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Soziale Konflikte sind Konflikte um Verteilungsfragen. Seit vielen Jahren bestimmen sie den demokratischen Streit. Politische Machtkonflikte haben sich um zwei Achsen geordnet – einmal um den Ausgleich zwischen (ökonomischer) Freiheit und (sozialer) Sicherheit; zweitens um ein progressives oder konservatives Verhältnis zu Liberalisierung und Pluralisierung. Das Kursbuch 215 kreist um diese Konflikte. Steffen Mau macht in seinem Beitrag darauf aufmerksam, dass es sehr wohl soziale Konflikte in verschiedenen Feldern gibt, aber an der gerne behaupteten These der Polarisierung der Gesellschaft nichts dran ist, auch wenn sich die Ränder radikalisieren.
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Seitenzahl: 20
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Inhalt
Steffen MauFliegt bald alles auseinander?Zur Konstruktion gesellschaftlicher Spaltungsdiagnosen
Der Autor
Impressum
Steffen MauFliegt bald alles auseinander?Zur Konstruktion gesellschaftlicher Spaltungsdiagnosen 1
Diagnosen der Spaltung
Wenn heutzutage in der Öffentlichkeit über die Lage der Gesellschaft nachgedacht wird, ist die Spaltungsdiagnose zumeist nicht weit. Immer wieder kann man in politischen Kommentaren, den Feuilletons oder auf politischen Podien von den »zementierten Spaltungen«, dem »neuen Kulturkampf« oder dem »großen Graben« hören und lesen. Die einen wollen dies, die anderen genau das Gegenteil, Lagerbildung allerorten, die Konsensressourcen scheinen aufgezehrt. Mit Besorgnis registriert man soziale und politische Fliehkräfte, sieht Konflikte als Ausdruck einer zunehmenden Spaltung und fragt sich, ob bei allem Gegeneinander überhaupt noch Gemeinschaft und Zusammengehen möglich sind. Der Begriff der Polarisierung ist in den vergangenen Jahren so zu einer wirkmächtigen Chiffre gesellschaftlicher Selbstdiagnose geworden – eine Art niederschmetternder Krankheitsbefund, den man sorgenvoll in Augenschein nimmt. Fliegt bald alles auseinander?
Trotz der jüngsten Prominenz dieser These ist das Bild eines Auseinanderfallens der Gesellschaft und der intensivierten Konflikthaftigkeit natürlich nicht neu. Es gehört schon lange in das Repertoire kapitalistischer Zeitkritik, wenn man etwa an Marx’ Vorstellung antagonistischer Klassen und der Klassenkämpfe denkt. Ohne die Zentralität der Klassen, aber ebenso mit strukturellem Fokus entwickelte sich ab den späten 1960er-Jahren in der Politikwissenschaft ein eigener Forschungsstrang zu gesellschaftlichen Konfliktstrukturen: die Cleavage-Theorie.2»Cleavages« – zu Deutsch »Spaltungslinien« – bezeichnen historisch relativ stabile Konfliktkonstellationen, die sich aus der Teilung von Bevölkerungsgruppen entlang sozialer Interessen und Identitäten ergeben. Die Gesellschaft wird nicht als homogen und unstrukturiert angesehen, sondern als segmentiert, mit klar voneinander zu unterscheidenden Gruppierungen.
Die klassische Cleavage-Forschung versuchte zu erklären, warum verschiedene Parteiensysteme Westeuropas ähnlich strukturiert sind, etwa durch das Neben- und Gegeneinander von Sozialdemokraten und Konservativen. Entsprechend ihrer leitenden Metapher zeichnet die Theorie ein Bild der Sozialstruktur und der politischen Orientierungen als durch Gräben geprägt, die sich in langen historischen Prozessen aus »tektonischen Verwerfungen« ergeben. Für einen Cleavage müssen grundsätzlich drei Elemente zusammenkommen und sich verstärken: erstens ein struktureller Interessengegensatz zwischen Gruppen, die aufgrund ihrer sozialen Stellung zu Gewinnern oder Verlierern gesellschaftlicher Transformationsprozesse werden, zweitens ein Gruppenbewusstsein in Form eines Zusammengehörigkeitsgefühls, geteilter Werte und einer kollektiven Identität im weiteren Sinne und drittens eine Form der institutionalisierten politischen Interessenvertretung durch politische Parteien oder andere korporative Akteure. Die Kernvorstellung besagt, dass im Parteiensystem Konflikte ihren Ausdruck finden, die auf der tieferen Ebene der Sozialstruktur und sozialer Identitäten angelegt sind. Parteien und politische Akteure spiegeln also vorgelagerte gesellschaftliche Strukturen, übersetzen Interessenlagen und Identitäten in den politischen Konfliktraum.