Water's War (Die Chroniken von Solaris 4) - Elise Kova - E-Book
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Elise Kova

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Beschreibung

Band 4 der magischen Romantasy-Saga, voller Action, Drama und einer bittersüßen Liebe zum Dahinschmelzen! Vhalla hat für Kaiser Solaris den Sieg errungen und so ihre Freiheit erlangt. Doch der Preis ist hoch: Unschuldige mussten sterben – und Vhallas Herz wurde gebrochen. Und der wahre Kampf beginnt erst. Denn die verborgenen Mächte, die schon so lange an den Fäden von Vhallas Schicksal zerren, kommen endlich ans Licht. Nirgendwo ist die Windläuferin sicher, und sie muss mit Bedacht handeln, um nicht in die wartenden Arme ihres größten Feindes zu fallen. Oder in die ihres einstigen Geliebten … Alle fünf Bände der Serie »Die Chroniken von Solaris«: Air Awoken (Band 1) Fire Fallen (Band 2) Earth Ending (Band 3) Water's War (Band 4) Crystal Crown (Band 5)

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Elise Kova

Water’s War

Aus dem Englischen von Ann Lecker

*** Ein Spielball dunkler Mächte ***

Vhalla hat für Kaiser Solaris den Sieg errungen und so ihre Freiheit erlangt. Doch der Preis ist hoch: Unschuldige mussten sterben – und Vhallas Herz wurde gebrochen. Und der wahre Kampf beginnt erst. Denn die verborgenen Mächte, die schon so lange an den Fäden von Vhallas Schicksal zerren, kommen endlich ans Licht. Nirgendwo ist die Windläuferin sicher, und sie muss mit Bedacht handeln, um nicht in die wartenden Arme ihres größten Feindes zu fallen. Oder in die ihres einstigen Geliebten …

Düster, tragisch, herzergreifend – ein weiterer Höhepunkt der epische Romantasy-Saga!

Wohin soll es gehen?

Buch lesen

Landkarte

Danksagung

Viten

Für Monica und Meril,die mich seit dem Anfang der Reise begleiten

EINS

Ganz gleich, wie weit sie lief oder wie vielen Menschen sie begegnete, eine unsichtbare Hand zog Vhalla immer wieder zurück zu dem Kronprinzen des Kaiserreichs Solaris.

Sie konnte ihm nicht entfliehen. Selbst wenn sie einen halben Kontinent von ihm entfernt tief und fest schlief, verband sich ihr Geist mit seinem und ihre miteinander verflochtenen Gedanken quälten sie auf die schlimmste und zugleich wunderschönste Weise.

Es war nicht das erste Mal, dass sie seit dem Ende des Krieges in Shaldan von ihm träumte. Aber in all den vorherigen Erinnerungen, die sie gesehen hatte, war er noch ein Kind oder ein junger Mann gewesen. Nun drang sie in das Gedächtnis eines erwachsenen Prinzen ein, eines Prinzen, den sie so gut kannte, dass sie auf jede Narbe zeigen könnte, die seine Alabasterhaut unter seiner enganliegenden Uniform zeichneten.

In diesem Traum war Aldriks Kleidung so sauber, wie man es an der Front eben erwarten konnte. Doch er ließ die Schultern hängen, als wäre die Bürde seines Stands zu schwer geworden. Augen, die sonst wie schwarze Onyxe strahlten und von einem unvergänglichen inneren Feuer erleuchtet wurden, waren nunmehr so glanzlos wie Kohle und blickten aus einem eingefallenen, von dunklen Ringen getrübten Gesicht. Sein rabenschwarzes Haar war zerzaust, fiel ihm schlaff und strähnig in die Stirn. Dunkle Bartstoppeln bedeckten Kinn und Wangen und unterstrichen seine stets grimmige Miene.

Jedes seiner fünfundzwanzig Jahre ließ sich in Aldriks Gesicht ablesen und noch weitere fünfundzwanzig Jahre dazu.

Wie sein genaues Gegenteil stand neben ihm der goldene Prinz. Baldairs imposante Hand ruhte auf dem Heft des Schwertes an seiner Hüfte, und er warf seinem älteren Bruder immer wieder verstohlene Blicke zu. Seine Miene schwankte zwischen aufrichtigem Mitgefühl und der sehr realen Sorge, dass er den als Feuerlord bekannten, Furcht einflößenden Magier erneut würde niederringen müssen.

Sie warteten vor einer gigantischen Festung. Hohe Bäume ragten über den perfekten, magisch erschaffenen Mauern auf. Dort drinnen verweilte der Clan der Anführer einer einstmals Shaldan genannten Nation, die jetzt nur noch der »Norden« des Solaris-Reiches war. Bis auf das Bollwerk direkt vor ihr war Shaldans Hauptstadt Soricium dem Boden gleichgemacht worden. Vhalla kannte seine Mauern und Gänge in- und auswendig. In dieser Festung war sie Scharfrichterin gewesen. Sie hatte dabei geholfen, dieser ehemaligen Nation den Todesstoß zu versetzen.

Eine riesige Zugbrücke erwachte knirschend zum Leben, senkte sich langsam und legte den Blick auf vier Erdgebieter frei. Hinter ihnen wartete eine dreiköpfige Gruppe, umgeben von noch mehr Kriegern und Kriegerinnen. Sie hatten alle die dunkle waldgrüne Haut und das krause Haar der Nordländer. Ein stolzes und schönes Volk, das Vhalla in die Knie hatte zwingen müssen.

Das weibliche Oberhaupt des Clans der Anführer war groß und schlank, an ihrer Seite standen zwei Frauen – die als Za bekannte Bogenschützin, die versucht hatte, Vhalla zu töten, sowie ein hübsches junges Mädchen mit ersten weichen Kurven um Hüfte und Brust. Wenn ihr Körper seine Versprechen erfüllte, würde sie zu einer wunderschönen Frau heranwachsen.

Kaiser Solaris schritt nach vorne und traf den Clan der Anführer am Ende der Zugbrücke. Er wechselte ein paar Worte mit der Anführerin, doch Vhalla konnte nicht hören, was sie sagten. Der Mann, durch dessen Gedächtnis sie schweifte, ließ die Worte nur gedämpft zu ihr dringen, als wäre er in einen großen See eingetaucht. Aldrik stand steif wie ein Schwert da. Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete er das in Seidengewänder gekleidete Mädchen, das zur Rechten der Anführerin stand.

Das Kind, das seine Frau werden sollte.

Vhalla erwachte schweißgebadet. Die Träume waren nie einfach, und es fiel ihr nach wie vor schwer, ihn danach aus ihren Gedanken zu verbannen. Sie keuchte leise und lauschte. Die Luft war reglos und still – sie hatte im Schlaf also nicht aufgeschrien oder wild um sich geschlagen; die Frau, in deren Haus sie lebte, war nicht gestört worden.

Unwillkürlich fuhren ihre Finger über die Kette um ihren Hals und ruhten dann auf einer kleinen Uhr. Die Sonne und der Flügel, die in den Uhrendeckel eingraviert waren, drückten sich in Vhallas geschlossene Faust. Das frühe Morgenlicht ließ den Vorhang über dem scheibenlosen Fenster, das den Großteil der Wand neben ihrem Bett einnahm, in anderen Farben aufleuchten.

Sie hatte den Prinzen ihrer Träume seit fast vier Monaten nicht mehr gesehen – den Mann, der ihr mit dem Geschenk, das sie umklammerte, seine Zukunft versprochen hatte. Aber weder Zeit noch Entfernung konnten das Band zwischen ihnen schwächen. Es war eine magische Verbindung, die nur ein außergewöhnliches magisches Ereignis erschaffen konnte, und Vhalla wollte frustriert gegen die bedrückende Stille anschreien, die ihren Körper umgab, wenn ihr Geist und ihr Herz mit seinen Gefühlen erfüllt waren. Denn es bedeutete, dass sein Antlitz, seine Erinnerungen und seine Träume sie bis ans Ende ihrer Tage heimsuchen konnten.

Ganz gleich, wie weit sie lief, er würde überall auf sie warten.

Da sie bestimmt nicht wieder einschlafen würde, zog Vhalla sich an. Ihren weiten Hosenrock aus Leinen hielt sie mit einem Gürtel zusammen und knöpfte eine lange Jacke darüber, die aus demselben luftdurchlässigen Stoff gefertigt war. Zum Schluss wickelte sie sich noch einen breiten Schal um Kopf und Hals.

Alles, was sie je über die Mode des Westens gelesen hatte, traf zu. Die drückende Sommerhitze ließ sich am besten überstehen, indem man kein bisschen Haut der Sonne aussetzte, und die ständigen Winde durchdrangen den Stoff mühelos. Sich das Haar kürzen zu lassen, würde ihr zusätzliche Kühlung bringen – und gleichzeitig wäre sie die verbliebene Farbe an den dünnen Spitzen los. Doch Vhalla war fest entschlossen, es sich wieder lang wachsen zu lassen, und hatte noch niemandem erlaubt, Hand anzulegen.

In der Ecke ihres winzigen Zimmers zog Vhalla eine Falltür auf. Sie setzte die Füße auf die Sprossen einer engen Leiter und atmete tief ein. Dann ballte sie die Hände zu Fäusten und öffnete ihren Magiefluss. Sie hielt sich am Rand der Luke fest und nahm langsam die Füße von den Sprossen. Dann ließ sie los.

Statt in die Tiefe zu stürzen, schwebte Vhalla wie eine Feder hinunter. Sie streckte die Hände aus, für den Fall, dass der Abstieg misslang, aber die Vorsichtsmaßnahme erwies sich als unnötig. Heute bewegte sie sich langsamer nach unten als gestern und dreimal so langsam wie noch vor einer Woche. Vhallas Magie wurde stärker – oder sie wusste einfach besser mit ihr umzugehen. Sie behielt die magischen Luftkissen um ihre Füße, als wären sie Stiefel aus Wind, und ging geräuschlos durch den kleinen Wohnbereich.

Erst als sie fast am Ende des seitlichen Treppenaufgangs war, der hinunter in den kleinen schummrigen Buchladen führte, nahm sie ihre Magie zurück. Vhalla strich mit den Fingern über die Buchrücken in den engen Regalgängen. Manche Bücher waren groß, manche klein, manche alt und manche neu, aber jedes Buch trug seine eigene Geschichte in sich, und sie hatte bereits den Großteil dessen verschlungen, was der kleine Laden zu bieten hatte.

Sie warf die Fensterläden auf und ließ das dämmrige Licht des Morgens in den engen Raum ein. Bereits nach den ersten beiden Wochen im Buchladen hatte sie sich alle ihre Aufgaben eingeprägt. Jetzt, nach beinahe sechs Wochen, führte sie das Geschäft, ohne groß darüber nachzudenken: Sie öffnete zuerst die Fensterläden, dann verkeilte sie die Tür, damit der Raum nicht zu einem Backofen wurde. Ohne Wind ließ sich der Tag nicht überstehen. Doch er trug auch Sand herein, der sich zu Vhallas Entsetzen auf die Bücher legte, und so machte sie sich jeden Morgen sofort daran, sie abzustauben.

Als sie in der hintersten Ecke anlangte, kamen ihre Hände auf einem der Manuskripte ganz oben im Regal zum Ruhen, und ihr Staublappen geriet in Vergessenheit. Auf ihrem Hocker balancierend nahm sie das Buch heraus und fuhr mit den Fingerspitzen über den geprägten Einband: Kishn’si Coth. Da es gänzlich in der alten Sprache von Mhashan geschrieben war, hatte Vhalla es wochenlang links liegen lassen. Erst nachdem sie die meisten, in gewöhnlichem Südländisch verfassten Bücher verschlungen hatte, wandte sie sich dem Studium der Sprachen zu, und jetzt konnte sie endlich den Titel dieses speziellen Werks übersetzen.

»Das schon wieder?«, fragte eine korpulente Frau, die im Treppenaufgang stand, mit einem Gähnen.

Vhalla wäre beinahe von ihrem Hocker gestürzt. Zwar war Gianna keine Windläuferin, aber sie kannte ihr Haus und ihren Laden so gut, dass sie geräuschlos die Treppe hinunterging.

»Ich glaube, ich kann es schon fast lesen.« Vhalla zuckte gewollt lässig mit den Schultern und stellte das Buch zurück an seinen Platz.

»Yae, tokshi.« Die Frau schmunzelte.

Vhalla war nicht bereit, ein »noch nicht« zu akzeptieren. »Vah da.«

Ihre sorgfältige Aussprache zauberte ein breites Lächeln auf das Gesicht der Frau. »Warum bist du von dem Recken-Kodex so besessen? Niemand will es haben, selbst wenn ich Geld dafür böte.«

»Neugierde.« Zum Teil war das die Wahrheit. Zu einem kleinen Teil.

Sie war in den Westen nach Estrela gekommen, um allem zu entfliehen – um an einem Ort zu zu verweilen wo sie niemand und nichts sein konnte. Aber als sie in einem Manuskript über die Geschichte des Westens auf eine Erwähnung von Jadars Recken stieß, hatte sie sich vorgenommen, so viel wie möglich über die Gruppe herauszufinden.

Vhalla hatte zuvor nur die groben Fakten über sie gekannt: dass sie eine geheimnisvolle und unbestrittene Kraft waren, die König Jadar im alten Mhashan während des Völkermords an den Windläufern – der Zeit der Flammen – mit dem Ziel ins Leben gerufen hatte, den Willen des Königs auszuführen. Vor dem Krieg mit Shaldan hatte sie sich nicht viele Gedanken über die Recken gemacht, bis sie herausgefunden hatte, dass diese westländischen Fanatiker sich mit dem Norden gegen das Reich verbündet hatten. Durch ihre Lektüre füllte sie endlich immer mehr Wissenslücken und fand ein paar Antworten auf die Frage, warum diese Gruppierung sie, Vhalla, unbedingt zur Strecke bringen wollte.

»Frühstück?«, fragte die Frau.

»Bin nicht hungrig«, antwortete Vhalla wie jeden Morgen. Nach der ersten gemeinsamen Woche hatte Gianna es aufgegeben, sie zum Essen zu drängen. Früh am Morgen hatte Vhalla nie Hunger. Es gab zu viele Dinge, über die sie nachdenken und die sie für den Tag vorbereiten musste.

Vhalla hielt bereits eine Schreibfeder in der Hand, als Gianna das Zimmer verließ. Mit gewissenhafter Genauigkeit hielt die Magierin den Traum der vergangenen Nacht fest. Vielleicht mit zu großer Genauigkeit. Wütend strich Vhalla den Absatz durch, in dem sie Aldriks Haar, seine hageren Gesichtszüge und seine blasse Haut beschrieb.

Der Prinz war eine Erinnerung. Sie umklammerte die Uhr. Er war ein Überbleibsel aus einem anderen Abschnitt ihres Lebens, und sie musste lernen, ihn dort zu belassen. Doch mit jedem Tag erschien es ihr unmöglicher.

Mit einem Kopfschütteln verscheuchte Vhalla die Erinnerungen und konzentrierte sich wieder auf die Arbeit. Die Tage im Buchladen hatten ihr nicht nur vor Augen geführt, wie sehr sie den Geruch von Pergament oder das Gefühl gebundenen Leders liebte. Sie hatten ihr auch Zeit geschenkt, und Zeit gebar Gedanken. Und für sich selbst zu denken, war etwas, wofür sie schon viel zu lange keine Zeit mehr gehabt hatte.

Nach ihrem ersten Traum hatte sie damit angefangen, ihre Aldrik-Träume aufzuzeichnen. Anfangs hatte sie es aus Pflichtgefühl getan, weil sie ihm versprochen hatte, ihm davon zu erzählen, wenn sie von ihm träumte. Mit der Zeit schrieb sie dann alle Träume auf, die sie je von ihm gehabt hatte, und baute darauf auf. Seite um Seite füllte sie das Pergament mit Erinnerungen, von denen er ihr berichtet und die sie im Schlaf gesehen hatte, und mit ihrem gesamten Wissen der Geschichte des Kaiserreichs.

So fing sie an, Verbindungen zu bemerken.

Während sie durch die Seiten blätterte, kreiste sie mit ihrer grauen Feder neue Wörter ein und verunzierte ganze Absätze mit Pfeilen, Kringeln, Linien und noch mehr Anmerkungen. Vhalla stellte Verbindungen her, bei denen sie sich manchmal fragte, ob sie diese bloß erfand. Aber nach und nach nahm ein Bild Gestalt an – zu mühelos, als dass es Zufall sein konnte.

Prinz Aldrik Ci’Dan Solaris – Sohn von Fiera Ci’Dan und Kaiser Tiberus Solaris, ein Prinz aus zwei Welten, der bei seinen Feinden als Feuerlord bekannt war und seinen Verbündeten als unnahbar und abschreckend galt – hatte viel zu verbergen.

Vhalla wusste, dass er versucht hatte, sich das Leben zu nehmen, als er noch ein Junge war. Sie wusste, dass er mit vierzehn Jahren zum ersten Mal getötet hatte – das hatte er ihr selbst erzählt. Sie wusste, dass der Mann, den sie ebenso inbrünstig hasste wie den Kaiser – der Oberste Senator Egmun –, für das erste Blut an den Händen des Prinzen verantwortlich war. Ihre Feder hielt bei einem Datum inne.

Vhalla stand auf und ging zu der kleinen Abteilung mit den Geschichtsbüchern hinüber. Sie behandelten größtenteils westländische Geschichte, aber es gab auch ein allgemeines Geschichtswerk, auf das sie sich stützte. Wieder an ihrem Schreibtisch schlug Vhalla das Buch auf und blätterte durch die Seiten. Der Krieg der Kristallhöhlen, sie ließ den Finger auf dem Jahr ruhen, an dem der Krieg begonnen hatte.

Dreihundertsiebenunddreißig.

Das war von Bedeutung. Es konnte einfach kein Zufall sein. Aldriks Hass auf Kristalle und Egmun, die Schuld, die auf ihm lastete … Aber wie?

»Entschuldigung?«, rief ein Kunde, woraufhin Vhalla sich wieder auf ihre Arbeit im Laden konzentrierte.

Ihre Tage vergingen auf dieselbe Art und Weise, aufgeteilt zwischen dem Führen des Buchladens, ihren Studien und Sprachunterricht mit Gianna am Abend. Zwei weitere Wochen schlüpften Vhalla durch die Finger, ehe sie den Recken-Kodex aufschlug, und selbst dann fiel ihr die Lektüre schwer.

»Tokshi.« Gianna stützte die Hände auf den Schreibtisch.

Vhalla richtete sich auf. Ihr Rücken schmerzte, weil sie so konzentriert über das Buch gebeugt dagesessen hatte, und ihre Finger taten ihr vom vielen Notizenmachen weh.

»Das Abendessen ist fertig. Mach Feierabend.« In Giannas Tonfall schwang mit, dass sie mehr zu sagen hatte, während Vhalla die Läden herunterzog. »Warum liest du wie eine Verrückte?«

»Ich lese gern.« Vhalla lächelte. Das war nicht gänzlich gelogen.

»In der Tat«, stimmte Gianna zu. »Aber dieses Buch gefällt dir nicht.« Sie klopfte auf den Recken-Kodex und stellte ihn zurück in sein Regal.

Vhalla bedachte den Wälzer mit einem bösen Blick, als hätte das gebundene Pergament sie hintergangen und Gianna den wahren Grund für Vhallas Interesse verraten.

»Warum liest du etwas, das dir nicht gefällt? Warum speziell dieses Buch?«

»Wisst Ihr über Jadars Recken Bescheid?«, fragte Vhalla.

Gianna spannte sich sichtlich an. »Warum fragst du?«

Der Blick der Frau schnellte zur offenen Tür, und Vhalla schob sie zu, um ihrer Gastgeberin zumindest die Illusion von Privatsphäre zu gewähren. »Ich möchte einfach mehr über sie wissen.«

»Das ist nichts, das ausgerechnet dich interessieren sollte.« Gianna wusste, wer Vhalla war. Vhalla hatte die freundliche Frau, die sie beherbergte, nie angelogen, und sie hatte während ihrer vielen gemeinsamen Abendessen ihre eigene Geschichte in groben Zügen erzählt. Vielleicht respektierte die Frau die Privatsphäre der Windläuferin und ihren Wunsch, anonym zu bleiben, gerade weil sie genau wusste, wer Vhalla war, und nannte sie deshalb auch nur tokshi – Westländisch für Schülerin.

»Warum?« Vhalla wusste, warum, aber sie wollte Giannas Gründe hören.

Gianna seufzte.

»Sagt es mir.«

»Das Abendessen ist fertig.« Die Ladenbesitzerin drehte sich um und ging auf die Treppe zu. »Komm und iss. Wenn du nicht ab und an etwas zu dir nimmst, wird dich noch der Wind davontragen.«

Vhalla gehorchte stumm. Sie hielt sich auch weiterhin zurück, als sie beide am Tisch saßen und anfingen, Giannas Reis-Hackfleisch-Eintopf zu essen.

»Ich werde dir eine Geschichte erzählen«, sagte Gianna schließlich. »Und dann musst du dieses Buch ein für alle Mal weglegen.«

»Das kann ich Euch nicht versprechen.«

»Versuchs?«

»Das hängt von der Geschichte ab.« Vhalla schob ihr Hackfleisch auf dem Teller herum.

»Du bist mir vielleicht eine.« Die Frau schmunzelte kopfschüttelnd. »Du könntest mich auch einfach anlügen, um mich zu beschwichtigen.«

»In diesem Leben reicht es mir mit den Lügen.« Vhalla hob den Blick.

Gianna hielt inne und musterte Vhallas Gesicht. Sie holte tief Luft und begann. »Jadars Recken existieren seit über hundertfünfzig Jahren und waren nicht immer eine verschwiegene Organisation wie heutzutage, bloße Fanatiker, die sich an die alten Sitten klammern. Die Geschichten erzählen von einer anderen Zeit, die noch nicht allzu lange zurückliegt. Damals streckten Frauen die Hände nach ihnen aus und Männer riefen ihre Namen, wenn sie durch die Straßen ritten.«

Vhalla lehnte sich in ihrem Stuhl vor. Gianna erzählte ihre Geschichte mit einer gewissen Ehrerbietung und einer Sehnsucht nach vergangenen Zeiten, die Vhalla nicht recht nachvollziehen konnte. Die Frau war zu Beginn des Krieges im Westen und beim Niedergang der Recken gewiss noch ein Kleinkind gewesen.

»Sie waren die Besten der Besten. Sie beschützten die Schwachen, kämpften für Mhashan und verteidigten unsere Lebensweise. Zu den Ihren gerechnet zu werden, war die höchste Ehre.«

Vhalla biss sich auf die Zunge, um nicht einzuwenden, dass die Recken schon lange zuvor, während der Zeit der Flammen, unzählige Windläufer auf Geheiß des Königs hingerichtet hatten.

»Doch als der letzte König von Mhashan getötet wurde, als die Ci’Dan-Familie das Knie vor dem Kaiser beugte und Prinzessin Fiera in seine Familie einheiratete … wurden die Recken zurückgewiesen. Sie versuchten, eine Rebellion anzuzetteln. Die Prinzessin und Lord Ci’Dan taten alles, um sie davon abzubringen, aber alle ihre Versuche waren vergebens.«

»Warum?« Vhallas Essen blieb unangerührt.

»Die Recken behaupteten, sie besäßen das Schwert von Jadar.« Vhalla schüttelte den Kopf, um anzudeuten, dass sie nicht wusste, wovon die Frau sprach. »König Jadar war ein großartiger Feuerzähmer, vererbte seine Magie jedoch nur an einen seiner Söhne.«

»Magie liegt nicht im Blut, sie kann nicht vererbt werden.« Vhalla wusste das nur zu gut, denn ihre Eltern waren beide Unberufene.

»Nein …«, stimmte Gianna halbherzig zu. »Das ist wahr, aber … Die Magie innerhalb einer Familie hat etwas Besonderes. Gewiss, auch Unberufene können Magier hervorbringen, doch für gewöhnlich lässt sich schon irgendwo im Stammbaum der Familie Magie finden. Es ist nicht unmöglich, aber es kommt seltener vor, dass sie sich nicht schon vorher gezeigt hat. Wie auch immer, es hieß, König Jadar habe ein Schwert geschmiedet, das seine Macht in sich trug, und es einem seiner Söhne geschenkt. Dieser Sohn wurde zum Anführer von Jadars Recken, und es hieß, dass er unschlagbar wäre, solange er das Schwert schwang.«

»Und was ist mit dem Schwert passiert?«, fragte Vhalla.

»Wer weiß?« Gianna zuckte mit den Schultern. »Ich bezweifle, dass es das Schwert überhaupt jemals gegeben hat. König Jadar ist selbst mehr als legendär.«

Vhalla presste die Lippen aufeinander, um sich daran zu erinnern, den Mund zu halten. Wie fast alle Menschen aus dem Westen, denen sie bisher begegnet war, hatte Gianna ihren Stolz. Und auch wenn sie so fortschrittlich eingestellt war, dass sie keinen Hass gegenüber Vhalla als Windläuferin hegte, wollte Vhalla die Großzügigkeit der Frau nicht auf die Probe stellen, indem sie schlecht von dem berüchtigten westländischen König sprach.

»Was geschah mit der Rebellion der Recken?«, fragte Vhalla stattdessen.

»Ich vermute, sie wurden ihrer überdrüssig.« Gianna hatte offensichtlich nicht viel darüber nachgedacht. »Nach dem Tod unserer Prinzessin waren eine ganze Weile lang alle im Westen wie gelähmt.«

Mehr sagte Gianna nicht über die Recken, und Vhalla hakte nicht nach. Allerdings kehrte sie am nächsten Morgen zu dem Recken-Kodex zurück und suchte nach einem Hinweis auf ein Schwert, auf Jadars Testament, auf irgendetwas. Doch die zweitägige mühsame Übersetzungsarbeit ergab nichts und zehrte nur an ihren strapazierten Nerven.

»Gianna«, rief Vhalla und stand auf. Die Frau erschien oben. »Die Tinte wird knapp. Ich gehe schnell welche kaufen.«

»Ich gebe dir Geld.«

»Ist nicht nötig.« Vhalla schüttelte den Kopf und schnappte sich ihre Tasche von einem Haken hinter dem Schreibtisch.

»Lass mich dich doch wenigstens bezahlen.« Gianna stemmte die Hände in die Hüften. »Du arbeitest schon seit Wochen hier.«

»Ich habe Gold.« Vhalla klopfte auf ihre Tasche. »Und ich habe die ganze Tinte für meine persönlichen Angelegenheiten aufgebraucht.«

»Dem kann ich nichts entgegensetzen«, erwiderte Gianna leichthin.

Vhalla trat aus dem Laden auf die staubige Straße und zog ihren Schal über den Kopf, um ihr ostländisches braunes Haar zu verstecken. Für ostländische Verhältnisse war es nichts Besonderes, aber im Vergleich zu den schwarzen Haaren der Westländer war ihres so gut wie golden. In Estrela lebten Menschen aus allen Ecken des Großen Kontinents. Doch bei ihren letzten paar Marktbesuchen war ihr aufgefallen, dass immer mehr Soldatinnen und Soldaten von der Front nach Hause zurückkehrten, und sie wollte auf keinen Fall wiedererkannt werden.

Auf dem Weg zu den Hauptmärkten schlängelte sich Vhalla um Karren herum und trat leichtfüßig über die Gallepfützen von den Ausschweifungen des Vorabends. Über ihr flatterten Wimpel, die Vhalla demonstrativ nicht beachtete. Auf zwei westländische Wimpel kam einer des Kaiserreichs. Und auf zwei Wimpel des Kaiserreichs kam ein schwarzer mit einem silbernen Flügel – ein silberner Flügel, der dem auf der Uhr um ihren Hals glich und seit der Schlacht um Soricium zum Synonym für die Windläuferin geworden war.

Geschichten verbreiteten sich so schnell wie der Wind, und Vhalla hatte unzählige Unterhaltungen über die Windläuferin belauscht. Eine Frau, die in der Nacht des Feuers und des Windes Gestalt annahm und teils aus ihrem eigenen Wind, teils aus den Flammen des Kronprinzen bestand. Eine Frau, die Shaldan in die Knie gezwungen hatte und während des letzten Gefechts des Nordens Feuer aus dem Himmel hatte regnen lassen.

Vhalla fand das faszinierend. Sie hatte vor langer Zeit gelernt, dass Gerüchte und ein Ruf so mühelos geschmiedet werden konnten wie eine Rüstung. Aber darunter war sie nach wie vor sterblich. Eine Sterbliche, die blutete, wenn man ihr zu tief ins Fleisch schnitt, und unter dem größten Fluch des Lebens litt: dem Tod.

»Schließt Ihr?« Als Vhalla ihren bevorzugten Gemischtwarenladen erreichte, musste sie feststellen, dass der Besitzer gerade abschloss.

»Für heute.« Der Mann nickte, als er sie als eine seiner Stammkundinnen erkannte.

»Könnte ich Tinte haben?«

»Es tut mir leid, aber es ist schon spät …«

»Ich gebe Euch zwei Silbermünzen«, unterbrach Vhalla ihn.

Der Mann hielt kurz inne, ehe er den Schlüssel wieder in die andere Richtung drehte. »Aber beeilt Euch.«

Das war nicht schwer. Vhalla wusste genau, wo er seine Schreibwaren lagerte, und bediente sich großzügig. In Sekundenschnelle war ihre Tasche zwei Tintenfässer schwerer und zwei Silbermünzen leichter.

»Warum schließt Ihr so früh?« Vhalla konnte ihre Neugierde nicht unterdrücken, als sie wieder gemeinsam auf der Straße waren.

»Habt Ihr es nicht gehört? Lord Ci’Dan trifft noch vor der kaiserlichen Armee hier ein und hält Audienzen für die Öffentlichkeit ab.« Der Ladeninhaber machte sich zum Stadtzentrum auf, und Vhalla schritt neben ihm her. Er beäugte sie von oben bis unten und beschleunigte dann seinen Gang. »Aber Adlige haben Vorrang, dann Grundbesitzer, dann Händler, dann Westländer …« Der Mann bemerkte ihre bernsteinfarbenen Augen. »Ich bezweifle, dass ihm noch Zeit für andere Leute bleiben wird.«

Der Anflug eines Grinsens umspielte Vhallas Lippen. »Keine Sorge, ich werde Euch Euren Platz nicht streitig machen und habe auch nicht vor, mit den Konventionen zu brechen.«

Sie schlenderte neben dem Händler her durch Estrela. Immer mehr Menschen strömten im Sonnenschein zum Nabel der Welt. Vhalla richtete noch einmal ihren Schal und stellte sich dann auf den Sockel eines Laternenpfahls – ein Platz, der ihr einen guten Überblick bot. Kurz darauf konnte sie mitverfolgen, wie eine Gruppe Adlige hereinritt, begleitet von Jubel und Winken der Menge.

Auf dem größten Streitross saß ein Mann mit kurzem schwarzem Haar, grauen Schläfen und einem gestutzten Kinnbart. Er war das ältere Ebenbild eines Mitglieds der königlichen Familie, das sie gut kannte – die Familienähnlichkeit zwischen ihm und Aldrik war verblüffend. Vhalla klammerte sich fester an den Laternenpfahl, sie war die Einzige, die den Ci’Dan-Namen nicht schrie.

Aldrik hatte ihr vor der Schlacht im Norden nahegelegt, seinen Onkel aufzusuchen, sollte er fallen, denn er vertraute darauf, dass der Lord des Westens für ihr Wohl sorgen würde. Der Prinz hatte ihr auch erklärt, dass sie bei seinem Onkel sicherer aufgehoben sein würde als bei sonst irgendjemandem, weil Lord Ci’Dan die Bewegungen von Jadars Recken kannte. Diese Erinnerung versetzte ihr einen heftigen Stich, aber Vhalla ignorierte den Schmerz. Sie musste herausfinden, ob es der Wahrheit entsprach.

Sie brauchte Antworten.

ZWEI

Die lange Warteschlange von Menschen, die sich eine Audienz mit Lord Ci’Dan erhofften, zog sich um das Zentrum von Estrela herum und schlängelte sich außer Sichtweite den Marktplatz hinunter. Vhalla fragte sich, wie viele seiner Untertanen der Lord wohl an einem Tag empfangen konnte. Sie beobachtete, wie der stete Strom an Bittstellern und Bittstellerinnen das prachtvolle Gebäude, dessen Fassade von drei riesigen, runden Fenstern dominiert wurde, betrat und wieder verließ.

Es erinnerte sie an den Tag, an dem ihr Vater sie zum Palast gebracht hatte, um seinen Platz in der Palastwache, der ihm nach dem Krieg der Kristallhöhlen zustand, gegen eine Elevinnenstelle für seine Tochter zu tauschen. Ihre Gefühle an jenem Tag schienen sich jetzt in den Mienen der einfachen Menschen, die auf ihr Treffen mit dem Lord des Westens warteten, widerzuspiegeln: Aufregung, Hoffnung und freudige Erwartung. Sie rutschte den Laternenpfahl hinunter, setzte sich auf den Sockel und trat leicht mit den Fersen dagegen.

Sie war jetzt älter und kannte sich besser aus in der Welt. Lord Ci’Dans Berater arbeiteten mit Eifer daran, jede Person auf ihre Audienz vorzubereiten. Wenn die Wartenden schließlich vor Lord Ci’Dan traten, war er bereits darüber unterrichtet worden, was seine Berater für die beste Entscheidung hielten, und teilte diese der jeweiligen Person mit, die vorgesprochen hatte. Vhalla wusste inzwischen, dass die Aufgabe eines Regenten darin bestand, Illusionen zu nähren. Die Menschen waren glücklich, weil sie das Gefühl hatten, ihr Lord würde ihnen Gehör schenken, dabei war ihr Schicksal besiegelt, noch ehe sie überhaupt vor ihn traten.

Sie war mit der Absicht hierhergekommen, Antworten zu finden, doch jetzt war sich Vhalla unsicher, wie sie vorgehen sollte. Natürlich würde er sich Zeit für sie nehmen, wenn sie einfach hereinspaziert kam. Schließlich war sie Vhalla Yarl, Herzogin des Westens, Lady am Hof des Südens, Heldin des Nordens und die Windläuferin. Ihr Name war so unnötig kompliziert geworden.

Aber so würde sie nur Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Es würde ihr den dünnen Schleier der Anonymität vom Gesicht reißen, den sie sich umgelegt hatte, indem sie in den Westen statt in den Osten oder den Süden gegangen war. Darüber hinaus zogen ihre Fragen vermutlich lange Antworten nach sich, und das würde wiederum bedeuten, dass sie all den aufgeregten und geduldig wartenden Westländern und Westländerinnen die Zeit stahl.

Die Sonne wanderte träge über den Himmel und brachte Vhalla schließlich dazu, ihren Sitzplatz aufzugeben, doch die Wartenden um sie herum ließen sich von der Hitze nicht aus der Schlange vertreiben. Vhalla fand eine schattige Ecke und rückte ihre Umhängetasche zurecht, um sich zu setzen. Ein leises Klimpern erklang. Vhalla funkelte die Goldmünzen im Innern böse an, als sie ihr Notizbuch herausnahm.

Sie hatte entdeckt, dass Aldrik sie durch ihre Erhebung in den Stand einer Lady zu einer unfassbar reichen Frau gemacht hatte. Die Bediensteten der kaiserlichen Bank hatten sich erst gar nicht die Mühe gemacht, zu zählen, wie viel Geld sie abhob, und jetzt hatte sie genug für zehn Leben. Sie fuhr mit den Fingern über das schwarze Notizbuch, in dem sie Aldriks Erinnerungen und Geschichten aufzeichnete.

Was tat sie da eigentlich?

Diese Frage beschlich sie in regelmäßigen Abständen. Sie hatte sich von all den Menschen und Umständen losgesagt, die sie in den Norden gebracht hatten. Die Freundschaften, die sie unterwegs geschlossen hatte, würde sie dennoch für immer in ihrem Herzen tragen. Aber sie war zu so viel Geld gekommen, dass sie zurück in den Osten gehen, das Heim ihrer Familie neu aufbauen und dafür sorgen konnte, dass ihr Vater mit seinen alternden Gelenken bei jeder Ernte ausreichend Hilfe hatte. Und es würde immer noch genügend übrig bleiben, damit er sich niemals Sorgen um Dürren oder Plagen machen musste. Sie hatte genug Geld, um ein Schiff zu kaufen und davonzusegeln. Sie konnte gehen, wohin sie wollte, und alles tun, was ihr beliebte. Sie musste nicht in den Süden zurückkehren.

Vhalla stand auf.

Der einzige Ort, an den sie gehen wollte, war der Ort, an dem sie nicht mehr sein konnte. Dieser Ort war von Lügen und Verrat umgeben. Dort war es so heiß, dass es einem selbst in der glühenden Sonne der Westländischen Wüste vergleichsweise kühl erscheinen würde.

Estrela war in der Nachmittagshitze verstummt. Weniger Menschen wurden zum Lord des Westens vorgelassen, und weniger neue Leute stellten sich in der Sonne bereitwillig in die Warteschlange.

Und so marschierte ein gut gekleideter Adliger in die Mitte des Platzes vor dem Prachtbau und schlug mit einem Stock auf den Boden, um auf sich aufmerksam zu machen. »Lord Ci’Dan wird sich während der Mittagshitze ausruhen. Die Audienzen werden am Abend wieder aufgenommen.« Als ein missbilligendes Raunen durch die Menge ging, benutzte der Mann seinen Stock ein weiters Mal. »Bleibt nicht in der Schlange stehen, wir werden bei eurer Rückkehr eine neue Reihenfolge festlegen.«

Vhalla beobachtete, wie die Menschen widerwillig ihre begehrten Plätze aufgaben. Wie viele würden wohl zurückkehren, und wie würde man mit ihnen verfahren? Einige schienen so entmutigt, dass sie bestimmt nicht zurückkommen würden. Sie hörte, wie manche darüber spekulierten, dass der Lord des Westens an diesem Tag wahrscheinlich niemanden mehr empfangen würde.

Als ihr bewusst wurde, dass das ihre Chance war, schlenderte sie zu dem Prachtbau hinüber, schob sich an ein paar Wachen vorbei und stieg mit gemurmelten Entschuldigungen die Treppe hinauf. Niemand befragte Vhalla, als ein letzter Schwung Adliger an ihr vorbeidrängte und sie schlüpfte hinein.

Sie brauchte nicht lange, um herauszufinden, in welchem Zimmer der Lord sich aufhielt. Die samtigen Untertöne seiner Stimme ließen die Wände vibrieren.

»Entschuldigung.« Eine Bedienstete hielt sie auf. »Was tut Ihr hier?«

»Ich habe eine Audienz mit Lord Ci’Dan«, erklärte Vhalla so gebieterisch wie eine Adlige. Es war ein Auftreten, das ihr eigentlich nicht passte.

»Er befindet sich gerade mitten in einem Gespräch. Ihr solltet später zusammen mit allen anderen zurückkommen.« Die Frau betrachtete Vhalla abschätzig.

»Er wird mich sehen wollen. Vermutlich bekleide ich einen höheren Rang als die Person, mit der er gerade spricht.«

»Ach, wirklich?« Die Bedienstete war skeptisch. Doch nicht skeptisch genug, um die Tatsache zu ignorieren, dass sie sich dem höherrangigen Gast würde fügen müssen, sollte Vhalla die Wahrheit sagen. »Wie lautet Euer Titel?«

»Herzogin des Westens«, antwortete Vhalla und nutzte die Würde, die ihr Lord Ci’Dan verliehen hatte.

Die Frau stutzte kurz, während sie zu begreifen versuchte, warum eine Nicht-Westländerin einen solchen Titel tragen durfte. Sie kniff die Augen zusammen und beugte sich leicht vor, um Vhallas Gesicht unter dem Schal besser zu sehen. Überrascht riss die Frau die Augen auf. »Ihr müsst … Ihr seid …«

»Lassen wir es dabei.« Vhalla hob lächelnd eine Hand. »Ich hätte jetzt sehr gerne eine Audienz.«

»Gewiss, gewiss!« Die Bedienstete rannte los.

Vhalla richtete sorgsam ihren Schal. Es gefiel ihr, wenn Leute sich vorbeugen mussten, um ihre Augen zu sehen. Denn so wusste sie immer, wenn jemand sie erkannte – einer der Vorteile, kleiner als die meisten Menschen zu sein. Sie erstarrte, als ein Mann aus dem Zimmer geführt wurde. Vhallas Kiefer spannte sich an, und heulender Wind erfüllte ihre Ohren.

Major Schnurr war für seinen Schnäuzer bestens bekannt. Aber Vhalla kannte ihn aus anderen Gründen – er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, ihre Position zu untergraben, und wäre ihr allzu williger Henker gewesen, hätte Aldrik nicht ihre Freiheit im Tausch gegen seine Heirat mit der nordländischen Prinzessin erkauft. Der Major drehte sich um, und Vhalla presste die Lippen aufeinander. Sie sah, wie er die Augen aufriss und den Mund verzog.

An seinem Arm trug er eine Binde in westländischem Purpur, viele Soldaten zeigten so ihren Stolz auf ihr Heimatland. Doch auf seiner Armbinde prangte auch der Sonnen-Phönix des Westens mit einem Schwert in seinen Krallen. Es handelte sich um eine Abänderung der westländischen Standarte und wurde insbesondere von Jadars Recken bevorzugt.

Es war eine kühne Zurschaustellung, und Vhalla warf ihm einen furchtlosen und finsteren Blick zu, der ihre Missbilligung ausdrückte. Der Recke ließ sich davon nicht verunsichern. Stattdessen war er vielmehr belustigt. Bei der Mutter, an der Front hatte Vhalla Schnurr verdächtigt, der Verräter im Kriegsrat gewesen zu sein. Sie hätte ihn schon im Norden töten sollen. Jetzt könnte er zum Problem werden.

»Herein«, dröhnte eine tiefe Stimme aus einem Seitenraum.

Vhalla kehrte dem Major demonstrativ den Rücken zu und marschierte los, um den Lord des Westens zu treffen.

Wandschirme aus Papier öffneten sich auf einen kleinen Innengarten, von dessen Existenz Vhalla bei ihren vorherigen Besuchen in dieser königlichen Unterkunft nichts gewusst hatte. Vhalla strauchelte beinahe, als der Wind einen Rosenduft zu ihr herübertrug, der ihre Sinne übermannte. Der liebliche Geruch versetzte ihr einen Stich, und sie bekam plötzlich keine Luft mehr. Die westländisch-purpurnen Blumen wuchsen in üppiger Pracht und waren sich ihrer Macht über sie nicht bewusst.

Aldrik. Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen.

Die Silhouette eines Mannes hob sich von dem strahlenden Licht des Gartens ab. Lord Ci’Dan trug eine ärmellose Jacke und eine Leinenhose, die ähnlich geschnitten war wie ihre. Seine Hose war jedoch aus viel feinerem Stoff und mit Perlen und Edelsteinen bestickt. Die komplizierten, leuchtenden Muster erinnerten Vhalla an den Anblick der Sonne, die sich in einem Wasserlilienteich widerspiegelte.

Lord Ci’Dan drehte sich um, und die Frage in seinem Blick hing schwer in der Luft. Er hatte dem Kaiser die magischen Handschellen zur Verfügung gestellt, die Vhalla im Norden angelegt worden waren. Es schien nicht von Bedeutung, ob er wusste, dass man ihre Hände damit gefesselt hatte. Es war dem Lord des Westens anzusehen, dass er nicht einschätzen konnte, wie er der Windläuferin begegnen sollte.

»Fiarum evantes«, begrüßte Vhalla ihn auf westländische Art. Ihr Blick war fest, aber ihr Tonfall sanft genug, um ihre Absichten zu vermitteln.

»Kotun un nox.« Die Schultern des Lords entspannten sich, und er verzog die Lippen zu einem Lächeln. »Es ist schön, Euch wiederzusehen, Lady Yarl.«

»Ich kann aufrichtig dasselbe sagen, Lord Ci’Dan.« Sie lächelte ebenfalls, während sie sich mit einem bittersüßen Gefühl an ihre letzte Begegnung mit Aldriks Onkel erinnerte. »Und nennt mich einfach Vhalla.«

»In dem Fall muss ich darauf bestehen, dass du mich Ophain nennst.« Als könnte er spüren, dass sie protestieren wollte, redete der Lord weiter und machte somit klar, dass die Sache nicht zur Diskussion stand: »Was für einen Anblick du bietest. Du trägst die Gewänder meines Volkes und sprichst gewandt unsere Sprache.« Er betrachtete sie nachdenklich. »Und trotz seiner Verlobung mit einer nordländischen Braut, wie mir zu Ohren gekommen ist, trägst du das Geschenk meines Neffen.«

»Ich möchte mit Euch sprechen.« Vhalla bemühte sich, die Konzentration nicht zu verlieren, wenngleich sie instinktiv nach Aldriks Uhr griff. Sie musste wohl über ihren Schal gerutscht sein, als sie beim Warten damit gespielt hatte.

»Das habe ich vermutet.« Der Lord nickte.

Die Tür ging auf, und eine Dienerin brachte ein Tablett mit Essen und dem auf Eis servierten schwarzen Tee herein, den man im Westen bevorzugte.

Vhalla nahm sich bewusst Zeit für ihre Antwort, denn sie wollte sich nicht in den so vertraut wirkenden endlos schwarzen Augen des Lords verlieren. »Ich sollte mich wohl dafür entschuldigen, dass ich nicht im Voraus eine Unterredung mit Euch vereinbart habe.«

»Du gehörst zu den Menschen, die mir immer willkommen sind.« Der Lord schenkte ihr ein vielsagendes, müdes Lächeln und zeigte auf einen der Stühle an dem Tisch, auf dem das Essen und die Getränke standen.

Vhalla nahm Platz, zog den Schal vom Kopf und ließ sich erneut vom Duft der Rosen ablenken.

»Sie waren nicht immer so beliebt.« Lord Ci’Dan folgte ihrem Blick hinaus zum Garten. »Meine Schwester liebte sie, und die Menschen wussten das. Diese Vorliebe der Prinzessin für sie, zusammen mit der Farbe, hat die Rosen zu einem Sinnbild für Mhashan gemacht.«

»Ihr meint Prinzessin Fiera?«, hakte Vhalla nach, denn sie vermutete, dass er nicht von seinen beiden lebenden Schwestern sprach.

Er gab einen zustimmenden Laut von sich. »Ihr Garten in Norin ist einer der schönsten der Welt.«

»Das ist der Grund, warum Aldrik seinen Rosenpavillon hat, nicht wahr?«, sinnierte Vhalla leise.

»In der Tat.« Sie hatte keine Antwort erwartet, aber Lord Ci’Dan gab ihr sogar noch eine zusätzliche Erklärung: »Der Kaiser ließ ihn als ein Willkommensgeschenk für seine Gemahlin bauen, als sie in den Süden zog, doch sie bekam ihn nie zu sehen.«

Vhalla wandte sich vom Garten ab und begegnete dem Blick des Lords. »Ich habe Fragen an Euch.«

»Und ich habe auch Fragen an dich.« Lord Ci’Dan schenkte sich ein wenig Tee ein, der sich in der Mittagshitze erwärmte.

Vhalla verlagerte ihr Gewicht. Es war ihr nicht in den Sinn gekommen, dass er ebenfalls neugierig sein könnte. Das Heer war noch nicht von der Front zurückgekehrt, und die Informationen, über die er verfügte, beschränkten sich daher wohl auf Briefe und Berichte von heimkehrenden Soldaten und Soldatinnen. Niemand von denen hatte denselben tiefen Einblick wie sie.

»Ich würde gern anfangen«, sagte sie schnell. Falls der Lord etwas von ihr wissen wollte, das sie nicht preiszugeben gedachte, dann hätte sie so zumindest die Chance auf eine erste Antwort, ehe sie wieder ging.

»Ich habe nicht vor, dieses Treffen zu überstürzen.« Ophain bedeutete ihr, fortzufahren.

Vhalla kaute auf ihrer Unterlippe und überlegte, wie sie es am elegantesten angehen könnte. Sie wusste, dass Aldrik von Lord Ci’Dan gelernt hatte, und das bedeutete, dass der ältere Mann darin bewandert war, unbequemen Fragen auszuweichen. Und im Gegensatz zu Aldrik konnte sie nicht einfach verlangen, dass er ihr die Wahrheit sagte über alles, was sie wissen wollte.

»Gibt es das Schwert von Jadar wirklich?«, fragte Vhalla schließlich. Es war die eine Sache, für die sie keine schlüssigen Beweise in irgendwelchen Manuskripten finden konnte. Und wenn man den Legenden Glauben schenken durfte, würde er ihr keinesfalls darauf antworten können, ohne die Recken zu erwähnen.

Lord Ci’Dan lehnte sich in seinem Stuhl zurück, ein anerkennendes Grinsen umspielte seine Mundwinkel. »Du willst über die Recken Bescheid wissen.«

Es war keine Frage, und Vhalla verbarg ihre Absichten nicht. Sie nickte bestimmt. »Und über das Schwert.«

»Wie kommst du darauf, dass ich etwas darüber weiß?«

»Aldrik hat es mir gesagt.« Ihr Austausch war wie ein Degentanz. Scharf, spitz, elegant und jederzeit gewillt, die Dinge auf den Punkt zu bringen.

»Was ist zwischen dir und meinem Neffen vorgefallen?«

Obwohl Vhalla gewusst hatte, dass diese Fragen kommen würde, konnte sie den schweren Seufzer nicht unterdrücken: »Sagt mir zuerst: Gibt es das Schwert wirklich?«

»Ja«, lenkte der Lord schließlich ein.

Sie hielt den Atem an. Mit dieser Antwort hatte sie nicht gerechnet. »Ist es im Besitz der Recken?«

»Vielleicht«, antwortete Lord Ci’Dan vage und sprach weiter, ehe sie nachhaken konnte. »Du und Aldrik?«

Sie griff nach dem dunklen Tee, den sie nicht besonders mochte, und ließ die harschen Erinnerungen an Aldrik von seiner Bitterkeit hinwegspülen. Sie wünschte, es wäre noch etwas Stärkeres daruntergemischt.

»Er hat seine Freiheit gegen meine getauscht«, flüsterte sie. »Er war töricht und verantwortungslos, und ich habe mich manipulieren lassen. Das Feuer brannte zu heiß, und wir haben es erst bemerkt, als alles schon in Flammen stand.« Vhalla fingerte an dem eiskalten Glas herum.

»Ich habe mir große Sorgen um ihn gemacht«, begann Ophain. »Die wenigen Briefe, die ich erhielt, gaben mir Anlass zur Besorgnis, was seinen Geisteszustand betrifft. Eine Zeit lang waren die Berichte meiner Enkelin nicht sehr ermutigend.«

»Eine Zeit lang?« Es überraschte Vhalla nicht, dass Elecia und Ophain miteinander korrespondiert hatten. Dann ging es Elecia wohl weiterhin gut, worüber Vhalla aufrichtig erleichtert war.

»Ich habe gehört, dass er nicht mehr trinkt. Oder vielmehr, dass er daran arbeitet.« Lord Ci’Dan nahm ebenfalls einen Schluck Tee und ließ die Information wirken. »Nachdem er mehrere Wochen Zittern, Schweißausbrüche und Unwohlsein hinter sich gebracht hatte, war er endlich in der Lage, seine Männer aktiver zu führen. Er geht die Dinge jetzt um einiges gemäßigter an.«

Vhalla lachte bitter. »Unsere Beziehung zu beenden, war also das Beste, was ihm passieren konnte.«

»Dich zu lieben, ist das Beste, was ihm passieren konnte.« Lord Ci’Dans Worte ließen sie verstummen. Er hatte das Präsens benutzt. Ist, nicht war.

»Ihr sagtet, die Recken hätten das Schwert?« Vhalla brachte die Unterhaltung zurück in sicherere Gefilde.

»Ich sagte ›vielleicht‹«, betonte der Lord.

Sie blickte finster. »Wie kann man etwas ›vielleicht‹ besitzen?«

»Darüber solltest du dir keine Gedanken machen.« Auch er runzelte jetzt die Stirn.

»Ophain …«

»Ich kümmere mich darum, Wahnsinnige wie die Recken im Zaum zu halten, damit meine Untertanen und verehrte Gäste des Westens wie du sich keine Sorgen zu machen brauchen.«

»Ich weiß nicht, warum Ihr glaubt, Ihr würdet mich schützen, indem Ihr mich im Dunkeln lasst. Aber das wäre unklug, Lord Ci’Dan.« Vhalla stellte vorsichtig ihr Glas auf den Tisch und richtete sich auf. So wie eine Adlige es tun würde, dehnte sie behutsam ihre Worte. »Die Recken haben mich ins Visier genommen, und ich kann mir nicht vorstellen, dass sie mich jemals in Ruhe lassen werden. Indem Ihr versucht, mir die Wahrheit vorzuenthalten, erweist Ihr mir einen schlechten Dienst.«

»Du wirst das weiterverfolgen, ganz gleich, was ich sage?«

»Ja«, bekräftigte Vhalla.

Der Lord seufzte schwer und strich sich über die Bartstoppeln an seinem Kinn. »Nun gut. Das Schwert wurde nicht von König Jadar geschmiedet, wie die Legenden behaupten. Der König war lediglich derjenige, der es fand.«

Vhalla rutschte, ohne es zu merken, an den Rand ihres Stuhls, während Lord Ci’Dan sprach.

»Er war von der Macht des Schwertes so besessen, dass er alles dafür tun wollte, um noch mehr solcher Waffen zu erschaffen, eine Armee damit zu bewaffnen und mit ihnen die Welt zu erobern. Sein Streben danach trieb ihn in den Wahnsinn. Der Sohn, der ihm auf den Thron folgte, betraute seinen Bruder damit, das Schwert für immer verschwinden zu lassen, nachdem es ihren Vater in den Wahnsinn getrieben hatte. Doch dieser behielt es heimlich für Jadars Recken.« Lord Ci’Dan hielt inne und wählte seine Worte sorgsam. »Durch Jadars Recken verblieb es im Besitz der Ci’Dan-Familie, bis der Krieg im Westen endete – und dann ging es verloren.«

»Dann könnten die Recken es also noch in ihrem Besitz haben?« Vhalla wusste, dass er ihr etwas verschwieg.

»Es wäre möglich, aber ich bezweifle das sehr«, antwortete er kryptisch. »Es ist weitaus wahrscheinlicher, dass es für immer verloren ist.«

»Wie könnt Ihr Euch da so sicher sein?«

»Wenn irgendjemand es besitzen würde, wäre diese Person inzwischen schon zu einem Monster geworden, daher habe ich wenig Anlass zur Sorge«, erklärte Ophain bestimmt.

Vhalla riss schockiert die Augen auf. »Es war eine Kristallwaffe«, hauchte sie. Das alles ergab einen grauenvollen Sinn. Die Verdorbenheit der Kristalle zusammen mit den Verlockungen, die ihre Macht darstellten, konnte einen Menschen dazu bringen, Völkermord zu begehen.

»Dann weißt du also über diese Waffen Bescheid?« Lord Ci’Dan betrachtete sie mit Bedacht.

Vhalla nickte und zögerte plötzlich, als sie das Funkeln in den Augen des Westländers sah. Es wirkte nicht gefährlich, aber extrem verhalten und voller Angst.

»Ist sich Aldrik bewusst, dass du Bescheid weißt?«, fragte er.

»Er würde mir nicht glauben, wenn ich es ihm erzählen würde.« Tief in ihr keimte die Sorge darüber auf, wohin ihre Erkundigungen sie führen könnten.

Lord Ci’Dan stand auf und verschränkte die Hände hinter dem Rücken – genau so, wie Aldrik es immer machte. Er ging hinüber zu den offenen Wandschirmen und betrachtete den Garten. Vhalla ließ die Stille auf sich wirken, bis er erneut sprach.

»Ich bin ganz deiner Meinung, dass es nichts bringt, die Schatten der Vergangenheit meines Neffen wieder heraufzubeschwören. Schließlich gibt es keine anderen Kristallwaffen mehr, um die wir uns Sorgen machen müssen.«

Vhalla dachte einen langen Moment über ihre nächsten Worte nach. »Würden die Recken nach den Waffen suchen, wenn sie an ihre Existenz glaubten?«

»Unermüdlich.« Der Lord drehte sich um. »Genau, wie sie jetzt nach dir suchen, in dem Bestreben, mithilfe deiner Magie eine größere Macht zu erschaffen.«

»Major Schnurr …«

»Ist zu mir gekommen, um nach dir zu fragen.« Lord Ci’Dan runzelte die Stirn. »Der ganze Kontinent fragt sich, wo du bist.«

»Das geht niemanden etwas an.«

»Und doch werden sie es herausfinden. Wie du gewiss mitbekommen hast, werden die Recken immer kühner.« Der Lord gesellte sich wieder zu ihr und sah sie wie ein besorgter Vater an. »In den nächsten Tagen wird die Armee in Estrela eintreffen. Sobald sie hier ist, findet eine Feier zu Ehren meines Neffen statt. Der gesamte westländische Adel wird anwesend sein, und Aldrik wird keine andere Wahl haben, als den Feierlichkeiten beizuwohnen.«

Vhallas Herz fing an, wild zu schlagen.

»Du musst auch kommen«, verlangte er. »Sprich mit Aldrik. Er kann dich wie sonst niemand mit seinem Rang schützen. Kehre mit ihm in den Süden zurück und …«

»Nein!« Sie sprang auf. Obwohl sie einen Kopf kleiner war, gelang es ihr, auf ihn herabzusehen. »Ich brauche keinen Schutz. Ich kann mich selbst beschützen.«

»Du redest Unsinn.«

»Nicht mehr als Ihr«, gab sie scharf zurück. Der Lord war sichtlich überrascht und eindeutig nicht an eine solche Unverfrorenheit gewöhnt. »Sein Schutz hat einen Preis, den ich nicht zu bezahlen bereit bin.« Ihr Herz konnte ihm nicht mehr geben.

»Vhalla, ich versuche doch nur, euch zu helfen.« Ophains Miene war von Kummer verzerrt. »Dir und ihm.«

»Für uns gibt es keine Hilfe.« Vhalla verbeugte sich leicht. »Danke für Eure Zeit und Eure Antworten.«

»Warte.«

Sie blieb steif stehen.

Lord Ci’Dan durchquerte den Raum zu der Tür, neben der sie stand. Langsam zog er ihren Schal wieder vorsichtig über ihren Kopf. Die nahezu familiäre Berührung besänftigte ihr aufgewühltes Herz ein wenig.

»Bleib zumindest im Verborgenen. Sei vorsichtig, und, bei der Mutter, denk darüber nach, was du tust.«

Vhalla nickte.

»Und komm nach Norin, falls du jemals in Not sein solltest. Mein Schutz hat keinen Preis. Auch wenn ich nicht sehr viel gegen die Recken tun kann. Sie sind ein ziemliches Ärgernis, selbst für mich.«

Sie verzog das Gesicht und verbarg ihre Bitterkeit mit einem Lächeln. Sein Schutz hatte denselben Preis wie der Aldriks. Seine Hilfe anzunehmen, würde bedeuten, seine Familie anzunehmen. Dadurch würde sie Aldrik die Türen öffnen und unweigerlich wieder in seinen Bann gezogen werden. Und das hätte zur Folge, dass sie beide zusammenstoßen und wie sterbende Sterne erlöschen würden. Sie wäre nicht in der Lage, es aufzuhalten.

»Danke«, sagte sie und ging.

Auf dem Weg zurück zum Buchladen hielt Vhalla den Kopf gesenkt, ihre Umhängetasche wog schwer. Sie hielt nur kurz an, um sich neue Kleider zu besorgen. Die Sachen, die sie trug, musste sie loswerden. Major Schnurr hatte sie darin gesehen, und Vhalla hegte keinen Zweifel daran, dass er sie sich genau eingeprägt hatte.

Im Geschäft angekommen, nickte sie Gianna zu und schleppte sich die Treppe hinauf. Dabei überlegte sie, wie schon viele Male in den letzten Wochen, Estrella zu verlassen und nach Hause zurückzukehren. Aber wenn sie in den Osten ging, würden sie sie dort nur ebenso jagen.

Solange sie eine Windläuferin war, solange Leute wussten, dass sie sie für ihre Zwecke missbrauchen konnten, würde sie niemals frei sein. In ihrem Zimmer kniete Vhalla sich auf den Boden und durchwühlte einen Stapel Kleidung unter ihrem Bett. Ihre Finger ertasteten ein festes Bündel aus grober Baumwolle.

Sie holte es hervor und betrachtete die vertraute Form. Vhalla erinnerte sich daran, wie Daniel sein Hemd zerschnitten hatte, um ihr zu helfen, dieses Bündel zu schnüren. Ihr Blick auf ihr eigenes Herz war durch den größeren Abstand zu dem Schwertkämpfer klarer geworden, und Vhalla mochte die Frau nicht, die sie sah, wenn sie ihre Beziehung mit Daniel Revue passieren ließ. Ihr gefiel nicht, wie sehr sie sich auf seine Unterstützung verlassen hatte, wie sie es ausgenutzt hatte, dass er immer für sie da sein würde.

Aber dass ihr das jetzt klar geworden war, würde das Chaos der Vergangenheit nicht wieder in Ordnung bringen. Und am Ende blieb es eine unbestrittene Wahrheit: Er war ihr sehr wichtig. Er hatte es verstanden, als sie gegangen war. Der letzte Blick, den er ihr zuwarf, hatte daran keinen Zweifel gelassen. Und wenn sie Glück hatte, würden der Schwertkämpfer und sie bei ihrer nächsten Begegnung einfach Freunde sein können, ohne dass der Druck von Krieg und Verlust sie einander in die Arme trieb.

Ehrfürchtig faltete sie den Stoff auseinander und rutschte zur Seite. Die Axt war aus einem einzigen Stein gemeißelt und glitzerte wie der Kosmos unter Wasser im trüben Licht der untergehenden Sonne. Vhalla wusste jetzt, dass sie möglicherweise die letzte der legendären und geheimnisvollen Kristallwaffen war – wenn die Recken nicht bereits eine in ihrem Besitz hatten. Man hatte ihr erzählt, dass die kristallene Axt über die Macht verfügte, eine Seele zu spalten.

Vhalla hielt sie hoch und spürte ihr Gewicht. Eine gewaltige Kraft breitete sich in ihrem Körper aus und sickerte in ihre Knochen. Vhalla brauchte die Axt nicht, um Seelen zu spalten. Sie brauchte sie lediglich, um die Schatten zu durchtrennen, die sie ganz und gar zu verschlingen drohten. Um diejenigen auszuschalten, die Vhallas Magie missbrauchen wollten. Um die bedrückende Dunkelheit zu zerschlagen, die weiterhin versuchte, sie zu ersticken. Denn nur so konnte es Vhalla gelingen, den Anbruch eines neuen Tages zu verteidigen.

DREI

Die Vorstellung, einen bestimmten Südländer in Estrela aufzustöbern, war vollkommener Irrsinn. Dennoch watete Vhalla mit törichtem Optimismus durch das Menschenmeer, das die Straßen und Märkte überschwemmte. Sie sah Soldaten und Soldatinnen, die sie ihrem Gefühl nach kennen sollte. Männer und Frauen, die noch immer den dunkle Schuppenpanzer der Schwarzen Legion trugen. Aber den strubbelhaarigen Mann, den sie suchte, konnte sie nirgends finden.

Vorsichtig wagte sie sich zurück ins Stadtzentrum von Estrela. In den letzten drei Tagen, seit ihrem Gespräch mit Lord Ci’Dan, hatte sie einen weiten Bogen darum gemacht, und jetzt da die königliche Familie in der Stadt war, kam es ihr umso riskanter vor. Doch Vhalla blieb und beobachtete die Gasthäuser und Schenken um den Nabel der Welt herum. Männer und Frauen kamen und gingen, doch nirgends konnte sie Fitz entdecken.

Aber eigentlich wusste sie gar nicht so genau, was sie ihm sagen sollte, wenn sie ihn fand. Sie war noch nicht bereit, in den Süden zurückzukehren. Sie musste noch mehr über die Recken in Erfahrung bringen und ihnen gleichzeitig unmissverständlich kundtun, dass sie keine einfache Jagdbeute war. Sie musste sie von ihrer törichten Mission abbringen, das Anliegen des lange verstorbenen Königs Jadar voranzutreiben. Um ehrlich zu sein, wollte sie gar nichts zu Fitz sagen, sie wollte ihn einfach nur reden hören. Sie wollte der Stimme ihres Freundes lauschen.

Vhalla rückte die Kapuze ihres neu erworbenen Umhangs zurecht. Das einfache Kleidungsstück war ihr zweitwichtigster Kauf der letzten paar Tage. Wichtiger war nur ein eigens angefertigtes Holster, das fest um ihre Taille gebunden und gleich über dem Knie an ihren Oberschenkel geschnallt war. Natürlich hatte Vhalla dem Handwerker nicht die Kristallwaffe zum Abmessen gegeben – zu diesem Zweck hatte sie eine Streitaxt von ähnlicher Größe und Form erworben. Daher passte die Kristallaxt zwar nicht perfekt hinein, aber immerhin konnte sie die Waffe so jederzeit verborgen mit sich herumtragen.

Es gab für sie keinen anderen sicheren Ort, dachte sie. Je länger sie die Axt bei sich trug, umso mehr hinterfragte Vhalla ihre törichte Entscheidung, sie wochenlang unbeaufsichtigt in dem Versteck unter ihrem Bett zu lassen.

Vhalla gab ihre Suche nach Fitz schließlich auf und schlenderte zurück in Richtung von Giannas Buchladen. Als sie dort ankam, stand die Sonne tief am Himmel und die Buchhändlerin schloss bereits ab. Vhalla ging schweigend auf die Treppe zu.

»Du bist nicht mehr dieselbe seit dem Tag, an dem du losgezogen bist, um Tinte zu kaufen.«

»Mir geht viel durch den Kopf.« Vhalla blieb stehen.

»Das ist offensichtlich.« Gianna musterte ihre Gehilfin eingehend. Etwas im Blick der Westländerin erinnerte Vhalla an ein anderes Paar Augen, dunkle Augen, denen ebenfalls nichts entging und in die sie für den Rest ihres Lebens nie wieder würde blicken können. »Du hast dein Studium des Westländischen vernachlässigt. Wenn du nicht übst, wirst du alles wieder vergessen.«

»Es waren nur drei Tage«, betonte Vhalla.

»Wenn du drei Tage lang kein Buch in die Hand nimmst, dann stimmt etwas nicht mit dir.« Die Frau schenkte Vhalla ein freundliches Lächeln. »Komm, wir gehen an einen Ort, wo du gezwungen bist, zu üben.«

Seite an Seite gingen sie los. Vhalla fragte erst gar nicht, wohin sie unterwegs waren. Gianna hatte bisher nie irgendetwas getan, um ihr zu schaden, im Gegenteil. Als Vhalla vor Wochen aus einer Laune heraus in Giannas Laden aufgetaucht war und stundenlang lesend in einer Ecke kauerte, hatte die Westländerin sie einfach gewähren lassen.

In jener Nacht hatte Vhalla auf der Straße geschlafen und war am nächsten Morgen wieder zum Buchladen zurückgekehrt. Gianna hatte ihr Mittagessen mit ihr geteilt und die junge Frau erneut den ganzen Tag bleiben lassen, obwohl Vhalla nichts kaufte. Am vierten Tag war die Ladenbesitzerin dahintergekommen, dass ihre neueste »Kundin« keine Unterkunft hatte, und brachte Vhalla im Austausch gegen ihre Hilfe im Laden in dem kleinen Dachboden unter.

Erst nach drei Wochen hatte Vhalla festgestellt, dass Gianna gar keine Hilfe brauchte.

Und erst jetzt, über sechs Wochen später, sprach sie es aus: »Danke!«

»Wofür?« Giannas Frage erinnerte Vhalla daran, dass ihre Gefährtin keine Gedankenleserin war.

»Dass Ihr mich aufgenommen habt.«

»Mein liebes Mädchen, du weißt, dass du mir dafür nicht zu danken brauchst.« Gianna lachte. »Meine Tochter ist erwachsen, verheiratet und zieht ihre eigenen Kinder in Norin auf. Es ist schön, wieder ein wenig Gesellschaft zu haben.«

Bei dieser Aussage musste Vhalla an ihren eigenen Vater denken und schämte sich von Neuem dafür, dass sie noch nicht in den Osten zurückgekehrt war. Ganz gleich, wie viel Gold sie ihm schickte, es machte ihre Abwesenheit nicht wett. Aber diese Abwesenheit dauerte jetzt schon so lange an, dass Vhalla nicht wusste, wie sie das ändern könnte.

Gianna führte sie zu einem Gasthaus, das für seine traditionelle westländische Küche bekannt war. Alle, die dort arbeiteten, und ein Großteil der Gäste unterhielten sich dort ausschließlich in der Sprache des alten Mhashan. Vhalla ließ die Worte von ihrer Zunge rollen und gab sich die größte Mühe, sie so sorgsam auszusprechen, wie Gianna es ihr beigebracht hatte.

Die Unterhaltung am Tisch pendelte zwischen gewöhnlichem Südländisch und der alten Sprache hin und her. Vhalla war erleichtert, als das Essen kam, und nutzte es als Vorwand, ihren Mund zu beschäftigen und Giannas Beschreibung der großen Burg von Norin zu lauschen, statt zu sprechen.

»… aber vermutlich bist du an ganz andere Dinge gewöhnt.«

»Ich?« Vhalla hatte Gianna von ihrer bescheidenen Herkunft erzählt und dass sie trotz ihres momentanen Status und Reichtums nicht an Luxus gewöhnt war.

»Aber du bist doch im südländischen Palast aufgewachsen.«

»Ah«, gab Vhalla von sich, als sie verstand.

»Wann kehrst du dorthin zurück?«

Vhallas Löffel hielt auf halbem Weg von der Schüssel zu ihrem Mund inne. Das war die eine Frage, auf die Vhalla Gianna auf keinen Fall antworten wollte. »Ich weiß es nicht.«

»Vermisst du das Leben dort nicht?«

»Ich …« Vhalla wollte widersprechen und erwidern, dass sie den Palast und seine gewundenen Gänge nicht vermisste. Dass sie sich nicht nach der kühlen, belebenden Bergluft sehnte, die erfrischender war als das kälteste Trinkwasser, selbst wenn sie ihr in die Knochen schoss und ihr einen Schauer über den Rücken schickte. Sie wollte behaupten, dass sie nicht wieder wie ein rebellisches Kind durch die Kaiserliche Bibliothek rennen und ihre Finger freudig über die Buchrücken streichen lassen wollte.

Aber das wäre alles gelogen.

»Doch, schon«, gestand Vhalla ein.

»Aber etwas hält dich davon ab, zurückzukehren.« Giannas dunkle Augen betrachteten Vhalla nachdenklich.

»Das ist richtig.« Vhalla seufzte frustriert. Es war schon so lange her, seit sie das letzte Mal offen mit jemandem über die Schwere in ihrem Herzen geredet hatte. Sie war sich nicht sicher, ob sie es überhaupt noch konnte. Aber es gab einen Grund, warum sie alle Menschen in ihrem Leben von sich fernhielt. Gianna hingegen war eine neutrale Außenstehende. »Es gibt da einen Mann.«

Gianna brach in schallendes Gelächter aus und lachte noch heftiger, als sie Vhallas verärgertes Gesicht sah. Schnell senkte sie ihre Stimme zu einem bloßen Keuchen. »Vhalla Yarl, die Windläuferin, Heldin des Nordens, hat Angst vor einem Mann?«

Vhalla blickte rasch um sich, ob irgendjemand gehört hatte, wie Gianna ihren Namen laut aussprach. Als sie sich vergewisserte hatte, dass dem nicht so war, verdrehte sie die Augen. Allein der Name des Mannes hätte den Grund für ihre Sorge erklärt.

»Wir hatten eine Beziehung«, begann Vhalla vorsichtig. »Es wurde alles kompliziert. Seine Familie wollte, dass er jemand anderen heiratet, und jetzt ist er verlobt.«

»Er ist ein Adliger, nehme ich an?«, riet Gianna.