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***Eine junge Frau mit einer verloren geglaubten Gabe. Ein Prinz, beschenkt mit der Macht über das Feuer. Als er ihre Magie erweckt, gibt es für sie beide kein Zurück.*** Vhalla ist glücklich in ihrer stillen Welt aus Büchern. Bis eine einzige Nacht ihr Leben für immer verändert. Aldrik, Kronprinz und mächtigster Feuerzähmer des Reiches, wurde im Krieg tödlich verwundet. Als Vhalla sein Leben rettet, erwacht ihre Magie und schmiedet ein unzerstörbares Band zwischen ihr und dem Prinzen – denn Vhalla ist eine Windläuferin, die erste seit 150 Jahren. Doch ihre Luftmagie ist gefürchtet und niemand darf davon wissen, am allerwenigsten der Kaiser. Während im Norden an der Front die Kämpfe wüten, kommen Aldrik und Vhalla sich immer näher. Aber ihre Liebe könnte ganz Solaris in Flammen aufgehen lassen ... Der Auftakt einer magischen Romantasy-Saga, voller Action, Drama und einer bittersüßen Liebe zum Dahinschmelzen! »LIEBE BUCHGÖTTER, DANKE. DANKE FÜR DIESES MEISTERSTÜCK.« Rachel E. Carter, Autorin der Magic-Academy-Serie »Du bist Fan von Reihen wie Throne of Glass und Grisha, dann wirst du dieses Buch lieben.« Leser*innenstimme »Ich habe mich vom ersten Kapitel an in dieses Buch verliebt und es wurde immer besser. Das letzte Viertel war so fesselnd, dass ich die ganze Nacht aufgeblieben bin, um es fertig zu lesen. Ich konnte buchstäblich nicht aufhören.« Leser*innenstimme Alle fünf Bände der Serie »Die Chroniken von Solaris«: Air Awoken (Band 1) Fire Fallen (Band 2) Earth Ending (Band 3) Water's War (Band 4) Crystal Crown (Band 5)
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Elise Kova
Air Awoken
Aus dem Englischen von Susanne Klein
Seit jeher fürchtet Vhalla Magie – bis eine einzige Nacht ihr Leben in der Bibliothek von Solaris für immer verändert. Aldrik, Kronprinz und mächtigster Feuerzähmer des Reiches, wurde im Krieg tödlich verwundet. Als Vhalla sein Leben rettet, erwacht ihre Luftmagie und schmiedet ein unzerstörbares Band zwischen ihnen – denn Vhalla ist eine Windläuferin, die erste seit 150 Jahren. Während sie und Aldrik sich immer näherkommen, muss Vhalla eine Entscheidung treffen: ihre Magie annehmen oder ein für alle Mal aufgeben. Doch ihre Kräfte sind gefürchtet und könnten Solaris alles kosten …
Der Auftakt einer epischen Slow Burn-Romantasy mit Elemente-Magie!
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Alicia Davis, Kiri, Kay, IridescentSoul, Elanor Crumwell, RomanceObsessed, DarlingFaye, PowerMadGirl, yesiamhuman, queencarrot, Prodigee123, doc2or, Seriah Black Sheep, Your Loyal Bookworm, shinju asuka, puffgirl1952, musicboxmetaphor, shari, bfl2ma, Valerie, XtremeAngell, Mirirowan, Rebecca, prathyu, Alyss20, TwiinzRJ, Vyra Finn, Ozymandeos, Lady Altrariel, Ulsindhe, gizem524, musicalfishieXD, devonamorgan, blueeyesbrightsmile, Estheranian, Michelle Fang, Rizzy, Tessa, Sekhra, JustAnotherGal, Ashley, Izzy, Blanket Baby, hopewriteinspire, rosewood, appleeater1313, Wonderlander, A fan, Mizz Dustkeeper, lalalaughter101, LazyFakeName, carmensimagination, avery, avid reader, Mousey, Emmie, FreakinMarisa, Death’s Sweet Kiss, Kaf, Sephirium …
… und alle anderen, die mich von Anfang an begleitet und unterstützt haben. Ohne euch würde es keine Geschichte geben.
EINS
Sommerstürme waren in Solarin keine Seltenheit, und Vhalla Yarl hatte sie in den sieben Jahren, seit sie aus dem Osten hierhergekommen war, stets tapfer ertragen. Trotzdem freute sie sich nicht gerade über Blitz und Donner.
Der blendende Lichtblitz, der durch die Lamellen des Fensterladens drang, war jedoch nicht der Grund dafür, dass ihr Herz an diesem Abend schneller schlug; es war der feierliche, tiefe Ton eines Horns, der von jedem Posten in der Hauptstadt erscholl und ihre Welt bei jedem Nachhall zum Stillstand brachte. Das Geräusch verklang, dann ertönte es erneut.
Vhalla sprang auf und eilte zu der kleinen Schießscharte, die ihr als Fenster diente. Den Holzladen zu öffnen, erwies sich als schlechte Idee, denn der Wind packte ihn und schmetterte ihn mit solcher Wucht gegen die Palastmauer, dass es ihn fast aus den Angeln riss. Der Fensterladen war jedoch schnell vergessen, als die Hörner unter ihr auf der Wehrmauer den Ruf aus der Stadt aufgriffen. Vhalla kniff ihre haselnussbraunen Augen zusammen.
Hörner konnten nur eines bedeuten.
Ihr Blick fiel auf das kaiserliche Tor tief unter ihr, das aufschwang, um eine Abordnung Soldaten hineinzulassen. Ohne auf den Regen zu achten, lehnte sich Vhalla, so weit es ging, hinaus und versuchte die Schemen der marschierenden Soldaten zu erkennen, die von der Front zurückkehrten.
Hatten sie gesiegt? War der Krieg gegen Shaldan vorbei?
Vhallas Herz schlug noch schneller. Im Licht der wiederkehrenden Blitze konnte sie nur etwa zwanzig Reiter ausmachen.
Ein Sieg zog in ganzer Pracht durch die Stadt, mit von der Sonne beschienenen Wimpeln, die im Wind flatterten. Ein Sieg wartete auf besseres Wetter für seine Parade. Irgendetwas stimmte nicht. Dies hier waren berittene Boten, eine besondere Lieferung, eine Eskorte, eine …
Vhallas Verstand setzte für einen kurzen Moment aus.
Die Bediensteten des Palasts eilten dem kleinen Trupp entgegen, und im flackernden Licht ihrer Fackeln konnte Vhalla einzelne Gestalten erkennen. Ein Umhang in kaiserlichem Weiß bedeckte das Hinterteil eines Pferdes.
Ein Prinz war zurückgekehrt.
Die Diener stützten den im Sattel zusammengesackten Sohn des Kaisers und hievten seinen schlaffen Körper vom Pferd. Wegen des Sturms konnte Vhalla nicht verstehen, was sie riefen, aber sie schienen verzweifelt und zornig zu sein. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, beugte sich noch weiter vor, sodass ihr Rücken nass wurde, und beobachtete, wie der verwundete Prinz weggetragen wurde. Dann zog sie sich in ihre Kammer zurück und schloss den Fensterladen, ohne sich um die kleine Pfütze zu ihren Füßen zu kümmern. Einer der Prinzen war verletzt, aber welcher?
Unergründliche himmelblaue Augen kamen ihr in den Sinn. Prinz Baldair, der jüngere Sohn des Kaisers, war kurz in der Bibliothek aufgetaucht, ehe er wieder in den Krieg gezogen war. Vhalla war nie zuvor einem Mitglied der kaiserlichen Familie begegnet, aber alle Geschichten über den Verführer-Prinzen stimmten.
Sie umfasste den Stoff ihres Nachthemds und zwang sich, tief durchzuatmen. Der Prinz weiß nicht einmal, wer ich bin, rief sich Vhalla in Erinnerung. Ganz sicher hatte er die Bibliothekselevin vergessen, die er aufgefangen hatte, als Vhalla ungeschickt von einer der hohen Rollleitern an den Bücherregalen abgerutscht war.
Jetzt wurden die Heiler des Palasts herbeigerufen, die Diener geweckt, um Decken zu holen und Feuer zu schüren. Die Eleven der Heilkünste würden die ganze Nacht über im Einsatz sein, ihr hingegen blieb nichts anderes übrig, als still abzuwarten.
Vhalla schob die nassen Strähnen beiseite, die ihr im Gesicht klebten; Roan hatte recht, es war töricht von ihr, auch nur einen Gedanken an den Verführer-Prinzen zu verschwenden. Vhalla war nicht der Typ Mädchen, für den sich Prinz Baldair interessieren würde, sie war viel zu unscheinbar.
Die Tür flog auf und Roan kam heftig atmend hereingestürmt. Vhalla blinzelte überrascht, fast schien es ihr, als hätte sie die zierliche junge Frau mit den blonden Ringellöckchen durch ihre Gedanken herbeigerufen.
»Vhalla … Bibliothek. Sofort«, keuchte Roan. Es war, als spräche sie eine fremde Sprache, und Vhallas Körper weigerte sich, dem Befehl zu gehorchen. »Vhalla, sofort!« Roan packte sie am Handgelenk und zerrte sie durch die Gänge, ohne Vhalla Zeit zu lassen, sich ordentlich anzuziehen.
»Roan. Roan! Was ist denn los?«, fragte Vhalla, als sie am Ende eines Flurs scharf um die Ecke bogen.
»Ich weiß auch so gut wie nichts. Meister Topperen wird dir alles erklären«, antwortete Roan.
»Geht es um den Prinzen?«, entfuhr es Vhalla.
Ihre Freundin hielt inne und drehte sich um. »Denkst du etwa immer noch an diesen Schürzenjäger? Wie lange ist das jetzt her – zwei Monate?« Sie verdrehte ihre blauen Augen, die etwas dunkler als die des Prinzen waren.
»Das ist es nicht. Ich …« Vhalla spürte, wie ihr hitzige Röte ins Gesicht stieg.
»Und warum bist du überhaupt so nass?« Roan sah ihre Freundin zum ersten Mal richtig an. Doch ehe Vhalla antworten konnte, schlängelten sie sich schon wieder durch die engen Dienstbotenflure. »Ist aber auch ganz egal; pass bloß auf, dass die Bücher nicht feucht werden.«
Die kaiserliche Bibliothek war im Palast untergebracht, der über der am Berghang gelegenen Hauptstadt des Kaiserreichs Solaris thronte. Die vergoldeten Bücherregale aus Kirschholz, die höher waren als vier Männer, die sich gegenseitig auf den Schultern trugen, beherbergten das gesamte Wissen des Reichs. Buntglasfenster an der gewölbten Decke warfen an sonnigen Tagen ein Kaleidoskop aus Farben auf den Boden.
Jetzt jedoch war die Bibliothek in Dunkelheit gehüllt. Alle Eleven hatten sich an der zentralen Buchausgabe neben einer Kerze versammelt. Einige waren ordentlich angezogen, andere nur halb.
Vhalla musterte die mütterliche Lidia, sah dann kurz zu Cadance, ehe sie sich Sareem zuwandte, der kein Hemd trug. Seine olivfarbene Haut war um einige Nuancen dunkler als ihre eigene. Er war erstaunlich muskulös, und Vhalla fiel es schwer, sich zu erinnern, wann aus ihrem Freund aus Kindertagen ein Mann geworden war. Sareem fing ihren Blick auf und schien fast zusammenzuzucken. Rasch sah sie woandershin.
»Wir benötigen alle Bücher über die Zauberkünste und Gifte der Nördlichen Himmelszitadelle von Shaldan. Bringt sie hierher. Wir werden sie durchgehen und Notizen zu Abschnitten machen, die hilfreich sein könnten, ehe wir sie an die Heiler weiterleiten.« Während Meister Topperen sprach, zündeten Wachen weitere Kerzen in der Bibliothek an. Das hohe Alter des Meisters war ihm deutlich anzusehen. Sein langer weißer Bart wuchs so wirr wie die dürren Wurzeln einer Pflanze. Als er merkte, dass sie alle mit vor Schreck aufgerissenen Mündern dastanden, blaffte er: »Dies ist ein kaiserlicher Befehl! An die Arbeit!«
Vhalla sprang mit Anlauf auf eine der rollenden Leitern und nutzte den Schwung, um die gesamte Länge eines Bücherregals entlangzugleiten. Sie überflog die Titel und zog mit flinken Händen Bücher heraus. Mit drei Manuskripten im Arm hastete sie zurück zur zentralen Buchausgabe und legte sie dort auf dem Boden ab. Anschließend wiederholte sie den Vorgang.
Schon bald wuchsen die Stapel und Vhalla standen die Schweißperlen auf der Stirn. Der Meister tadelte sie oft, weil sie während der Arbeit las, aber nach sieben Jahren des Ungehorsams hatte sich eine lange Liste von Titeln in ihr Gedächtnis gebrannt. Sie erschienen schneller vor ihrem inneren Auge, als ihre Füße sie zu dem entsprechenden Platz im Regal tragen konnten.
Erst als der dritte Bücherstapel höher war als sie selbst, fiel Vhalla auf, dass die übrigen Eleven nicht länger nach Büchern suchten, sondern sich bereits auf dem Boden niedergelassen hatten, um ihre Auswahl durchzublättern. Vhalla presste die Hand auf ihre Taille. Sie hatte Seitenstiche. Die Stapel der anderen waren so klein. Allein zum Thema Gifte und Tränke fielen ihr fünf Bücher ein, die Sareem übersehen hatte.
Während sie weitere Bücher heraussuchte, kreisten ihre Gedanken unablässig um Prinz Baldair. Selbst sein Gesicht hatte sie ständig vor Augen. Seine Verletzungen mussten schwerwiegend sein, wenn das Wissen der Heiler nicht ausreichte. Vhalla biss sich auf die Lippen und starrte auf ihre Bücherstapel vor der Buchausgabe. Was fehlte ihm wohl?
»Vhalla.«
Sie ignorierte die brüchige Stimme des Meisters, während sie im Kopf weitere Titel durchging. Ein Buch fehlte, ganz ohne jeden Zweifel. Stand es in der Mystikabteilung?
»Vhalla.«
Möglicherweise konnte eine fehlende Zeile dazu führen, dass ihnen das Leben des Prinzen zwischen den Fingern zerrann. Vhalla fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. Schweiß oder Wasser lief ihr den Hals hinunter.
»Vhalla.«
»Was?«, antwortete sie scharf und sah Meister Topperen an, wobei sie sich augenblicklich ihres respektlosen Tonfalls bewusst wurde.
Der Meister ließ es durchgehen. »Das reicht, wir haben genug zusammengetragen. Jetzt hilf uns bei der Recherche. Schreib alles auf, was du für nützlich erachtest.«
Er deutete auf den Boden, und Vhalla ließ sich zwischen Roan und Sareem nieder. Die Mitarbeiter der Bibliothek missachteten alle Regeln und Etikette und bedienten sich aus einem gemeinsamen Vorrat an Schreibfedern, Tintenfässern und Pergament in ihrer Mitte.
Vhalla zog das erste Buch auf ihren Schoß. »Meister.« Sie hob den Blick von den Seiten, die sie zwischen ihren zitternden Fingern eingeklemmt hatte. Der alte Bibliothekar sah sie durch seine Brillengläser an. »Wer ist denn krank?«
»Der Prinz.«
Diese zwei Worte reichten, um Vhallas Kehle so auszudörren, dass sie sich trockener als die westländische Wüste anfühlte. Hätte sie sich doch nur geirrt.
Er war im Palast, irgendwo weit weg von ihr. Er brauchte Hilfe, und sie war ein Niemand. Vhalla stand kaum höher als die Dienstboten, die zur Strafe für nichtige Vergehen Flure fegen und Aborte säubern mussten. Aber vielleicht würde sich das jahrelange Studium jetzt auszahlen und sie konnte tatsächlich helfen.
Vhalla griff nach einem Stück Pergament. Ihr Federkiel verunzierte das unbeschriebene Blatt grob mit Tintenschlieren. Das war das Einzige, was sie konnte. Das Einzige, in dem sie gut war. Sie konnte lesen und vielleicht etwas Wissen an einen Heiler weitergeben, der einen Mann retten würde, den sie kaum kannte.
Der Federkiel brach. Vhalla fluchte und legte das zerbrochene Schreibgerät beiseite, dann griff sie nach einem neuen. Sareem warf ihr einen neugierigen Blick zu, doch sie war mit ihren Gedanken weit weg. Je länger Vhalla schrieb, desto ruhiger wurde sie. Die Feder war wie eine Erweiterung ihres Selbst – sie formte die Tinte nach ihrem Willen, als stünde sie unter dem Bann der Wörter.
Nach und nach bildeten einzelne Bücher einen neuen Stapel. Hinter jedem Buchdeckel befand sich nun eine Notiz mit Wissenswertem, das Vhalla im Buch gefunden hatte und von dem sie annahm, dass es hilfreich sein könnte. Sie bemerkte kaum, wie der Bücherturm wieder kleiner wurde, weil die Wachen begannen, die Bücher stapelweise hinauszutragen. Vhalla verabschiedete sich auch nicht von ihren Mitstreitern, die sich im Laufe der Nacht erschöpft zurückzogen.
Obwohl ihre Energie ebenfalls schwand, sah sie sich mit jedem Buch, das den Raum verließ, mehr herausgefordert, weiterzulesen. Dabei breitete sich ganz allmählich eine Wärme in ihr aus. Erst ganz langsam, dann wurde es mit jeder weiteren Stunde stärker, bis es sich zu einer glühenden Hitze auswuchs.
Das Geräusch des letzten zuklappenden Buchdeckels weckte sie aus ihrer Trance. Blinzelnd schaute Vhalla auf ihre tintenverschmierten Hände. Dann hob sie den Kopf und betrachtete müde den prächtigen Regenbogen aus Buntglas, der sich im ersten Sonnenlicht über die gesamte Länge der Decke erstreckte. Der Morgen dämmerte herauf und sie konnte sich beim besten Willen nicht mehr an die Nacht erinnern. Zwei Hände legten sich fest auf ihre Schultern.
Vhalla blinzelte, um den Schleier vor ihren Augen zu vertreiben, und betrachtete dann den Mann, der plötzlich vor ihr aufgetaucht war. Ein ihr unbekanntes Gesicht starrte zurück. Es war ein Mann aus dem Süden mit eisblauen Augen, Spitzbart und kurzem blonden Haar. Zwar wirkte er nicht bedrohlich, aber sie war sich sicher, ihn nie zuvor gesehen zu haben.
»Ist sie das?« Er sprach mit jemand anderem, obwohl seine Augen nur auf sie gerichtet waren.
»Das ist sie, Minister«, antwortete eine andere, ihr ebenfalls unbekannte Stimme.
»Danke. Du kannst gehen«, befahl der südländische Mann. Schritte entfernten sich, begleitet vom klirrenden Geräusch einer Rüstung.
»Wer seid Ihr?« Vhalla fand ihre Sprache wieder, die fiebrige Hitze verschwand. Sie versuchte, sich einen Reim darauf zu machen, warum dieser Mann sie festhielt. Ihr Blick fiel auf eine steife schwarze Jacke. Sie stand in starkem Kontrast zum hellen Morgenlicht. Niemand im Palast trug Schwarz.
Ihr wurde schwindlig. Fast niemand trug Schwarz. »Wartet, seid Ihr etwa ein …«
»Das ist nicht der Ort für Fragen.« Eine große, kalte Hand legte sich auf ihren Mund. »Hab keine Angst, ich bin hier, um dir zu helfen. Aber du musst mit mir kommen.«
Vhalla sah voller Angst zu dem Mann auf. Sie atmete scharf durch die Nase und schüttelte heftig den Kopf, um gegen die Hand vor ihrem Mund zu protestieren.
»Ich muss unter vier Augen mit dir sprechen, aber der Meister der Werke wird bald zurück sein. Deshalb musst du mit mir kommen.« Langsam löste er die Finger von ihrem Mund.
»Nein.« Beinahe wäre sie rücklings umgefallen. »Ich werde nicht mit Euch gehen! Ihr solltet nicht hier sein und ich werde nicht dorthin gehen.« Vor lauter Panik war Vhalla ganz durcheinander, was durch die Anstrengungen der vergangenen Nacht noch verstärkt wurde.
Verärgert packte der Mann sie noch einmal bei den Schultern, dabei sah er sich kurz um.
Vhalla öffnete den Mund und wollte um Hilfe rufen, doch stattdessen atmete sie den starken Kräuterduft des Tuchs ein, das plötzlich auf ihr Gesicht gedrückt wurde. Kurz bevor sie das Bewusstsein verlor, entdeckte Vhalla das Symbol auf der Jacke des Mannes, der sich jetzt nach vorn beugte, um sie hochzuheben. In Höhe seiner linken Brust prangte ein gestickter silberner Mond, um den sich ein Drache schlängelte; der Mond war in zwei Teile zerbrochen, und die beiden Hälften waren etwas versetzt voneinander angeordnet. Sie hatte es noch nie mit eigenen Augen gesehen, aber sie wusste, was dieses unheilvolle Symbol bedeutete: Der Mann war ein Magier.
ZWEI
Vhalla hatte das Gefühl, als hätte ihr von hinten jemand eine Axt über den Schädel gezogen und ihn entzweigespalten, und nun sickerte ihr Hirn auf das ihr unbekannte Kissen. Stöhnend öffnete Vhalla die Augen. Ihr Gesicht war ganz heiß und das rührte nicht von der Sonne her, die durch ein – wie sie fand – riesiges Fenster fiel.
Mit einem Mal kehrte die Erinnerung an die vergangene Nacht zurück. Vhalla richtete sich auf und fasste sich an die Schläfen. Ein Schauer ließ sie jäh erzittern. Die Rückkehr des Prinzen, die nächtliche Suche nach hilfreichen Büchern, wie sie beim Lesen beinahe vom Schlaf übermannt worden war. Und dann der Mann mit der seltsamen schwarzen Jacke. All diese Gedanken überfielen sie mit derartiger Wucht, dass ihr übel wurde.
Vorsichtig, so als könnte in einer Ecke jemand lauern, blickte Vhalla sich im Zimmer um. Das Mauerwerk war typisch für den Palast – sauber gebaut und verputzt. Unterhalb der Decke befanden sich Verzierungen an den Wänden – ein Relief aus Drachen, die Monde umtanzten. So etwas gab es in ihrer schlichten Kammer nicht.
Schließlich blieb Vhallas Blick an einer kleinen Glaskugel hängen, die von einem in die Wand verschraubten, eisernen Haken baumelte. Darin flackerte eine Flamme. Sie wurde weder von Öl noch von Wachs gespeist, hatte keinerlei Nährquelle. Sie schwebte einfach in der Kugel.
Vhalla rappelte sich auf und hastete zur Tür. Ihre Hände umschlossen den metallenen Griff. Als sie heftig daran zerrte, schepperte Eisen auf Eisen, weil das Schloss einrastete und die Tür sich nicht öffnen ließ. Das Geräusch übertönte den erstickten Schrei in ihrer Kehle. Die Erinnerung an den schwarz gewandeten Mann blitzte vor ihren Augen auf. Vhalla blinzelte, um das Bild zu vertreiben.
Sie trat einen Schritt von der verschlossenen Tür zurück und blickte sich dann verzweifelt im Zimmer um. Es gab ein Bett, einen kleinen Tisch und einen Nachttopf. Vhalla rannte hinüber zum Fenster, öffnete es und schaute hinaus. Unter ihr ging es geradewegs hinab in schwindelerregende Tiefen.
Das Klappern des Türschlosses lenkte ihre Aufmerksamkeit zurück ins Zimmer. Vhalla presste sich gegen die Wand. Ein Magier hatte sie entführt, und sie weigerte sich zu glauben, dass sie sich tatsächlich dort befand, wo sie vermutete. Die Tür schwang auf und ein vage vertrautes Paar eisblauer Augen sah sie an.
»Schön, dass du wach bist.« Der Mann lächelte freundlich. »Wie geht es dir?«
»Wer seid Ihr?« Vhalla presste sich jetzt so eng an die Wand, dass nicht einmal ein Stück Pergament zwischen ihren Rücken und das Mauerwerk gepasst hätte. Misstrauisch beäugte sie den Mann. Er trug nun andere Kleider: lange Gewänder über einer Tunika und Hosen. Auf Höhe der linken Brust befand sich ein Aufnäher, der ihre Panik noch verstärkte: ein schwarzes Stück Stoff mit einem aufgestickten zerbrochenen Mond.
»Hab keine Angst.« Der Mann machte eine beschwichtigende Geste. »Keiner wird dir etwas tun.«
»Wer seid Ihr?«, wiederholte Vhalla. Anhand seiner bodenlangen Gewänder und der Glockenärmel erkannte sie, dass der Mann einen höheren Rang bekleidete als sie, was allerdings auf fast jeden im Palast zutraf. Sie gab sich alle Mühe, ihre Stimme so ruhig und respektvoll wie möglich klingen zu lassen. Was misslang.
»Möchtest du dich nicht setzen?«
»Ich möchte wissen, wer Ihr seid«, wiederholte Vhalla langsam, die Augen unverwandt auf seine linke Brust gerichtet. Sie grub ihre Finger in die Mauer und ein Nagel brach ab. »Warum habt Ihr mich entführt?«
»Mein Name ist Victor Anzbel«, gab der Mann schließlich mit einem kleinen Seufzen preis. »Ich bin der Minister für Magie und du bist im Turm der Magier. Ich habe dich hierhergebracht, weil ich mit dir reden muss, und dafür war die Bibliothek nicht der rechte Ort. Bitte verzeih mir, aber es dämmerte bereits, daher blieb nicht genug Zeit, um uns dort ausführlich kennenzulernen.«
»Wo-worüber könntet Ihr mit mir reden wollen?«, stotterte Vhalla. Wieder drückte sie sich gegen die Wand, diesmal jedoch aus einem ganz anderen Grund. Sie befand sich im Turm der Magier und sprach mit dem Minister für Magie. Wahrscheinlich träumte sie.
»Bitte komm mit.« Er zeigte zur Tür. »Ich möchte das hier nicht quer durch den Raum hinweg klären.«
Ohne auf eine Reaktion zu warten, ging er hinaus und ließ die Tür hinter sich offen. Vhalla hörte seine Stiefel auf dem Steinboden ins Unbekannte gehen. Sie wollte sich nicht von ihrer Mauer lösen. Ihre Mauer war sicher und stabil.
Magier waren seltsam und gefährlich; sie blieben unter sich und gaben sich nicht mit gewöhnlichen Menschen ab. Deshalb hatten sie auch ihren eigenen Turm. Auf diese Weise waren sie aus den Augen und dem Bewusstsein der übrigen Menschen verschwunden. So hatten es ihr die Südländer immer erzählt. Das hier war also ganz bestimmt der letzte Ort, an den sie gehörte.
»Möchtest du schwarzen oder Kräutertee?«, rief der Minister ungezwungen aus dem anderen Raum herüber.
Vhalla schluckte. Wenn sie nur lang genug still stand, könnte sie vielleicht mit der Wand verschmelzen und aus der Welt verschwinden.
»Ich habe auch Sahne und Zucker.«
Sie war so damit beschäftigt, ihre Möglichkeiten abzuwägen, dass sie die Tatsache, dass er über Sahne und Zucker verfügte und ihr beides auch noch anbot, völlig ignorierte. Es gab zwei Fluchtwege: das Fenster und die Tür. Ersteres führte über einen tiefen Sturz in den sicheren Tod. Bei Letzterem musste sie sich mit dem Magier auseinandersetzen, der sie entführt hatte. Keine der beiden Möglichkeiten gefiel ihr.
Stück für Stück rückte Vhalla zur offenen Tür vor, ihre Hände krallten sich in den Stoff ihres Nachthemds, das sie noch immer trug. Auch wenn das ganz und gar nicht den Gepflogenheiten der südländischen Mode entsprach, jetzt gerade hätte sie alles für eine Hose gegeben.
Der Minister befand sich im hinteren Teil des angrenzenden Zimmers und beugte sich geschäftig über eine Arbeitsplatte. Auf einer weiteren unnatürlichen Flamme kochte Wasser in einem Kessel. Der Mann hantierte mit Bechern und Gläsern voller getrockneter Kräuter. Es schien sich um eine Art Behandlungszimmer zu handeln – mit einem Tisch, mehreren Pritschen und Verbandsmaterial. Vhalla erkannte Heilsalben, dann fiel ihr Blick auf eine Reihe von Messern. Sollte sie etwa Teil eines Experiments werden?
»Ah, da bist du ja. Bitte setz dich.« Der Mann wandte sich halb zu ihr um und deutete auf den Tisch. In seinen Augen blitzte ein jugendliches Funkeln auf, was Vhalla sehr ungewöhnlich fand. Sie hatte die Würdenträger des Palasts immer für uralt gehalten, so wie Meister Topperen. Dieser Mann jedoch war kaum zehn Jahre älter als sie.
Vhalla schlich langsam an der gegenüberliegenden Wand entlang. Sie achtete sorgfältig darauf, nicht irgendwo gegenzustoßen. Trotzdem erschrak sie fast zu Tode, als ihre Füße auf etwas Weiches traten. Doch es war nichts weiter als ein Teppich. Vhalla musterte ihn. Er war viel hübscher als das, was die Bibliothek zierte. Sie grub die Zehen in die flauschigen Fasern.
»Also dann, schwarzer oder Kräutertee?« Die Hand des Mannes verharrte über dem Wasserkessel, aus einem der Becher dampfte es bereits. Offenbar fand er die Situation nicht im Geringsten seltsam.
»Weder noch.« Vhalla dachte an das Tuch, mit dem er sie betäubt hatte.
»Hast du Hunger, möchtest du etwas essen?« Er akzeptierte ihre Ablehnung ohne Weiteres, ließ jedoch einen leeren Becher auf der Arbeitsplatte stehen.
»Nein.« Während er sich ihr gegenüber auf einem Stuhl niederließ, nahm Vhalla ihn ganz genau in Augenschein. Mit einem aufreizend entspannten Lächeln legte der Minister die Hand um seinen Becher.
»Falls du es dir anders überlegst, ein Wort genügt«, bot er ihr an.
Vhallas Kehle fühlte sich völlig zugeschnürt an. Ein Tee wäre schön, aber ehe sie von diesem Mann etwas annahm, musste die Muttergöttin sich schon weigern, allmorgendlich in ihrer strahlenden Pracht aufzugehen.
»Wie heißt du denn?«
Vhalla biss sich auf die Unterlippe – hin- und hergerissen zwischen dem Respekt gegenüber dem vor ihr sitzenden Würdenträger und ihrer Furcht, die ihre zu Fäusten geballten Hände zum Zittern zu bringen drohte. Er konnte ihren Namen mühelos selbst herausfinden, überlegte sie. Trotzdem fiel es ihr schwer, ihren Namen hervorzupressen.
»Vhalla«, antwortete sie. Wenn sie ihm gehorchte, würde er sie vielleicht gehen lassen. »Vhalla Yarl.«
»Vhalla, ich freue mich, dich kennenzulernen.« Der Mann lächelte sie über seinen Becher hinweg an.
Sie bemühte sich um eine ausdruckslose Miene, doch das war ihr noch nie besonders gut gelungen.
»Es ist nur vertständlich, dass du viele Fragen hast, deshalb werde ich dir die Dinge so einfach wie möglich erklären. Als Erstes erlaube mir aber, dich für deinen Beitrag zur Heilung des Prinzen zu loben.«
Vhalla nickte stumm. Die Bibliothek schien ein Ort in einer anderen Welt zu sein. Dass sie wirklich existierte, bewiesen nur ihre tintenverschmierten Finger und die fiebrige Hitze, die noch immer durch ihren Körper strömte.
»Vergangene Nacht wurde ich von den Heilern hinzugerufen, um die Magieflüsse des Prinzen zu untersuchen«, fuhr er fort. »Sie brauchten mein Wissen als Wasserwandler.«
»Prinz Baldair besitzt keine magischen Kräfte«, unterbrach ihn Vhalla und verstand nicht, warum er daraufhin die Augen zusammenkniff.
Der Minister strich sich über seinen Spitzbart und lehnte sich im Stuhl zurück. »Prinz Baldair weilt noch immer an der Front«, sagte er schließlich.
Unwillkürlich fiel Vhalla die Kinnlade herunter. Wenn Prinz Baldair gar nicht hier im Palast war, dann bedeutete das, dass der verwundete Prinz …
»Es geht um Prinz Aldrik?« Ihr gingen all die Tuscheleien und gemeinen Bemerkungen der Dienerschaft über den arroganten Thronerben durch den Kopf. Und für diesen Mann hatte sie sich die ganze Nacht lang abgemüht?
»Um ebendiesen.« Der Minister schmunzelte, ihre Verwirrung und ihr Entsetzen schienen ihn zu belustigen. Rasch machte Vhalla den Mund wieder zu. »Während ich ihn untersuchte, fiel mir eine besondere Reihe von Notizen ins Auge, die hinter den Buchdeckeln steckten. Sobald der Zustand des Prinzen wieder stabil war, hatte ich Zeit, sie mir näher anzuschauen. Sie wurden von jemandem mit magischen Kräften verfasst«, erklärte Minister Anzbel und beugte sich vor. »Stell dir meine Verblüffung vor, als ich feststellte, dass sie nicht von den Eleven des Turms stammten, die zum Wohl unseres Prinzen ähnliche Recherchen betrieben hatten, sondern aus der Bibliothek.«
»Das ist unmöglich.« Vhalla schüttelte den Kopf.
»Wenn ein Magier etwas erschafft, können Spuren seiner Magie zurückbleiben«, führte der Minister aus. »Insbesondere dann, wenn dieser Magier noch nicht richtig Erweckt ist, zeigt sich seine Macht auf unerwartete Weise.«
»Das verstehe ich nicht.« Vhalla wollte nur noch zurück in ihre Kammer. Der Mann sollte jetzt bitte einfach sagen, worum es ihm eigentlich ging, und sie dann wieder in ihre Bibliothek gehen lassen. Der Arbeitstag hatte bereits begonnen und sie kam zu spät.
Der Minister erfüllte ihren Wunsch. »Vhalla, du bist eine Magierin.«
»Wie bitte?« Die Welt schien plötzlich stillzustehen.
Eine Erinnerung blitzte vor ihrem inneren Auge auf. Ein junges Mädchen vor einem Bauernhaus, das seinen Vater anflehte, nicht fortzugehen. Aber er musste gehen, der Kaiser verlangte nach Soldaten, um gegen die Magie zu kämpfen, die aus den Kristallhöhlen in die Welt hinaussickerte. Vhalla erinnerte sich noch genau an den Abschied von ihrem Vater.
»Wie bitte?« Ihre Stimme klang nun schärfer und kräftiger. Sie sprang auf. »Nein, Ihr habt die falsche Person, die falschen Bücher. Meine Notizen müssen mit denen eines anderen verwechselt worden sein. Ich bin keine Magierin. Mein Vater war ein Bauer, die Eltern meiner Mutter arbeiteten in der Poststelle von Hastan. Von uns ist keiner …«
»Magie wird nicht weitervererbt«, unterbrach Minister Anzbel ihre hastig hervorgesprudelten Worte. »Ein Magier und eine Magierin können einen gewöhnliches Kind bekommen«, erklärte er, »und zwei gewöhnliche Menschen ein magiebegabtes Kind. Die Magie erwählt uns.«
»Bitte entschuldigt.« Vhalla begann zu lachen, als wäre die Welt ein einziger Witz und sie die Pointe. »Ich bin keine Magierin.« Sie ging zur Tür, obwohl sie keine Ahnung hatte, wohin sie führte. Ihre Fähigkeit, logisch zu denken, hatte sie verlassen. Sie wollte nur noch weg.
»Du kannst vor deiner Magie nicht davonlaufen.« Auch der Minister war nun aufgestanden. »Vhalla, deine Kräfte beginnen sich zu manifestieren. Normalerweise zeigen sie sich in jüngerem Alter, aber nicht immer.« Er blinzelte ein paarmal. »Selbst jetzt kann ich Spuren der Magie um dich herum sehen.«
Vhalla blieb und rang die Hände. Nur weil er behauptete, etwas sehen zu können, hieß das noch lange nicht, dass es auch da war. Vielleicht lügt er, redete Vhalla sich selbst ein. Konnte sie dem Wort eines Mannes trauen, der sie entführt hatte?
»Deine Magie wird stärker werden. Nichts wird sie aufhalten und letztendlich wirst du Erweckt, und deine Kräfte zeigen sich in vollem Umfang. Entweder geschieht das unter der Führung eines anderen Magiers oder deine Kräfte werden sich einfach von selbst Bahn brechen.« Der Tonfall des Ministers war eindringlich. Das machte es Vhalla trotzdem kein bisschen leichter, ihm zu glauben.
»Was könnte denn passieren?« Die nervöse Energie in Vhalla suchte ein Ventil. Ihr ganzer Körper bebte, während sie auf seine Antwort wartete.
»Das weiß ich nicht.« Minister Anzbel griff nach seinem Becher und nahm einen langen, nachdenklichen Schluck. »Wenn du eine Feuerzähmerin bist, kannst du vielleicht mit einem Blick eine Kerze anzünden. Oder du könntest die gesamte kaiserliche Bibliothek in Flammen aufgehen lassen.«
Beinahe hätte Vhalla das Gleichgewicht verloren und wäre zu Boden gestürzt. Seine Worte raubten ihr den Atem. Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie damit die Realität verscheuchen.
»Ich will wieder zurück«, flüsterte sie schließlich.
»Es tut mir leid, Vhalla, aber du solltest lieber hier …«
»Ich will wieder zurück!«, unterbrach ihn Vhalla lautstark. Mit Tränen in den Augen funkelte sie den Mann an, dem sie eigentlich unterstellt war und Respekt erweisen musste.
Der Minister ließ sie zu Atem kommen, ehe er weitersprach. »Nun gut«, sagte er. Seine Stimme war leise und überlegt.
»Wirklich?« Vhalla bewegte ihre Finger, ihre Fingernägel hatten Halbmondabdrücke auf ihren Handflächen hinterlassen.
»Ich verstehe, dass dies eine Entscheidung ist, bei der man mit Gewalt nicht weiterkommt.« Kapitulierend hob Minister Anzbel beide Hände. »Wenn ich angehende Magier und Magierinnen in den Turm bringe, dann fügen sie sich sich üblicherweise in ihr Schicksal. Ich hatte die Hoffnung, ich könnte dir zeigen, dass …«
»Ich will es nicht sehen!« Jetzt schrie Vhalla beinahe. Dann schlug sie sich die Hand vor den Mund, als könnte sie so ihre unhöflichen Worte zurücknehmen.
»Vielleicht ein andermal.« Der Minister lächelte.
Während er sie zur Tür hinausbegleitete, fixierte Vhalla ihre Füße. Der Korridor führte spiralförmig in die Tiefe und in unregelmäßigen Abständen befanden sich Türen zu beiden Seiten. Es gab keine Fenster und sie nahm an, die Beleuchtung rührte von weiteren unnatürlichen Flammen her, wie Vhalla sie auch in den beiden ersten Räumen gesehen hatte.
Sie wollte nichts davon genauer betrachten, sie wollte nichts von diesem Ort mitnehmen, nicht einmal eine Erinnerung. Sie wollte nichts gemeinsam haben mit den seltsamen Turmbewohnern, die ihr und dem Minister laufend in weitem Bogen auswichen. Sie biss sich auf die Lippen und unterdrückte ein Schluchzen. Vhalla war müde und hatte nicht mehr die Kraft für die Lügen dieses Magiers. Er irrte sich, und wenn sie erst einmal in die echte Welt zurückgekehrt war, musste sie nie mehr an diesen Ort denken. Sie drückte die Hände gegeneinander und spielte mit ihren Fingern.
Doch obwohl Vhalla sich gedanklich ganz in sich zurückzog, sah sie es trotzdem. Sie sah die unzähligen Teppiche mit verwirrenden Mustern, die den Flurboden bedeckten. Wo ein Teppich aufhörte, schloss sofort der nächste an, sodass ihre Füße nie den Stein berührten. Sie sah die Reliefs an den Wänden – mit Eisen und Silber verzierte Skulpturen, die Formen hatten, deren genauere Betrachtung sie sich nicht erlaubte. Vhalla sah die Füße, die an ihnen vorbeigingen und die in Stiefeln und polierten Schuhen steckten. Warum besaßen Magier so hübsche Sachen, wenn ihre eigenen Schläppchen so abgetragen waren, dass sie schon fast Löcher hatten? Wenn ihre Fenster Schießscharten waren und ihre Flure karge Gänge, voller Risse und grob behauen?
Der Minister führte sie wortlos einen Seitenflur entlang. Die Steine wechselten zu Formen und Farben, die ihr vertrauter waren, die Beleuchtung wurde schwächer. Als sie stehen blieben, blickte sie endlich auf. Vor ihnen endete der Flur in einem schmalen, spitzen Winkel.
»Minister?« Wieder stieg Panik in ihr auf.
»Der Turm richtet sich nach dem Zyklus des Mondes, nach dem Vater, der das Reich von Chaos von uns fernhält und das Himmelstor am Firmament bewacht«, bemerkte er kryptisch. »Wenn du dich beruhigt hast, wirst du sicher wieder zu uns kommen. Das tun die meisten, wenn sie in Ruhe nachgedacht haben.«
»Werdet Ihr mich nochmals mit Gewalt herbringen, wenn ich das nicht tue?« Vhalla machte einen kleinen Schritt zur Seite, denn sie bezweifelte sehr, dass sie jemals freiwillig diesen Mann und seinen Turm aufsuchen würde.
»Dafür bitte ich um Verzeihung.« Minister Anzbel hatte ein Flackern im Blick, das sie fast an seine Aufrichtigkeit glauben ließ. »Ich sah keine andere Möglichkeit, mit dir unter vier Augen zu sprechen. Und ich nahm an, wenn du erst einmal im Turm wärst, würdest du dir anschauen wollen, was er dir zu bieten hat.«
»Ich hätte zugehört …« Verärgert wandte Vhalla den Blick ab. Sie wusste nicht genau, was sie mehr frustrierte: sein Übergriff oder die Tatsache, dass er recht hatte. Sie war nicht bereit, sich mit Magiern abzugeben.
»Nun gut, ich werde dich bald wieder sehen, da bin ich mir sicher«, sagte er leichthin. Es schien kaum etwas zu geben, das Victor Anzbel aus der Ruhe brachte. Unwillkürlich fragte Vhalla sich, wie oft er dieses Theater schon mit anderen Menschen aufgeführt hatte, die er für Magier hielt.
Mit der Hand deutete der Minister nun auf das spitzwinklige Ende des Flurs. Vhalla blinzelte ihn verblüfft an, aber er schwieg. Zögernd ging sie dorthin, streckte die Hand aus und rechnete damit, irgendeine verborgene Tür aufstoßen zu können. Stattdessen verschwanden ihre Finger geradewegs im Stein.
Nach Luft schnappend blickte Vhalla sich zum Minister um und wartete auf eine Erklärung, aber er war bereits verschwunden. Mit einem Schaudern tauchte sie ganz in die magische Wand ein.
Sobald Vhalla auf der anderen Seite wieder herauskam, wusste sie sofort, wo sie sich befand. Die Mauer hinter ihr sah aus wie immer. Seit ihrem elften Lebensjahr war sie jeden Tag daran vorbeigegangen. Erst als Vhalla die Augen zusammenkniff, fiel ihr etwas auf, das sie zuvor nie bemerkt hatte – ein in zwei Hälften gebrochener Kreis, die Hälften voneinander versetzt: der zerbrochene Mond des Turms. Wie hatte sie das all die Jahre übersehen können?
Zaghaft streckte Vhalla noch einmal die Hand aus und wieder verschwand diese in der falschen Wand. Ein Hauch von Neugier packte sie. Welche Art von Magie konnte so etwas bewerkstelligen?
Rasch schob sie den Gedanken beiseite. Du bist neugieriger, als es gut für dich ist, tadelte der Meister sie oft. Magie war gefährlich. Vhalla wiederholte die gemurmelten Worte, die sie von den Südländern immer gehört hatte: Magie ist gefährlich und seltsam.
Sie schüttelte den Kopf und hastete dann, so schnell ihre Füße sie trugen, in ihre Kammer.
DREI
Es war deutlich leichter, sich Normalität vorzugaukeln, als sie in ihrer tristen Elevinnentracht vom Meister gescholten wurde, weil sie fast vier Stunden zu spät zur Arbeit kam. Sein Tadel fiel mild aus und ihre Strafe bestand lediglich darin, dass sie im Beisein von Roan ermahnt wurde, die an der Buchausgabe saß und ein Manuskript abschrieb. Roan musterte Vhalla neugierig und ihr Blick ließ darauf schließen, dass sie Vhalla die Entschuldigung, verschlafen zu haben, nicht abnahm. Der Meister jedoch glaubte ihr, insbesondere nach den Aufregungen der vergangenen Nacht.
Er gab ihr die langweiligste Arbeit, die es in der Bibliothek gab: das alphabetische Ordnen. Die meisten verabscheuten diese Arbeit, Vhalla hingegen empfand es als heilsam, mit den Fingern die Buchrücken entlangzufahren. Das hier war ihre Welt, sicher und beständig.
»Vhalla«, flüsterte eine Stimme vom Ende des Gangs. Sareem blickte sich an der Stelle, wo die Regale aufeinandertrafen, vorsichtig um. Er bedeutete ihr, ihm zu folgen, und sie stieg, ohne nachzudenken, die Leiter hinab, schlängelte sich hinter ihm an den Bücherregalen vorbei bis zur Außenmauer des Gebäudes.
»Was ist denn los, Sareem?«, fragte Vhalla leise, sobald sie an Vhallas Lieblingsplatz am Fenster angekommen waren.
»Geht es dir gut?«, wollte er wissen und wies auf den Platz neben sich.
»Alles in Ordnung.« Sie ließ sich nieder, konnte ihn aber nicht ansehen. Wie hätte sie die außergewöhnlichen Ereignisse der vergangenen Stunden auch zusammenfassen sollen?
»Du lügst«, schimpfte Sareem. »Du bist eine schlechte Lügnerin, Vhalla.«
»Es war eine lange Nacht. Ich bin müde«, murmelte Vhalla. Das jedenfalls stimmte.
»Dass du zu spät kommst, passt gar nicht zu dir. Ich habe mir Sorgen gemacht.« Er runzelte die Stirn.
»Tut mir leid«, entschuldigte sich Vhalla.
Sie kannte Sareem schon seit fast fünf Jahren. Er hatte seine Stellung als Eleve zwei Jahre nach ihr angetreten und sie waren schnell Freunde geworden. Zweifellos konnte sie ihm vertrauen.
»Sareem, kennst du irgendwelche Magier?«
»Was?« Er wich zurück, als hätte sie eine Art Drohung ausgestoßen. »Warum sollte ich mich mit Magiern abgeben?«
»Dein Vater stammt doch aus Norin. Und wie ich höre, wird Magie im Westen viel mehr toleriert. Ich dachte, dass du vielleicht …« Was als hastige Erklärung gedacht war, verlor rasch an Schwung.
»Nein.« Sareem schüttelte den Kopf. »Ich kenne keine Magier und ich habe auch nicht vor, welche kennenzulernen.«
»Ganz richtig«, stimmte ihm Vhalla halbherzig zu. Ihr war kalt.
»Welches Buch beschäftigt dich denn gerade?« Sareem tippte sich mit den Fingern gegen das Kinn, was ihren Blick wieder auf ihn lenkte. Sie versuchte, sich irgendeine Erklärung auszudenken, doch er kam ihr zuvor. »Ich kenne dich, Vhalla Yarl.« Sareem grinste selbstzufrieden. »Lies du nur alles, was du willst, kein Problem. Da mache ich dir keinen Vorwurf, nicht, nachdem du dadurch wahrscheinlich den Prinzen gerettet hast. Aber gib dich nicht mit Magiern ab, verstanden?«
Vhalla konnte seinen fürsorglichen Blick kaum ertragen.
»Sie sind gefährlich, Vhalla. Sieh dir doch nur unseren Kronprinzen an. Sein Gemüt wird von seinem Feuer vergiftet, jedenfalls sagt man das.« Sareem legte ihr eine Hand auf den Kopf und ließ sie längere Zeit dort liegen. »Vhalla, du bist ja ganz warm.«
»Was?« Sie blinzelte erschrocken. Konnte er etwa die Magie in ihr spüren?
»Du hast Fieber.« Sareems Hand glitt hinunter zu ihrer Stirn. »Du solltest besser nicht hier sein. Wir müssen es dem Meister sagen.«
»Aber ich fühle mich gut.« Vhalla schüttelte den Kopf.
»Nein, wenn du dich anstrengst, wird es noch schlimmer werden. Du solltest dich schonen.« Er half ihr gerade auf, als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm.
Am anderen Ende der Bücherregale stand eine Gestalt im Dunkel zwischen den einzelnen Sonnenstrahlen, die durch die Fenster fielen. Vhallas Herz begann zu rasen. Eine schwarze, taillenkurze Jacke umschloss den Oberkörper der Gestalt. Mit Ärmeln, die unterhalb des Ellbogens endeten. Es gelang ihr nicht, einen kleinen Schreckensschrei zu unterdrücken.
»Vhalla, was ist denn los?« Sareem zog ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich. Aber als er sich umdrehte, um dem Blick ihrer aufgerissenen Augen zu folgen, war die Gestalt bereits verschwunden.
»Nichts.« Sie hatte Mühe, mit fester Stimme zu sprechen.
Sareem begleitete sie zu Meister Topperen, wo zur Abwechslung er dafür getadelt wurde, nicht gearbeitet zu haben. Mit einem halben Lächeln in ihre Richtung verschwand er zwischen den Bücherstapeln. Meister Topperen überprüfte Sareems Behauptung, indem er Vhalla seine faltige Hand auf die Stirn legte. Mit väterlicher Sorge schickte er sie früh zurück in ihre Kammer, wo sie sich ausruhen sollte.
Auf dem Weg nach draußen entdeckte Vhalla eine Statue, die weit genug von der Wand entfernt stand, sodass jemand mit einem einzigen Schritt zur Seite rasch dahinter verschwinden konnte. Sie kannte jeden Spalt in den Mauern, jeden unebenen Stein unter ihren Füßen und jeden Dienstbotenkorridor. Sie ging diesen Weg schon fast sieben Jahre lang – seit ihr Vater nach dem Krieg der Kristallhöhlen seine Beförderung vom Fußsoldaten zur Palastwache ausgeschlagen hatte. Stattdessen ermöglichte er seiner Tochter eine bessere Zukunft als das Leben auf einem Bauernhof im ostländischen Cyven.
Vhallas Hand verharrte über dem Türknauf ihrer Kammer; Schritte am anderen Ende des Gangs lenken sie ab. Eine Gruppe Diener und Eleven passierte die Kreuzung zweier Gänge. Vhalla kniff die Augen zusammen und spähte an ihnen vorbei. Ein Augenpaar starrte zurück. Hastig verschwand sie in ihrer Kammer und warf sich aufs Bett. Normalerweise wäre sie nicht so schnell eingeschlafen, doch die Erschöpfung der letzten Nacht steckte ihr noch immer in den Knochen.
Ihr Schlaf war unruhig und erfüllt von einem lebhaften Traum.
Nachtluft strich über ihre Haut. Sie stand vor den Türen, die vom Palast aus in die Bibliothek führten. Fackeln brannten zu beiden Seiten und ihre mit Schnitzwerk verzierte Oberfläche warf unnatürlich tanzende Schatten. Durch den Spalt zwischen den Türen drang die kühle, muffige Luft der Bibliothek. Wie der Atem eines schlafenden Untiers.
Die geschlossenen Türen waren kein Hindernis für sie – genau wie bei der magischen Wand im Turm konnte sie ohne Mühe hindurchgehen. Gleich darauf fand sie sich in der mondbeschienen Bibliothek wieder. Schnurstracks ging sie zu ihrem Platz am Fenster. Ihr Herz schlug schneller als die Flügel eines Kolibris. Dort, genau dort musste sie hin.
Ihre Umgebung begann zu verschwimmen, die Bücherregale verschwanden in einem undurchdringbaren Nebel. Alles um sie herum geriet ins Rutschen, als sie auf ihr Ziel zusteuerte. Auf ihrem Lieblingsplatz saß die zusammengekauerte Gestalt eines Mannes. Alles war so verschwommen und schemenhaft, dass sie seine Gesichtszüge überhaupt nicht erkennen konnte, und als er sich schließlich zu ihr umdrehte, schien die Bewegung ihm Schmerzen zu bereiten. Seine Schultern strafften sich vor Überraschung, und Vhalla sah lediglich zwei dunkle Augen in einem unscharfen Gesicht, die sich mühten, sie zu fixieren – genau, wie sie es umgekehrt auch versuchte.
»Wer bist du?« Die Stimme des Mannes klang dunkel und tief wie die Mitternacht. Sie drang bis in Vhallas innersten Kern vor und ließ die verblasste Welt um sie herum zersplittern.
Wartet, rief Vhalla. Wartet! Doch es kam nur Luft aus ihrem Mund. Ihre Umgebung verlor alle Form und zerfiel vor ihren Augen. Sie stürzte in die Dunkelheit.
Vhalla erwachte jäh. Ihre Bettdecke lag auf dem Boden, weil sie im Schlaf um sich getreten hatte. Sie presste die Hand gegen ihre Stirn. Zwar hatte sie kein Fieber, aber ihre Haut war feucht vor nächtlichem Schweiß.
Es war nur ein Traum, beruhigte sie sich selbst, während sie sich für den Tag fertig machte. Doch nichts konnte ihre Nerven beruhigen, die auch ihren Magen in Aufruhr versetzten. Nicht einmal das vertraute kratzige Gefühl der grob gesponnenen Wolle ihrer Elevinnentracht. Sie trug seit Jahren die gleiche Kleidung, doch auf einmal fühlte sie sich unwohl darin und zupfte nervös an den Ärmeln.
In der nächsten Nacht hatte sie einen ähnlichen Traum und auch in der Nacht darauf. Jedes Mal war er noch lebhafter als zuvor. Vhalla versuchte die Unruhe zu ignorieren, die diese Träume in ihr auslösten. Stattdessen gab sie den schwarz gekleideten Gestalten die Schuld, die sie zu überwachen schienen – immer so, dass sie es nur aus dem Augenwinkel wahrnahm. Es verging kein Tag, ohne dass sie einen schwarz gekleideten Magier oder eine Magierin in ihrer Nähe spürte.
Die Gestalten standen am Ende eines Bücherregals oder an der Kreuzung zweier Flure; manchmal traten sie durch eine Tür, die verschlossen war, wenn Vhalla danach die Klinke herunterdrückte. Niemand sonst sah sie. Nicht Roan, die zusammen mit ihr Bücher sortierte. Nicht Sareem, wenn er sie zu ihrer Kammer brachte, nach einem Abendessen, das ihr immer zu schwer im Magen lag.
Das Gefühl, beobachtet zu werden, wurde für Vhalla allmählich so normal wie das Atmen. Was die Gestalten von ihr wollten – das sagten sie nicht. Worauf sie warteten – das verrieten sie nicht.
Den dunklen Verdacht, den sie insgeheim hegte, verdrängte Vhalla.
Eines Tages arbeitete sie allein in der Bibliothek, als sich die Härchen in ihrem Nacken aufstellten.
Am Ende der Regalreihe stand eine junge Frau. Sie trug eine Variante der schwarzen Kleidung der Turmeleven, die Vhalla zuvor erst ein- oder zweimal gesehen hatte. Die Jacke reichte zwar wie üblich bis zur Taille, doch die Ärmel endeten direkt unterhalb der Schultern. Vhalla konnte sich keinen Reim auf die Bedeutung der unterschiedlichen Gewänder machen. Die Eleven der Bibliothek trugen alle das Gleiche.
Die Frau regte sich nicht, sie schien nicht einmal zu atmen. Sie hatte dunkelbraune, fast schwarze Augen und den typischen dunklen Hautton der Westländer. Schwarzes Haar mit einem gerade abgeschnittenen Pony, der unmittelbar unterhalb der Augenbrauen der Frau endete, umrahmte ihr Gesicht. Ihre Haare waren vorne länger als hinten, sodass sie ihren Nacken entblößten.
Zum ersten Mal hatte Vhalla einen ihrer Schatten lange genug im Blick. Keine Ahnung, was sie erwartet hatte, aber die Frau sah wie eine ganz normale Westländerin aus. Hatte man ihr nicht immer erzählt, dass Magier sich von gewöhnlichen Menschen unterschieden?
»Was wollt Ihr?«, flüsterte Vhalla. Tränen traten ihr in die Augen, aber sie gestattete sich nicht, zu blinzeln, aus lauter Angst, die Frau könnte verschwinden.
»Hast du jemals welche von denen gelesen?« Die Frau hatte einen starken Akzent, dehnte das A und das O wie alle aus dem Westen. Sogar bei Sareem war das manchmal noch zu hören, obwohl er im Süden geboren und aufgewachsen war.
»Von denen?«, wiederholte Vhalla vorsichtig.
»Von den Büchern«, stellte die Frau klar. »Hast du je eines von denen gelesen?«
»Natürlich habe ich das«, gab Vhalla abwehrend zurück. Fast nie stellte jemand ihr Wissen in Bezug auf die Bibliothek infrage – schon gar nicht, wenn es um ihr Lesepensum ging.
»Und dennoch fürchtest du uns noch immer?« Die Frau kniff ein wenig die Augen zusammen und legte den Kopf schief.
Ohne es zu wollen, machte Vhalla einen Schritt zurück. »Ich-ich fürchte mich nicht …« Sie verstummte, weil die Frau auf sie zukam. Was würde sie jetzt mit ihr machen? Vhalla warf einen Blick über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass weder Sareem noch Roan in der Nähe waren. Als sie sich wieder umdrehte, zuckte sie erschrocken zusammen, denn die Magierin stand nun direkt vor ihr.
»Hier.« Sie zog ein Manuskript aus dem Regal und hielt es Vhalla hin. »Lies das.«
»Warum?« Zögernd nahm Vhalla das Buch entgegen. Sie warf einen raschen Blick auf den Titel: Einführung in die Magie.
»Weil du zu klug bist, um dich derart vor dem zu fürchten, was du bist«, antwortete die dunkelhaarige Frau nur und wandte sich zum Gehen.
Von der seltsamen Begegnung völlig aus dem Tritt gebracht,fuhr Vhalla sich übers Gesicht. »Wartet!«, rief sie etwas zu laut. »Wie ist Euer Name?«
Die Frau blieb stehen. Vhalla umklammerte das Buch, bis ihre Knöchel weiß hervortraten, und hielt dabei den Atem an. Dunkle Augen musterten sie nachdenklich.
»Larel.« Und damit verschwand die Frau zwischen den Regalen. Vhalla unternahm nicht einmal den Versuch, ihr zu folgen.
Als die Glocke schließlich die Schließzeit der Bibliothek verkündete, war Vhallas Hals ganz steif, weil sie so lange vornübergebeugt gelesen hatte. Sie hatte weitere Manuskripte über Magie zu komplexeren Fragen studiert. Eines handelte von magischen Elementen, das andere drehte sich um die Geschichte der Magier.
Vhalla zog ihr abgegriffenes Lesezeichen aus dem puderblauen Gürtel, der ihr Gewand zusammenhielt, und legte es vorsichtig zwischen die Seiten. Dann stellte sie das Manuskript zurück ins Regal und die beiden anderen Bücher links und rechts daneben, obwohl sie dort nicht hingehörten. In der Mystikabteilung würde ohnehin kein anderer Bücher lesen.
Am nächsten Morgen trottete sie hinter Roan durch den Palast. In Shaldan wurde noch immer gekämpft und sie hatten eine Bücherlieferung aus einer eroberten Stadt erhalten. Die Wachen hatten sich geweigert, die schweren Kisten hinauf in die kaiserliche Bibliothek zu tragen. Warum stattdessen zwei der kleinsten Frauen im Palast dies tun sollten, war Vhalla ein Rätsel.
Als sie durch ein Tor in der Wehrmauer nach draußen traten und bergab liefen, wischte sie sich den Schweiß von der Stirn. Der Zugang von der Bibliothek zur Stadt befand sich an einer der höchstgelegenen Stellen des Palasts. Dort oben war es eigentlich immer etwas kühler, selbst im Sommer. Weiter unten an der Hauptstraße befanden sich die Stallungen.
»Weißt du eigentlich, dass, als wir anfingen, die Mutter zu verehren, alle Priesterinnen Feuerzähmer waren?«, platzte es aus Vhalla heraus, die in Gedanken immer noch bei der Lektüre des vorangegangenen Tages war.
»Was?« Roan sah sie verständnislos an. »Was ist denn ein Feuerzähmer?«
»Ich …« Vhalla machte ihren Mund auf und zu wie ein Fisch und suchte nach Worten. Auf keinen Fall wollte sie offenbaren, dass sie Bücher über Magie las, indem sie ihr Wissen über Feuerzähmer preisgab. Also redete sie einfach weiter, ohne auf Roans Frage einzugehen. »Also, ich jedenfalls wusste das nicht, bevor der Kaiser bei uns in Cyven einmarschiert ist, um die Lehren der Mutter zu verbreiten.«
»Ich kenne die Geschichte der Expansion des Reichs auch.« Roan lachte unbeschwert. »So lang ist die ja nicht.«
»Ja, stimmt schon, aber ich habe immer gedacht, die Verehrung der Mutter Sonne hätte hier im Süden ihren Ursprung, da der Kaiser seine Kriege damit rechtfertigt, die Welt von allen Heiden befreien zu wollen. Aber dieser Glaube stammt eigentlich aus dem Westen. König Solaris ernannte sich selbst zum Kaiser, marschierte in Mhashan ein, übernahm die Religion der Westländer und nutzte sie, um Cyven für sich zu beanspruchen und jetzt auch Shaldan«, grübelte Vhalla laut. »Er tut das, um einen Glauben zu verbreiten – jedenfalls behauptet er das –, der ursprünglich gar nicht der seine ist.«
»Na schön, was liest du gerade?«, flötete Roan belustigt.
»Findest du das denn nicht interessant?«, fragte Vhalla und ließ das Thema Magie gänzlich fallen.
»Natürlich.« Ihre Freundin lächelte. »Und ich finde auch«, ergänzte sie mit neckischer Miene, »dass da gerade jemand seltsame Dinge liest, während er eigentlich arbeiten sollte.«
Schuldbewusst wandte Vhalla den Blick ab. Doch ihre Freundin lachte nur und stupste sie scherzhaft in die Seite. Roan war nicht ganz ein Jahr älter als Vhalla und sie waren immer füreinander da. Als sie sich vor sieben Jahren kennenlernten, arbeiteten nur Lidia und ein weiterer Mann, der nun schon lange fort war, als Eleven in der Bibliothek. Naturgemäß hatten zwei elfjährige Mädchen kaum Interesse an Erwachsenen in ihren Zwanzigern. Vhalla und Roan hatten sich also aus purer Notwendigkeit angefreundet, aber auch aufgrund ihrer gemeinsamen Leidenschaft für das geschriebene Wort.
Sie bogen um eine Ecke und kamen zu einem kleinen Absatz, von dem aus man das darunterliegende Terrain überblicken konnte. Vhalla versuchte, nicht auf die dunkle Gestalt zu achten, die sie aus dem Augenwinkel wahrnahm. Die Stallungen bestanden aus zwei großen Gebäuden, die in die Mauern hineingebaut waren, auf denen der Palast thronte. Dazwischen führte die Hauptstraße hinauf zum Palast. Vhalla verspürte stets ein wenig Bewunderung angesichts der vielen Pferde, Fuhrwerke und Kutschen, die in den ausgedehnten Stallungen Platz fanden. Zurzeit waren die meisten Boxen allerdings leer, denn der Krieg forderte einen hohen Tribut vom Kaiser.
Nach ihrem kurzen Ausflug in die Sonne kehrten die beiden Frauen in den Palast zurück, stiegen eine kurze Wendeltreppe hinab und traten dann durch eine kleine Tür hinaus auf die steinige, staubige Hauptstraße. Neben dem kleinen Durchgang gab es zwei massive, opulente Türen, die eher dekorativ als praktisch waren.
Dahinter befand sich ein Audienzsaal, in dem der Kaiser von Zeit zu Zeit den Sorgen und Nöten des gewöhnlichen Volks lauschte. Da er sich meistens im Krieg befand, geschah das jedoch sehr selten. Vhalla hatte diesen Audienzsaal erst ein Mal betreten – damals, als ihr Vater sie mit in die Hauptstadt genommen hatte, um vom Kaiser im Tausch gegen seine Beförderung zur Palastwache die Elevinnenstelle für Vhalla zu erbitten.
In den ersten sechs Stallboxen standen die Pferde der kaiserlichen Familie. Bis auf zwei waren alle leer. Das Pferd der Kaiserin, eine wunderschöne weiße Stute, stand ungerührt da. Im angrenzenden Stall logierte ein Streitross, das schnaubte, als sie an ihm vorbeigingen. Vhalla blieb stehen, gebannt von den Augen des Tieres.
»Ich habe gehört, wie die Soldaten ihn den Albtraumhengst genannt haben.« Auf einmal stand Roan neben ihr und musterte die riesenhafte Kreatur. »Ich vermute, das liegt zum Teil am Ruf des Prinzen, aber man sagt auch, dass sich das Biest den meisten Leuten gegenüber ziemlich garstig verhält.«
»Sein Ruf?« Vhalla warf rasch einen Blick auf die Tafel an dem eisernen Gitter. Prinz Aldrik Solaris.
»Er ist ein Magier. Das missfällt den Menschen. Magie ist etwas, das im Turm bleiben sollte.« Roan strich sich eine Locke ihres weizenfarbenen Haars hinters Ohr.
Vhalla war immer ein wenig eifersüchtig auf Roans Haare und auch sonst auf so ziemlich alles an ihr gewesen. Ihre eigene Haartracht war eine unbezähmbare Mähne aus krisseligen Wellen. Roan hatte wunderhübsche Locken. Südländer hatten Glück mit ihrer hellen Haut und ihren Gesichtszügen – jedenfalls schien das jeder zu denken. Selbst die Götter wurden so dargestellt. Durch ihr Aufwachsen im Süden empfand Vhalla ein Gefühl permanenter Unzulänglichkeit, weil sie hier von Darstellungen des gängigen Schönheitsbilds geradezu überschwemmt wurde. Die Menschen aus dem Osten hatten für gewöhnlich bernsteinfarbene Haut, braune Augen und welliges Haar. Ging es also nach dem herrschenden Schönheitsideal, machte sie äußerlich nicht viel her.
»Man sagt, die Augen des Prinzen glühen rot, wenn er in Zorn gerät«, murmelte Roan.
»Und, glaubst du das?«, flüsterte Vhalla zurück und sah ihre Freundin forschend an.
»Ich weiß nicht. Ich war noch nie auf einem Schlachtfeld und wann immer ich den Prinzen gesehen habe, waren seine Augen nicht rot.« Roan stemmte die Hände in die Hüften und musterte das Pferd mit zusammengekniffenen Augen, als könnte sie ihm Geheimnisse über seinen Besitzer entlocken. »Aber ich denke, dass in jedem Gerücht ein Körnchen Wahrheit steckt.«
Sie setzten sich wieder in Bewegung und gingen zu dem Teil der Stallungen, in dem sich die Fuhrwerke befanden.
»Dann hältst du das Gerücht also für wahr, dass er ein Bastard ist?«, fragte Vhalla leise, weil sie von niemandem belauscht werden wollte, ganz besonders nicht von jenen in den schwarzen Gewändern, die wahrscheinlich irgendwo im Dunkel des Stalls auf sie lauerten.
»Ich weiß nicht, ob das eine Rolle spielt. Der Kaiser heiratete unsere verstorbene Kaiserin, ehe ihre Schwangerschaft sichtbar wurde. Wer weiß, ob sie schon vor ihrer Hochzeitsnacht ein Kind unter dem Herzen trug? Der Kaiser bezeichnet Prinz Aldrik als legitimen Thronerben, und da die erste Kaiserin von Solaris inzwischen in den Gefilden des Vaters wandelt, kann niemand das Gegenteil beweisen.« Roan zuckte mit den Achseln.
Vhalla nickte und dachte an ein Buch über die kaiserliche Familie, das sie kurz nach ihrer Ankunft in Solarin gelesen hatte. Nachdem er vor fünfundzwanzig Jahren den Westen erobert hatte, nahm sich der Kaiser rasch eine Westländerin zur Frau, um sich durch die Verbindung der Blutlinien größtmögliche Loyalität zu sichern. Aber es gab hartnäckige Gerüchte um die Hochzeit mit der jüngsten Tochter des verstorbenen westländischen Königs, weil sie noch zwei ältere Schwestern im heiratsfähigen Alter hatte. Dass sie binnen eines Jahres nach der Hochzeit bei der Geburt des Kronprinzen im Kindbett gestorben war, heizte die Gerüchte noch an.
Als sie endlich bei den Pferdefuhrwerken ankamen, trafen Vhalla und Roan auf den Stallmeister. Nach einer Begrüßung und höflichem Geplauder händigte er ihnen die Kisten mit den Manuskripten aus, wegen derer sie gekommen waren. Sie waren in der Tat zu schwer, um sie zu tragen, und die beiden mussten einen Teil der Bücher in kleinere Behältnisse umpacken und den Rest zu einem späteren Zeitpunkt holen.
Für den Rückweg in den Palast brauchten sie fast die dreifache Zeit. Zu Beginn waren die beiden Frauen noch pflichtbewusst und entschlossen, doch sobald Vhalla vorgeschlagen hatte, kurz zu verschnaufen, machten sie auch während des restlichen Aufstiegs zahlreiche Pausen.
Nachdem sie sich an der Buchausgabe von Roan verabschiedet hatte, verschwand Vhalla zwischen den Büchern und gab vor zu arbeiten. Ohne darüber nachzudenken, holte sie sich ihre drei Manuskripte aus der Mystikabteilung und trug sie hinüber zu ihrem Fensterplatz. Erst nachdem sie sich alles zurechtgelegt hatte, entdeckte Vhalla die Nachricht, die um ihr Lesezeichen herumgefaltet war. Rasch blickte sich um, entdeckte aber keine schwarz gekleideten Beobachter.
Ein Kribbeln schoss durch ihre Finger, als sie das Papier berührte – so heftig, dass Vhalla scharf Luft holen musste. Das Buch fiel aufgeschlagen zu Boden, war jedoch sofort vergessen, denn Vhalla hatte nur Augen für die unbekannte, geneigte Handschrift mit den eng gesetzten Buchstaben.
An Vhalla Yarl …