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Florence Foster Jenkins und die Kunst der schiefen Töne.
Die wohlhabende und beispiellos talentfreie Diva – umwerfend gespielt von Meryl Streep – beginnt mit Mitte 40 begeistert Gesangsstunden zu nehmen, sie leistet sich einen eigenen Pianisten und finanziert schließlich öffentliche Bühnenauftritte unterstützt von ihrem Manager (Hugh Grant). Musik ist ihr Leben, doch eine gute Sängerin konnte allein die Leidenschaft nicht aus ihr machen. Sie trifft kaum einen Ton und wenn zufällig doch, kann sie ihn nicht halten, vom Rhythmus ganz zu schweigen. Die unvergleichliche Karriere der Frau, die mit legendär schrägen Darbietungen ihr Publikum förmlich zum Toben bringt, gipfelt in einem musikalischen Großereignis: Als die mit 76 Jahren bereits betagte Florence in der bis zum letzten Platz ausverkauften New Yorker Carnegie Hall am 25. Oktober 1944 die Bühne betritt, gibt es im Saal kein Halten mehr. Eine genial komische Vorlage für Kultregisseur Stephen Frears.
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Seitenzahl: 374
Veröffentlichungsjahr: 2016
Buch
Florence Foster Jenkins und die Kunst der schiefen Töne. Die wohlhabende und beispiellos talentfreie Diva – umwerfend gespielt von Meryl Streep – beginnt mit Mitte vierzig begeistert Gesangsstunden zu nehmen, sie leistet sich einen eigenen Pianisten und finanziert schließlich öffentliche Bühnenauftritte unterstützt von ihrem Manager St. Clair Bayfield (Hugh Grant). Musik ist ihr Leben, doch eine gute Sängerin konnte allein die Leidenschaft nicht aus ihr machen. Sie trifft kaum einen Ton und wenn zufällig doch, kann sie ihn nicht halten, vom Rhythmus ganz zu schweigen. Die unvergleichliche Karriere der Frau, die mit sagenhaft schrägen Darbietungen ihr Publikum förmlich zum Toben bringt, gipfelt in einem musikalischen Großereignis: Als die mit 76 Jahren bereits betagte Florence in der bis zum letzten Platz ausverkauften New Yorker Carnegie Hall am 25. Oktober 1944 die Bühne betritt, gibt es im Saal kein Halten mehr. Eine wunderbare Vorlage für die Verfilmung von Kultregisseur Stephen Frears.
Autoren
Nicholas Martin war als Croupier, Hilfsarbeiter, Türsteher und Barmann tätig. Mit Anfang zwanzig fuhr er als Matrose zur See, später war er Kapitän einer Jacht, um schließlich als Journalist u. a. für The Sunday Times und den Guardian zu schreiben. Nach seinem Abschluss an der Filmhochschule 1992 schrieb er Drehbücher für Film und Fernsehen. Nicholas Martin lebt in London.
Jasper Rees ist Journalist und Autor. Er schreibt für Kunst-Magazine und Tageszeitungen, u. a. TheSunday Times, The Daily Telegraph und Intelligent Life. Japser Rees lebt in London.
NICHOLAS MARTIN JASPER REES
Florence Foster Jenkins
Die wahre Geschichte der bekanntesten und zugleich untalentiertesten Sängerin aller Zeiten
Aus dem Englischen von Maria Zettner und Reinhard Tiffert
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Die englische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Florence Foster Jenkins« bei Pan Books, an imprint of Pan Macmillan, London.1. Auflage
Deutsche Erstveröffentlichung Dezember 2016
Copyright © der Originalausgabe 2016 by Nicholas Martin and Jasper Rees
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München, in Anlehnung an die Gestaltung der englischen Originalausgabe
Umschlagfoto: Copyright: © 2016 Pathé Productions Limited. All Rights Reserved.
Lektorat: Werner Wahls
KF · Herstellung: Str.
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-20355-9V001
www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz
Inhalt
Prolog
Florence Foster Jenkins – Der Film
Wilkes-Barre, Pennsylvania
Mrs Dr. Jenkins
Philadelphia
Musikalische Leiterin
Mrs St. Clair Bayfield
Erbin
Die Klubfrau
Die singende Präsidentin
Lady Florence
Königin der Nacht
Die Primadonna der Carnegie Hall
Wie der Vater, so die Tochter
Florence Foster Jenkins – Historische Fotografien
Epilog
Dank und Bibliografie
Prolog
Am Abend des 25. Oktober 1944, einem Mittwoch, spielte sich vor der New Yorker Carnegie Hall eine außergewöhnliche Szene ab. Etwa zweitausend Menschen war der Zugang versperrt. Zusammengedrängt standen sie auf dem Gehsteig. Einige trieb der verzweifelte Versuch, sich Einlass zu verschaffen, dazu, mit 20-Dollar-Scheinen zu wedeln, obwohl die – längst ausverkauften – Tickets offiziell nur drei Dollar kosteten. Sie konnten nur zusehen, wie Cole Porter den erlauchtesten unter allen Konzertsälen Amerikas betrat, wo sich Größen wie die allseits beliebte Sopranistin Lily Pons und die Königin der Burleske, Gypsy Rose Lee, zu ihm gesellten. Auch Schauspielerin Tallulah Bankhead wurde von einigen in der Menge gesichtet. Obendrein wimmelte es in der altehrwürdigen Halle nur so von Journalisten, die alle unbedingt Zeuge eines Phänomens werden wollten.
Am Abend zuvor war auf derselben Bühne Frank Sinatra bei einer Wahlkampfkundgebung zugunsten von Präsident Franklin D. Roosevelt aufgetreten. Für den folgenden Abend war ein Konzert des New York Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Artur Rodziński angekündigt. Doch am 25. Oktober gehörte die Bühne Florence Foster Jenkins, einer stattlichen Frau von Mitte siebzig, die unlängst eine Reihe von Tonaufnahmen veröffentlicht hatte, darunter ihre Interpretationen von Mozarts Arie der Königin der Nacht und Delibes’ »Glöckchenarie«. Diese waren denn auch für den ungeheuren Andrang verantwortlich.
Es ist nicht wirklich angebracht, dem Abend angesichts dieses geschichtsträchtigen Datums allzu viel Aufmerksamkeit zu schenken. Der 25. Oktober 1944 ist in der Weltgeschichte ein so zentraler Tag, dass sogar einmal jemand ein ganzes Buch darüber geschrieben hat, nämlich John Ellis, One Day in a Very Long War: Bei der See- und Luftschlacht im Golf von Leyte auf dem Gebiet der Philippinen setzte die Kaiserlich Japanische Marine zum ersten Mal Kamikazeflieger gegen US-Kriegsschiffe ein. In Europa befreiten rumänische und russische Truppen die letzte rumänische Stadt von der deutschen Besatzung. Sie verdrängten außerdem die Wehrmacht von ihrem norwegischen Stützpunkt in Kirkenes, während das Bomber Command der Royal Airforce und die US-Luftwaffe Tagesangriffe auf Essen und Hamburg flogen.
Wenden wir uns wieder New York zu. Dort zeigte das Deckblatt des Konzertprogramms die Fotografie einer imposanten Dame mit einem Diadem auf dem kurzen, dauergewellten braunen Haar. Eine schwere Halskette fiel über ihren tiefen Ausschnitt bis fast hinunter auf die zaghaft gefalteten Hände. Am linken Daumen steckte ein Ring. Mit ihren glänzenden Augen blickte sie entschlossen drein. Vor einem mittelblauen Hintergrund und unter schwarzen Großbuchstaben, die ihren Namen in die Welt hinausposaunten, stand geschrieben: »Koloratursopran«.
Auf den Innenseiten kündeten seriöse Stimmen von vorausgegangenen Triumphen. Madame Jenkins, wie sie sich am liebsten nennen ließ, »besitzt eine auffallende Individualität in der Ausdrucksweise und eine gewisse Würze in der künstlerischen Wiedergabe«. So berichtete das New York Journal-American. Ein Dr. B. B. James bestätigte (in einer nicht ausgewiesenen Publikation), dass sich in jüngster Zeit in einem Publikum in der Bundeshauptstadt Washington »Personen aus dem politischen, kulturellen und geistigen gesellschaftlichen Leben« zusammengefunden hätten, bei denen es sich durchweg um »kritisch veranlagte Zuhörer« gehandelt habe. Der New York Daily Mirror feierte eine »souveräne Persönlichkeit mit unbeschreiblichem Charme«, deren alljährliche Liederabende »unbändige Freude bereiten«.
Diese Zitate decken sich mit so ziemlich allem, was bis dahin über »Lady Florence« (eine weitere von ihr bevorzugte Anredeform) geschrieben worden war. Schon seit den 1910er Jahren hatte sie vor ausgesuchtem Publikum gesungen, vorwiegend innerhalb der behüteten Welt der Frauenklubs, die es in New York seit der Jahrhundertwende in Hülle und Fülle gab. 1917 gründete sie ihren eigenen Zirkel. Sie nannte ihn den Verdi Club. Vor seinen Mitgliedern hielt sie dann später im Ballsaal des Ritz-Carlton ihre jährlichen Liederabende ab. Die Presse war nicht unbedingt erwünscht, mit Ausnahme des Musical Courier, einem Fachblatt, dessen wohlwollendem Urteil man sich gewiss sein, ihm sogar mit einer diskreten Geldzuwendung nachhelfen konnte. Die Liederabende erlangten Kultstatus, und jahrelang ließ niemand öffentlich ein Wort darüber verlauten, was ganz eindeutig auf der Hand lag: dass Florence Foster Jenkins eine auffallend talentlose Sängerin war. Stattdessen spendeten, abgesehen von vereinzelten übermütigen Zwischenrufern, alle schallend Beifall und unterdrückten ihr Gelächter, indem sie sich Taschentücher in den Mund stopften.
Im Jahr 1941 machten die genannten Aufnahmen ihre schwache Stimme und gewagte Tonhöhe einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich, und die Mundpropaganda tat ein Übriges. Dann kam die Carnegie Hall. Begleitet von einem Pianisten, einem Flötisten und einem Streichquartett machte sie sich in einer Vielzahl von ausgefallenen Kostümen daran, eine Vielzahl von Liedern in Grund und Boden zu singen. Die dreitausend, die die Carnegie Hall bis zum Bersten füllten, wie man es dort noch nie zuvor erlebt hatte, verursachten einen solchen Tumult, dass ihr Klavierbegleiter Cosmé McMoon den Abend als »das bemerkenswerteste Ereignis, das jemals hier stattgefunden hat« bewertete. Ihr tätlicher Angriff auf die berühmte Arie aus der Zauberflöte, bei dem sie kein einziges Mal den richtigen Ton traf, hatte alle Zutaten eines mustergültigen komödiantischen Parforceritts. Allerdings war die Komik hier ebenso wenig beabsichtigt wie bei ihrer Interpretation von »Clavelitos«, einem kurzen, koketten Lied in spanischer Mundart, mit dem sie die Zuhörer zu neuerlichen hysterischen Höhenflügen trieb. Als Florence dann auch noch Rosenblüten aus einem Korb an ihrem Arm ins Publikum warf, musste eine nicht mehr zu bändigende Schauspielerin aus ihrer Loge entfernt werden. Es scheint schwer vorstellbar, dass jemand in einer solchen überhitzten Atmosphäre überhaupt so viel Aufmerksamkeit erregen konnte, um einen Rauswurf zu rechtfertigen, aber offensichtlich hat es sich so abgespielt. Der sofortige Ruf nach einer Zugabe hatte zur Folge, dass der arme McMoon sich runter ins Parkett begeben musste, um die Blumen zurückzuholen. Die Freude – und der Schmerz – war beim zweiten Durchgang noch nachhaltiger. Und den gesamten Abend über deutete Madame Jenkins die Lachsalven und den stürmischen Applaus als aufrichtige Würdigungen ihrer Kunst. Im Anschluss gesellten sich ihre Gäste zu ihr auf die Bühne. »Finden Sie nicht, dass es sehr mutig von mir war, noch einmal die Königin der Nacht zu singen«, sagte sie zu einem von ihnen, »nach der wunderbaren Aufnahme, die ich davon im Studio gemacht habe?«
Am folgenden Morgen erfuhr man in weiten Teilen der Vereinigten Staaten von dem Ereignis. »Mme Jenkins, falls Sie noch nichts von ihr gehört haben, was sehr wahrscheinlich ist, ist eine Dame, die Liederabende abhält, weil es dagegen kein Gesetz gibt.« So stand es im Milwaukee Journal. »Sie nimmt die Lieder, die in Lily Pons das Beste zum Vorschein bringen, und bringt damit in sich selbst das Schlimmste zum Vorschein. Und das Schlimmste in Mme Jenkins, seien Sie dessen gewiss, ist wirklich grausig.« Earl Wilson von der New York Post wusste zu berichten, dass Florence Foster Jenkins »alles trifft, nur nicht den richtigen Ton.« »He, ihr Musikfreunde!«, lautete die Titelzeile seines Artikels, »Ich habe Madame Jenkins gehört«. Nachdem er ihren Vortrag als »einen der bizarrsten Massenspäße, die New York je erlebt hat« bezeichnet hatte, reflektierte Wilson in seiner Kolumne – er war kein Musikjournalist – über die Diskrepanz zwischen dem ernsthaften Gebaren der Künstlerin und der unbändigen Ausgelassenheit des Publikums. Auf dem Weg nach draußen stieß Wilson auf einen Mann, den er als persönlichen Assistenten der Sängerin bezeichnete und dessen Namen er »Sinclair Bayfield« buchstabierte.
»Warum?«, fragte Wilson.
»Sie liebt Musik«, antwortete St. Clair Bayfield, ein Engländer Ende sechzig, der viele Jahre lang Nebendarsteller am Broadway gewesen war. Darauf wusste Wilson nur eine Frage:
»Wenn sie Musik liebt, warum macht sie dann so etwas?«
»Die Leute mögen ja sagen, ich konnte nicht singen, aber niemand kann behaupten, dass ich es nicht getan habe.« Diese Worte sind von Florence Foster Jenkins gegen Ende ihres Lebens überliefert. Auf jeden Fall passen sie zu ihr. Sie lebte für die Musik und trat leidenschaftlich gern öffentlich auf. Aus tiefster Seele – und mit Erfolg – weigerte sie sich, sich näher mit ihren Unzulänglichkeiten als Sängerin auseinanderzusetzen oder sich von denen einschüchtern zu lassen, die sich über sie lustig machten. Es könnte sogar sein, so schmerzlich das auch berühren mag, dass sie diese Unzulänglichkeiten schlicht und einfach nicht wahrnehmen konnte. Auf jeden Fall fand ihr Publikum Gefallen an ihrer offenen Art und an der Freude, die es ihr bereitete, sie zu unterhalten. Allein durch Charisma triumphierte sie bei ihren Auftritten über das bloße fachliche Geschick. Ihr Beispiel ist so inspirierend, dass sogar die größten Sänger eine Schwäche für sie haben. 1968 wurde die junge Barbra Streisand vom New York Magazine gefragt, welche anderen Sänger sie gern wäre. »Ray Charles und Florence Foster Jenkins«, gab sie zur Antwort. David Bowie nannte 2003 für die Vanity FairThe Glory (????) of the Human Voice das Album mit Aufnahmen von Florence, das RCA 1962 herausbrachte, als eine der fünfundzwanzig LPs, die er für seine größten Entdeckungen hielt. (Der einzige andere Sopran unter all der aufgeführten Blues-, Jazz- und Rockmusik war Gundula Janowitz mit Strauss’ Vier letzte Lieder.)
Heutzutage steht Florence nicht mehr alleine da. Ihre außergewöhnliche Geschichte findet, lange nachdem die großen Primadonnen, mit denen sie sich absurderweise auf eine Stufe stellte, vergessen sind, auch deshalb immer noch einen Widerhall, weil wir von lauter Florences umgeben sind – wenig talentierten Sängern, die dennoch danach schmachten, gehört zu werden. Neuzeitliche Inkarnationen von Florence singen bei The X Factor oder America’s Got Talent vor und wundern sich, wie sie, über das Spottgeheul der Menschen. Florence ist ihre Schutzpatronin. Denn, wie Cosmé McMoon es erklärte, »sie glaubte, sie sei großartig«.
Andererseits ist Florence auch absolut einzigartig. Es bleibt fast immer unbeachtet, dass sie eine leidenschaftliche, ernsthafte und ungemein sachkundige Musikliebhaberin war und als Künstleragentin fünfunddreißig Jahre lang in New York junge Talente förderte. Einige der aufstrebenden Opernstars waren dankbar für ihre Freundschaft. Falls ihr Streben nach Anerkennung durch ein Publikum ein unbewusstes Bedürfnis offenbart, irgendeine seelische Wunde zu heilen – und es sieht ganz danach aus –, so liegt die Ursache dafür tief in ihrer Vergangenheit. Earl Wilson berichtete von einer überlieferten Geschichte, nach der Florence’ musikalische Ambitionen zuerst von ihren Eltern und dann von ihrem Ehemann abgeblockt wurden, um nach deren Tod umso stärker hervorzutreten. Es ist eine hübsche Legende. Aber ist sie auch wahr?
Grob gesagt ist ihre Geschichte typisch für ihre Zeit. Sie handelt vom Streben einer amerikanischen Frau nach Bildung, von einem darwinistischen Drang, die gesellschaftliche Leiter zu erklimmen, vom Makel einer Scheidung im 19. Jahrhundert, vom Erstarken der Frauen, symbolisiert im Aufstieg der Frauenklubs, und vom Wert der Kultur. Ihr Vorankommen in einer florierenden, vom Geld beherrschten Gesellschaft ist archetypisch, aber es ist auch zutiefst individuell. Kurz nach dem Bürgerkrieg kam sie zur Welt, leistete ihren Beitrag zu einem Weltkrieg und erlebte noch einen zweiten. In jungen Jahren fand sie durch ihre Ehe Zugang zum inneren Zirkel des militärischen Establishments der USA. Dort gaben ihr die prinzipientreuen weiblichen Mitglieder der angeheirateten Verwandtschaft viel Anlass zur Bewunderung, während die Männer eine eher düstere Ansammlung aus Tunichtguten, Psychotikern und Charakterschwächlingen darstellten. Die Defizite ihres Mannes, so machte sie nicht zu Unrecht geltend, hinterließen bei ihr nicht nur körperlich bleibende Wunden. Und dann war da noch das Gezänk in ihrer eigenen Familie, das nicht nur einmal, sondern gleich zweimal das Einschreiten der Justiz erforderlich machte, die reinste Soap-Opera.
Aus Florence’ frühen Jahren, wenn die Psyche noch eine formbare Modelliermasse ist, gibt es kaum verlässliche Quellen. Es ist nicht einmal sicher, ob sie in Pennsylvania geboren wurde oder in New Jersey. Wie schwer sie zu fassen ist, zeigt sich auch an den vielen Varianten ihres Namens in den Zeitungen, die später von ihren Unternehmungen berichteten: Miss Florence Foster, Mrs Dr. Jenkins, Mrs F. F. Jenkins, Madame Foster Jenkins, Mrs Florence Foster Jenkins, Mme Jenkins, Lady Florence – und dazu noch jede Menge Druckfehler: Mrs F. E. Jenkins, Mrs Florence Foster Jekins, Florence Foster Jones sowie der Name, der ihr am allerbesten gefallen hätte, Florence Verdi Jenkins. Es mutet kaum wie ein Zufall an, dass einer älteren Dame, die dafür berühmt war, dass sie keine Stimme hatte, in der ersten Hälfte ihres Lebens keine zugestanden wurde. Nichts, was sie selber gesagt hat, wurde für die Nachwelt festgehalten, bis sie schon jenseits der vierzig war. Da ihr jegliche Selbsterforschung zuwider war, hinterließ sie auch kein Tagebuch und gab nur zwei Interviews. Die Arbeit des Biografen wird dadurch noch weiter erschwert, dass von den fünfhundert Briefen, die sich Florence und St. Clair Bayfield in den mehr als dreißig Jahren ihrer Ehe ohne Trauschein schrieben, nur noch vier übrig sind.
Dies ist, wenn auch nur in zweiter Linie, auch seine Geschichte. Bis St. Clair als junger Mann nach New York kam, hatte er bereits eine ganze Reihe eigener Abenteuer erlebt. Im Laufe seiner Karriere hatte er weit mehr Stunden auf der Bühne verbracht als Florence, doch ihre zwei Stunden in der Carnegie Hall stellte sie alle in den Schatten. Es schien ihm nichts auszumachen, da er ihr ganz und gar ergeben war. Dafür ist er im Nachhinein zur primären Fundgrube für ihre Lebensgeschichte geworden. Eine der Hauptquellen ist eine Biografie, mit der er nach ihrem Tod begann und die nach dem seinen von seiner Witwe Kathleen weitergeschrieben wurde. Sie wurde nie veröffentlicht, und das meiste ist verschollen, doch 1971 las Mrs Bayfield in einem gemeinsamen Interview mit zwei Verdi-Klubmitgliedern, die Florence noch persönlich gekannt hatten, umfangreiche Teile daraus vor. Aber selbst hier ist Vorsicht geboten. Man muss von dem, was Florence St. Clair und was St. Clair Kathleen erzählt hat und was Kathleen dann aufgeschrieben hat, einiges Beiwerk abstreichen, denn jeder Chronist hatte so seine eigenen Hintergedanken. Florence war auf jeden Fall eine unzuverlässige Erzählerin, die sich ihre Erinnerungen nach Gutdünken zurechtbog. Sie zog es vor, ein gefälliges Bild von sich zu zeichnen. Den Höhepunkt beim alljährlichen Ball des Verdi Club bildete immer ein Auftritt der Präsidentin im Gewand einer großen historischen oder mythologischen Frauenfigur. In einem Jahr verkleidete sie sich als Engel der Inspiration, Flügel inklusive. In einem anderen präsentierte sie sich stolz in der Rüstung der Brünnhilde, der Wagner’schen Walküre. Das Bild suggerierte betörende Stärke. Doch was verbarg sie hinter dem ehrfurchtgebietenden Brustharnisch?
Dass eine historische Figur grundsätzlich nur schwer zu fassen ist, öffnet Tür und Tor für Spekulationen. Überall da, wo es keinen letztendlichen Schlüssel zum Innenleben eines Mysteriums gibt, finden sich Schriftsteller, Filmemacher und Maler in Scharen zusammen wie durstige Herden an einer Wasserstelle. Zunehmend trifft das auch auf Florence zu. Es gibt mehrere Theaterstücke über sie, und jedes neue fand mehr Aufmerksamkeit als das davor. Das erste war Terry Sneeds Precious Few, das 1994 in Little Rock, Arkansas, uraufgeführt wurde. Charles Fouries Goddess of Song kam 1999 in Kapstadt auf die Bühne. Ihre Geschichte brachte es sogar bis zum Edinburgh Festival, wo 2001 das Stück Viva La Diva von Chris Ballance zu sehen war. 2005 schaffte es Florence an den Broadway in Stephen Temperleys Souvenir. Im gleichen Jahr feierte Glorious! von Peter Quilter seine Premiere im Londoner West End. Seither wurde es in mehr als vierzig Ländern aufgeführt und in siebenundzwanzig Sprachen übersetzt.
Jetzt verschafft eine filmische Hommage dem Namen Florence Foster Jenkins eine größere Aufmerksamkeit, als ihm jemals zuvor zuteilwurde. Das Drehbuch von Nicholas Martin, das sich auf die krönenden letzten Jahre ihrer musikalischen Odyssee konzentriert, hat das Interesse einiger der größten Stars der Filmwelt geweckt. Meryl Streep, die schon mehr Oscar-Nominierungen auf sich vereinigt als jeder andere Schauspieler (neunzehn, Tendenz steigend, von denen sie drei auch gewonnen hat), verkörpert mit viel Charme eine unerschütterliche Frau, die unbekümmert über die vielen Hürden auf ihrem Weg hinwegsieht – und -hört. Ihre Florence verleiht der Welt ein freundlicheres Gesicht. Hugh Grant gibt die anrührendste Darstellung seiner bisherigen Karriere als der lässige-elegante und doch auch empfindsame St. Clair Bayfield. Der Film besticht zudem durch einen ungemein fesselnden Auftritt von Simon Helberg als Cosmé McMoon. Regie führt Stephen Frears, der mit Gefährliche Liebschaften, Die Queen und Philomena bereits faszinierende Frauenstudien auf die Leinwand gebracht hat. Madame Jenkins wäre begeistert von so viel Aufmerksamkeit.
Es ist ungewöhnlich – wenn nicht sogar beispiellos –, dass eine Biografie und ein Biopic im Doppelpack erscheinen. Florence Foster Jenkins scheint sich dafür hervorragend zu eignen, da sie mit einer grandiosen Begabung zur Selbstinszenierung ausgestattet war. Nach Art aller guten Filme macht Florence Foster Jenkins aus den Fakten einen unterhaltsamen Zeitvertreib, der sich an der komischen und arglosen Seite ihrer Persönlichkeit erfreut. Das Drehbuch spielt auf viele von Florence’ liebenswerten Verschrobenheiten an – beispielsweise ihre Sammlung von Esszimmerstühlen, auf denen angeblich berühmte Amerikaner gestorben waren, ihre krankhafte Angst vor spitzen Gegenständen oder den unbegrenzten Vorrat an Kartoffelsalat, den sie, wenn sie Gäste hatte, in ihrer Badewanne bereithielt. Im Verlauf der Handlung lässt Nicholas Martins Drehbuch auch viele der Nebendarsteller in ihrem Leben auftreten: Carlo Edwards, der ihr heimlich Gesangsunterricht erteilte, Kathleen, die Geliebte von St. Clair Bayfield, und Earl Wilson, der Verfasser jener Carnegie-Hall-Kritik am Morgen danach. Sogar der große Maestro Toscanini hat einen Gastauftritt, ebenso wie Tallulah Bankhead, die es, zumindest im Film, tatsächlich in die Carnegie Hall geschafft hat.
Während die Kinobesucher Florence auf der Leinwand entdecken, möchte diese Biografie zurückspulen an den Anfang und die Verwicklungen eines ungewöhnlichen Lebens entwirren, das sich den Augenblick der größten Dramatik bis zum Schluss aufgespart hat.
Florence Foster Jenkins – Der Film
Bildnachweis
Florence Foster Jenkins Filmfotos:
© Pathé Productions Limited, 2016
Die dreifache Oscar-Gewinnerin Meryl Streep als Florence Foster Jenkins zwischen zwei Szenenaufnahmen.
Hugh Grant als der charmante St. Clair Bayfield. Für die Tanz-Sequenz des Films übte Grant sechs Wochen jeden Tag mehrere Stunden lang.
St. Clair und Florence auf der Rückfahrt von einem Konzert mit Lily Pons. Es motiviert Florence zu weiteren Gesangsstunden. Der Beginn der fatalen Reise Richtung Carnegie Hall und Blamage …
Florence und St. Clair lauschen einer Schallplattenaufnahme der »Glöckchenarie« mit der großen Sopranistin Lily Pons. Ihre Rolle spielt im Film die russische Sängerin Aida Garifullina.
Florence trägt im Ritz-Carlton vor ausgesuchtem Publikum »Mein Herr Marquis« aus der Fledermaus vor. »Meine Taille so schlank und so reizend«, singt sie
Pianist Cosmé McMoon, gespielt von Simon Helberg, besucht eine Party, die St. Clair und seine Freundin Kathleen nach Florence’ Konzert im Ritz-Carlton geben.
Florence und St. Clair genießen die Kritiken zum Ritz-Carlton-Konzert. »Am Ende war die Bühne eine einzige Blütenlaube, und Madame Jenkins verabschiedete sich unter tosendem Applaus«, liest St. Clair vor.
Florence nimmt in den Melotone-Studios die »Glöckchenarie« auf. »Wollen Sie es noch mal versuchen?«, fragt der Toningenieur. »Warum denn? Ich fand es perfekt«, erwidert Florence.
St. Clair erfährt, dass Florence in der Carnegie Hall singen will. »Dazu bist du nicht kräftig genug, Hase«, sorgt er sich. »Was, wenn es dich umbringt?« »Dann werde ich glücklich sterben!«, erwidert Florence.
Der Moment der Wahrheit: Mit dem getreuen St. Clair an ihrer Seite schickt Florence sich an, die Bühne der Carnegie Hall zu betreten, um ihr Eröffnungslied, »Valse Caressante« von Cosmé McMoon, zu singen.
Meryl Streep als Florence macht sich bereit, am Set der Carnegie Hall die zweite Königin-der-Nacht-Arie zu singen. Die Bühne wurde im Apollo Theatre, Hammersmith, nachgebaut. Streep sang dort live vor über 600 Schauspielern und weiteren Künstlern.
Wilkes-Barre, Pennsylvania
Was weiß man über Wilkes-Barre? Nur ein einziges Mal waren die Augen von ganz Amerika auf die Bergbaustadt in Pennsylvania gerichtet. Im Jahr 1926 erzielte der gefeierte Baseball-Schlagmann Babe Ruth hier den bis zum damaligen Zeitpunkt längsten Home-Run der Sportgeschichte. Der Ball flog so weit, dass Ruth darum bat, nachmessen zu lassen. Es waren 198 Meter. Danach hat Wilkes-Barre kaum noch einmal den Ball aus dem Stadion hinauskatapultiert.
Es hat sich in der amerikanischen Kulturgeschichte eher zum Inbegriff des Durchschnittsortes entwickelt. Hören Sie in dem Film Alles über Eva einmal genau hin. Dann fällt Ihnen auf, dass an einer Stelle Bette Davis den Namen nennt. »Was Menschen Übles tun – wie geht es noch mal weiter? Irgendwas mit dem Guten, das sie zurücklassen. Ich hab es mal in Wilkes-Barre gespielt.« Sie zitiert Antonius in Julius Caesar. Wilkes-Barre war meilenweit entfernt vom antiken Rom, weswegen der große Regisseur Joseph L. Mankiewicz, mehrfacher Oscar-Preisträger und gebürtig aus Wilkes-Barre, auch einen Scherz darüber ins Drehbuch einbaute.
Der Broadway setzte Wilkes-Barre 1963 ein Denkmal in der längst vergessenen musikalischen Liebeskomödie Tovarich. Sie basierte auf einem Theaterstück und einem Film aus den Dreißigern, in denen der Kommunismus auf die Schippe genommen wurde. Eins der Lieder trägt den Titel »Wilkes-Barre, Pa.« Es wird gesungen von einem jungen Mann, der sich in das Hausmädchen verliebt hat, das wiederum in Wirklichkeit eine Gräfin auf der Flucht vor der russischen Revolution ist. Der junge Mann schildert seine Heimatstadt als durch und durch amerikanische Idylle.
Take me back where I belongTell my baby I was wrong,Never should have gone awayWilkes-Barre, Pa!
[Bring mich zurück an den Ort, an den ich gehöre.Sag meinem Schatz, ich habe mich geirrt,wäre besser niemals fortgegangenaus Wilkes-Barre, Pennsylvania!]
Für ihre Darstellung der Gräfin gewann Vivien Leigh einen Tony Award als beste Schauspielerin in einem Musical. An ihrem Gesang kann es nicht gelegen haben. Ähnlich wie die berühmteste Tochter von Wilkes-Barre traf sie kaum einmal den richtigen Ton.
Der Name der Stadt ist eng mit dem Weg zur amerikanischen Unabhängigkeit verknüpft. John Wilkes war Mitglied des britischen Parlaments und ein so glühender Reformer, dass er wegen Aufwiegelung ins Gefängnis kam. Später setzte er sich für die Sache der amerikanischen Rebellen ein. Das tat auch Isaac Barré, der Sohn eines französischen Hugenotten aus Dublin. In der Schlacht auf der Abraham-Ebene verlor er ein Auge und wurde unsterblich als einer der Umstehenden auf dem Historiengemälde Der Tod des General James Wolfe in Quebec. Als leidenschaftlicher Redner gab er den Siedlern den Namen »Sons of Liberty« (Söhne der Freiheit). Miteinander verkoppelt durch einen Bindestrich und im 19. Jahrhundert auch oft zu dem einzelnen Wort Wilkesbarre zusammengefasst, gaben diese beiden Männer Florence Foster Jenkins’ Heimatort seinen Namen.
Die Stadt liegt am Südufer des Susquehanna im Wyoming Valley. Die ersten Weißen gelangten im Jahr 1769 dorthin. Die Scharmützel und Feuerstürme, die schon bald in der Talebene stattfanden, stehen für all die Kämpfe, aus denen später die amerikanische Nation hervorging – zwischen Siedlern und Indianern, Kolonisten und Royalisten. Die erste Zeitung erschien in Wilkes-Barre 1795. Im darauffolgenden Jahr hatte der Herald of the Times seine erste Sensationsstory, als der Herzog von Orleans und spätere König Louis Philippe von Frankreich während seiner Zeit im Exil durch die Stadt reiste. Im Jahr 1806 machte eine fahrende Elefanten-Schau eine weitere denkwürdige Stippvisite. Man baute eine Brücke über den Susquehanna, der abwechselnd über die Ufer trat und zufror, doch schon bald von Dampfschiffen befahren werden konnte. 1831 verließ das erste Kanalboot Wilkes-Barre mit Ziel Philadelphia. An Bord hatte es, neben Gütern des täglichen Bedarfs, das Grubenerz, das dem Tal den Wohlstand sichern sollte.
Die Entdeckung von Anthrazitkohle verschaffte Wilkes-Barre einen kometenhaften Aufschwung. Seine Erwerbsbevölkerung stieg vor allem durch Einwanderer aus den Bergbaurevieren in Wales deutlich an. Es gilt als erster Ort der Welt, an dem mit der Verbrennung von Anthrazitkohle Hauswärme erzeugt wurde. Damals handelte sich Wilkes-Barre auch seinen Spitznamen ein: die Diamant-Stadt. Allein in den 1860er Jahren verdoppelte sich die Bevölkerung auf über zehntausend (ihren Höchststand erreichte sie 1930 mit 87000). Als Florence Foster Jenkins geboren wurde, war Wilkes-Barre eine Größe innerhalb des Staates Pennsylvania. Und ihre Vorfahren hatten sich bereits in den oberen Rängen der Gesellschaft etabliert.
Unter den Nachfahren der ersten Siedler diente die Ahnenforschung als beliebtes Mittel, einander auszustechen. In einem noch so jungen Staat spielte die Abstammung eine große Rolle. Florence und ihre Mutter waren Mitglieder in zahlreichen patriotischen Vereinen, unter anderem auf Lebenszeit in der Genealogischen und Biografischen Gesellschaft der Stadt. Im Jahr 1916 beschrieb eine Kurzbiografie in der New York Times Florence als »gebürtig in Pennsylvania und von angesehener Herkunft«. Auf beiden Seiten der Familie stammte sie von Siedlern ab, die in den 1630er Jahren zu den Kolonien in Amerika aufgebrochen waren. Doch der Anspruch auf eine hochwohlgeborene Abstammung reichte noch viele Jahrhunderte weiter in die Vergangenheit zurück. Väterlicherseits führte angeblich eine direkte Linie bis zur Normannischen Eroberung. Seine Nachfahren behaupteten, dass Sir Richard Forester der Schwager von Wilhelm dem Eroberer gewesen sei, doch bezweifeln Ahnenforscher und Historiker, dass es sich um diesen Richard handelte. Auf jeden Fall kämpfte er als Sechzehnjähriger bei der Schlacht von Hastings mit. Ein weiterer Vorfahr soll dem Vernehmen nach Richard Löwenherz auf dem dritten Kreuzzug das Leben gerettet haben. Aufgrund dieser Verbindung sollte Florence später einer Gesellschaft beitreten, die sich Orden der drei Kreuzzüge nannte.
Ihr Vater, Charles Dorrance Foster, wurde 1836 geboren. Er war das einzige Kind aus der Ehe zwischen Phineas Nash Foster, einem Farmer aus Jackson County, und Mary Bailey Bulford (geborene Johnson), einer Witwe mit drei viel älteren Kindern. Als er noch zur Schule ging, verbrachte er seine Ferien auf der Farm der Familie. Später versuchte er sich als Lehrer, sowohl auf lokaler Ebene als auch im weit entfernten Illinois. Als die Vereinigten Staaten vom Bürgerkrieg erschüttert wurden, diente er nicht als Soldat, sondern bemühte sich stattdessen um die Zulassung als Anwalt vor den Gerichten Pennsylvanias. Schon bald hatte er eine große Mandantenschar. 1870, da war er gerade dreiunddreißig, wurde sein Vermögen mit 42000 Dollar in Immobilien und 10000 Dollar in beweglicher Habe angegeben. Als 1878 Fosters Vater starb, erbte er zwei Farmen in den Gemeinden Dallas und Jackson nordwestlich von Wilkes-Barre. Die Stiefkinder seines Vaters, Charles’ ältere Halbgeschwister, deren Nachname Bulford lautete, wurden ihrem Schicksal überlassen. Der unerwartete Geldsegen wirkte sich demotivierend auf seinen beruflichen Werdegang aus. Nur fünf Jahre später berichtete eine zeitgenössische Chronik des Luzerne County, dass »ihn zwar viele Mandaten aufsuchten, ihm aber … dieser Besitz ausreichend erschien, um seine Zeit auszufüllen und seine Bedürfnisse zu befriedigen, weshalb er sich nur noch beiläufig seiner Kanzlei widmete«. Stattdessen beschäftigte er sich mit dem Ankauf und Verkauf von Immobilien, Ackerland und Zuchtvieh und prozessierte streitsüchtig in großen wie in kleinen Angelegenheiten – von der Verteilung der Kohleeinnahmen bis zu lästigen Werbetafeln des Opernhauses, die auf der Straße vor seinem Haus wie Pilze aus dem Boden schossen. »Drei Dollar Belohnung«, bot er einmal in einer kleinen Zeitungsannonce, »für den Namen der Person, die am Mittwochnachmittag beim Ballspielen das Glas in meinem Fenster zerbrochen hat.«
Fosters Anteil an Reichtum und Wohlstand von Wilkes-Barre trug ihm ein bissiges Porträt eines weiteren Lokalhistorikers ein: »Er ist im Besitz eines so üppigen Vermögens, wie es alles, was über schäbige Habsucht hinausgeht, befriedigen muss. Nur wenige Menschen kommen, in so frühen Jahren schon, in den Genuss so umfassender körperlicher, finanzieller und gesellschaftlicher Vorzüge.«
Charles D. Foster war ein führendes Mitglied der Episkopalkirche und überzeugter Republikaner. Er erwarb ein Eigentum an der South Franklin Street Nummer 124, einem Bezirk, in dem sich Wilkes-Barres konservative Elite in eleganten weitläufigen Villen zusammenfand. Nicht weit entfernt befand sich die Episkopalkirche St. Stephen, noch ein paar Häuser weiter der Westmoreland Club. In beiden war Foster Mitglied. Er gehörte zu jenen wohlhabenden Stützen der Gesellschaft, die man gern als Vorstandsmitglied hatte. So war er beispielsweise Präsident der ersten Straßenbahn in Wilkes-Barre, Direktor einer Mautstation und Schatzmeister bei einer zweiten, Direktor der Wyoming National Bank sowie Mitglied in diversen freimaurerischen, bankgeschäftlichen, genealogischen und historischen Vereinigungen. Zu diesen lokalen Errungenschaften kam noch der Erfolg an der Wahlurne. Bei seiner ersten Kandidatur für das Parlament von Pennsylvania im Jahr 1882 unterlag er zwar, wurde aber zwei Jahre später hineingewählt – und absolvierte eine einzige Amtszeit.
Fotografien von Foster zeigen eine gut gekleidete Gestalt mit blonden Haaren über einer hohen Stirn und einem fülligen Gesicht, das von einem energischen Kinn abgerundet wird. Die Brauen sind dicht und der Schnurrbart beachtlich. Auf einem Bild von Foster als junger Mann hängt der Bart seitlich an seinem Mund herunter. In einer späteren Aufnahme ist er nach oben gezwirbelt.
Am 4. Oktober 1865 heiratete Charles D. Foster Mary Jane Hoagland aus Hunterdon, New Jersey. Wann genau sie zur Welt kam, ist unklar. Vier Volkszählungen weisen vier verschiedene Versionen auf, was auf einen Hang zur Eitelkeit schließen lässt. Im Jahr 1860, als sie noch bei ihren Eltern lebte, wurde ihr Geburtsjahr mit 1838 angegeben. Ein Jahrzehnt später, sie war inzwischen verheiratet, hatte sie irgendwie sieben Jahre abgeschüttelt und war demnach 1845 zur Welt gekommen. Weitere zehn Jahre danach war sie nur neun Jahre älter geworden, und das Geburtsdatum hatte sich auf 1846 erhöht. In den folgenden beiden Volkszählungen gab es keine Änderungen mehr. Doch nach dem Tod ihres Mannes verlor Mary plötzlich noch einmal vier Jahre.
Ein Foto von Mary Foster in mittleren Jahren zeigt eine attraktive Frau im hochgeschlossenen Kleid mit einem ebenmäßigen Gesicht und einem energischen Mund, das brünette Haar hochgesteckt. Darüber, was aus diesem Mund so alles herauskam, schweigt sich die Geschichte weitgehend aus. Doch Mrs Foster war eindeutig stolz auf ihre englischen und holländischen Wurzeln. Sie trat einer erstaunlichen Anzahl von Vereinigungen zur Ahnenforschung bei, von denen es in den Vereinigten Staaten nur so wimmelte. Irgendwann erbte oder kaufte sie ein Anwesen, das im amerikanischen Brauchtum von einiger Bedeutung war. Es war das sogenannte Fleming’s Castle in Hunterton County, wo ihr Großvater Richter gewesen war. In Wirklichkeit war es gar kein Schloss, sondern ein bescheidenes, klappriges Wirtshaus, erbaut im Jahr 1756 von dem irischstämmigen Samuel Fleming. Seine Bedeutung geht auf einen Eintrag im Tagebuch von General George Washington zurück, wo von einer »Einkehr bei Fleming« die Rede ist.
Mary Foster brachte am 19. Juli 1868 eine Tochter zur Welt. Allerdings ist nicht klar, wo genau, da noch keine Geburtsurkunde ans Licht gekommen ist. Florence’ Sterbeurkunde gibt Wilkes-Barre als ihren Geburtsort an, während sie laut einer Eingabe St. Clair Bayfields 1945 vor Gericht in Flemington, New Jersey, geboren wurde. Dafür spricht einiges. Bevor Krankenhausgeburten üblich wurden, gingen Frauen häufig zur Niederkunft in ihre Heimat zurück. Das Kind wurde auf den Namen Narcissa Florence getauft. Narcissa war kein gängiger Name. Im Jahr 1868 kamen in Zeitungen im gesamten Gebiet der Vereinigten Staaten nur elf Frauen vor, die so hießen. Sie wurde möglicherweise nach Narcissa Whitman benannt, einer Pionierin und Missionarin, die 1836 als erste weiße Frau die Rocky Mountains überquerte. Wahrscheinlicher aber ist, dass das blonde Haar und die blauen Augen des Mädchens ihre Mutter an die Blume dieses Namens erinnerte. Florence Foster Jenkins wurde unter diesem Namen zwar nicht bekannt, doch bringt er einen Aspekt ihrer Persönlichkeit treffend auf den Punkt.
Zu Florence’ Kinderzeit unternahm ihr Vater häufig Ausflüge zu seiner Farm, zum einen, um die Bewirtschaftung des Landes zu überwachen, aber auch, um bei seiner Mutter vorbeizuschauen. Sie lebte immer noch in dem einfachen Farmhaus, in dem er aufgewachsen war und das sie nach eigener Aussage »allem Reichtum und Glanz, die eine Stadt zu bieten hat« vorzog. Der Pferdenarr Foster fuhr in einem Portland Cutter hinaus aufs Land, gezogen von einem Gespann, das er in einem Stall neben seinem Haus untergebracht hatte. Er nahm auch seine Tochter mit, damit sie ihre Großmutter besuchen konnte. Wenn es schneite, wickelten sie sich in warme Decken und erfreuten sich an der zauberhaften Schlittenfahrt durch die Landschaft des Luzerne County.
Florence wuchs auf als Kind ihrer Zeit. Sie widmete sich der Handarbeit und dem Klavier. Als sie eine besondere Vorliebe für das Letztgenannte entwickelte, waren die Würfel gefallen. Für die Geschichten über ihre musikalischen Anfangsjahre können wir uns auf keine verlässlichen Quellen stützen. In einem Interview im Jahr 1927 erklärte Florence, dass sie bereits im Alter von zehn Jahren solo auf dem Klavier spielte und viele öffentliche Auftritte hatte. Bei einer dieser Gelegenheiten sei sie »unverzagt einem Publikum von zehntausend Menschen gegenübergetreten«. St. Clair Bayfield setzte für ihr Debüt ein sogar noch früheres Alter an, als er einem Interviewer erzählte, sie sei zum ersten Mal mit acht Jahren in Philadelphia aufgetreten. Keine dieser Geschichten klingt sonderlich glaubhaft. Florence ist zwar später tatsächlich vor Tausenden in Philadelphia aufgetreten, und musikalisches Können war auch unbestreitbar ein gesellschaftlicher Pluspunkt für ein junges Mädchen, doch ist es zweifelhaft, dass Foster es geduldet hätte, wenn sich seine begabte Tochter vor irgendjemand anderem als den Hausgästen im heimischen Salon zur Schau gestellt hätte.
Nichtsdestotrotz war das Umfeld, in dem sie aufwuchs, gebildet und kultiviert. Ihr Vater war sehr belesen und vielseitig interessiert. Studenten und andere Bewohner von Wilkes-Barre lauschten häufig seinen kenntnisreichen und amüsanten Vorträgen über eine große Vielfalt von Themen: römische Geschichte, die Überlegenheit des amerikanischen Schulsystems, der Einfluss der Magna Charta, die Münzprägeanstalt der USA, die Hieroglyphen auf dem Stein von Rosette, die Kardinaltugenden des Geschäftslebens, die Musik der Antike, die zeitgenössische Literatur, das Bankensystem, der Einfluss des Sonnensystems auf die Abfolge der Jahreszeiten, amerikanische Geschichte der Kolonialzeit sowie, mehr als einmal, Abstinenz. Mary Foster war eine begeisterte und zunehmend versierte Landschafts- und Porträtmalerin. In ihrem späteren Leben hatte Florence zwei große Porträtgemälde von sich über ihrem Steinway-Flügel in ihrem New Yorker Apartment hängen. Eins zeigte sie als Kind, das andere als Frau mittleren Alters. Beide vermutlich Arbeiten ihrer Mutter.
Das prägendste Ereignis in Florence’ Kindheit war die Geburt einer Schwester im Jahr 1875. Nach einer so langen Wartezeit wird die Ankunft eines weiteren Babys, dem die Eltern den Namen Lillian Blanche gaben, Anlass zu großer Freude gewesen sein. Ältere Geschwister haben da oft zwiespältigere Gefühle, wenn sie sich plötzlich mit einem Rivalen konfrontiert sehen. Sieben Jahre der ungeteilten Liebe seiner Eltern sind eine lange Zeit für ein Kind. Selbst wenn sich dies nur auf der Ebene des Unterbewusstseins abspielte, so musste Florence sich doch ab jetzt stärker um die Aufmerksamkeit ihrer Eltern bemühen. Nicht lange nach diesem Einschnitt scheint die versierte kleine Nachwuchs-Pianistin mit Auftritten bei Hauskonzerten in Wilkes-Barre begonnen zu haben. Man kann sich vorstellen, dass der kritiklose Beifall ihr eine alternative Quelle der Anerkennung und Bestätigung bot.
Als Kind wurde sie mit ziemlicher Sicherheit auf Ausflüge mit dem Zug nach Philadelphia mitgenommen, das gut hundertsechzig Kilometer südwestlich von Wilkes-Barre liegt. Die Stadt eignete sich hervorragend dazu, die Fantasie eines jungen Mädchens anzuregen. Der zunehmende Wohlstand fand in allen Straßen und Gärten seinen Niederschlag. Das Abbild eines sitzenden Abraham Lincoln war 1866, dem Jahr nach seiner Ermordung, in Auftrag gegeben und 1871 enthüllt worden. (Es könnte sehr gut sein, dass Florence’ Eltern unter den dreihunderttausend waren, die einen Blick auf den toten Präsidenten warfen, als der Leichenzug auf seinem Weg von Washington, D. C., zu Lincolns Heimatstadt Springfield, Illinois, in Philadelphia Station machte.) Die Gesellschaft zur Förderung öffentlicher Kunstwerke sorgte für eine Auffrischung der öffentlichen Plätze in der Stadt. In den Parks und auf den Straßen schossen Skulpturen wie Pilze aus dem Boden. Bei einem Spaziergang durch die botanische Wunderwelt von Bartram’s Garden wird Florence auf die beiden Medici-Löwen gestoßen sein, zwei von vielen über die Stadt verstreuten Großkatzen. Diese gusseisernen Kopien waren Abgesandte aus der Wiege der Renaissance, mit der Florence ihren Namen gemeinsam hatte. Im Jahr 1874, als Florence sechs Jahre alt war, öffnete Amerikas erster Zoo in Philadelphia seine Pforten. Die Fertigstellung war durch den Bürgerkrieg arg in Verzug geraten. Zum Preis von fünfundzwanzig Cent konnten sich die Besucher tausend Tiere ansehen. Ein Jahrhundert nach der Unabhängigkeitserklärung wartete der Fairmount Park mit einer Statue des englischen Nationalheiligen Georg auf, wie er den Drachen tötet. Ein paar Meter weiter gedachte das Columbus-Denkmal in Marmor des Italieners, der Amerika entdeckt hatte. Im gleichen Jahr war Philadelphia als erste amerikanische Stadt Gastgeberin der Weltausstellung. Innerhalb von sechs Monaten besuchten fast zehn Millionen Menschen zweihundert eigens auf dem Ausstellungsgelände errichtete Pavillons und bestaunten die gigantische Feier der kommerziellen und industriellen Leistungsfähigkeit der Vereinigten Staaten. Allein am Pennsylvania Day strömten eine Viertelmillion Menschen auf das Gelände. Es ist naheliegend, dass Foster seine achtjährige Tochter zur ersten öffentlichen Zurschaustellung solch bahnbrechender neuer Ideen wie der Remington-Schreibmaschine, des elektrischen Dynamos von Wallace-Farmer, Alexander Graham Bells Telefon und des Heinz Ketchups mitnahm. Der Pavillon der US-Marine unterstand dem von Präsident Ulysses S. Grant persönlich dafür ernannten Mann, der einmal Florence’ Schwiegervater werden sollte.
Im Juli 1878, Florence war da gerade zehn geworden, sah sie sich zusammen mit ihrer Schwester und ihrem Vater von einem Hotel am nahegelegenen Harveys Lake aus eine totale Sonnenfinsternis an. Im Sommer 1881 hatte sie ihren Vater ganz für sich allein auf einem zehntägigen Ausflug zu den Niagara-Fällen. Wie der Wilkes-Barre Record zu berichten wusste, unternahmen die beiden die Reise »aus gesundheitlichen Gründen«. Es war eine unruhige Zeit für Florence. Im Herbst des Jahres wurde sie aus dem Nest geschubst und am Moravian Seminary in Bethlehem, Pennsylvania, angemeldet, dem ersten Mädchenpensionat in Amerika.
Die Schule war 1785 von einem Zweig der protestantischen Kirche gegründet worden, der seine Wurzeln in der böhmischen Hussitenbewegung des 15. Jahrhunderts hatte, und war streng religiös ausgerichtet. Eine im Jahr 1876 veröffentlichte Werbebroschüre stellte klar, dass sich »die moralische und religiöse Ausbildung der jungen Menschen an den Lehren Christi ausrichtet und keinesfalls dem Erwerb von bloßem weltlichen Wissen untergeordnet ist«. Der Direktor entstammte dem Klerus, und zu Beginn eines jeden Tages stand ein – ausdrücklich nicht konfessionsgebundener – Besuch in der Kapelle auf dem Programm, um die Seele zu reinigen. Die Schülerinnen stammten in der Mehrzahl aus Pennsylvania, New York und New Jersey, doch es kamen auch welche aus entlegeneren Bundesstaaten wie Kalifornien, Texas und Louisiana und sogar aus dem Ausland: Kanada, Mittel- und Südamerika, England.
Für die Durchführung des schulischen Angebots waren zwanzig im Haus wohnhafte und dazu noch einige Fachlehrer von außen verantwortlich. Gemeinsam unterrichteten sie Fächer, die Florence eines Tages gute Dienste leisten würden: Deutsch, Französisch, Rhetorik, Mythologie, Buchführung, Gesang und Instrumentalmusik, Malen, Zeichnen, Sprechtechnik sowie – angesichts ihrer späteren Vorliebe für Vogelgesang – Ornithologie. Es waren allerdings auch ein paar Fächer darunter, von denen sie hinterher keinen Gebrauch mehr machte, wie Mineralogie, Astronomie, Wachstechnik, Naturwissenschaft und Logik. Zweifelsohne sträubte sich Florence auch gegen die eingeschränkte Bewegungsfreiheit. Selbst in ihrer Freizeit standen sie und ihre Mitschülerinnen unter der permanenten Aufsicht einer Lehrerin, die sie überallhin begleitete, in den Speisesaal, den Schlafsaal oder zu Spaziergängen in die Schulgärten. Über einen Mangel an Klavieren zum Üben brauchte sie sich wahrlich nicht zu beklagen, denn die Schule konnte sich mit sechsundvierzig davon brüsten, zuzüglich zweier Kabinettorgeln. Doch musikalisches Können spielte nur eine untergeordnete Rolle. Priorität hatte ganz eindeutig, junge Frauen mit einem Instinkt für gutes Benehmen herauszubilden. »Die Leitung der Hausgemeinschaft arbeitet hin auf die Anerziehung tadelloser Prinzipien und die Ausformung guter Gewohnheiten«, hieß es in der Broschüre. »Demzufolge werden die Schülerinnen einem Regelwerk unterworfen, das sowohl ihre moralische Obliegenheit als Individuen als auch ihre Pflichten einer Familie gegenüber betrifft. Die fortwährende Beaufsichtigung, die den Tagesablauf bestimmt, ermöglicht es darüber hinaus den Lehrerinnen, auf ihre Schutzbefohlenen einen guten Einfluss auszuüben, der andernfalls möglicherweise verloren ginge. Die Unterweisung erfolgt mit viel Geduld und großer Mühe und wird daher, wie anzunehmen ist, auch nachhaltig sein.«
Für drei Trimester der Vervollkommnung seiner Tochter bezahlte Charles Foster ungefähr 300 Dollar (1876 waren es 280 Dollar). Die Rechnung umfasste so verschiedenartige Dinge wie die Wäsche und den Chorgesang, die Benutzung der Bibliothek und Besteck, Schreibmaterial, medizinische Betreuung durch den hauseigenen Arzt, Brennstoff, Badewannenbenutzung und Miete für die Kirchenbank.
Aus den Schulakten geht nicht hervor, ob Florence länger als ein Jahr geblieben ist. Eher werden es zwei gewesen sein. Es standen aber noch weitere Veränderungen an. Im September 1882 wurde Florence’ Vater als Kandidat der Republikaner für den Stadtrat von Philadelphia nominiert. Ungefähr zu dieser Zeit zogen die Fosters auch um auf die South Franklin Street Nummer 27, noch näher bei der Kirche.
St. Clair Bayfield weiß noch zu berichten, dass Florence als junges Mädchen den Wunsch äußerte, in Europa Musik zu studieren. Für eine aufstrebende Pianistin erscheint das nur logisch. Wenn sie sich ans Klavier setzte, brachte sie europäische Klänge hervor. Das war die Musik, der Amerika lauschte. Gerade erst war in der kürzlich (1880) eröffneten Metropolitan Opera in New York Tannhäuser gegeben worden, und auch das Repertoire des neu gegründeten Boston Symphony Orchestra war überwiegend europäisch ausgerichtet. Das sehr viel ältere Orchester der Stadt stellte bereits mit seinem Namen klar, wem es sich verpflichtet fühlte: »Handel and Haydn Society«. Als der aus Straßburg stammende Exil-Komponist F. L. Ritter 1883 die erste umfassende Chronik amerikanischer Musik herausbrachte, verzeichnete er noch immer einen starken europäischen Einfluss und erst ganz zaghafte Anzeichen der Selbstfindung. In der ersten Hälfte der 1880er Jahre waren mehrere wichtige Ereignisse jedes für sich schon ein Vorbote für eine eigenständige Identität der amerikanischen Musik: Marshall W. Taylor veröffentlichte die erste Sammlung von Spirituals, und ein Chor aus farbigen Sängern sang im Weißen Haus; eine Akkordzither wurde in den USA patentiert; und Scott Joplin setzte sich im Silver Dollar Saloon in St. Louis ans Klavier und erfand den Ragtime.
Andere Begebenheiten, die vermutlich eher die Aufmerksamkeit von Florence gefunden haben, da sie allesamt ausführlich in der Presse besprochen wurden, bewiesen, dass auch Frauen eine bedeutsame Rolle im musikalischen Leben des Landes spielen konnten. Im Jahr 1882 hatte in Omaha, Nebraska, eine Oper mit dem Titel The Joust Premiere. Komponiert hatte sie eine gewisse G. Estabrook, deren richtiger Name Gussie Clowry lautete. Als sie 1897 starb, berichtete der Philadelphia Inquirer, dass eins ihrer Lieder über eine Million Mal verkauft worden war. In größerer geografischer Nähe, in Potsdam, New York, vollzog sich die Gründung einer Einrichtung, die heute den Namen »Crane School of Music« trägt. Sie ging zurück auf die Initiative der dreißigjährigen Julia Ettie Crane, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, Musiklehrer für staatliche Schulen auszubilden. »Ist auf der Welt irgendetwas mehr gefragt als Musik?«, schrieb sie. »Bei nichts anderem schlägt sich die aufgewendete Zeit so deutlich in wirklichem Verständnis und Fortschritten nieder wie bei der Musik.«