Ungleich vereint - Steffen Mau - E-Book + Hörbuch

Ungleich vereint Hörbuch

Steffen Mau

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Beschreibung

»Wer in der Ost-West-Debatte mit Schuldbegriffen operiert, ist schon auf dem Holzweg.«

Die Diskussion über Ostdeutschland und das Verhältnis zwischen Ost und West flammt immer wieder auf. Sei es anlässlich runder Jubiläen, sei es nach Protesten – oder nach Wahlen. Und dennoch gibt es in dieser Debatte keine Verständnisfortschritte. Sie dreht sich im Kreis, auf Vorwürfe folgen Gegenvorwürfe: »Ihr seid diktatursozialisiert!« – »Ihr habt uns ökonomisch und symbolisch kleingemacht!«

Im November 2024 jährt sich der Mauerfall zum 35. Mal. Bereits zuvor konnte die AfD aus der Landtagswahl in Thüringen als stärkste Partei hervorgehen, aus den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen als zweitstärkste. In dieser Lage meldet sich der »gefragteste Gesellschaftsdeuter im Land« (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung) mit einer differenzierten Intervention zu Wort.

Steffen Mau setzt sich mit prominenten Beiträgen auseinander und widerspricht der Angleichungsthese, laut der Ostdeutschland im Lauf der Zeit so sein werde wie der Westen. Aufgrund der Erfahrungen in der DDR und in den Wendejahren wird der Osten anders bleiben – ökonomisch, politisch, aber auch, was Mentalität und Identität betrifft. Angesichts der schwachen Verwurzelung der Parteien plädiert Steffen Mau dafür, alternative Formen der Demokratie zu erproben und die Menschen etwa über Bürgerräte stärker zu beteiligen.

NDR Sachbuchpreis 2024 (Longlist)
Bayerischer Buchpreis 2024 (Shortlist)
Platz 1 Bestseller in FOCUS, stern und Börsenblatt
Platz 1 der Sachbuch-Bestenliste (DLF Kultur/ZDF/DIE ZEIT)
Platz 1 der Sachbuch-Bestenliste (WELT/NZZ/rbbKultur/Ö1)
Platz 1 der SPIEGEL-Bestsellerliste

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Zeit:4 Std. 32 min

Sprecher:Heiko Grauel
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Cover

Titel

3Steffen Mau

Ungleich vereint

Warum der Osten anders bleibt

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der 4. Auflage, 2024.

© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024

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Umschlagabbildung: © PantherMedia/Jacqueline Böttcher

eISBN 978-3-518-78122-7

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Einleitung

1. Ossifikation statt Angleichung

2. Ausgebremste Demokratisierung

3. Kein 1968

4. Ostdeutsche Identität

5. Politische Konfliktlagen

6. Allmählichkeitsschäden der Demokratie

7. Labor der Partizipation

Anmerkungen

Einleitung

1. Ossifikation statt Angleichung

2. Ausgebremste Demokratisierung

3. Kein 1968

4. Ostdeutsche Identität

5. Politische Konfliktlagen

6. Allmählichkeitsschäden der Demokratie

7. Labor der Partizipation

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Informationen zum Buch

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Einleitung

Der Diskurs über Ostdeutschland ist kompliziert und dreht sich im Kreis. Auch die großen Jubiläen zum 30. Jahrestag der friedlichen Revolution und ein Jahr später der Wiedervereinigung haben wenig an diesem Zustand geändert. Dabei gibt es geradezu einen Überbietungswettbewerb darin, Ostdeutschland oder die Ostdeutschen auf einen Begriff zu bringen: Sie hätten den »inneren Hitler« (und die »Doppeldiktatur«) nicht überwunden,1 sie seien ein notorisch »unzufriedenes Volk«,2 das sich in der Opferpose gefalle. Zu ihrer Verteidigung wiederum wird angeführt, man müsse sie als »Unterschätzte«3 oder gar als Unterlegene und Übersehene in einer westdeutschen Dominanzgesellschaft begreifen, die um Anerkennung kämpften.4 Dann gibt es Stimmen, laut denen es an der Zeit sei für eine »neue Geschichte der DDR«, die über die Diktaturerzählung hinausgehe und auch die guten Seiten des Lebens vor 1989 zum Vorschein bringe.5 Angela Merkel wiederum hat sich bei einer ihrer letzten großen Reden als Bundeskanzlerin vehement dagegen verwehrt, dass ihre DDR-Biografie als »Ballast« angesehen werde und sie manchen »nur« als »angelernte Bundesdeutsche« und »angelernte Europäerin« gelte.6 Von anderen hört man im Brustton der Überzeugung, der Osten sei eine bloße Erfindung des Westens, geschickt eingesetzt, um die Ostdeutschen kleinzuhalten und sich selbst zu erhöhen.7 Und schlussendlich sind da jene, die sich nicht zurückhalten können, bei Aschermittwochsreden ostdeutsche Biografien zu verunglimpfen8 oder in privaten Chats die »Ossis« als »entweder Kommunisten oder Faschisten« zu beschimpfen.9

8Ja, was denn nun? Die Verwirrung bleibt, wobei viele dieser Thesen und Aussagen als Aufreger gut zu funktionieren scheinen. Der Journalist Cornelius Pollmer beschrieb die Ostdeutschland-Diskurse einmal humorig als »Los Wochos in Lostdeutschland«: »So läuft es immer. Jemand äußert etwas über den Osten, dann gibt es eine ›Debatte‹, am Ende sind alle Diskursfexe müde und kommen sich noch spanischer vor als sonst.« Danach passiere »eine Weile zu einhundert Prozent nichts. Dann geht es wieder von vorne los«.10

Das Sprechen über Ostdeutschland ist jedenfalls bis heute von Vorwürfen, Unsicherheit und Missverstehen geprägt: Auf mediale Kollektivschelte an den Ostdeutschen folgt Trotzreaktion, Kritik am Einigungsprozess wird mit dem Hinweis auf die Alternativlosigkeit der Entscheidungen und Maßnahmen retourniert. Die Lasten im Osten werden mit den Kosten im Westen verrechnet, Erfahrungen biografischer Deklassierung führen zu Forderungen nach der Anerkennung von Lebensleistungen. Die einen fühlen sich kolonialisiert, die anderen ausgenutzt und reden vom undankbaren Osten. Auch deshalb haben sich viele Wohlmeinende aus diesen Diskussionen verabschiedet. Auf westdeutscher Seite hat sich eine gewisse Genervtheit eingeschlichen.

Im Osten hingegen ist der Eindruck weit verbreitet, der Westen dominiere den Blick und zeichne ein allzu negatives Bild, etwa dass die Ostdeutschen »rückständig und nicht reif für die Demokratie« seien.11 Bei vielen Ostdeutschen stößt es auf Unmut, wenn ihnen immer wieder neue Kollektiveigenschaften zugeschrieben werden, die sie zu »Anderen« machen. Auch die retrospektive Bewertung der DDR fällt im Osten oft anders aus. Die Begriffe »Diktatur« und »Unrechtsstaat« sind zwar nicht mehr so umstritten wie noch vor zwanzig Jahren, dennoch sind Erinnerungskonflikte an der Tagesordnung. Wie die DDR geschichtspoli9tisch eingeordnet werden soll, ist nach wie vor eine heiß debattierte Frage. Schließlich werden die Einheit und die Transformation je nach Standort unterschiedlich beurteilt. Die Treuhand beispielsweise hat im Osten immer noch das Image einer rücksichtslos zerstörerischen Institution, aus westdeutscher Perspektive war sie ein notwendiges Übel. Viele Probleme, die aus ostdeutscher Sicht auf der Hand liegen, werden im Westen nur bedingt gesehen. Dort klammert man sich an die Freiheitserzählung und das Narrativ des erfolgreichen Zusammenwachsens, hat wenig übrig für die sozialen Narben und kulturellen Entwertungen, die viele Ostdeutsche bis heute beklagen. Manche Beobachter sprechen angesichts dessen gar von »Unaufrichtigkeiten in der Kommunikation der Vereinigungsgesellschaft«,12 die zur Herausbildung zweier unterschiedlicher Deutungskulturen geführt hätten, oder, bezogen auf die Gegenwart, von einer »neuen Entfremdung«.13

Dieses kleine Buch ist ein Versuch, in dieser komplizierten Diskussionslage für etwas Übersicht zu sorgen. Denn: Wer in der Ost-West-Debatte mit Schuldbegriffen operiert, ist schon auf dem Holzweg. Zudem sollte man küchenpsychologische Erklärungen vermeiden, die sich an populären Mythen zu bestimmten Gruppeneigenschaften abarbeiten oder Alltagshypothesen mit der Realität verwechseln. Wir haben es schließlich mit gesellschaftlichen Formationen und historischen Prozessen zu tun, die auf relativ komplexe Ursachenbündel zurückzuführen sind. Ich möchte das Thema Ostdeutschland aus der dünkelhaften und selbstgewissen Ecke herausholen, in Ost wie in West. Ich frage danach, warum sich in der Vereinigungsgesellschaft so viele Missverständnisse und Dissonanzen angehäuft haben und woher die ostwestdeutschen Verwerfungen rühren. Müsste die Einheit 10nicht längst vollendet und das Alte überwunden sein? Warum dauern die Anpassungsfriktionen weiterhin an? Wieso unterscheiden wir überhaupt noch nach Ost und West, wo es doch zugleich immer schwieriger wird, Menschen eindeutig zuzuordnen?

Das Buch geht von dem Befund aus, dass sich die ursprüngliche Erwartung einer Angleichung oder Anverwandlung des Ostens an den Westen im Lichte jüngerer Entwicklungen als Schimäre erweist. Auch das Bild von den Ostdeutschen, die nun endlich mal »ankommen« müssten, ist schief. Am »Ende der Nachahmungsphase«14 ist der Osten nicht verschwunden, sondern immer noch erkennbar. Die politische Einheitlichkeitsfiktion wird zwar bis heute propagiert, sie verstellt aber den Blick auf sich festsetzende Unterschiede. Aus dieser Perspektive, die den Westen zur Norm macht, begreift man den Osten vor allem als Abweichung, nicht in seinen Eigenheiten. Trotz der vielen Einheitserfolge lässt sich ein Fortbestand zweier Teilgesellschaften beobachten, die zwar zusammengewachsen und in vielerlei Hinsicht konvergiert sind, aber in ihren Konturen noch immer deutlich hervortreten. Natürlich gibt es zahlreiche Probleme, die quer zur Ost-West-Thematik liegen, und im Osten eine große regionale und soziale Heterogenität, aber zugleich eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten, die die ostdeutschen Bundesländer charakterisieren. Ost und West sind mehr als zwei Himmelsrichtungen, wenn man auf soziale Strukturen, Mentalitäten und politische Bewusstseinsformen schaut. Auch in der Einheit kann Unterschiedliches fortbestehen.

Ich möchte zunächst zeigen, wie ein Bündel an sozialstrukturellen, demografischen und politisch-kulturellen Gegebenheiten weiterwirkt und wie historische Weichenstellungen spätere Entwicklungen geprägt haben. Diese Sichtweise hilft 11uns, Phänomene einzuordnen, die immer wieder für Stirnrunzeln sorgen, beispielsweise den Umstand, dass die Auseinandersetzung mit der DDR als Diktatur oft auf der Strecke bleibt, oder die Aufladung einer ostdeutschen Identität gerade auch unter jungen Menschen. Ich begebe mich also auf die Spurensuche nach vergangenen Wegmarken, die für die politische Kultur im Osten bis heute relevant sind. Mich interessiert: Wo sehen wir bleibende Unterschiede und worauf sind sie zurückzuführen? Was macht sie aus und was bedeuten sie für das innerdeutsche Miteinander?

Die These, dass der Osten dauerhaft anders bleiben wird, beinhaltet die Einsicht, dass wir uns an manche Gegebenheiten gewöhnen werden müssen – sie werden sich normalisieren und irgendwann als regionale Eigenheiten gelten. Sie beinhaltet aber auch, dass manche durchaus problematische Tendenzen nicht auf ein Angleichungsdefizit oder einen Rückstand zurückgeführt werden können, sondern dass es einen eigenen ostdeutschen Entwicklungspfad gibt. Gerade weil die lange Transformationsphase beendet ist, erkennen wir jetzt deutlicher als zuvor, wie ungleich Ost und West noch immer sind und dass sie es auf absehbare Zeit auch bleiben werden. Es gibt eine Verfestigung grundlegender kultureller und sozialer Formen. Das zeigt sich bei der Sozialstruktur, bei Identitäten und in der politischen Kultur. Erst wenn man diese unterschiedliche Verfasstheit (an)erkennt, kann man politisch angemessen agieren und nach neuen Lösungen suchen.

Mit dieser Perspektive setze ich mich bewusst von der recht einseitigen Behauptung ab, die Ostdeutschen würden durch den Westen »erzeugt«, seien zuallererst ein Produkt einer westdeutschen Zuschreibungs- und Kleinmachpolitik.15 Gewiss, Fragen der »diskursiven Missachtung«16 sind nicht irrelevant, aber als Mastererklärung für die Entwick12lungen im Osten kommen sie nicht in Betracht. Wir müssen die Tiefenstrukturen betrachten, wollen wir genauer verstehen, »was los ist« und was die ostdeutsche Gesellschaft umtreibt.

Natürlich birgt diese Herangehensweise auch ein Risiko. Spricht man von dem Osten im Singular, konterkariert man ein Stück weit die Versuche, ein eingefahrenes Ostbild aufzulösen und diesen Landesteil gerade in seiner Vielfältigkeit sichtbar zu machen. Die entsprechenden Bemühungen laufen jedoch ihrerseits Gefahr, die nach wie vor vorhandenen und sich verfestigenden Differenzen zu verdecken. Am Ende gilt eben beides zugleich: Die innere Diversität Ostdeutschlands ist größer als oft vermittelt; Ost und West unterscheiden sich weiterhin, und diese Diskrepanzen dürfen nicht einfach weggewischt werden. In diesem Sinne ist dieser durch bestimmte Eigenheiten geprägte Osten längst Teil der bundesdeutschen Normalität – mit seinen problematischen, aber auch mit seinen bereichernden Aspekten.

In einem Jahr mit drei ostdeutschen Landtagswahlen, aus denen die Alternative für Deutschland jeweils als stärkste Partei hervorgehen könnte, ist der Bedarf an gesellschaftlicher Selbstaufklärung besonders groß. Warum erfreuen sich die Rechtspopulisten eines solchen Zuspruchs, welche Faktoren haben ihren Aufstieg begünstigt? Die Gründe für die Erfolge der AfD im Osten sind schon vielfach und genau untersucht worden.17 Die Partei ist aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt weder ein rein ostdeutsches Phänomen noch kommt man allein durch ihre Analyse sehr weit, will man die politischen Dynamiken in den östlichen Bundesländern insgesamt verstehen. Letztlich ist das Thema breiter: Welche besonderen Konfliktlagen und Anfechtungen der Demokratie gibt es in Ostdeutschland und wie lassen sie sich erklären?

13Das vorliegende Buch liefert keinen neuen historischen Abriss der DDR und auch keine ganz andere Wiedervereinigungs- und Transformationsgeschichte. Es versucht sich stattdessen an einer Analyse bestimmter Konflikt- und Problemlagen. Ausgehend von einer skizzenhaften Beschreibung der Gegenwart der deutschen Einheit stelle ich der ursprünglichen Angleichungserwartung die These sich verstetigender Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland entgegen. Im Folgenden buchstabiere ich diese These aus, indem ich neben Sozialstruktur und Demografie vor allem Fragen der Demokratie, der Geschichtspolitik und der ostdeutschen Identität behandle. Vor diesem Hintergrund benenne ich aktuelle Probleme, die ohne Rückgriff auf politische und kulturelle Eigenlogiken kaum hinreichend verstanden werden können.

Angesichts der wenig hoffnungsvollen Perspektive des »Weiter so« präsentiere ich schließlich den durchaus riskanten Vorschlag, in Ostdeutschland mit neuen Formen der Demokratie zu experimentieren und nach Wegen zu suchen, Menschen in den politischen Prozess zurückzuholen und Partizipationschancen auszuweiten. Kern ist dabei ein Plädoyer für erweiterte Möglichkeiten des basisdemokratischen Mitmachens, wie sie etwa in Bürgerräten erprobt werden. Ohne eine Revitalisierung der Demokratie und allein durch das Wirken von Parteien und Parlamenten, so befürchte ich, könnte Ostdeutschland immer weiter auf eine gefährliche Rutschbahn geraten, an deren Ende möglicherweise das sukzessive Einrücken der AfD in die Landesregierungen stehen wird – und damit eine noch tiefere Einwurzelung einer Kultur des Ressentiments.

Für Leser des Buches Triggerpunkte18 von Thomas Lux, Linus Westheuser und mir ein einordnender Hinweis: Ur14sprünglich hatten wir geplant, die Ost-West-Thematik als gruppenbezogene Ungleichheit in der Wir-Sie-Arena mitzuverhandeln, in der wir verschiedene Arten identitätspolitischer Anerkennungskonflikte zusammenfassen. In dieser Arena geht es weniger um die Verteilung ökonomischer Güter als vielmehr um Abwertung und Marginalisierung aufgrund zugeschriebener Merkmale wie Herkunft, Hautfarbe oder sexueller Orientierung. Es hat sich jedoch gezeigt, dass der Konflikt Ost-West eine eigenständige Lagerung aufweist und mehr historische Vertiefung benötigt, zumal hier strukturelle Ungleichheitsfragen mit kulturellen Anerkennungsfragen zusammengehen. Insofern kann man das vorliegende Buch als Versuch eines Nachschubs lesen, allerdings mit anderen inhaltlichen Ambitionen und anders in Form und Struktur. Es ist eine kleine politische Schrift zu Gesellschaft, Politik und Demokratie in Ostdeutschland.

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1. Ossifikation statt Angleichung

Die Bundesregierung veröffentlicht in schöner Regelmäßigkeit Berichte zum Stand der Deutschen Einheit, in denen sich allerlei interessante Informationen zur »Angleichung der sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Lebensbedingungen der Menschen im vereinten Deutschland« finden.1 Die Politik hat seit der Wiedervereinigung die Überwindung von Unterschieden und das Aufschließen des Ostens zum zentralen Ziel gemacht, über dessen Erreichung in diesen Dokumenten Rechenschaft abgelegt wird. Im letzten Report ist allerdings schon in der Präambel zu lesen, dass die ganze Sache nicht so einfach ist:

Auch 33 Jahre nach der Wiedervereinigung sind die Spuren der Teilung Deutschlands noch sichtbar. Gewiss: Strukturelle Differenzen zwischen Ost- und Westdeutschland konnten abgebaut werden, teilweise sind sie verschwunden. Dennoch bewerten viele Ost- und Westdeutsche die Lage des Landes unterschiedlich. Das zeigen auch immer wieder aufflammende Debatten um den Osten und seinen Platz im vereinten Deutschland. Die Folgen der Wiedervereinigung beschäftigen viele Menschen noch immer in besonderer Weise.2

Das Zusammenwachsen schreitet voran, aber – so lässt sich dieses Zitat jedenfalls verstehen – der »Platz des Ostens« ist immer noch umstritten.

Die nicht nur in den Sozialwissenschaften wirkmächtige Modernisierungstheorie3 sagte in den 1990er Jahren voraus, dass es mittelfristig zu einem Aufschließen oder einer Angleichung Ostdeutschlands an Westdeutschland kommen 16und dass der Osten nach einer Übergangsphase dem Westen ähnlicher werden würde. So werde auch sein »Modernisierungsdefizit« überwunden. Auf der Ebene der Ökonomie sprach man gern von »Aufholjagd« und »Aufbau Ost«. Ähnliches galt im Hinblick auf Institutionen, aber auch auf Sozialstruktur, Mentalitäten und kulturelle Orientierungen. Ja, die Aufholprozesse der Transformationsgesellschaft seien von Reibungen begleitet, aber letzten Endes würden viele Entwicklungen auf die Übernahme westlicher (oder besser: westdeutscher) Muster hinauslaufen. Ein Überdauern sozialstruktureller oder kultureller Eigenheiten schien unwahrscheinlich.

Diese Logik der Modernisierung und Angleichung leitete auch die Politik. Zwar ersetzte man die ursprüngliche Vorgabe der »Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse« 1994 im Grundgesetz durch die weichere Formulierung der »Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse«, Richtschnur blieb aber der Abbau innerdeutscher Disparitäten. Wie genau man eine solche Verfassungsnorm ausbuchstabieren kann und soll, ist eine Angelegenheit für Juristen, gesellschaftspolitisch wird darunter aber oft ebenfalls eine Annäherung des Ostens an den Westen verstanden. Im Lichte dieser Zielprojektion wurden weiterhin bestehende Unterschiede als Übergangs- oder Anpassungsprobleme des Ostens interpretiert, welche es zu lösen gelte.

Blickt man nur auf einige wenige statistische Kennzahlen, hat sich der Osten in den vergangenen Jahren in dieser Hinsicht gar nicht so schlecht entwickelt. Seit 2017 ist das demografische Ausbluten gestoppt, es ziehen etwas mehr Menschen von West nach Ost als umgekehrt. Die große Kluft in der Arbeitslosenquote hat sich verringert, die subjektive Lebenszufriedenheit hat sich angenähert, in den vergangenen zwei Jahren fiel das Wirtschaftswachstum in Ostdeutsch17land sogar höher aus als in Gesamtdeutschland. Nachrichten zu umfangreichen privaten wie öffentlichen Investitionen und zur Ansiedlung technologieintensiver Industrien – von der Batterieherstellung über die Chipproduktion bis hin zu E-Mobilität – machen Hoffnung, dass sich mittelfristig auch die Produktivitätslücke schließen könnte. Der Umstand, dass sich prestigeträchtige globale Unternehmen nun Ostdeutschland als Standort aussuchen, lässt viele bereits von einem Wirtschaftsboom träumen. Industrieparks, Fertigungshallen und Breitbandausbau wären dann die neuen blühenden Landschaften. Der Ostbeauftragte Carsten Schneider spricht von einer »Chancenregion«, um Aufbruchsstimmung zu vermitteln.

Was die »innere Einheit« anbelangt, ist ebenfalls viel Positives zu berichten. So finden wir im Ost-West-Verhältnis ein gelebtes und zur Selbstverständlichkeit gewordenes Zusammenwachsen. Es gibt mannigfache Sozial- und Solidarformen (Familien, Freundschaftsnetzwerke, Vereine), in denen die Zugehörigkeit zu einem Landesteil fast vollständig in den Hintergrund tritt. Mobilität sowie innerdeutsche Wanderung haben zu unzähligen Durchmischungen geführt, so dass Ost und West wie das verrührte Ei nicht mehr in die Ausgangsbestandteile – Eiweiß und Dotter – zurückentzweit werden können (im Amerikanischen sagt man so schön: »You cant't unscramble scrambled eggs«). Der soziale Beziehungsstatus ist gar nicht so schlecht, an Scheidung denkt niemand auch nur im Entferntesten.

Doch dies ist nur eine Seite der Medaille, die fortbestehende, zum Teil sehr hartnäckige Unterschiede verdeckt. Wer sich eine Vielzahl unterschiedlichster Indikatoren anschaut – Ausstattung der Haushalte, Erwerbsquoten, Kirchenbindung, Vereinsdichte, Anteil von Menschen mit Migrationsbiografie, Ausgaben für Forschung und Entwicklung, 18Exportorientierung der Wirtschaft, Vertrauen in Institutionen, Patentanmeldungen, Hauptsitze großer Firmen, Produktivität, Erbschaftssteueraufkommen, Zahl der Tennisplätze, Anteil junger Menschen, Moscheendichte, die Lebenserwartung von Männern, die durchschnittliche Größe der landwirtschaftlichen Betriebe, Parteimitgliedschaft, Kaufkraft, Wert des Immobilieneigentums, Größe des Niedriglohnsektors –, der kommt immer wieder zu dem gleichen Ergebnis: Eine Phantomgrenze durchzieht das geeinte Land. Färbt man die 294 Landkreise und 106 kreisfreien Städte in Deutschland anhand dieser Indikatoren ein, zeichnen sich die Umrisse der alten Bundesrepublik und Ostdeutschlands klar voneinander ab. Wie beim Tiefdruckverfahren tritt die Silhouette der DDR in diesen Karten noch mehr als drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung überraschend deutlich hervor.

Bei vielen dieser Aspekte ist ein Ausmendeln von Unterschieden jedenfalls nicht erkennbar, was zumindest einige Prämissen des Angleichungsdiskurses irritieren sollte. Der allfällige Hinweis darauf, dass sich Ostdeutschland zunehmend diversifiziert und daher kaum als einheitlich zu begreifen ist, hat seine Berechtigung (ebenso wie das Argument, dass es auch in Westdeutschland strukturschwache Gegenden gibt, die in mancher Hinsicht das Schicksal abgehängter ostdeutscher Regionen teilen). Aber dennoch stoßen wir – in der Gesamtheit betrachtet – auf übergreifende Muster, die die Analyseebene Ost und West weiterhin sinnvoll erscheinen lassen. Mehr noch: Wir können feststellen, dass sich manche Unterschiede trotz anderer Erwartungen aushärten und reproduzieren – kulturelle, sozioökonomische und politische.

Es scheint sich eine bleibende Unterschiedlichkeit festzusetzen, und man fragt sich, was die Politik genau meint, 19wenn sie an dem Ziel festhält, »die innere Einheit sozial und wirtschaftlich zu vollenden« (so steht es etwa im letzten Koalitionsvertrag, meine Hervorhebung).4 Zwar operieren wir bis heute mit der Angleichungslogik, doch ihre Hintergrundannahmen werden brüchiger. Natürlich, wenn es um die Angleichung ökonomischer Lebensbedingungen geht, kann man sich über dieses Ziel schnell einig werden. Bei vielen anderen Aspekten sieht es komplizierter aus. Wo wünschen wir uns denn wirklich ein Verschwinden von Unterschieden und ein Aufschließen des Ostens zum Westen? Bei der Rente und den Einkommen ja, aber bei den Mieten, der Schulqualität oder dem Gender-Pay-Gap bitte nicht. Bei der Produktivität, den Spitzenjobs und den Vermögen ja, aber nicht bei der Beschäftigungsquote von Frauen, der Kita-Abdeckung, dem Anschluss von Wohnungen an Fernwärmenetze oder der Theaterdichte, die im Osten höher sind. Die Egalisierungshoffnung (oder Unterschiedsbeseitigungserwartung) lässt sich als normativer Maßstab kaum aufrechterhalten, wenn man sie nicht hinreichend konkretisiert. Wir erwarten von Bayern oder dem Saarland ja auch keine Angleichung an den Rest der Republik. Dazu kommt, dass die Bundesrepublik-West selbst ein »moving target« ist und sich fortwährend verändert.

Angebrachter, als auf eine Angleichung zu hoffen, wäre es aus meiner Sicht, von der Verstetigung ostdeutscher Eigenheiten auszugehen. Ostdeutschland lässt sich als ein Gefüge beschreiben, dessen Sozialstruktur und Mentalitäten durch den Stempel der DDR, die Vereinigungs- und Transformationserfahrung sowie einen dadurch begründeten eigenen Entwicklungspfad gekennzeichnet sind. Ein Abstreifen oder Zurücklassen von Unterschieden oder ein simples Aufholen wird mit wachsendem zeitlichen Abstand zur Wiedervereinigung immer unwahrscheinlicher, in etlichen Bereichen ist 20keine Konvergenz mehr zu erwarten. Stattdessen sind durch historische Brüche bedingte Verstetigungstendenzen sowie Anhaftungseffekte von Soziokulturen und Mentalitäten zu beobachten. Einige dieser Phänomene können wir – so habe ich es in meinem Buch Lütten Klein vorgeschlagen5 – als Folgen von Frakturen begreifen, die relativ dauerhaft das bestimmen, was diesen gesellschaftlichen Zusammenhang ausmacht. Frakturen sind oft unter der Oberfläche verborgen, haben aber Auswirkungen auf die Bewegungs-, Anpassungs- und Veränderungsfähigkeit – hier – von Gesellschaften, die sich zuweilen erst deutlich später bemerkbar machen. Diese Brüche sind weder allein der DDR noch dem Einigungs- und Transformationsprozess zuzuschreiben, sondern ergeben sich aus beiden Phasen und der Verknüpfung ihrer Folgen. Hinzu treten historische Faktoren im Bereich der Kultur (zum Beispiel Kirchenbindung), der Demografie oder der sozioökonomischen Struktur (etwa die anteilige Stärke der Arbeiterschicht), die bis vor die Gründung der DDR zurückdatieren.6 Letztlich ist es eine Banalität: Die Gegenwart trägt immer die Last der Vergangenheit, niemand existiert ohne Prägungen und Erfahrungen. Schon allein deshalb verbietet es sich zu erwarten, andere sollten so werden wie man selbst. Man kann, will man die Metapher der Frakturen – Vorsicht, nur eine Gedankenspielerei! – weiter strapazieren, auch einen anderen medizinischen Terminus bemühen: den der Ossifikation. Der Begriff ist einigermaßen deutungsoffen, denn er bezeichnet sowohl (die unter Umständen pathologische) Verknöcherung wie auch die Regeneration nach einem Bruch, nämlich durch die Bildung von Narbengewebe.

Im Sinne der Verfestigungsthese – wissenschaftlicher formuliert könnte man von einer Persistenzannahme sprechen – geht es mir im Folgenden um die Aushärtung spezifischer 21Elemente der ostdeutschen Teilgesellschaft. Sie wird, wenn auch in sich ständig ändernder Form, als erkennbares soziales Gefüge noch lange erhalten bleiben, so dass es ratsam ist, den Osten nicht nur im Lichte einer westdeutschen Referenzgesellschaft zu betrachten, sondern in der ihm eigenen Konstitution. Der analytische und möglicherweise auch politische Mehrwert besteht darin, dass man unter der Annahme sich fortschreibender Unterschiede zugleich zu einer anderen Erklärung gesellschaftlicher Unwuchten und zu anderen Problemlösungen kommt. Dies ermöglicht es, genauer auszubuchstabieren, welche Abstände politisch zu bearbeiten sind (zum Beispiel die ungleichen Lebenschancen), welche sich im Sinne einer Regionalisierung normalisieren könnten (zum Beispiel Soziokulturen und Identitäten) und welche Anlass zur Sorge geben (zum Beispiel Entwicklungen der politischen Kultur und des Wahlverhaltens).