegte sich nur noch ganz langsam vorwärts. Mit einem Blinzeln wechselte sie zum magischen Sehen und bekam vor Schreck fast keine Luft mehr. Hoch über ihr, in den dunklen Umrissen der Gebäude, entdeckte sie das unverwechselbare Leuchten von Menschen. Nicht nur ein paar, sondern eine ganze Menge – in jedem Baum und in fast jedem Gebäude. Mitten in der Nacht war sie von allen Seiten umzingelt.
Vorsichtig setzte sie die Kapuze ihres Kettenhemds auf, zog nochmals die Zügel an. Das Pferd ging jetzt fast geräuschlos. Vhalla atmete flach, während ihr Herz hämmernd in ihrer Brust schlug.
Als sie die Behausungen beinahe hinter sich gelassen hatte, brannten ihre Lungen von den panischen, flachen Atemzügen. Fast wären sie unbemerkt entkommen, doch dann wieherte Baston und schüttelte protestierend den Kopf, weil Vhalla wieder nervös an den Zügeln zog. Das Klirren seines Zaumzeugs klingelte in ihren Ohren und schien für Ewigkeiten nachzuhallen. Was offenbar auch alle übrigen Ohren hörten, denn auf einmal regten sich die Menschen über ihr und Fackeln flammten auf.
Vhalla ließ die Zügel schnalzen, grub ihre Absätze in Bastons Flanken und trieb ihn zum Äußersten an. Von oben hörte sie das Gebrüll des erwachenden Feindes.
Vielstimmige, melodisch klingende Rufe in einer für Vhalla vollkommen fremden Sprache gellten durch die Nacht. Aber sie musste die Worte nicht verstehen, um zu wissen, dass sie nicht freundlich gemeint waren, und so duckte sie sich noch tiefer auf Bastons Rücken. Sie schnappte nach Luft, als sie hörte, wie über ihrem Kopf Pfeile in Bogen eingelegt wurden.
Das Geräusch unzähliger Bogensehnen, die gleichzeitig gespannt wurden, jagte eine Gänsehaut über Vhallas Arme. Noch ein Ruf, ein einzelnes Wort, und Pfeile durchschnitten die Luft – entsandt, um den Tod auf sie herabregnen zu lassen. Und auch wenn sie darauf vertraute, dass ihr Kettenhemd sie schützte: Das Pferd trug keinerlei Rüstung. Wenn Baston starb, war sie selbst so gut wie tot. Vhalla drehte sich im Sattel um und fuhr mit der Hand durch die Luft. Der Vorhang aus Wind ließ die Pfeile harmlos zu Boden prasseln.
Empörte, von Angst beherrschte Rufe erklangen, weil sie noch immer unverletzt war.
Der zweite Angriff kam schneller und steigerte Vhallas Frustration. War sie denn nicht bald außerhalb ihrer Reichweite? Überall flammten nun Lichter auf, über ihr und hinter ihr, sodass der Waldboden in schwaches Licht getaucht war. Jetzt sah man das Ende der Himmelsstadt und Vhalla musste darauf setzen, dass ihre Feinde sie nicht mehr einholen würden, sobald sie ihre Behausungen hinter sich gelassen hatte.
Die Pfeile segelten durch die Luft und wieder lenkte Vhalla sie mit ihrem Wind ab. Sie rechnete mit einem dritten Angriffssignal, doch was sie stattdessen hörte, war noch beunruhigender: ein Wort, gerufen in gewöhnlichem Südländisch mit starkem Akzent.
»Winddämonin!«
Vhalla war zu ihrer Beute geworden. In einiger Entfernung hinter ihr ertönte das Donnern von Hufen.
Vhalla ritt unter den letzten Ausläufern der Himmelsstadt hindurch und hinein in die willkommene Dunkelheit. Wäre es gestern gewesen, hätte sie sich keinen Augenblick um ihre Verfolger gesorgt. Baston war schneller als jedes gewöhnliche Pferd – vereint mit ihrem Wind war er schneller als der Donner am Himmel. Aber Baston hatte einen harten Ritt hinter sich und nur kurze Zeit gerastet.
Wieder wechselte Vhalla zur magischen Sicht und schaute kurz über die Schulter. In der Ferne sah sie, wie vier Reiter ihr unbarmherzig nachsetzten.
Schwitzend, keuchend und die Zügel fest umklammernd legte Vhalla all ihre Energie in den Wind, der sie und Baston beflügelte. Mehr … sie beide mussten sich noch mehr anstrengen. In ihrer wilden Entschlossenheit hätte sie das Surren eines Pfeils in der Luft beinahe nicht gehört.
Im letzten Moment streckte Vhalla den Arm aus und bremste den Pfeil im Flug ab. Dann ballte sie die Faust und riss den Arm nach hinten. Der Pfeil änderte die Richtung und schoss auf seinen ursprünglichen Absender zu. Sie sah, wie er das Auge des Nordländers durchbohrte, auf den sie gezeigt hatte. Der Mann sackte zusammen und stürzte aus dem Sattel. Kurz wandte Vhalla den Blick ab, während das Geschrei der übrigen Verfolger lauter wurde.
Augen, sie musste immer auf die Augen zielen. Ob es sich nun um Erdgebieter mit Panzerhaut handelte oder nicht: Sie durfte kein Risiko eingehen, denn allzu viele Versuche blieben ihr nicht. Ein weiterer Reiter hob den Bogen und wartete auf die nächste Gelegenheit für einen Schuss.
Baston atmete bereits schwer, Vhalla musste ihre Verfolger also dringend abschütteln. Sie saßen auf ausgeruhten Pferden und hatten ihr einige Stunden Schlaf voraus. Vhalla drehte sich um und streckte einen Finger aus. Mit einer Aufwärtsbewegung ihrer Hand löste sich ein Pfeil aus dem Köcher des Bogenschützen. Eine kurze Drehung ihres Handgelenks und der scharfe Fokus einer Attentäterin – schon sandte Vhalla den Pfeil in das Auge des ahnungslosen Nordländers.
Doch dann lenkte einer der beiden verbliebenen Verfolger sein Pferd nach links, während seine Gefährtin Vhalla weiterhin nachsetzte. Der Mann beschrieb einen weiten Bogen und Vhalla begriff, dass die beiden sie in die Zange nehmen wollten. Sie griff nach dem schmalen Dolch an ihrem Handgelenk und zielte damit erfolgreich auf das Auge des Mannes.
Inzwischen hatte die Frau Vhalla eingeholt. Sie hob ihre sichelartige Klinge, um sie auf Bastons Hinterhand niedersausen zu lassen. Vhalla streckte den anderen Arm aus, sodass die Nordländerin kopfüber vom Pferd stürzte. Es war kein Zufall, dass sie sich dabei mit ihrem eigenen Schwert die Kehle aufschlitzte.
Abwartend hob Vhalla die Hand, und nach einem kurzen Moment kehrte ihr Dolch zu ihr zurück. Sie wischte das Blut an ihrem Oberschenkel ab und steckte ihn rasch zurück in das Armholster. Dann griff sie nach den Zügeln und unterdrückte den Impuls, Baston laut anzufeuern. Das Pferd würde nicht schneller laufen, weil sie es anbrüllte. Stattdessen würde sie nur ihren Standort preisgeben.
Vhalla presste die Lippen aufeinander. Die vier Nordländer waren nicht die ersten Menschen, die sie getötet hatte. Sie hatte in der Nacht des Feuers und des Windes getötet, sie hatte Larels Mörder getötet, und am Rand der Tiefe hatte sie sogar mit bloßen Händen getötet.
Zu akzeptieren, was sie tun musste, hatte sich bereits tief in ihr verankert. Wie leicht es ihr inzwischen fiel, ihre Feinde niederzustrecken, ohne auch nur einen einzigen davon als echten Menschen zu betrachten, zeigte Vhalla, wie weit sie den Pfad schon beschritten hatte, den sie nie hatte beschreiten wollen. Sie waren Wesen, Feinde, Hindernisse, aber sie waren nicht menschlich.
Abgelenkt von ihrem inneren Aufruhr traf sie der Angriff aus den Bäumen vollkommen unvorbereitet. Ein Erdgebieter schwang sich von oben herab und hieb mit dem Schwert nach ihrem Hinterkopf. In letzter Sekunde versuchte Vhalla auszuweichen, aber es war zu spät. Die Klinge glitt zwar an den Metallringen ihrer Kapuze ab, trotzdem wurde ihr kurz schwarz vor Augen.
Vhalla blinzelte und versuchte, wieder zu Sinnen zu kommen, während sie Baston vorwärtsdrängte und den Angreifer hinter sich ließ. Über ihr in den Bäumen sprangen Erdgebieter von Ast zu Ast – frei und ohne Furcht. Ranken erwachten zum Leben und glitten in ihre ausgestreckten Hände, sodass sie sich durch die Luft schwingen konnten. Mit einer Drehung oder einem raschen Zerren zog sich ihre Rettungsleine dann wieder zusammen und wickelte sich um Äste, um die Erdgebieter nach oben zu ziehen.
Gern hätte Vhalla ihre virtuosen Bewegungen bestaunt; vielleicht hätte sie es sogar getan, wenn diese Leute nicht vorgehabt hätten, sie zu töten. Ein weitere Mann schwang tief über sie hinweg und Vhalla kippte blitzschnell im Sattel zur Seite, um ihm auszuweichen. Sofort richtete sie sich wieder auf und zog ihren Dolch, während ein dritter Mann auf sie zu schwang. Sie schickte ihre Waffe los, damit sie die Ranke durchtrennte, an der sich der Erdgebieter festhielt.
Der Mann stürzte herab, doch Vhallas Verstand spielte verrückt und zeigte ihr das Bild eines anderen fallenden Körpers.
Knurrend richtete sie ihren Dolch auf den nächsten Nordländer, den sie entdecken konnte, und nahm auch hier die Ranke ins Visier. Sie würde ihnen zeigen, warum man nicht über dem Kopf einer Windläuferin herumbaumeln sollte. Der Körper des Mannes prallte mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden auf. Vhalla ritt weiter. Ein leichtes Schlenkern ihres Handgelenks reichte, und wieder kehrte ihr Dolch zu ihr zurück.
Bastons Tempo hatte sich weiter verlangsamt, und als Vhalla ihn mit dem Zügel antrieb, verweigerte er sich zum ersten Mal ihrem Befehl. Panik durchströmte sie.
Der Morgen brach an, und noch immer sprangen hoch oben Nordländer von Baum zu Baum, fünf Männer, um genau zu sein. Legten sie es darauf an, Reiterin und Pferd zu ermüden? Wenn sie an ihrer Stelle wäre, würde sie das Gleiche tun. Bastons Flanken bebten vor Erschöpfung.
Die permanente Anwesenheit ihrer Feinde machte Vhalla nervös. Mit angehaltenem Atem beobachtete sie die Nordländer, wartete auf ihre nächste Attacke. Eine weitere Stunde verging, und Baston fiel in einen langsamen Trott. Jetzt würden die fünf garantiert angreifen. Doch die Männer schwangen sich einfach von Ast zu Ast, die sich ihren Händen und Füßen bereitwillig entgegenbogen.
Sie spielten mit ihr wie Katzen mit einer Maus.
Die Frage war, wer zuerst ermüden würde. Wer würde den ersten Fehler begehen und so sein Leben verwirken?
Langsam griff Vhalla in die Tasche an ihrer Hüfte – hoch über ihr blieb alles unverändert – und warf einen kurzen Blick auf den Kompass. Zum Glück hatte sie noch immer die richtige Richtung eingeschlagen.
Um die Mittagszeit herum musste es dann doch einen stummen Befehl gegeben haben, denn das Unterholz am Waldboden begann sie zu umschließen, glitt auf sie zu, als wäre es lebendig. Vhalla ließ die Zügel schnalzen und diesmal gehorchte das Pferd zum Glück. Sie zapfte ihre letzten Magiereserven an, während Baston zu galoppieren begann, beflügelt durch den Wind unter seinen Hufen.
Vielleicht konnte sie die Nordländer doch noch abschütteln.
Ihre Hoffnung wurde von einer Wurzel zerstört, die wie ein Speer aus dem Boden emporschoss. Das Pferd stieß einen furchtbaren Schrei aus und erbebte, durchbohrt von dem hölzernen Spieß. Auch Vhalla schrie auf, all ihre Hoffnung schwand dahin, als Bastons dampfendes Blut auf den Boden spritzte.
Auf diesen Moment hatten ihre Feinde gewartet, sie ließen sich alle an Ranken herabfallen. Vhalla befreite sich hastig von den Steigbügeln und zog gleichzeitig die einzige reale Waffe, die sie besaß, aus dem Armholster. Sie rutschte rücklings von Baston und schleuderte dabei den Dolch. Er beschrieb einen weiten Bogen, durchtrennte die erste Ranke und zum Teil auch eine zweite, dann verfing er sich in dem zusammenschnurrenden Strang und zerbrach. Aber er hatte sein Werk vollbracht und beide Nordländer stürzten herab.
Vhalla rollte über den Boden. Am Rand ihres Bewusstseins nahm sie ein schwaches, leises Pochen wahr: den Herzschlag des Mannes, den sie zu retten versuchte, und der sie auf seine Weise schützte – trotz der Entfernung zwischen ihnen und trotz seiner schweren Verletzungen.
Einer der verbliebenen Nordländer trat den Rückzug nach oben an, aber die zwei anderen landeten bei Vhalla. Baston stampfte wütend und versuchte sich von dem hölzernen Stachel zu befreien, der ihn langsam tötete.
»Winddämonin«, knurrte der eine Mann, richtete sein Schwert auf ihre Kehle und ließ leichtfertigerweise zu, dass sie sich aufsetzte. In einer Sprache, die Vhalla nicht verstand, sagte er ein paar verächtlich klingende Worte zu dem anderen Mann, der sich hinter sie gestellt hatte, und Vhalla nutzte die Gelegenheit: Mit einer Bewegung des Handgelenks entzog sie dem Nordländer vor sich das Schwert. Sie drehte den Kopf zur Seite und sah, wie es das Auge des Mannes hinter ihr durchbohrte.
Sie bekam einen Stiefeltritt gegen die Schläfe und nutzte ihren Fall, um über den Boden zu rollen und so dem zweiten Schwert des Mannes auszuweichen, das sich prompt neben ihr in die Erde bohrte. Hastig griff Vhalla nach der Waffe des gefallenen Nordländers und kam dann zittrig auf die Beine. Ihr Gegner machte einen wohlplatzierten Ausfallschritt und der Wald schien den Atem anzuhalten, als ihre Blicke sich kreuzten.
Dann stürzte Vhalla sich auf ihn und ließ zu, dass der Nordländer sie entwaffnete. Der Mann grinste in trügerischem Triumph, bis Vhalla ihm mit der Hand den Mund verschloss. Sein Gesicht zerbarst, begleitet von Vhallas gequältem Schrei, weil sie alles, was sie noch an Windmagie aufbringen konnte, durch seine Kehle gezwängt hatte.
Blutbespritzt und zitternd schaute Vhalla nach oben, wo der fünfte Krieger über ihr in den Bäumen verharrte.
»Flieh!«, brüllte sie. »Flieh, oder du erleidest das Schicksal deiner Freunde.« Sie hatte keine Ahnung, ob er ihre Wort verstand, aber sie wusste, was er mit angesehen hatte. »Und spute dich, denn du musst schneller sein als der Wind!«