Flashback - Dan Simmons - E-Book

Flashback E-Book

Dan Simmons

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Beschreibung

Die Zukunft, wie sie sein könnte ...

Die USA stehen kurz vor dem Kollaps, doch dem Großteil der Bevölkerung ist das völlig egal, denn sie sind abhängig von einer Droge namens Flashback, die es den Konsumenten ermöglicht, die glücklichsten Augenblicke ihres Lebens immer und immer wieder zu erleben. Einer von ihnen ist Ex-Cop Nick Bottom, der seit dem tragischen Tod seiner Frau bei einem Autounfall nur noch in der Vergangenheit lebt und dank Flashback noch einmal die schönsten Momente mit ihr verbringen kann. Doch dann wird der Sohn eines hohen Regierungsbeamten ermordet, und Nick beginnt eher widerwillig zu ermitteln. Bis er eine gigantische Verschwörung aufdeckt, die den desolaten Zustand der USA und ihrer Bewohner verursacht hat ...

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Seitenzahl: 850

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Inhaltsverzeichnis

WidmungLob1.00 - JAPANISCHE GRÜNZONE ÜBER DENVER1.01 - JAPANISCHE GRÜNZONE ÜBER DENVER2.00 - LOS ANGELESCopyright

Dieses Buch ist für Tom und Jane Glenn – sie sind die wahre Zukunft

In unserem Gedächtnis hat alles Platz. Es ist wie eine Apotheke oder ein chemisches Laboratorium, in dem man durch Zufall ebenso gut ein Beruhigungsmittel wie ein gefährliches Gift in die Hand bekommt.

Marcel Proust: »Die Gefangene«, aus: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

1.00

JAPANISCHE GRÜNZONE ÜBER DENVER

FREITAG, 10. SEPTEMBER

»Sie wundern sich wahrscheinlich, dass ich Sie heute zu mir gebeten habe, Mr. Bottom«, sagte Hiroshi Nakamura.

»Nein«, antwortete Nick. »Ich weiß genau, warum Sie mich geholt haben.«

Nakamura blinzelte. »Tatsächlich?«

»Ja.« Scheiß drauf, dachte Nick, wer A sagt, muss auch B sagen. Nakamura möchte einen Detektiv engagieren. Zeig ihm, dass du einer bist. »Sie wollen, dass ich den oder die Mörder Ihres Sohnes Keigo finde.«

Nakamura blinzelte erneut, blieb jedoch stumm. Als hätte ihn der laut ausgesprochene Name seines Sohnes erstarren lassen.

Die Augen des alten Milliardärs schnellten kurz zu seinem gedrungenen, kräftigen Sicherheitschef Hideki Sato. Dieser lehnte an einem Treppentansu neben dem Shoji, der zum Hofgarten geöffnet war. Wenn Sato mit irgendeiner Bewegung oder einer mimischen Regung auf den Blick seines Dienstherrn reagierte, so nahm Nick nicht das Geringste davon wahr. Er konnte sich auch nicht erinnern, dass Sato auf der Fahrt im Golfwagen hinauf zum Haupthaus oder während der Vorstellung in Nakamuras Büro nur einmal das Gesicht verzogen hätte. Die Augen des Sicherheitschefs waren Murmeln aus Obsidian.

Schließlich sprach Nakamura weiter. »Ihre Schlussfolgerung ist richtig, Mr. Bottom. Eine elementare Schlussfolgerung, wie Sherlock Holmes sagen würde, da Sie damals der für den Fall meines Sohnes zuständige Ermittler waren, als ich noch in Japan war, und wir beide nie Kontakt miteinander hatten.«

Nick wartete.

Nach dem flüchtigen Blick in Satos Richtung hatte sich Nakamura wieder auf das einzelne Blatt E-Pergament in seiner Hand konzentriert, doch nun richteten sich seine grauen Augen bohrend auf Nick.

»Glauben Sie, Sie können den oder die Mörder meines Sohnes finden, Mr. Bottom?«

»Ganz sicher«, log Nick. Er ahnte, dass ihm der alte Milliardär eigentlich eine ganz andere Frage gestellt hatte: Können Sie die Uhr zurückdrehen und verhindern, dass mein einziger Sohn getötet wird?

Auch auf diese Frage hätte Nick notfalls mit »ganz sicher« geantwortet. Um an das Geld zu kommen, das ihm dieser Mann geben konnte, war Nick zu jeder Behauptung bereit. Denn das war genug Geld, um für Jahre zu Dara zurückzukehren. Vielleicht sogar für den ganzen Rest seines Lebens.

Nakamura rümpfte leicht die Nase. Nick war klar, dass man nicht zum hundertfachen Milliardär und zu einem der neun regionalen Bundesberater in Amerika wurde, wenn man ein Dummkopf war.

»Warum sind Sie so davon überzeugt, dass es Ihnen jetzt gelingen wird, Mr. Bottom, wo Sie doch vor sechs Jahren gescheitert sind, zu einem Zeitpunkt also, da Sie noch ein echter Mordermittler waren und die vollen Ressourcen des Denver Police Department hinter sich hatten?«

»Damals gab es vierhundert ungeklärte Mordfälle, Mr. Nakamura. Wir hatten fünfzehn Ermittler, die für alles zuständig waren, und jeden Tag kamen neue Fälle rein. Jetzt kann ich mich ganz darauf konzentrieren, diesen einen Fall zu lösen. Keine Ablenkung.«

Nakamuras graue Augen, die ohnehin frostig und so reglos waren wie Satos dunkle Obsidiane, wurden merklich noch frostiger. »Wollen Sie damit andeuten, Detective Sergeant Bottom, dass Sie der Ermordung meines Sohnes damals nicht absoluten Vorrang eingeräumt haben – trotz entsprechender Anweisungen des Gouverneurs von Colorado und der Präsidentin der Vereinigten Staaten persönlich?«

Nick spürte das Flashbackjucken im Inneren wie das Krabbeln eines Tausendfüßlers. Am liebsten wäre er aus dem Zimmer verschwunden und hätte sich das Früher übergestreift wie eine warme Wolldecke: damals, nicht heute, sie, nicht das hier.

»Ich will damit bloß sagen, dass das DPD vor sechs Jahren keinen einzigen Mordfall mit der angemessenen Sorgfalt und dem nötigen Personalaufwand bearbeitet hat«, erwiderte Nick. »Nicht einmal den Ihres Sohnes. Und wenn das Kind der Präsidentin persönlich in Denver ermordet worden wäre, das Dezernat Gewaltverbrechen hätte den Fall nicht lösen können.« Er schaute Nakamura offen in die Augen, obwohl er sich ziemlich lächerlich vorkam mit dieser Aufrichtigkeitsmasche.

»Und heute erst recht nicht«, fügte er hinzu. »Heute ist es noch fünfzigmal schlimmer.«

In dem Büro gab es keinen einzigen Stuhl zum Hinsetzen, nicht einmal für Mr. Nakamura persönlich. Nick Bottom und Hiroshi Nakamura standen sich gegenüber, nur getrennt durch das schmale, brusthohe, vollkommen leere, blank polierte Mahagonipult des Milliardärs. Satos zwanglose Haltung am Tansu konnte – zumindest für Nick Bottom – nicht darüber hinwegtäuschen, dass er hellwach und auch unbewaffnet äußerst gefährlich war. Der Sicherheitschef strahlte die unbestimmte Bedrohlichkeit eines Exsoldaten, eines Polizisten oder eines anderen Berufsstandes aus, in dem man zum Töten ausgebildet wurde.

»Natürlich sind Ihre fachlichen Kenntnisse aus vielen Jahren beim Denver Police Department und Ihre wertvollen Einblicke in die damaligen Ermittlungen die Hauptgründe dafür, dass wir Ihr Engagement für diese Untersuchung in Betracht ziehen«, bemerkte Mr. Nakamura in aalglattem Diplomatenton.

Nick atmete durch. Er hatte die Nase voll von Nakamuras Skript.

»Nein, Sir«, widersprach er. »Das sind nicht die wirklichen Gründe. Wenn Sie mir den Auftrag erteilen, den Mord an Ihrem Sohn zu untersuchen, dann nur, weil ich der einzige lebende Mensch bin, der – dank Flashback – jede einzelne Seite der damaligen Fallakten einsehen kann, die bei dem Cyberangriff vor fünf Jahren zusammen mit dem gesamten Archiv des DPD vernichtet worden sind.«

Und, denkt Nick, weil ich der einzige Mensch bin, der auf Flash jedes Gespräch mit Zeugen, Verdächtigen und anderen Detectives wiedererleben kann. Ich kann in der Mordakte nachlesen, die mit den Dokumenten verloren gegangen ist.

»Wenn Sie mich engagieren, Mr. Nakamura«, setzte Nick hinzu, »dann bloß, weil ich der einzige Mensch auf der Welt bin, der knapp sechs Jahre zurückgehen und in diesem Mordfall alle Spuren wieder sehen und hören kann, die inzwischen so kalt sind wie die auf Ihrem katholischen Privatfriedhof in Hiroshima bestatteten Gebeine Ihres Sohnes.«

Mr. Nakamura atmete zischend ein, dann wurde es totenstill im Zimmer. Draußen plätscherte friedlich der kleine Wasserfall in den Teich des gleichmäßig geharkten Kiesgartens.

Nachdem er seinen ersten Trumpf ausgespielt hatte, verlagerte Nick das Gewicht und schaute sich mit verschränkten Armen um.

Berater Hiroshi Nakamuras Büro in seinem Privathaus hier in der japanischen Grünzone über Denver wirkte, obwohl erst kürzlich errichtet, als wäre es tausend Jahre alt. Und als wäre es in Japan.

Die Schiebetüren und -fenster – Shoji und die schwereren Fusuma – blickten alle auf den kleinen, aber erlesen formellen japanischen Garten. Im Raum selbst spendete ein einzelnes Shojifenster einer winzigen Altarnische natürliche Helligkeit. Bambusschatten bewegten sich über eine perfekt auf dem lackierten Boden platzierte Vase mit herbstlichen Pflanzen und Zweigen. Die wenigen Möbelstücke waren nach japanischer Vorliebe asymmetrisch verteilt, und ihr antikes Holz war so dunkel, dass es förmlich das Licht schluckte. Dagegen strahlten die polierten Zedernholzböden und die Tatamimatten ihren eigenen warmen Schein aus. Von den Tatamis erhob sich ein sinnlicher, frischer Duft nach getrocknetem Gras. Aufgrund der Kontakte mit Japanern in seinem früheren Job als Mordermittler verstand Nick Bottom, dass in Mr. Nakamuras Anwesen – Haus, Garten, Büro, Ikebana und die wenigen bescheidenen, aber wertvollen Einrichtungsgegenstände – alles vollkommener Ausdruck der Schönheitsbegriffe Wabi (schlichter Friede) und Sabi (elegante Schlichtheit und Feier des Vergänglichen) war.

Allerdings war Nick das scheißegal.

Er brauchte diesen Auftrag, um an Geld zu kommen. Er brauchte das Geld, um Flashback zu kaufen. Und das Flashback brauchte er, um wieder mit Dara zusammen sein zu können.

Da er Satos Beispiel folgend seine Schuhe im Genkan, dem Eingangsbereich, ausgezogen hatte, wurde Nick Bottom in diesem Augenblick vor allem von dem Bedauern beherrscht, dass er sich am Morgen ausgerechnet diese schwarze Socke geschnappt hatte – die mit einem Riesenloch am linken Fuß, durch das sein großer Zeh lugte. Verstohlen zog er den Fuß ein, um den Zeh zurück durch das Loch zu bugsieren, aber um es richtig zu machen, hätte er beide Füße benötigt, und das wäre aufgefallen. Sato war ohnehin schon auf sein Gezappel aufmerksam geworden. Nick bog den Zeh zurück, so weit wie es ging.

»Was für einen Wagen fahren Sie, Mr. Bottom?«, erkundigte sich Nakamura.

Fast hätte Nick laut aufgelacht. Er war darauf gefasst, für die unverschämte Erwähnung der kalten Knochen des verehrten Sohnes Keigo von Sato hinausgeworfen zu werden, aber mit einer Frage nach seinem Auto hatte er nicht gerechnet. Außerdem hatte ihn Nakamura mit Sicherheit über eine der ungefähr fünfzigtausend Über wachungskameras beobachtet, die seine Fahrt hierher verfolgt hatten.

Er räusperte sich. »Also …, ich fahre einen zwanzig Jahre alten GoMotors Gelding.«

Mit leicht zur Seite gewandtem Kopf bellte der Milliardär japanische Worte in Satos Richtung. Ohne gerade Haltung anzunehmen und mit dem Hauch eines Lächelns gab der Sicherheitschef eine noch tiefere und schnellere Kaskade von kehligen Lauten zurück.

Nakamura nickte offenbar zufrieden. »Ist Ihr … äh … Gelding ein zuverlässiges Fahrzeug, Mr. Bottom?«

»Die Lithium-Ionen-Batterien sind uralt, Mr. Nakamura, und Bolivien ist im Augenblick so schlecht auf uns zu sprechen, dass sie wahrscheinlich in nächster Zeit nicht ersetzt werden. Nach einer zwölfstündigen Aufladung schafft das blöde Sch…, das Auto ungefähr fünfundsechzig Kilometer mit sechzig Sachen oder sechzig Kilometer mit fünfundsechzig Sachen. Wir müssen eben hoffen, dass sich bei diesem Auftrag keine Verfolgungsjagden im Höchsttempo wie in Bullit ergeben.«

Mr. Nakamura verzog keine Miene. Sahen sich die in Hiroshima keine tollen alten Filme an?

»Wir können Ihnen für die Dauer Ihrer Ermittlungen ein Fahrzeug der Delegation zur Verfügung stellen, Mr. Bottom. Vielleicht eine Lexus- oder Infiniti-Limousine.«

Diesmal platzte das Lachen tatsächlich aus Nick heraus. »Einer von Ihren Wasserstoffschlitten? Nein, Sir. Das funktioniert nicht. Erstens würde er überall, wo ich in Denver parken kann, einfach auseinandergebaut. Zweitens – und das kann Ihnen Ihr Sicherheitschef bestimmt genau erklären – brauche ich einen Wagen, der sich nicht von der Umgebung abhebt, falls ich jemanden beschatten muss. Bloß nicht auffallen, das ist die Devise jedes Privatdetektivs.«

Aus Mr. Nakamuras Kehle drang ein tiefes Grollen, als wollte er spucken. In seiner Zeit als Cop hatte Nick diesen Laut öfter von japanischen Männern gehört. Er drückte wohl Überraschung und ein wenig Unmut aus, allerdings gaben sie ihn auch von sich, wenn sie zum ersten Mal etwas Schönes wie eine Gartenlandschaft erblickten. Wahrscheinlich unübersetzbar.

»Also gut, Mr. Bottom«, meinte Nakamura schließlich. »Sollten wir uns für Sie entscheiden, brauchen Sie auf jeden Fall ein Fahrzeug mit größerer Reichweite, wenn Ihre Ermittlungen Sie nach Santa Fe in Nuevo Mexico führen. Aber diese Einzelheiten können wir auch später erörtern.«

Santa Fe, schoss es Nick durch den Kopf. Gottverdammt, nicht Santa Fe. Überall, bloß nicht Santa Fe. Allein die Erwähnung des Namens reichte, damit das tiefe Narbengewebe auf und in seinen Bauchmuskeln heftig zu ziehen begann. Aber er hörte auch eine andere Stimme in seinem Kopf, eine von den Hunderten Kinostimmen, die dort hausten: Vergiss es, Jake. Wir sind in Chinatown.

»In Ordnung«, antwortete Nick. »Über das Auto reden wir später. Falls Sie mich engagieren.«

Erneut betrachtete Nakamura das Blatt E-Pergament in seiner Hand. »Sie leben derzeit in einem ehemaligen Baby Gap in dem früheren Cherry-Creek-Einkaufszentrum. Ist das richtig, Mr. Bottom ?«

Verflucht. Seine ganze Zukunft hing wahrscheinlich vom Ausgang dieses Vorstellungsgesprächs ab, und Mr. Nakamura hätte tausend Fragen stellen können, deren Beantwortung möglich war, ohne dass er auch noch den letzten Rest seiner ohnehin schon arg ramponierten Würde verlor. Aber ausgerechnet das musste es sein: Sie leben derzeit in einem ehemaligen Baby Gap in dem früheren Cherry-Creek-Einkaufszentrum?

Ja, Sir, hätte Nick am liebsten erwidert, derzeit wohne ich in einem Sechstel eines früheren Baby Gap in der ehemaligen Cherry Creek Mall in einem beschissenen Teil einer beschissenen Stadt in einem Vierundvierzigstel der früheren Vereinigten Staaten von Amerika, ich, der kleine Nick Bottom. Sie hingegen leben mit den anderen Japsen hier oben auf dem Hügel, geschützt von drei Sicherheitsringen, durch die nicht mal der verdammte Geist von Osama bin Laden durchschlüpfen könnte.

Seine tatsächliche Antwort fiel deutlich kürzer aus. »Cherry-Creek-Wohnkomplex heißt das Ding jetzt. Und der Teil, zu dem meine Wabe gehört, war tatsächlich früher ein Baby Gap.«

Von den drei Männern waren zwei teuer gekleidet, in schwarze Anzüge mit schmalen Revers und Hosenbeinen, mit weißen Hemden und dünnen schwarzen Krawatten – der nach über fünfundsiebzig Jahren wiederbelebte Kennedy-Look. Nicht einmal Nakamura, der schon Ende sechzig war, konnte sich noch aus eigener Anschauung an diese historische Epoche erinnern, und Nick fragte sich, warum die Modegurus aus Japan diesen Trend zum zehnten Mal aus der Versenkung geholt hatten. Trotzdem – an dem schlanken, eleganten Mr. Nakamura sah der Stil der toten Kennedys gut aus. Sato war fast genauso erlesen gekleidet, auch wenn sein Anzug wahrscheinlich ein-, zweitausend neue Dollar weniger gekostet hatte. Allerdings hätte der Anzug des Sicherheitschefs sorgfältiger geschneidert sein müssen. Trotz seiner fortgeschrittenen Jahre war Nakamura dünn und fit, während Sato gebaut war wie der sprichwörtliche Kleiderschrank, falls die Japaner so was überhaupt hatten.

Als er die kühle Brise aus dem Garten spürte, die seinen nach unten gekrümmten Zeh umfächelte, wurde Nick klar, dass er zwar mit Abstand der größte Mann im Zimmer war, aber auch auf die für ihn mittlerweile typische Weise die Schultern nach unten hängen ließ. Wenn er wenigstens sein Hemd gebügelt hätte! Eigentlich hatte er es vorgehabt, dann aber letzte Woche nach der Einladung zu diesem Vorstellungsgespräch einfach keine Zeit dazu gefunden. Da stand er nun in einem zerknitterten Hemd unter einem zerknitterten, zwölf Jahre alten Anzugjackett – dazu kein passendes Beinkleid, nur die am wenigsten verbeulte und verschmutzte Kakihose. Alles in allem sah er garantiert aus, als hätte er nicht nur in seinen Kleidern geschlafen, sondern auf ihnen. Und erst am Morgen in der Wohnwabe hatte er gemerkt, dass er die alte Hose, das Anzugjackett und den Hemdkragen nicht zuknöpfen konnte, weil er in den letzten ein oder zwei Jahren so stark zugenommen hatte. Er konnte nur hoffen, dass sein unmodisch breiter Gürtel den offenen Hosenknopf und der Krawattenknoten den unverschließbaren Hemdkragen verdeckten, zumal schon der verfluchte Schlips dreimal so dick war wie die der beiden Japaner. Und es war auch nicht unbedingt förderlich für Nicks Selbstvertrauen, dass diese Krawatte, ein Geschenk Daras, wahrscheinlich ungefähr ein Hundertstel von dem gekostet hatte, was Nakamura für seine ausgegeben hatte.

Egal. Es war Nicks letzte Krawatte.

Nick Bottom war im vorletzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts geboren, und jetzt spukte ihm ein Lied aus einer Kindersendung von damals durch den schmerzdröhnenden, flashbackhungrigen Schädel.

Scheiß drauf, dachte er erneut, und eine panische Sekunde lang hatte er Angst, laut gesprochen zu haben. Es fiel ihm immer schwerer, sich in dieser elenden, irrealen, flashbacklosen Welt auf irgendetwas zu konzentrieren.

Und weil die ausgedehnte Stille von Mr. Nakamura ganz gelassen und von Sato geradezu amüsiert aufgenommen wurde, fügte Nick Bottom, dem diese Stille peinlich war, etwas hinzu: »Natürlich ist es schon ein paar Jahre her, dass Cherry Creek ein Einkaufszentrum war und dass es dort Läden gab. BIAHTF.«

Nick sprach die Abkürzung »buy-ought-if« so aus, wie es alle Leute taten, doch Nakamuras Gesicht blieb ausdruckslos, passiv herausfordernd oder höflich neugierig – vielleicht auch eine Kombination aus allen dreien. Eins stand für Nick fest: Der Großunternehmer aus Nippon machte ihm keinen Teil des Gesprächs leicht.

Sato war die Phrase sicher schon begegnet, aber anscheinend hatte er keine Lust, sie für seinen Chef zu übersetzen.

»Before it all hit the fan – bevor alles den Bach runterging«, erklärte Nick. Er ließ unerwähnt, dass das gebräuchlichere »dieought-if« für »day it all hit the fan« stand: »der Tag, an dem alles den Bach runterging«. Bestimmt kannte Nakamura beide Ausdrücke. Schließlich lebte der Mann nach seiner Ernennung zum Vierstaatenberater seit fast fünf Jahren in Colorado. Und auch davor hatte er solche amerikanischen Ausdrücke zweifellos schon gehört, zum Beispiel von seinem ermordeten Sohn.

»Ah.« Mr. Nakamura vertiefte sich wieder in das E-Pergament. Bilder, Filme und Textspalten huschten über das papierflexible Blatt und verschwanden unter der leisesten Bewegung von Nakamuras manikürten Fingerspitzen. Nick bemerkte, dass der Milliardär starke Arbeiterhände hatte – allerdings hatte er sie bestimmt nie für eine körperliche Tätigkeit benutzt, die nicht Teil einer Freizeitbeschäftigung war. Segeln vielleicht. Oder Polo. Oder Bergsteigen. Alle drei Hobbys wurden in Hiroshi Nakamuras Go-Wiki-Bio erwähnt.

»Und wie lange waren Sie Mitarbeiter des Denver Police Department, Mr. Bottom?«

Nick hatte das Gefühl, dass das verdammte Vorstellungsgespräch rückwärtslief. »Ich war neun Jahre lang Detective. Insgesamt war ich siebzehn Jahre bei der Truppe.« Er widerstand der Versuchung, einige seiner Erfolge zu zitieren. Nakamura hatte sowieso alles in seiner Pergamentdatenbank.

»Detective im Dezernat Gewaltverbrechen und im Dezernat für Raub und Mord?« Nakamura las die Informationen ab und fügte nur aus Höflichkeit ein Fragezeichen an.

»Ja.« Bringen wir es endlich hinter uns.

»Und aus welchem Grund wurden Sie vor fünf Jahren entlassen ?« Nakamura schaute nicht mehr auf sein Blatt. Diesmal brachte nur die erhobene linke Augenbraue ein Fragezeichen zum Ausdruck.

Arschloch. Insgeheim war Nick erleichtert, dass sie den schwierigen Teil des Gesprächs erreicht hatten. »Meine Frau kam vor fünfeinhalb Jahren bei einem Autounfall ums Leben.« Nick ließ sich keine Emotionen anmerken. Ihm war klar, dass Nakamura und sein Sicherheitschef mehr über sein Leben wussten als er selbst. »Das hat mich … etwas aus der Bahn geworfen.«

Nakamura wartete, aber nun war es Nick, der es seinem Gegenüber nicht leicht machte. Du weißt genau, warum du mir den Auftrag geben wirst, Blödmann. Also raus damit.

Schließlich fuhr Mr. Nakamura leise fort. »Sie wurden demnach nach einer neunmonatigen Bewährungsfrist aus dem Polizeidienst entlassen – wegen Flashbackmissbrauch.«

»Ja.« Nick bemerkte, dass er die beiden zum ersten Mal anlächelte.

»Und diese Sucht, Mr. Bottom, war auch der Grund für das Scheitern Ihrer Privatdetektei, ein Jahr nach Ihrer … äh … Ihrem Ausscheiden aus dem Polizeidienst?«

»Nein«, log Nick. »Eigentlich nicht. Es sind einfach schwere Zeiten für Kleinunternehmen. Das Land ist im dreiundzwanzigsten Aufschwungjahr ohne Arbeitsplätze, wissen Sie.«

Keinem der beiden Japaner schien der alte Witz etwas zu sagen. Der gelassen an dem Tansu lehnende Sato erinnerte Nick an Jack Palance in Mein großer Freund Shane, obwohl die Körperformen nicht unterschiedlicher hätten sein können. Der Blick unver wandt. Auf der Hut. Auf der Lauer. Und wenn Nick eine falsche Bewegung macht, kann Sato-Palance ihn niedermähen. Als wäre Nick immer noch bewaffnet nach den zahlreichen Sicherheitschecks auf dem Gelände, nach dem CMRI-Scan seines Wagens, den er einen knappen Kilometer weiter unten hatte stehen lassen, und nach der Beschlagnahmung der Neun-Millimeter-Glock – selbst Sato musste einsehen, dass es lächerlich gewesen wäre, ohne Waffe durch die Stadt zu fahren.

Mit der tödlichen, auf alles gefassten Konzentration eines professionellen Bodyguards behielt ihn Sato im Blick. Oder der eines Killers wie Jack Palance.

Statt weiter auf der Sache mit dem Flashback herumzureiten, wechselte Nakamura plötzlich das Thema. »Bottom. Das ist ein ungewöhnlicher Name in Amerika, oder?«

»Ja, Sir.« Nick gewöhnte sich allmählich an das Sprunghafte der Befragung. »Das Komische daran ist, dass der ursprüngliche Familienname durchaus englisch war: Badham. Aber ein Schreiberling in Ellis Island hat ihn falsch verstanden. Muss so ähnlich gewesen sein wie in der Szene aus Der Pate II, wo der stumme kleine Michael Corleone umbenannt wird.«

Mr. Nakamura, der offenbar wirklich kein Fan alter Filme war, bedachte Nick erneut mit seinem vollkommen leeren und undurchdringlichen Japanerblick.

Nick seufzte vernehmlich. Der Versuch, Konversation zu machen, ermüdete ihn allmählich. »Bottom ist ein ungewöhnlicher Name, aber es ist der Name unserer Familie, seit sie vor ungefähr hundertfünfzig Jahren in die US A gekommen ist.« Auch wenn mein Sohn ihn nicht benutzt.

Als hätte er Nicks Gedanken gelesen, sagte Nakamura: »Ihre Frau ist verstorben, aber meines Wissens haben Sie einen sechzehnjährigen Sohn, er heißt … « Der Milliardär stockte und neigte sich wieder über sein E-Pergament, so dass Nick die rasiermesserscharfe Vollkommenheit seiner Salz-und-Pfeffer-Frisur bewundern konnte. »Val. Ist das eine Abkürzung, Mr. Bottom?«

»Nein«, antwortete Nick. »Einfach nur Val. Es gab einen alten Schauspieler, den meine Frau und ich mochten und … Jedenfalls heißt er einfach Val. Vor ein paar Jahren hab ich ihn nach L.A. geschickt, er lebt dort bei seinem Großvater – meinem Schwiegervater, einem pensionierten Professor. Bessere Bildungschancen dort. Aber Val ist erst fünfzehn, Mr. Nakamura, nicht … «

Nick unterbrach sich. Val hatte am 2. September Geburtstag gehabt, vor acht Tagen. Nick hatte es vergessen. Nakamura hatte recht, sein Sohn war inzwischen tatsächlich sechzehn. Gottverdammt. Plötzlich schnürte es ihm die Kehle zusammen, und er räusperte sich. »Also ja, stimmt, ich habe ein Kind. Einen Sohn namens Val. Lebt bei seinem Großvater mütterlicherseits in Los Angeles.«

»Und Sie sind immer noch flashbacksüchtig, Mr. Bottom.« Diesmal gab es weder in der flachen Stimme noch in der ausdruckslosen Miene des Milliardärs ein Fragezeichen.

Es ist so weit.

»Nein, Mr. Nakamura, das stimmt nicht«, er widerte Nick in festem Ton. »Ich war süchtig. Die Polizei hat mich zu Recht gefeuert. In dem Jahr nach Daras Tod war ich total am Ende. Und auch als meine Detektei ein Jahr nach meinem Abschied … , meinem Rauswurf aus der Truppe baden gegangen ist, habe ich die Droge noch zu oft genommen.«

Sato räkelte sich in seinem Anzug. Mr. Nakamura wartete mit starrer Haltung und ausdruckslosem Gesicht.

»Aber inzwischen hab ich die eigentliche Abhängigkeit hinter mir.« Er breitete die Hände aus. Er war entschlossen, nicht zu betteln – schließlich hatte er noch sein Ass im Ärmel, den Grund, warum sie ihn engagieren mussten –, aber irgendwie war es ihm wichtig, dass sie ihm vertrauten. »Mr. Nakamura, Sie wissen doch bestimmt, dass heute laut Schätzungen ungefähr fünfundachtzig Prozent der Amerikaner Flashback nehmen, aber nicht alle sind süchtig, so wie ich es … kurze Zeit war. Viele benutzen das Zeug nur gelegentlich … zur Erholung … in Gesellschaft …, so wie man bei uns Wein oder in Japan Sake trinkt.«

»Wollen Sie ernsthaft andeuten, Mr. Bottom, dass man Flashback in Gesellschaft nehmen kann?«

Nick atmete durch. Die japanische Regierung hatte die Todesstrafe wiedereingeführt für all diejenigen, die mit Flash handelten, es benutzten oder auch nur besaßen. Sie fürchteten es genauso wie die Muslime. Auf dem Gebiet des Neuen Weltkalifats zog eine Verurteilung wegen Flashbackbesitzes durch ein Schariatribunal sogar die sofortige Enthauptung nach sich und wurde in aller Welt von einem der rund um die Uhr sendenden Al-Dschasira-Kanäle ausgestrahlt, deren Programm sich ausschließlich aus Steinigungen, Enthauptungen und anderen islamischen Bestrafungen zusammensetzte. Dieses Programm wurde im gesamten Kalifat im Nahen Osten, in Europa und in Asien, aber auch in amerikanischen Städten von Hadschis verfolgt. Nick wusste, dass selbst Nichtmuslime in Denver aus Spaß zuschauten. Auch er konnte an besonders schlimmen Abenden nicht widerstehen.

»Nein«, sagte Nick schließlich, »ich behaupte nicht, dass es eine soziale Droge ist. Ich wollte nur sagen, dass Flashback in Maßen nicht schädlicher ist als … Fernsehen zum Beispiel.«

Nakamuras graue Augen bohrten sich weiter in die seinen. »Mr. Bottom, Sie sind also nicht mehr flashbackabhängig wie in der Zeit unmittelbar nach dem tragischen Unfall Ihrer Frau? Wenn ich Ihnen den Auftrag erteilen würde, den Tod meines Sohnes zu untersuchen, würde Sie nicht das Bedürfnis ablenken, die Droge zur Erholung zu benutzen?«

»Das ist richtig, Mr. Nakamura.«

»Haben Sie die Droge in letzter Zeit genommen, Mr. Bottom?«

Nick zögerte keine Sekunde. »Nein, das habe ich nicht. Ich hatte keine Lust darauf.«

Mr. Sato zog ein Handy aus der Jackentasche, einen unauffälligen Chip aus poliertem Ebenholz, der kleiner war als Nicks National Identity Credit Card. Sato legte das Telefon auf die oberste Stufe des Tansu.

Sogleich ver wandelten sich fünf dunkle Holzoberflächen in dem kargen Raum in Monitore. Das hochauflösende, aber nicht dreidimensionale Bild war klarer als der Blick durch ein vollkommen transparentes Fenster.

Aus verschiedenen Kamerawinkeln beobachteten Nick und die beiden Japaner einen Flashbacksüchtigen in seinem Auto, das sechs Kilometer entfernt in einer Seitenstraße gestanden hatte. Die Aufnahmen waren keine fünfundvierzig Minuten alt.

Gottverdammte Kacke, dachte Nick.

Dann liefen die Bilder.

1.01

JAPANISCHE GRÜNZONE ÜBER DENVER

FREITAG, 10. SEPTEMBER

Nicks erste Reaktion war professionell, das Ergebnis seiner Teilnahme an unzähligen polizeilichen Überwachungsaktionen: Das waren fünf Kameras, mindestens zwei davon an MUAVs: mikroskopischen Tarnkappendrohnen. Zwei mit sehr langen, stabilisierten Objektiven. Eine handgeführt und unglaublich nahe.

Natürlich war er es. Er in seinem klapprigen Gelding, die Fenster unten, weil die Septembersonne schon so heiß herunterbrannte. Der Wagen parkte unter einem überhängenden Baum in einer Sackgasse auf einem verlassenen Baugrundstück, wo neue, millionenteure Wohnungen hätten entstehen sollen. Ungefähr sechs Kilometer unter der japanischen Grünzone und etwa eineinhalb Kilometer nach der Evergreen-Genesis-Abfahrt von der Interstate 70.

Nick hatte sich mehrfach vergewissert, dass ihm niemand gefolgt war, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, warum ihn sein potenzieller Auftraggeber schon vor dem Vorstellungsgespräch überwachen sollte. Egal. Er schwor auf seine Paranoia. In den Jahren bei der Truppe hatte sie ihm immer gute Dienste geleistet. Sogar ausgestiegen war er und hatte mit seinem alten Spezialsuchfernglas mit Infrarotbewegungsmelder den Himmel und das aus den Rohbauten wuchernde Unkraut abgesucht.

Nick sah zu, wie er es sich auf dem Fahrersitz gemütlich machte und aus der zerknitterten Anzugjacke die einzige Ampulle Flashback holte, die er an diesem Vormittag mitgenommen hatte.

Der Nick auf dem Bild schloss die Augen, drückte die Ampulle zusammen und atmete tief ein, dann warf er sie durchs Fenster und lehnte sich nach hinten an die Kopfstütze. Schon nach wenigen Sekunden rollten die Augen nach oben wie immer bei Flashern, und sein Mund öffnete sich leicht – so wie auch jetzt.

Da er etwas zu früh von Denver hochgekommen war, hatte er fast noch eine halbe Stunde, bevor er die Straßensperren der Colorado State Police um die Grünzone passieren musste – den ersten von drei konzentrischen Sicherheitsringen. Es war nur eine Zehn-Minuten-Ampulle. Zehn miese Bucks für zehn leichte Kicks, hieß es auf der Straße.

Sein Anblick aus fünf Perspektiven, drei davon in Großaufnahme, unterschied sich nicht von den Tausenden dösenden Flashern an jeder Straßenecke: Nicks Augenlider hatten sich gesenkt, waren aber nicht völlig geschlossen; nur das untere Drittel der nach oben gerollten Iriden, die sich im aktiven REM-Modus bewegten, war zu erkennen. Die nächste Kamera fing einen silbernen Speichelfaden ein, der aus dem linken Winkel des zuckenden Mundes sickerte, und zoomte an den benommen mahlenden Kiefer heran, dessen tief in seinem Erinnerungserlebnis befangener Besitzer zu sprechen versuchte. Doch keine artikulierten Wörter kamen heraus, nur das übliche Idiotengestammel eines Flashers. Die Klangqualität war erstklassig, und Nick hörte sogar das sanfte Rascheln der Pappeläste über seinem Auto. Vor fünfzig Minuten hatte er davon nichts mitbekommen.

»Ich hab verstanden«, sagte er nach zwei Minuten zu den beiden Japanern, die das Geschehen auf den fünf Monitoren wie gebannt verfolgten. »Müssen wir uns diesen Scheiß bis zum Schluss ansehen?«

Sie mussten. Zumindest Mr. Nakamura schien dieser Meinung. Also beobachteten sie volle zehn Minuten lang, wie Nick Bottom, zerknittert und verschwitzt wie im echten Leben, auf dem Bild sabberte und zuckte, während die schwarz erweiterten Irispunkte auf den halb geschlossenen Augen, die hartgekochten Eiern ähnelten, hin und her hüpften wie schwirrende Fliegen. Nick zwang sich, den Blick nicht abzuwenden.

Dies ist fürwahr die Hölle, und ich bin mitten in ihr. Das war eins der wenigen nicht aus einem Film stammenden Zitate, das er kannte. Er hatte es von seiner Frau aufgeschnappt, die englische Literatur studiert hatte. Die genaue Quelle hätte Nick beim besten Willen nicht nennen können, er glaubte sich nur schwach zu erinnern, dass es etwas mit Faust und dem Teufel zu tun hatte. Wie ihr Vater hatte Dara neben Englisch mehrere andere Sprachen beherrscht. Und sowohl Vater als auch Tochter hatten anscheinend sämtliche Theaterstücke, Romane und guten Filme in diesen Sprachen gekannt. Nick hatte einen Magister in Rechtsmedizin – für einen Polizisten etwas unüblich, selbst wenn er beim Morddezernat war –, aber in Gesellschaft von Dara und ihrem Vater war er sich immer vorgekommen wie ein Halbgebildeter.

Im Auto hatte er auf die Flitterwochen mit Dara im Hana-Maui-Hotel vor achtzehn Jahren geflasht, und jetzt war er froh, dass er wenigstens keinen Sex mit ihr einbezogen hatte. Stattdessen hatte er andere Dinge heraufbeschworen: das Schwimmen im Endlospool mit Blick auf den Pazifik und den aufgehenden Mond, die hastige Dusche und das schnelle Überstreifen des Hale, weil sie zu spät für ihre Dinnerreservierung dran waren, und schließlich ihr Weg auf dem Speiselanai zwischen flackernden Fackeln und ihre Unterhaltung, während am dunklen Himmel über ihnen die Sterne erschienen. Es hatte nach tropischen Blumen und nach Meer geduftet. Den Sex hatte Nick vermieden, weil ein feuchter Spermafleck auf der Hose das Letzte war, was er für ein Vorstellungsgespräch brauchen konnte, und nun war er obendrein froh, dass sein aufgezeichnetes Idiotengesicht keine unkoordinierten spastischen Echos eines achtzehn Jahre zurückliegenden Orgasmus widerspiegelte.

Endlich schloss der Film damit, dass Nick Bottom aus der Trance erwachte, den Kopf schüttelte, sich mit den Händen durchs Haar fuhr, die Krawatte enger zog, sich im Rückspiegel musterte und mit dem scharrenden Geräusch eines absterbenden Elektromotors den Wagen anließ. Die fünf Kameras folgten ihm nicht, auch nicht die in der Luft. Vier der fünf Monitore ver wandelten sich wieder in dunkles Antikholz. Der letzte Monitor zoomte auf den Zeitcode und erstarrte.

Hiroshi Nakamura und Hideki Sato wandten sich schweigend von dem Bild ab.

Nach einer Minute peinlicher Stille hielt es Nick nicht mehr aus. »In Ordnung, ich bin also noch flashbacksüchtig. Ich bin die ganze Zeit auf Flash – mindestens sechs bis acht Stunden am Tag. Ungefähr so lang, wie sich die Amerikaner früher mit Fernsehen zugedröhnt haben. Na und? Sie werden mich trotzdem für diesen Job engagieren, Mr. Nakamura. Und mein Flashback bezahlen, damit ich knapp sechs Jahre zurückgehen und die Untersuchung zur Ermordung Ihres Sohnes wiederbeleben kann.«

Sato hatte sein Chiptelefon nicht von dem antiken Tansu genommen, und jetzt leuchteten auf allen fünf Monitoren Fotos des zwanzigjährigen Keigo Nakamura auf.

Nick schenkte den Bildern kaum Beachtung. Im Lauf der Ermittlungen vor sechs Jahren hatte er haufenweise Aufnahmen von Keigo gesehen – sowohl lebend als auch tot. Nicht gerade beeindruckend. Der Sohn des Milliardärs hatte ein schwaches Kinn, schräge braune Augen, bescheuertes Stachelhaar und diese schmollend verschlagene Visage, die Nick bei zu vielen jungen Asiaten in den Staaten beobachtet hatte. Nick hasste diesen Gesichtsausdruck junger, stinkreicher japanischer Touristen, die im verarmten Amerika auf Abenteuer aus waren. Eigentlich hatten ihn von Keigo Nakamura nur die Fotos vom Tatort und von der Autopsie interessiert, die ein fettes Grinsen zeigten, allerdings eines, das durch eine schartige Schnittwunde im Hals des Jungen entstanden war und den Blick auf weiß schimmernde Wirbel freigab. Der unbekannte Angreifer hatte Keigo fast den Kopf abgetrennt, als er dem jungen Erben die Kehle aufschlitzte.

»Wenn Sie mich engagieren, dann genau wegen Flashback«, setzte Nick leise hinzu. »Können wir vielleicht endlich auf den Punkt kommen oder die Sache abblasen? Ich hab heute noch was anderes vor.«

Der letzte Satz war die größte Lüge von allen.

Nakamura und Sato blieben völlig ungerührt, scheinbar teilnahmslos, fast als hätte Nick Bottom das Zimmer bereits verlassen.

Nun schüttelte der Milliardär den Kopf. Nick bemerkte die Anzeichen des Alters an ihm: angedeutete Tränensäcke, von den Augenwinkeln ausgehende Falten. »Sie irren sich, wenn Sie sich für unentbehrlich halten, Mr. Bottom. Wir besitzen Kopien aller Polizeiberichte aus der Zeit vor und nach dem Cyberangriff, aus der Zeit vor und nach Ihrer Abberufung aus dem Fall. Mr. Sato besitzt ein komplettes Dossier mit sämtlichen Unterlagen der Polizei von Denver.«

Nick lachte. Zum ersten Mal blitzte in den Augen des reichen Beraters Zorn auf, den Nick erfreut zur Kenntnis nahm. »Sie wissen doch, dass das nicht stimmt, Mr. Nakamura. Die ›sämtlichen Unterlagen‹, die Sie vom Department bekommen haben, sowohl zu meiner Zeit als auch später, haben nur ungefähr zehn Prozent von dem ausgemacht, was wir in digitaler Form gespeichert hatten. Papier ist viel zu teuer, niemand druckt tonnenweise überflüssigen Krempel aus, nicht mal für nervige japanische Milliardäre mit Einfluss im Weißen Haus. Die Mordakte hat Sato nie zu sehen gekriegt – nicht wahr, Hideki-san?«

Die Miene des Sicherheitschefs veränderte sich nicht angesichts der stichelnden Andeutung von Vertrautheit, aber seine kalten Augen wurden endgültig zu schwarzem Eis. Jede Spur von Amüsement war aus ihnen verschwunden.

»Sie brauchen mich also, wenn es eine neue Untersuchung geben soll«, resümierte Nick. »Zum letzten Mal, ich schlage vor, wir lassen die Spielchen und kommen zur Sache. Wie viel zahlen Sie für den Auftrag?«

Nach einem Moment der Stille ergriff Nakamura das Wort. »Wenn Sie die Mörder meines Sohnes aufspüren, Mr. Bottom, bin ich bereit, Ihnen fünzehntausend Dollar zu bezahlen. Plus Spesen.«

»Fünfzehntausend neue Bucks oder alte Dollar?« Nicks Stimme war leicht belegt.

»Alte Dollar. Zuzüglich Spesen.«

Nick verschränkte die Arme, wie um nachzudenken, aber in Wirklichkeit hatte er Mühe, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Er fühlte sich plötzlich ganz schwach.

Fünfzehntausend alte Dollar besaßen einen Wert von über zweiundzwanzig Millionen neuen Bucks.

Nick hatte zurzeit ungefähr hundertsechzigtausend neue Bucks auf dem Konto und schuldete früheren Freunden, Buchmachern, Flashbackdealern und Kredithaien mehrere Millionen.

Zweiundzwanzig Millionen neue Bucks, heilige Scheiße. Nick stellte sich etwas breiter hin, um nicht doch noch umzukippen.

Er gab weiter den harten Kerl aus einem Film noir. »Na schön, ich will, dass die fünfzehntausend alten Dollar sofort auf meine Ausweiskreditkarte überwiesen werden. Ohne Haken. Das heißt, ohne Einschränkungen oder Tricks, Mr. Nakamura. Sie engagieren mich und überweisen mir das Geld. Jetzt. Oder Sie lassen mich mit Ihrem Golfwagen zurück zu meinem Auto karren.«

Nun entfuhr dem Milliardär ein leises Lachen. »Halten Sie uns für Idioten, Mr. Bottom? Wenn wir Ihnen den vollen Betrag sofort überweisen, suchen Sie bei der erstbesten Gelegenheit das Weite und geben alles aus, um Flashback für Ihre eigenen Zwecke zu erwerben. «

Natürlich würde ich das, dachte Nick. Denn dann kann ich wieder leben. Bin reich genug, um den Rest meines Lebens zusammen mit Dara zu verbringen – mehrfach.

Nick war immer noch schwindlig. »Was schlagen Sie vor? Die Hälfte sofort, die andere Hälfte, wenn ich den Kerl fasse?« Auch mit siebentausendfünfhundert alten Dollar konnte er jahrelang auf Flash bleiben.

»Ich werde einen angemessenen Betrag für Spesen auf Ihre National Identity Credit Card gutschreiben und ihn nach Bedarf aufstocken. Für Spesen, wie gesagt. Die fünfzehntausend alten Dollar werden erst auf Ihr Privatkonto überwiesen, nachdem der Mörder meines Sohnes identifiziert ist und Mr. Sato diese Informationen verifiziert hat.«

»Nachdem Sie den Kerl beseitigt haben, meinen Sie.«

Ohne Nicks Bemerkung zu beachten, sprach Mr. Nakamura weiter. »Unser holistischer Vertrag wurde auf Ihr Telefon übertragen, Mr. Bottom. Sie können ihn in Ruhe durchlesen. Ihre virtuelle Unterschrift wird den Kontrakt aktivieren, und Mr. Sato wird das Geld für erste Ausgaben auf Ihre NICC überweisen. Inzwischen hätten Sie vielleicht die Freundlichkeit, Mr. Sato mit hinunter nach Denver zu nehmen.«

»Wie komme ich dazu?«

»Sie werden mich bis zum Abschluss der Ermittlungen nicht mehr sehen, Mr. Bottom, doch mit Mr. Sato werden Sie oft zu tun haben. Er ist bei diesem Auftrag mein Verbindungsmann zu Ihnen. Heute möchte ich, dass er Ihr Fahrzeug erlebt und Ihren Wohnsitz kennenlernt.«

»Mein Fahrzeug erlebt?« Nick lachte. »Meinen Wohnsitz kennenlernt? Wozu das denn?«

»Mr. Sato hat noch nie einen Baby-Gap-Laden gesehen«, erklärte Hiroshi Nakamura. »Es wäre ihm eine große Freude. Damit ist unser Gespräch zu Ende, Mr. Bottom. Guten Tag.« Knapp und kurz deutete der Milliardär eine Verbeugung an.

Nick Bottom schenkte sich die Verneigung. Er machte auf dem Absatz kehrt und steuerte auf den Eingangsbereich zu, wo seine Schuhe standen. Bei jedem Schritt auf der weichen Tatami spürte er seinen nackten Zeh.

Dicht hinter ihm folgte Hideki Sato ohne den geringsten Laut.

2.00

LOS ANGELES

FREITAG, 10. SEPTEMBER

Val lehnte in einem V, wo unweit der Überreste der Union Station unter einer zerfallenden Überführung über einen verlassenen Abschnitt der 101 verrosteter Stahl und taubenkotbefleckter Beton zusammentrafen. Val liebte diesen Ort nicht nur, weil er im Schatten lag und kühl war, sondern auch, weil er cool war. Er stellte sich gern vor, dass die Stahlträger und Betonsimse, auf denen er und die anderen Jungs gerade lagen, die Pfeiler einer verlassenen gotischen Kathedrale waren und dass er hier oben zwischen den Wasserspeiern als Glöckner herumturnte. Charles Laughton. Die Liebe zu alten Filmen war wohl das Einzige, was Val von seinem Alten geblieben war, nachdem ihn der blöde Arsch abgeschoben hatte.

Die anderen aus der kleinen Gang kamen jetzt allmählich vom Flash runter, ihr Zucken und Sabbern ging in Gähnen, Strecken und Rufe über.

»Also gut ! «, brüllte Coyne. Er war so was wie der Anführer dieser heruntergekommenen Bande von weißen Quenglern.

»Und zwar so was von scheißgut !«, grölte Gene D. Der große, pickelige Junge rieb sich abwesend den Schritt, als er voll hochkam und aufwachte. Anscheinend wollte er nach dem Flash vollenden, was er bei der echten Vergewaltigung nicht geschafft hatte.

» Gib’s ihr wie ein Stier! «, rief Sully. Tattoos liefen über die muskulösen Arme des Sechzehnjährigen und machten aus seinem Gesicht die Maske eines Maorikriegers.

Monk, Toohey, Cruncher und Dinjin kamen wackelnd aus ihrem wiederholten Halbstundenflash, beschränkten sich aber auf Gähnen, Rülpsen und Furzen. Sie waren ein, zwei Jahre jünger als Val und die drei anderen. Allerdings war Cruncher, der eigentlich Calvin hieß, mit Abstand der Größte und Dümmste von den acht. Bis zum vorzeitigen Dingsbums hatte kein Sexversuch bei ihnen länger als eine Minute gedauert, und Val fragte sich: Worauf haben diese Schwachköpfe eigentlich die restlichen neunundzwanzig Minuten geflasht? Den Teil, wo sie sie nackt ausgezogen haben? Den Teil, wo sie weggerannt sind? Oder flashten sie einfach dreißigmal hintereinander auf ihren magischen Moment wie eine hängende Blueray Disc ?

Die Gruppe hatte jetzt zweimal auf die Vergewaltigung einer Latinojungfrau vor etwas über einer Stunde geflasht. Der Plan – Coynes Plan eigentlich – war gewesen, sich eine von diesen niedlichen Latinas aus der vierten Klasse zu schnappen und sie nacheinander durchzuficken. »Eine von diesen süßen kleinen Jungfrauen, die bloß so einen Ameisenflaum über dem Schlitz haben« – so hatte es Coyne kunstvoll ausgedrückt. »Darauf können wir wochenlang flashen.«

Aber sie hatten sich keine süße kleine Viertklässlerin krallen können. All die süßen kleinen Latinas wurden von bewaffneten Dads und älteren Brüdern zur Schule gebracht, die in ihren tiefer gelegten Hybridschlitten über die Straßen bretterten, während die Jungfrauen auf dem Rücksitz durch die Schießscharten spähten. Letztlich hatten sie sich mit Handarbeit-Maria begnügt, der zurückgebliebenen Neuntklässlerin, die dieselbe Highschool besuchte wie sie. Maria mochte tatsächlich Jungfrau gewesen sein, denn es war etwas Blut geflossen bei Coynes erstem Versuch. Ihr Anblick – die Speckfalten, die ihr über den billigen Slip hingen, ihr klumpig käsiges Gesicht mit den leer starrenden Augen, die großen, aber schon alt wirkenden Wabbeltitten – hatte Val auf widerliche Weise angemacht, ihn aber auch dazu bewegt, während der Vergewaltigung lediglich Schmiere zu stehen.

Wie die anderen hatte er hier unter der hohen Überführung geflasht, aber er war nur zehn Minuten zur Feier seines vierten Geburtstags in Denver zurückgekehrt. Diese Party suchte Val immer wieder auf, so wie Schizophrene sich stets von neuem die Arme mit Zigaretten verbrannten, um nicht zu vergessen, dass sie noch lebten.

Die sieben wiederer wachten Jungs zündeten sich Kippen an und streckten sich auf den Trägern in luftiger Höhe aus. Sie mochten die Träger, aber niemand wollte auf den schmalen Stahlflächen zwanzig Meter über dem Highway liegen, wenn er gerade auf Flash war. Alle hatten löchrige Jeans, schwarze Springerstiefel und verblichene interaktive T-Shirts an, wie sie allgemein von Highschoolkids aus der Mittelschicht in der Schule getragen wurden: vorn und hinten mit Bildern von rotzgeilen Typen wie Che und Fidel, Hitler und Himmler, Mao Irgendwer und Charles Manson, Mohammed al Aruf und Osama bin Laden – über die sie allerdings kaum etwas wussten. Coyne hatte interaktive und sprachfähige verschossene Bilder – die sich zu Holos aufblasen und echte Dialoge führen konnten – von Dylan Klebold und Eric Harris auf seinem T-Shirt. Auch über Klebold und Harris wussten Val und die anderen eigentlich nur, dass es arschcoole Mörder in ihrem Alter waren, die versucht hatten, ihre gesamte Schule umzulegen, als das noch eine neue Idee war. Damals im letzten Jahrhundert, als noch Dinosaurier und Republikaner herumliefen.

Wie die anderen Jungs, die sich rauchend hoch über dem Highway fläzten, hatte Val darüber nachgedacht und geredet, jeden in seiner Schule umzubringen. Das Dumme war nur, dass Schulen mittlerweile keine weichen Ziele mehr waren. Klebold und Harris hatten es leicht gehabt (trotzdem hatten sie die Sache vergeigt, und ihre Propangasbomben waren nicht losgegangen). Heute trieben sich in Vals Highschool nahe dem Straflager Dodger Stadium fast genauso viele Wachposten wie Schüler herum, die lokalen Bürgerwehren beschützten die Kids, die noch so blöd waren, den Schulweg zu Fuß zurückzulegen, und sogar die bescheuerten Lehrer mussten Waffen tragen und am Schießplatz des Los Angeles Police Department in der alten Abfüllanlage von Coca Cola hinter der Central Avenue regelmäßig mit der Knarre üben.

Plötzlich stand Coyne auf, machte den Reißverschluss auf und fing an, in hohem Bogen sechs Stockwerke tief auf den unkrautüberwucherten Highway zu pissen. Das setzte eine Pinkelorgie in Gang. Monk, Toohey, Cruncher und Dinjin folgten dem Beispiel ihres Anführers als Erste, dann Sully und Gene D., zuletzt auch Val. Er musste nicht pinkeln, aber nach langen Flashbacksitzungen hatte man oft den Drang dazu, und er wollte nicht zu erkennen geben, dass er nur für ein paar Minuten abgetaucht war, während die anderen über eine Stunde auf ihren Vergewaltigungsspaß geflasht hatten. Val zog den Reißverschluss auf und schloss sich der Pissbrigade an.

»Hey, stopp !«, rief Coyne, bevor die Jüngeren und Val fertig waren.

Ein Dröhnen hallte durch die Betonschlucht der 101. Es war schwer, das Pinkeln zu unterbrechen, nachdem man damit angefangen hatte, aber Val schaffte es. Plötzlich röhrte unter ihnen ein Dutzend Harleys. Die Tattoos und Muskeln der Fahrer quollen aus dem schwarzen Leder, das lange schwarze oder graue Haar wehte in der Luft.

»Die verbrennen echtes Scheißbenzin !«, kreischte Gene D.

Ohne nach oben zu schauen, rasten die Biker unten durch, obwohl die Jungs mit ihren in der Luft baumelnden Schniedeln gut sichtbar waren. Die Harleys donnerten mit ungefähr hundertdreißig Sachen dahin.

»Scheiße, jetzt wär ich gern ein Stück weiter vorn an der Straße«, ächzte Sully.

Sie wussten alle, was er meinte. Eineinhalb Kilometer weiter war beim großen Beben an einer Stelle, vor der keine Abfahrt mehr kam, ein vier Meter langes Stück der 101 abgestürzt. Durch den Spalt ging es zwanzig Meter tief hinab ins Dunkel – auf Betonblocks mit abstehenden Stahlstangen, auf das verbogene, rostige Metall alter Autowracks, und, wie die Jungs gehört hatten, auf zahllose Skelette von Bikern. Irgendwelche Harleyfahrer hatten vor Jahren eine breite Betonplatte als eine Art Schanze festgeklemmt, und die Biker mussten mit vollem Karacho und höchstens zu dritt nebeneinander auf diese Schanze zuschießen, um über den Spalt zu springen und die erste Öffnung in den Absperrungen zu erreichen, wo die 101 mit den Überresten des Pasadena Freeway zusammentraf. Val kannte die Stelle mit der Sprungschanze und wusste, dass an der Westkante des Spalts Blutschlieren, zerfetzter Gummi und bizarre Haufen von Chrom und Stahl klebten. Blöderweise machte die 101 hinter Alameda eine leichte Kurve nach Norden, so dass sie von ihrer Überführung aus den tödlichen Spalt nicht sehen konnten.

Gierig blickten die Jungs den Bikern nach, die bereits ihre Formation änderten und sich in Position brachten. Der riesige, haarige Anführer mit roten Tätowierungen aus echtem Blut beschleunigte vorneweg um die Kurve, und als das mächtige, dem Tod trotzende Dröhnen anschwoll und verhallte, fühlte sich Val stärker erregt als beim Anblick seiner Kumpel, die die arme Handarbeit-Maria bearbeiteten.

Coyne hing die Zigarette von der Unterlippe, als er Val mit leisem Lächeln in die Augen schaute. Offenbar bekam auch er einen Ständer. In solchen Momenten kam sich Val irgendwie schwul vor.

Um seine Verlegenheit zu überspielen, spuckte er geräuschvoll über die Kante, machte den Reißverschluss zu und wandte den anderen den Rücken zu. Das Röhren der Harleymotoren im Westen erreichte seinen Höhepunkt und nahm wieder ab.

Coyne griff hinten unter sein T-Shirt und zog etwas aus dem Hosenbund.

»Heilige Scheiße«, entfuhr es dem kleinen Dinjin. »Eine Knarre.«

Alle sechs scharten sich um Coyne, der am Rand des taubenverdreckten Simses kauerte.

»Eine Beretta M9, neun Millimeter«, flüsterte Coyne dem gedrängten Kreis von Köpfen zu. »Hier ist die Sicherung.« Er schob einen kleinen Hebel vor und zurück. Der rote Punkt bedeutete wohl, so vermutete Val, dass die Waffe entsichert war.

»Hier der Magazinriegel … « Coyne drückte auf einen kleinen Knopf am Griff hinter dem Abzughahn. Das Magazin rutschte heraus, und Coyne fing es auf. »Vierzehn Patronen. Kann ohne Magazin einen zusätzlichen Schuss aus der Kammer abfeuern.«

»Darf ich sie mal halten? Darf ich?«, hauchte Sully. »Bitte, ich möchte bloß … Dingsda … einen Trockenschuss abgeben.«

»Wie wenn du ein Mädel besteigst?« Monk wieherte.

»Klappe«, zischten Val, Coyne, Sully und Gene D. gleichzeitig. Sie mochten es nicht, wenn die Jüngeren ungefragt redeten.

Coyne zielte mit der magazinlosen Halbautomatik auf Sully. »Ich geb sie dir, wenn du damit umgehen kannst. Kann sie jetzt schießen?«

»Nöh«, lachte Sully. »Der Stift ist … «

»Das Magazin«, verbesserte Coyne.

»Mein ich ja. Das Magazin ist draußen. Ich seh die Kugeln im … Magazin. Die Knarre ist harmlos.«

Auch Val sah die Kugeln, zumindest die oberste im Magazin: Messingmantel, Bleispitze, eingekerbt wie mit einem Taschenmesser. Er hatte ein komisches Gefühl, erregend wie das Donnern der Harleys.

Coyne fuhr Sully an. »Du bist ein Schwachkopf. Hättest dich umbringen können oder mich oder einen von den anderen Saftärschen hier.« Coyne zog den Schlitten der alten Waffe zurück, und eine Patrone, die in der Kammer war, fiel heraus. Er fing sie auf.

»Da war noch eine im Rohr«, sagte Coyne leise. »Du hättest dir den Schwanz weggeschossen. Oder einen von uns umgenietet.«

Sully grinste und blinzelte heftig. Er war noch immer so scharf darauf, die Pistole zu halten, dass ihn die Zurechtweisung völlig kaltließ.

Der Penner hätte wirklich einen von uns über den Haufen knallen können, dachte Val.

Coyne schob den Sicherungsriegel über den roten Punkt und drückte auf den Abzug, so dass der Schlitten wieder einrastete. Dann reichte er die Waffe Sully, seinem ältesten Freund und ersten Anhänger. Die anderen drängten sich enger um Sully, während Coyne und Val zurücktraten.

Val blickte hinaus auf die Stadt.

Im Südosten war das Zentrum mit den Resten der Bürotürme, unter anderem dem Stummel des US Bank Tower – den alte Säcke wie sein Großvater noch immer Library Tower nannten – und dem Trümmerhaufen des Aeon Center. Die meisten anderen noch existierenden Türme waren verlassen und trugen ihre Antiterrorkondome.

Aber Val interessierte sich nicht für alte Gebäude.

Wie jeder inzwischen sah er Los Angeles in Sektoren unterteilt, als würden die einzelnen Reviere in verschiedenen Farben pulsieren. Im Süden und Osten lag das Latinorevier, überwiegend Reconquista. Geradeaus im Süden hinter den leeren Downtownschluchten waren Nigger- und Chinkfestungen und drum herum weitere Reconquista-Areale. Hinter Val im Norden gab es echte Chinesen-, Asiaten- und Schwarzenreviere, die aber alle langsam dem Vormarsch der Reconquista wichen, während weiter im Westen und Norden die Anglos den Mulholland Drive in eine Privatstraße umgewandelt hatten und das hoch liegende Gelände mit Toren, Elektrozäunen und Bürgerwehr abschirmten. Die japanische Grünzone oben in den westlichen Hügeln hinter der 405, wo früher das Getty Center gestanden hatte, war umgeben von Gräben, elektrischen Zäunen, Sicherheitspatrouillen und drohnengeschützten Todeszonen. Dazu gab es Hunderte weitere, unbedeutende – aber heftig verteidigte – Reviere in L. A ., und jedes einzelne verfügte über eigene Kontrollpunkte, Straßensperren und Todeszonen.

Bei den reichen Ärschen in Beverly Hills, Bel Air, Pacific Palisade und in Teilen von Santa Monica spielte sich momentan das echte Nachtleben ab, aber Vals Großvater hatte kein Auto, also kam er dort nicht hin. Außerdem wäre die Gang sowieso nicht in diese schwerbewachten Reichenviertel reingekommen. Coynes jämmerliche Flashgang war zu Fuß unterwegs, da blieb der Pazifik so unerreichbar wie der Mond.

»Willst du sie mal halten?« Coyne sah Val an.

Coyne hatte mit der halbautomatischen Beretta die Runde gemacht wie ein Priester mit der Hostie, und jetzt war Val an der Reihe.

Er nahm die Pistole. Obwohl Coyne das Magazin noch in der Hand hatte, war sie überraschend schwer, und der schraffierte Kolben oder Griff, oder wie man das nannte, lag kühl in Vals feuchter Hand. Obwohl er keinen Schimmer hatte, was er da eigentlich machte, zog er den Schlitten zurück und spähte in die leere Kammer.

»Geil, was?« Coyne wurde von den anderen umringt wie von eifrigen Jüngern.

»Ja, echt geil.« Val zielte auf den fernen Stummel des US Bank Tower. »Bamm.«

Coyne lachte, und die anderen kicherten los wie Hirnamputierte.

Val überlegte, wen er abknallen könnte, falls ihm Coyne die geladene Waffe überließ. Seinen Großvater natürlich, aber eigentlich hatte Leonard Val nichts getan, war nur immer um ihn rumgeschwirrt wie ein Ersatzvater. Einen Lehrer vielleicht auf dem Schulweg, aber eigentlich war die Einzige, die er hasste, Miss Daggis, die Englischlehrerin aus der neunten Klasse, die ihn gezwungen hatte, seinen blöden Aufsatz vor der ganzen Klasse vorzulesen. Seitdem hatte Val keine Zeile mehr für die Schule geschrieben. Eigentlich schrieb er total gern irgendwelches Zeug, aber es war ihm peinlich, wenn es die anderen mitbekamen.

Moment.

Wenn er diese Knarre in die Finger bekam, konnte er nach Denver zurückkehren und seinem Alten eine Kugel in den Bauch schießen. Hinfliegen konnte er nicht, das wusste Val. Scheiße, die zogen die Passagiere heute splitternackt aus, scannten sie und durchschnüffelten mit fünfzig Sensordingern alle Körperöffnungen für den Fall, dass sie sich Semtex in den Arsch geschoben hatten. Außerdem konnten sowieso nur die Japsen und ein paar stinkreiche Amerikaner – wie Coynes Alte – mit dem Flugzeug reisen.

Nein: Wenn, dann musste er trampen, eintausendfünfhundert Kilometer Bandenland durchqueren, sich von den Bürgerwehren und den bundespolizeikontrollierten Highways fernhalten, einen Bogen um das befestigte Las Vegas machen und die kleineren Straßen nehmen, die die Trucker bevorzugten, um nach fünf Jahren Exil in Denver aufzutauchen, seinen Alten aufzuspüren und …

Val merkte, dass ihm Coyne die Hand entgegenstreckte. Er wollte die Pistole zurück.

Val reichte sie ihm. Mit geübter Bewegung knallte der Anführer das Magazin hinein und ließ den Schlitten zurückfahren. Theoretisch war jetzt eine Patrone im Lauf, und dreizehn – oder waren es vierzehn? – weitere warteten im Magazin.

»Das ist das Tool«, meinte Coyne.

Titel der amerikanischen Originalausgabe FLASHBACK Deutsche Übersetzung von Karl Jünger

Deutsche Erstausgabe 11/2011

Copyright © 2011 by Dan Simmons

Copyright © 2011 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Eisele Design, München Satz: Greiner & Reichel, Köln

eISBN 978-3-641-08130-0

www.heyne-magische-bestseller.de

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