Flucht aus dem Gottesstaat - Hassan M.M. Tabib - E-Book

Flucht aus dem Gottesstaat E-Book

Hassan M.M. Tabib

0,0

Beschreibung

Infolge des im Jahre 2006 verhängten Ölembargos gegen den Iran verlor das Mullahs Regime fast 60 Prozent seiner Einnahmen. Doch die Verantwortlichen fanden einen hinterhältigen Weg, jeden Tag Tausende Barrel Öl heimlich und spottbillig an zahlreiche asiatische Länder zu verkaufen. Die Hamsterkäufer mussten den Preis nicht über die jeweiligen Nationalbanken zahlen, sondern an Ort und Stelle in bar. Dieses Geschäftsmodell war nicht nur für die Regierung ein Befreiungsschlag, sondern auch für einige Korrupte in Schlüsselpositionen die beste Möglichkeit, sich zu bereichern. Sie manipulierten die täglichen Verkaufsdokumente und behielten die Kosten für bis zu zweitausend Barrel Rohöl ein. In diesen Schleichhandel wurde der Leiter des Finanzwesens des Ministeriums zwangsweise involviert. Sie setzten ihn unter Druck, mit ihnen zusammenzuarbeiten und sich mit einem Teil der unterschlagenen Summe zu begnügen. Für ihn war dies ein unmoralischer und inakzeptabler Zustand. Er wollte am liebsten so schnell wie möglich seinen Job quittieren, aus dem Iran verschwinden und seiner Frau, die wegen der gesellschaftlichen Restriktionen nach Australien geflohen war, folgen. Diese Ziele waren aber fast unerreichbar, denn die Gewaltherrscher waren einflussreich und übermächtig. Er musste einen Fluchtplan entwickeln. Der Roman Flucht aus dem Gottesstaat ist ein erschütternder Bericht über eine Regierung, die seit mehreren Jahrzehnten unter der Flagge eines Gottesstaates alle denkbaren Verbrechen ausübt, um an der Macht zu bleiben. Dieser Roman ist eine feinsinnige Mischung aus Fiktion und bewegender Recherche. Eine packende Story zu aktuellen Themen. Eine brillant erzählte Achterbahnfahrt der Gefühle.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 327

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für Darian

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Epilog

Prolog

Als mir im November 2015 mein Neffe Cyrus eine Einladung zu seiner Hochzeit am 15. Januar 2016 in Sydney, Australien, schickte, war ich heilfroh, dass der Junge endlich sein planloses und leichtsinniges Leben in Australien beenden wollte.

Wie er in einem außergewöhnlich langen Brief schrieb, hatte er die Absicht, mit seiner Lebensgefährtin und ihrem gemeinsamen zweijährigen Sohn ein neues und „normales“ Leben zu beginnen.

Er betonte stolz, dass er seit ein paar Monaten in der Firma seines zukünftigen Schwiegervaters arbeite und mit seinem Job äußerst zufrieden sei.

2011 hatte Cyrus gerade sein Studium abgeschlossen, als seine Eltern bei einem Autounfall starben. Nach diesem schmerzlichen Schicksalsschlag war er monatelang niedergeschlagen. Die ganze Familie bemühte sich, ihm beizustehen, aber es half nichts.

Er schloss sich zu Hause ein und vermied jeden Kontakt mit der Familie und Freunden. Niemandem gelang es, ihn auch nur eine kurze Zeit abzulenken und seine Stimmung aufzuhellen. Der Junge litt unter akuter Depression.

Eines Tages besuchte er mich in meinem Büro und mit drei kurzen Sätzen kündigte er an, dass er nach Australien auswandern wolle.

Er bat mich, keine Widerrede zu leisten, keine Ratschläge abzugeben. Er habe bereits das Haus, das Auto und den gesamten Haushalt verkauft, sein Visum und die Reise organisiert. Er wolle sich lediglich bei mir verabschieden.

Im ersten Jahre seines Aufenthalts in Australien hörten wir von ihm überhaupt nichts.

Im September 2013 schickte er aus Anlass meines Geburtstags eine Glückwunschkarte und ein Bild von seiner Freundin, einer hübschen, blonden Australierin, die unverkennbar schwanger war.

Da er ständig auf Reisen war, hatte er keine feste Anschrift. Ich konnte daher nicht mit ihm kommunizieren und herausfinden, was er eigentlich nach einem so langen planlosen Leben unternehmen wollte. Zumal seine Freundin ein Kind erwartete.

Im Jahr 2014 erfuhr ich von einer Bekannten in Sydney, dass seine Freundin einen Sohn auf die Welt gebracht hatte. Sie lebte mit ihrer Familie zusammen, aber Cyrus wanderte nach wie vor durch diesen riesigen Kontinent.

Fast ein Jahr später hatte er die Wanderschaft scheinbar satt und wollte sich endlich um seine Lebensgefährtin und den gemeinsamen Sohn kümmern.

Ich entschied mich, seinen sensationellen Plan zu honorieren und an seiner Hochzeitsfeier teilzunehmen.

Eigentlich hatte ich schon immer vorgehabt, Australien zu besuchen. Gerade dieses Ereignis war die beste Gelegenheit, meinen immer zurückgestellten Wunsch zu erfüllen. Aber meine Frau machte nicht mit. Sie konnte leider wegen ihres schwachen Kreislaufs eine Flugzeit von über zwanzig Stunden nicht verkraften. Sie ermutigte mich jedoch, allein zu reisen und meinen Neffen bei diesem wichtigen Abschnitt seines Lebens moralisch und, wenn nötig, finanziell zu unterstützen. Anschließend sollte ich vierzehn Tage einen Hauch von 7,7 Millionen Quadratkilometern Staatsfläche dieses grandiosen Kontinents kennenlernen. Eine fast zwanzigstündige Flugreise von Frankfurt nach Sydney mit drei Stunden Aufenthalt in Dubai ist in der Tat kein Vergnügen. Wegen des Zeitunterschieds verliert man bei der Hinreise zusätzlich noch einen vollen Tag und gerät mit dem Datum ziemlich durcheinander. Um diese unendlichen Reisezeiten zu überwinden, braucht man ein dickes, spannendes Buch, jede Menge Geduld und, wenn man Glück hat, einen redseligen Mitreisenden.

Ein interessantes Buch hatte ich leider nicht dabei, aber Gott sei Dank war der Herr, der im Flugzeug neben mir saß, der beste Reisepartner, den man sich wünschen konnte. Er war nicht nur mein Landsmann und sprach leidenschaftlich Farsi, er war eine freundliche und aufgeschlossene Persönlichkeit. Sein Name war Kamran Shahriyar.

Wir begegneten uns in dem Transit-Warteraum auf dem Flughafen Dubai. Von dort bis Sydney waren wir unzertrennlich.

Schon in Dubai erzählte er mir, dass er vor sechs Monaten seine Frau nach langer Krankheit an den Krebs verloren habe. Beruflich arbeite er als Rechtsanwalt. Zunächst nahm ich an, er sei auf einer Dienstreise. Aber schnell bemerkte ich meinen Irrtum und erfuhr, dass er noch eine längere Reise vor sich hatte.

Er wollte von Sydney nach Südaustralien weiterreisen, um einen Freund zu besuchen.

»Er muss ein wahrer Freund sein, dass Sie die halbe Erdkugel umrunden, um ihn zu besuchen«, sagte ich, während wir im Flugzeug nebeneinander saßen. Er nickte lächelnd und erwiderte:

»Oh ja, er ist nicht nur ein wahrer Freund, er ist meine Zwillingsseele.«

Er blieb eine Weile nachdenklich und fügte hinzu: »Mein Freund ist ein außergewöhnlicher Mann.

Ich kenne keinen Menschen, der in seinem Leben so viele furchtbare Ereignisse erlebt hat wie er. Er bezeichnet sich selbst als das geduldigste Versuchskaninchen des Schicksals. Theoretisch könnte er bis heute mehrere Male gestorben sein. Aber ich bin froh, dass er lebt, und zwar gut - wie ein König in Frankreich lebt er mit seiner Familie im Barossa Valley, Südaustralien.«

»Das hört sich ungemein interessant an. Wer ist er? Was macht er? Ich bin so neugierig, etwas von seinem Leben zu erfahren«, sagte ich voller Begeisterung.

»Gern würde ich seine imposante Lebensgeschichte erzählen. Denn es tut mir auch gut, mit Ihnen einen geistigen Ausflug in die Vergangenheit zu unternehmen. Seine Lebensgeschichte ist in der Tat so anregend, so kompliziert, ja abenteuerlich, dass ich nicht weiß, wo ich anfangen soll.« Er überlegte eine Weile, dann sagte er weiter: »Am besten beginne ich an dem Tag, als ich meinen Freund Shapor Baastan nach vierundzwanzig Jahren Trennung wiedersah. Das war am 19. Juni 2008 in Zürich. Es war eine unvergessliche Begebenheit in meinem Leben.«

Er hatte recht, die Lebensgeschichte seines Freundes Shapor Baastan war nicht nur außergewöhnlich, sie war spannend, oft beängstigend, aber auch bewundernswert. Obwohl der größte Teil dieser Geschichte ihm erzählt worden war, berichtete er von den Vorkommnissen so lebhaft, so bildhaft, dass ich mit Ausnahme einiger Stunden Schlaf während dieses langen Fluges fasziniert blieb. Ich war wie an meinen Platz gefesselt und bemerkte überhaupt nicht, als wir in Sydney landeten.

Ich hoffe, es gelingt mir, diese imposante Erzählung authentisch wiederzugeben.

Kapitel 1

Die unerwartete Begegnung mit Shapor nach 24 Jahren Trennung ereignete sich im Juni 2008 in Zürich«, begann Kamran zu erzählen. Um den Grund meines Aufenthaltes in Zürich zu verstehen, muss ich etwas von mir selbst erzählen. Ich bin neben meiner Tätigkeit als Rechtsanwalt ein aktives Mitglied der Organisation Widerstand gegen die Islamische Republik Iran.

Meine Kameraden und ich bekämpfen diese undemokratische Regierung und streben die Wiedererrichtung eines monarchischen Systems auf einer demokratischen Grundlage – Trennung des Staates von der Religion – unter Führung von Reza Pahlavi, dem Sohn des verstorbenen Schahs, an. Wir organisieren Demonstrationen, veröffentlichen informative Berichte über Verbrechen dieser korrupten und fanatischen Regierung in den sozialen Netzwerken und wollen die jungen Iraner für unsere politische Ideologie gewinnen.

Einmal im Jahr treffen wir uns in einer europäischen oder amerikanischen Großstadt.

Die Jahresversammlung 2008 fand in Zürich statt. Ziel unseres Zusammentreffens war eine kritische Analyse unserer bisherigen Aktivitäten, die Festlegung neuer Projekte, die Etatplanung und die Verteilung neuer Aufgaben auf die Mitglieder des Vereins.

Die Schweizer Stadt als Veranstaltungsort 2008 war für mich ein glücklicher Zufall. Denn ich konnte diese Gelegenheit nutzen, um nach dem Meeting noch eine Woche mit meiner Frau in unserem Ferienhaus in Horgen Urlaub zu machen.

Wissen Sie, wegen meines Berufs war ich in der letzten Zeit sehr angespannt, ja erschöpft gewesen und hatte das starke Bedürfnis, einige Tage abzuschalten und einfach zu relaxen.

Außerdem wünschte sich meine Frau, in dieser multikulturellen Stadt Theater oder Museen zu besuchen, in den noblen Bars und Restaurants einzukehren und vor allem viel Zeit mit mir zu verbringen.

Während wir in der dreitägigen Veranstaltung alle Punkte der Tagesordnung durcharbeiteten, konnte sie die gesamte Zeit zum Shoppen nutzen.

Ich erinnere mich, dass am letzten Tag der Sitzung unter dem Punkt „Verschiedenes“ ein Genosse über seine Aktivitäten in 2007 berichtete.

Er hatte es endlich geschafft, ausreichend Spendengelder zu sammeln, um ein neues, würdiges Grab für den in 1991 ermordeten Ferydun Farrokhzad zu errichten.

Sie kennen Ferydun Farrokhzad bestimmt. Er war einer der berühmtesten Sänger und Entertainer der modernen iranischen Musikgeschichte.

Zugleich war er einer der bekanntesten Gegner der Islamischen Republik Iran. Im Jahr 1979, nach der sogenannten islamischen Revolution, war er gezwungen worden, das Land zu verlassen und war ins Exil nach Deutschland gegangen.

Er hatte des Öfteren in seinen Shows in Europa und in den USA Khomeinis Buch ‚Handlung nach den Grundsätzen des islamischen Rechts – Fatwa‘ auf eine witzige Weise, aber auch zutreffend, kommentiert, so dass sein Publikum nach und nach danach verlangte, von ihm mehr politisches Kabarett als Musik zu hören.

Offenbar machte es ihm Spaß, mit humorvollen Kommentaren, aber auch einer intelligenten Interpretation das Fatwa von Khomeini auseinanderzunehmen und sein Publikum zum tobenden Lachen zu bringen. Alle seine Shows waren gut besucht und fast ausverkauft.

In diesem Zusammenhang beauftragte Ayatollah Khomeini Anfang 1990 Mohsen Rezai, Chef des Pasdaran1 Geheimdienstes, dafür zu sorgen, dass keine negativen Kommentare oder Demonstrationen gegen sein Regime in europäischen Staaten stattfinden. Er gab ihm eine Vollmacht und ausreichende finanzielle Mittel, um alle erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen.

Innerhalb von zwei Monaten richtete Mohsen Rezai in jeder iranischen Botschaft in Europa eine Zweigstelle des Geheimdienstes ein. Er sandete 25 ausgebildete Killer, getarnt als Diplomaten, in die jeweiligen Auslandsvertretungen und setzte einen Herrn Kamal Nouri als Vorgesetzten dieses Netzwerkes ein.

Ab Juli 1990 begann der Pasdaran Geheimdienst in Europa mit seinen sogenannten Kettenmorden die Dissidenten systematisch zu liquidieren. Zu den praktizierten Mordarten gehörten unter anderem Messerstechereien, inszenierte Autounfälle, Raubüberfälle mit Schießereien, Hinrichtungen durch Erdrosselungen, Giftspritzen etc.

Einer ihrer spektakulärsten Morde in Deutschland geschah am 6. August 1991 in Bonn. Sie stachen mehrfach auf Ferydun Farrokhzad in seinem Bonner Haus ein und köpften ihn anschließend. Seine Leiche wurde erst drei Tage nach der Tat aufgefunden.

Angesichts der zeitlichen Befristung der traditionellen iranischen Beerdigung wurde er zunächst in einem einfachen Grab beigesetzt.

Seit diesem schockierenden Ereignis hat unser Verein in seinen Jahresversammlungen des Öfteren darüber debattiert, dass Farrokhzad eine würdige Ruhestätte verdiente. Gemäß dem Bericht unseres Kollegen konnte er mit seiner Spendenaktion die finanziellen Mittel zur Errichtung eines neuen Grabes auf demselben Friedhof organisieren. Ferydun Farrokhzad bekam einen imposanten Grabstein aus schwarzem Marmor. Viele seiner Lieblingsblumen schmückten sein Grab.

Mit einer Minute Standing Ovation honorierten alle Teilnehmer diese ehrwürdige Aktion.

Am Ende der Veranstaltung berichtete ein weiteres Mitglied, dass es vor ein paar Tagen Kamal Nouri in Begleitung mehrerer Iraner in der Nähe des Züricher Hauptbahnhofs gesehen habe. Er fürchtete, dass Kamal Nouri und seine Mitstreiter entweder von unserer Versammlung in Zürich erfahren hatten und etwas gegen Mitglieder unseres Vereins unternehmen könnten oder dass sie in Zürich gerade ein anderes Opfer verfolgten. Er empfahl, dass wir vorsichtig sein und versuchen sollten, ihnen aus dem Weg zu gehen.

Er hatte recht, er redete von dem furchterregenden Todesengel Kamal Nouri, dem Leiter des Pasdaran Geheimdienstes in Europa. Ein Rohling, der für die Morde mehrerer iranischer Dissidenten in Deutschland, Frankreich und Holland verantwortlich war.

Trotz dieser beängstigenden Warnung wollte ich meinen Plan, eine Woche mit meiner Frau in der Schweiz Urlaub zu machen, nicht verwerfen.

Ich ging davon aus, dass er und seine Leute nicht meinetwegen in Zürich waren.

Allerdings hatte ich keine blasse Ahnung, dass sie meinen Freund Shapor Baastan dort suchten.

Unmittelbar nach dem Abschluss unserer Sitzung traf ich meine Frau in der Stadt und wir fuhren nach Horgen, einem kleinen, schönen Ort, etwa eine halbe Stunde Autofahrt von Zürich entfernt.

Wir hatten geplant, am 19. Juni wieder nach Zürich zurückzukehren und das Museum Rietberg zu besuchen, wie wir es seit Monaten gespannt erwarteten.

1 Die Iranische Revolutionsgarde

Kapitel 2

Donnerstag, der 19. Juni 2008, war ein herrlicher sonniger Sommertag in Zürich.

Nach einem kurzen Stadtbummel besuchten meine Frau und ich das Museum Rietberg.

Vor einigen Monaten hatten wir erfahren, dass ein privater Kunstsammler dort mehrere Bilder aus dem 16. Jahrhundert ausstellen wollte. Als große Liebhaber der Renaissance-Malerei wollten meine Frau und ich gern diese prachtvollen Bilder sehen.

Wir standen fasziniert vor dem Bild „Gewitter“ von Giorgio Barbarelli, als plötzlich der grelle Blitz einer Kamera uns erschreckte. Hinter uns stand ein Mann, bewaffnet mit einer alten japanischen Kamera und einer offenen Sporttasche, die mit Zoomobjektiven, Studioblitz etc. gefüllt war.

»Hier dürfen Sie nicht fotografieren«, protestierte meine Frau ziemlich wütend.

Ich glaube, sie ging diesen Mann nicht unbedingt wegen seines Regelverstoßes an, sondern weil der plötzliche helle Blitz der Kamera sie unangenehm hatte zusammenzucken lassen. Der Mann entschuldigte sich verlegen:

»I‘m sorry, Madame.« Zum Entsetzen meiner Frau passierte dann etwas Unfassbares: Der Mann mit der Kamera schaute mich mit einem breiten Lächeln an, richtete seinen Zeigefinger in meine Richtung und sagte in persischer Sprache: »Das darf nicht wahr sein, das ist die Überraschung des Jahrhunderts!«

Im Gegensatz zu ihm dauerte es bei mir fast eine Minute, bis ich ihn erkannte. Vielleicht lag es daran, dass er sich sehr verändert hatte.

Früher hatte er ein durchschaubares kindliches Gesicht, wirkte naiv und schüchtern.

Jetzt machte er den Eindruck eines unbesorgten, starken Machos.

Sein legeres Outfit, die frech dreinblickenden Augen, das unrasierte und von der Sonne gebräunte Gesicht sowie sein schwarzer, buschiger Schnurrbart verliehen ihm einen völlig unbesonnenen Eindruck.

Im Gegensatz zu seinen langen Haaren damals in Teheran, hatte er jetzt gar keine Haare mehr auf dem Kopf. Später erklärte er mir, dass er seinen Kopf regelmäßig rasiere, da in der letzten Zeit der Haarwuchs immer weniger geworden sei.

Theoretisch hätte ich an diesem Donnerstag jeden Freund oder Bekannten in Zürich treffen können, aber nicht Shapor. Das war für mich nicht vorstellbar, ja ausgeschlossen gewesen. Dennoch war ich nach so vielen Jahren der Trennung überglücklich, ihn wiederzusehen. Das war in der Tat eine angenehme Überraschung.

Die ganze Zeit schaute er mich mit seinen leuchtenden Augen an, dann ließ er seine Tasche auf den Boden fallen, umarmte mich überschwänglich und murmelte unseren alten Spruch:

»Ich schrieb auf die Stirn des Himmels: Wo bist du?

Eine Stimme brauste durch den Wind …«

Ich wisperte:

»Horchst du deinem Herzen.«

Er ließ mich los und, ungeachtet der scharfen Blicke anderer Museumsbesucher, sagte er laut und voller Freude:

»Ich kann es nicht fassen! Was machst du hier, du verdammter Anarchist?«

Ich war immer noch sprachlos. Mehr als 24 Jahre hatte ich auf eine solche Begegnung gewartet … und jetzt, ausgerechnet jetzt in diesem Museum stand er mir völlig unerwartet gegenüber.

Endlich machte ich meinen Mund auf und sagte:

»Ich bin so froh, dich zu sehen.« Dann klopfte ich auf seine Schulter und fügte hinzu: »Wir wollten heute in aller Ruhe diese wunderbaren Bilder anschauen, aber jetzt nicht mehr. Wir können uns unmöglich hier miteinander unterhalten. Gehen wir, dort ist der Ausgang.«

Ich hatte sehr wohl bemerkt, dass meine Frau mit meiner spontanen Entscheidung nicht einverstanden war. Sie hatte sogar ihren Protest mit einem heimlichen Kneifer in mein Bein signalisiert. Aber nichts in aller Welt würde meinen ungeduldigen und brennenden Wunsch, mit ihm zu reden, bändigen. Außerdem waren wir beide sehr aufgeregt und nicht in der Lage, die Bilder weiter konzentriert anzuschauen.

Draußen stellte ich ihm meine Frau vor. Er schüttelte ihre Hand, ohne sie interessiert anzublicken, sondern sagte einfach leise: »Guten Tag, Madame.« Dann schlug er vor, in ein Café oder Restaurant zu gehen, wo wir uns unterhalten könnten.

Einen Häuserblock vom Museum entfernt zeigte er plötzlich auf ein schickes, italienisches Restaurant und schlug vor, dass wir dort einkehren sollten.

»Ich glaube, ohne Reservierung bekommt man in diesem Restaurant keinen Platz«, sagte meine Frau unüberhörbar unwirsch.

Lächelnd schüttelte er seinen Kopf und deutete an, dass wir ihm folgen sollten.

Er öffnete die Tür. Als ein Ober vor ihm erschien, drückte er ihm einen großen Schein in die Hand und fragte auf Englisch:

»Haben Sie für uns einen ruhigen Platz, um etwas zu essen und uns ungestört zu unterhalten?«

Zu meiner Überraschung führte der Ober uns mit übertriebener Höflichkeit in einen kleinen Raum mit einem runden Tisch und vier Stühlen, während er auf Italienisch sagte etwas wie: „Per un ospite onorevole ho sempre un posto libero.“

Etwa zehn Minuten lang blickten wir uns nur sprachlos an. Wir tauschten Blicke miteinander aus, kosteten den bestellten Wein und versuchten, uns ein bisschen zu beruhigen. Plötzlich ergriff Shapor ungeduldig das Wort:

»Rede endlich! Wie geht es dir, mein Freund? Was machst du in Zürich?«

»Wie du siehst, geht es mir sehr gut. Wir sind auch in der Schweiz zu Hause. Ich habe ein Ferienhaus in Horgen, ca. eine halbe Stunde entfernt von hier.«

Er unterbrach mich impulsiv:

»Das ist mir aber neu ... Ich dachte, du wohnst in Deutschland. Mein Plan war, nächste Woche nach Deutschland zu reisen und dich zu besuchen.«

»Ja, wir wohnen hauptsächlich in Deutschland. Aber wenn wir eine Woche Zeit finden, kommen wir in die Schweiz und genießen die schweizerische Gastronomie, das schöne Wetter und das angenehme Flair. Wenn wir eines Tages in Rente gehen, wollen wir hierher umsiedeln.«

»Das heißt, du wirst nicht mehr in den Iran zurückkehren«, schlussfolgerte er unverkennbar zynisch.

»Ich bin nicht lebensmüde. Du hast selbst mit diesen Fanatikern schmerzliche Erfahrungen gemacht.

Und das Schicksal meiner Mutter war nicht besser als das deines Vaters. Beide wurden gnadenlos hingerichtet. Eine wegen ihrer freien Meinung über die islamischen Gesetze und der andere wegen das Besitzes von drei Fässern Wein.« Er nickte mit ernster Miene und ich fuhr fort:

»Vor einigen Jahren warnte mein Vater mich davor, in den Iran zurückzugehen. Er war sich sicher, man würde mich wegen meiner politischen Aktivitäten gegen die iranische Regierung verhaften und hart bestrafen.

Merkwürdigerweise bekam ich im letzten Monat einen anonymen Brief aus der Schweiz. Man warnte mich ebenfalls davor, in den Iran zu reisen, weil ich auf der schwarzen Liste von Pasdaran stünde.«

»Ich bin der „man“. Der Brief war von mir«, sagte er kühl, ohne mich direkt anzuschauen. Er erklärte weiter: »Tatsächlich stehst du auf der schwarzen Liste von Pasdaran. Mir war allerdings nicht bekannt, was du in Deutschland getrieben hast.

Weißt du, ich hatte einmal die Gelegenheit, auf die Pasdaran Datenbank zuzugreifen. Rein zufällig habe ich deinen Namen gesehen. Du bist als Feind der Islamischen Republik Iran eingestuft. Ja, der anonyme Brief kam von mir.«

Mit aufgerissenen Augen starrte ich ihn an und erwiderte:

»Das verstehe ich nicht. Der Brief kam aus der Schweiz. Ich dachte, du bist auf deiner ersten Europareise.« Eine Weile blickte ich ihn verwirrt an und fragte dann: »Oder bist du schon des Öfteren in Europa gewesen?« Er sagte nichts, blieb minutenlang schweigsam. Ich sprach weiter:

»Ach natürlich, du warst schon oft hier, sonst würde der italienische Ober dich nicht als „hoch angesehenen Stammgast“ bezeichnen.

Wenn meine Vermutung richtig ist, dass du einige Male in Europa warst, warum hast du mich nicht besucht?« Zum ersten Mal sah er meine Frau an – Hilfe suchend. Es schien, als sei ihm bewusst geworden, dass er die ganze Zeit nur mit mir gesprochen und ihre Anwesenheit nicht sonderlich beachtet hatte. Jetzt brauchte er sie. Ärgerlich fragte ich ihn: »Was ist aus dir geworden, Shapor? Wie konntest du mehrere Male in Europa sein und mich nicht besuchen? Nicht einmal ein kurzes Telefonat. Das kann nicht wahr sein, so kenne ich dich nicht. Du hast dich schrecklich verändert; du bist so interessenlos, gefühllos geworden und wirkst einfach fremdartig.«

Er schluckte schweigsam alle meine verletzenden Worte.

Doch dann zuckte ein bitteres Lächeln um seine Mundwinkel und er sagte zu meiner Frau:

»Er hat recht, ich bin nicht mehr der emotionale Junge von früher, der Tag und Nacht seine Träume mit ihm teilte. Ich weiß, ich strahle keine Wärme mehr aus, ich bin kalt, verbittert, misstrauisch und die meiste Zeit unhöflich. Auch Ihnen gegenüber, Madame, benahm ich mich schroff. Bitte entschuldigen Sie mein unanständiges Benehmen.

Vielleicht ist es für Sie schwierig, sich vorzustellen, dass ich einmal ein anständiger Mensch gewesen bin.

Wissen Sie, dieser Kerl, dieser unbarmherzige Richter – ich meine Ihren Mann – er ist der einzige Freund in meinem Leben, der mir viel bedeutet; er ist sogar mein Stiefbruder. Wussten Sie das?

Vielleicht hat er Ihnen erzählt, dass wir zusammen aufgewachsen sind, zwölf Jahre besuchten wir dieselbe Schule und genossen gemeinsam eine traumhaft schöne Kindheit.

Ich denke immer noch mit großem Enthusiasmus an die Zeiten zurück, als wir zusammen Pläne für unsere Zukunft schmiedeten.

Aber leider ist aus unseren schönen Träumen nichts geworden, es waren alles bunte Seifenblasen; jedenfalls für mich war es so.

Eines Tages flog er nach Europa und ich blieb zwangsweise in einer kranken Welt zurück, wo das Wort Menschlichkeit nach und nach seinen Wert und seine Bedeutung verlor.

Ein sehr schwieriges Leben liegt hinter mir; mehrere Jahre musste ich als Soldat an einem unsinnigen Krieg zwischen Iran und Irak teilnehmen und danach unter Führung eines Haufens religiöser Betonköpfe leben und arbeiten. Dieser Zustand hat bewirkt, dass ich, wie Kamran sagte, rücksichtslos, gefühllos, ja egoistisch geworden bin.

Ich will mich nicht rechtfertigen, aber ich behaupte, dass die giftige Atmosphäre im Iran schuld daran ist. Sie werden bei den meisten Menschen in diesem Land kaum die feine orientalische Mentalität spüren, die Sie erwarten. Ob es an der wirtschaftlichen Situation liegt oder an den gesellschaftlichen Repressionen, kann ich nicht beurteilen. Ich weiß nur, jeder ist gezwungen, an sich zu denken und sich anzustrengen, um sich über Wasser zu halten. Man erfährt selten Mitgefühl, Rücksichtnahme oder Solidarität von seinen Nachbarn, Kollegen oder sogar Verwandten.

In den letzten Jahrzehnten haben die Mullahs systematisch versucht, das iranische Volk seiner Freude am Leben zu berauben. Man darf nicht feiern, man darf nicht lachen, keine heitere Musik hören – man muss sich immer islamisch benehmen und Tag und Nacht um die verdammten verstorbenen Heiligen trauern.

Ja, im Iran herrscht eine Friedhofsatmosphäre … und ich komme gerade von dort.

Was erwartet ihr also von mir?« Dann blickte er mich kalt an und sprach mit ernster Stimme weiter: »Deine Vermutung ist richtig, ich war schon einmal in der Schweiz und zwar letzten Monat. Aber leider hatte ich keine Zeit, dich zu besuchen.

Anrufen wollte ich auch nicht, weil ich die Frage nach dem Grund, warum ich dich nicht besuchen kann, nicht ehrlich hätte beantworten können. Kannst du mich verstehen?«

»Nein, ich verstehe dich überhaupt nicht«, antwortete ich scharf. »Nach meiner Information ist eine Europareise für Iraner nicht unproblematisch. Man braucht eine amtliche Einladung, um ein Visum zu bekommen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du diesen Aufwand nur für ein paar Tage Aufenthalt in der Schweiz betrieben hast. Was hast du hier überhaupt gemacht?«

Er blieb wieder schweigsam. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Offensichtlich wollte er nicht darüber reden, jedenfalls nicht vor meiner Frau. Nach kurzer Überlegung sagte er:

»Das ist eine lange Geschichte. Vielleicht werde ich später von meinem Leben, meinem Job bei dem Öl-Ministerium, dem Grund meines Besuches in der Schweiz sowie meinen Zukunftsplänen erzählen. Allerdings bin ich nicht sicher, ob du davon begeistert sein wirst.«

»Wenn ich dich richtig verstanden habe, wolltest du mich nächste Woche in Deutschland besuchen. Das heißt, dieses Mal bleibst du mehr als ein paar Tage in Europa.

Wenn du nichts dagegen hast, machen wir hier Schluss, fahren zu deinem Hotel, holen dein Gepäck und dann fahren wir zu meinem Ferienhaus.

Dort können wir einige Tage miteinander verbringen und mehr vom Leben des Anderen erfahren.« »Ich komme gern zu euch. Schreib mir die Adresse eures Ferienhauses auf. Ich habe einen Mietwagen und werde versuchen, gegen 19:00 Uhr bei euch zu sein.

Heute kann ich allerdings noch nicht aus meinem Hotelzimmer auschecken, weil ich so viele Sachen für meine Frau und mich gekauft habe, die erst ordentlich in zwei große Koffer eingepackt werden müssen. Vielleicht checke ich morgen aus und ziehe zu euch, damit wir, wie du gesagt hast, einige Tage zusammen verbringen können.« »Okay, einverstanden. Bist du sicher, dass du unser Haus finden kannst?«

»Ich verlasse mich auf die Funktionsfähigkeit des Navigationsgerätes in meinem Mietwagen. Sonst werde ich auf die Stirn des Himmels schreiben: Wo bist du?« Lachend erwiderte ich: »Mach‘ dir keine Sorgen, du hast deinen Humor noch nicht verloren.«

Kapitel 3

Wie gesagt, Shapor war jahrelang mein bester Freund, mein Schulkamerad. Kaum zu glauben, seit knapp achtzehn Jahren war er auch mein Stiefbruder.

Eigentlich waren wir im Iran wie Zwillingsbrüder, fast unzertrennlich. Wir hatten unterschiedliche Hobbys – er war ein begeisterter Hobbyfotograf, ich interessierte mich mehr für Musik. Dennoch hatten wir den gleichen Geschmack, gleiche Ziele und dafür hatten wir zusammen tausende Pläne geschmiedet. Nach dem Abitur wollten wir den Iran verlassen, zuerst per Anhalter in Asien, Europa und Amerika herumreisen, dann irgendwo in einem fernen Land uns niederlassen und mit einem Leben nach unserer Vorstellung beginnen. Unser Motto: Wir sind nicht auf der Welt, um so zu sein, wie andere uns haben wollen.

Shapor wohnte mit seiner Mutter und Großmutter in Teheran, einen Block entfernt von unserem Haus. Sein Vater war ein bekannter Weinbauer und lebte die meiste Zeit in Shiraz. Er besaß mehrere Hektar Weinplantagen und produzierte den meisten Rotwein im Iran. Wenn er in Teheran war, besuchte er uns und brachte für meinen Vater seinen besten Tropfen mit.

In den Sommerferien reiste ich mit Shapor nach Shiraz. Seine Familie hatte neben ihrem Weinberg ein schönes Bauernhaus. Wir blieben dort sechs bis acht Wochen und genossen die wunderbare Atmosphäre in dieser traumhaften Region.

Zu unserer dortigen Clique gehörte auch Golineh. Sie war ein paar Jahre jünger als wir und ein bezauberndes, intelligentes Mädchen. Sie lebte mit ihrem Bruder und ihrer Großmutter zusammen.

Ihre Eltern hatten bei einem schrecklichen Erdbeben ihr Leben verloren. Die Familie von Golineh war Anhänger von Zarathustra, der ersten Religion in Persien.

Während der Epoche des Schahs genossen die Anhänger von Zarathustra einen besonderen Respekt, da diese Religion Bestandteil von tausenden Jahren iranischer Kultur ist. (Der Islam wurde mit Gewalt im Iran eingeführt und weiterverbreitet.)

Ihre selbstbewusste Haltung, ihre Schlagfertigkeit, aber auch ihre romantische Denkweise hatten mich an Golineh immer beeindruckt. Sie liebte Poesie und konnte stundenlang die Gedichte von Sadi, Hafez, Omar Khayam und weiterer berühmter iranischer Dichter gefühlvoll rezitieren.

In diesen unvergesslichen Sommerzeiten verbrachten wir jeden Tag gemeinsam. Wir spielten Karten, schwammen stundenlang in einem See, bummelten in der Stadt oder setzten uns einfach unter den Schatten eines Baumes und hörten fasziniert, wie Golineh die Texte eines Dichters gefühlvoll vortrug.

Ich freute mich immer auf unsere Sommerferien in Shiraz. Am Anfang unseres Zusammenseins war es eine einfache freundschaftliche Beziehung. Aber nach und nach war Golineh unsere gemeinsame große Liebe geworden. Ja, wir beide liebten sie sehr, und wenn wir nach Teheran zurückkamen, träumten wir von der unvergesslichen Zeit mit diesem fantastischen Mädchen.

Im Laufe der Zeit erkannte ich neidlos, dass Golineh Shapor mehr liebte als mich. Ich muss zugeben, dass er sich mehr um sie kümmerte.

Fast jeden Tag schrieb er einen Brief an sie und schickte wertvolle Geschenke nach Shiraz.

Ich glaube, ich war schon dreizehn oder vierzehn Jahre alt, als ich mich von dieser Dreierbeziehung zurückzog und ihnen zu verstehen gab, dass ich bei ihren Treffen nicht immer dabei sein wollte. Wir blieben aber weiterhin gute Freunde.

Golineh wusste von unseren Zukunftsplänen. Einmal sagte sie während meiner Anwesenheit zu Shapor: „Wenn du irgendwo in der Welt dein Paradies gefunden hast und mich noch haben willst, schreib mir die Adresse, ich werde sofort zu dir kommen.“

Damals wusste aber keiner von uns, dass das Schicksal völlig andere Pläne für uns vorsah.

Als wir gerade vierzehn Jahre alt waren, wurde das Regime des Schahs aufgelöst und Khomeini übernahm die Regierungsmacht.

Ich erinnere mich, dass unmittelbar nach der Machtübernahme von Khomeini Golinehs Bruder nach Australien emigrierte. Er war davon überzeugt, dass die Mullahs bald keine andere Religion im Iran dulden würden. Wer sich nicht an islamische Gesetze halte, müsse um sein Leben bangen. Einige Monate später wurde seine These bestätigt. Man versuchte systematisch, aber auch mit Gewalt, die Anhänger jeder anderen Religion zu bekämpfen und sogar zu vernichten.

Golineh blieb aber bei ihrer Großmutter und bemühte sich, die neue Situation zu erdulden und sich einigermaßen anzupassen.

Ich kann mich noch daran erinnern, dass es, als der Schah den Iran verließ und das Flugzeug von Khomeini in Teheran landete, großen Jubel und optimistische Erwartungen gab.

Denn Khomeini versprach dem iranischen Volk, alles sofort zu verwirklichen, was der Schah über Jahre versprochen, aber nicht realisiert hatte.

Er stellte sogar in Aussicht, dass der Gewinn der Ölindustrie unter den Iranern verteilt würde. Der Strom sollte kostenlos sein und Lebensmittel viel billiger.

Später, viel später hat man erkannt, dass nicht nur seine Versprechungen Lügenmärchen waren, sondern dass dieser Regierungswechsel eine große Katastrophe in der iranischen Geschichte bedeutete; noch schlimmer als die Attacke von Dschingis Khan im zwölften Jahrhundert.

Während der Regierungszeit des Schahs gab es gewisse gesellschaftliche Freiheiten, jedoch musste man mit kritischen Äußerungen gegenüber dem Schah und seiner Regierung vorsichtig sein. Jede negative Bemerkung gegen seine Majestät oder seine Regierungsmitglieder wurde hart bestraft.

Unter Khomeini (und ebenfalls unter seinem Nachfolger Khamenei) wurden kritische Meinungen gegenüber den neuen Machthabern nicht nur hart bestraft, sondern man riskierte sein Leben, wenn man eine argwöhnische Frage bezüglich der Leitlinie der islamischen Religion stellte.

Diese politischen und gesellschaftlichen Veränderungen nahmen ständig negativen Einfluss auf unsere Stimmung. Noch schlimmer, sie raubten uns unsere Jugendzeit.

Das war besonders schmerzlich für Shapor, weil er nicht wie früher Hand in Hand mit Golineh spazieren gehen oder zusammen mit ihr schwimmen konnte.

Der Gottesstaat verlangte eine strenge Trennung zwischen einem nicht verheirateten Mann und einer nicht verheirateten Frau. Golineh musste sich außerdem islamisch verhalten und den Tschador tragen.

Damals hatte der Ausbruch des Krieges zwischen Iran und Irak Shapor und mich sehr beunruhigt.

Wir hatten Angst, dass man uns während unseres Abiturs wie mehrere tausend andere junge Iraner an die Front schicken würde.

Niemand konnte den Sinn dieses Krieges richtig begreifen. Eigentlich erkannte das iranische Volk erst sehr spät, dass acht Jahre Krieg mit dem Irak ein Teil von Khomeinis Strategie war. Er bezeichnete den Iran-Irak-Krieg als „Geschenk des Himmels“.

Ein Geschenk, das ihm ermöglichte, die Verfassung des Landes nach seiner Vorstellung zu ändern und innenpolitische Ziele zu verwirklichen, die sonst nie erreichbar gewesen wären.

Während der Kriegszeit, in der eine Million junge und alte Menschen gefallen und eine weitere halbe Million verletzt worden waren, hatte er genug Zeit gehabt, die Medien zu zensieren und die Opposition im Iran als Verräter zu verfolgen.

Bürgerrechte wurden eingeschränkt, die islamischen Gerichte und Revolutionsgarden (Pasdaran) gewannen an Bedeutung. Außerdem rechtfertigte sich Khomeini für die Nichteinhaltung vieler Versprechungen aus der Zeit vor der Revolution mit den Kosten des Krieges.

Mein Vater sagte mir des Öfteren, dass ich mich für eine Auslandsreise vorbereiten solle. Spätestens unmittelbar nach dem Abitur solle ich so schnell wie möglich das Land verlassen.

Als bekannter Notar und Anwalt war er mit einigen einflussreichen Beamten der alten und der neuen Regierung befreundet und hatte es relativ schnell geschafft, einen Reisepass für mich zu besorgen.

Aber ich lehnte es ab. Ich betonte wiederholt, dass ich ohne Shapor nirgendwohin gehen würde.

Jeder in der Familie wusste, dass man uns nicht auseinanderreißen könnte.

Einmal lud mein Vater die Eltern von Shapor zu uns nach Hause ein. In einer langen Diskussion versuchte er, dessen Eltern dazu zu motivieren, ihren Sohn mit mir ins Ausland zu schicken.

Shapors Vater war von diesem Vorschlag nicht sonderlich begeistert, weil es ihm finanziell nicht gut ging und er sich die Auslandsreise und mehrere Jahre Aufenthaltskosten seines Sohnes nicht leisten konnte. Denn seit Beginn der sogenannten Revolution war er arbeitslos. Kurz nach dem Regimewechsel musste er mit seiner Arbeit aufhören und seine Weinfelder einfach austrocknen lassen.

Nach der Machtübernahme von Khomeini wurden alle Betriebe von Weinbauern, Bierbrauereien und Schnapsbrennereien geschlossen und ihre Besitzer meistens verhaftet.

Er hatte Glück gehabt, dass man ihn wegen seiner unislamischen Tätigkeit nicht zur Verantwortung gezogen hatte, zumindest bis zu diesem Zeitpunkt.

Am Ende dieses Gespräches wurde vereinbart, dass mein Vater die Kosten für das Ticket nach Europa sowie die Beschaffung eines Reisepasses für Shapor übernehmen und Shapors Vater lediglich seinem Sohn einige Tausend Dollar für den Lebensunterhalt zur Verfügung stellen würde.

Der Krieg gegen den Irak spitzte sich in der Zwischenzeit zu; jeden Tag erreichten Raketen von Saddam Hussein den Süden Teherans. Wir hatten Angst, dass bald eine dieser furchterregenden Raketen den Flughafen zerstören würde und wir unseren Reisetraum aufgeben müssten.

Aber Gott sei Dank war der Flughafen noch in Betrieb, allerdings trauten sich nur noch wenige Fluggesellschaften, nach Teheran zu fliegen.

Im Juni 1984, eine Woche nach dem Abschluss unseres Abiturs, waren wir soweit. Wir hatten bereits unser Visum für Deutschland, zwei Tickets nach Frankfurt und mehrere tausend Dollar in bar.

Am 17. Juni 1984 wollte meine Familie Shapor und mich zum Mehrabad Flughafen bringen. Wir hatten den ganzen Tag auf die Eltern von Shapor gewartet. Seit einer Woche waren sie in Shiraz, um ihr Haus und die Weinfelder zu verkaufen. Sie wollten von Shiraz direkt zu unserem Haus kommen und Shapor und mich zum Flughafen begleiten.

Shapor rief seinen Onkel in Shiraz an und erkundigte sich, wo seine Eltern blieben. Sein Onkel versicherte ihm, dass sie vor zwölf Stunden aufgebrochen seien und längst in Teheran sein müssten.

Wir standen alle nervös und ungeduldig am Fenster unseres Hauses und warteten auf sie - vergeblich. Um 18:00 Uhr konnten wir nicht länger warten. Wir mussten mindestens drei Stunden vor dem Flug für das Einchecken, die Abfertigung sowie die polizeiliche Kontrolle, die viel Zeit in Anspruch nehmen konnte, am International Mehrabad Airport sein.

Mein Onkel blieb zu Hause, um Shapors Eltern, sobald sie kommen würden, zum Flughafen zu bringen.

Ich erinnere mich, dass wir die ganze Strecke zum Flughafen stumm und unruhig waren. Überall herrschte eine beängstigende Atmosphäre. Man sah nur Militärfahrzeuge und Soldaten auf den Straßen. Fast alle Teheraner versteckten sich in ihren Kellern.

Während der Fahrt zum Flughafen hielten Shapor und ich uns an den Händen fest und versuchten, uns ab und zu mit Blicken gegenseitig Hoffnung zu machen. Im Flughafen war der Teufel los.

Mehr als tausend Personen standen angespannt und nervös herum und versuchten, entweder ihren Flug einzuchecken oder ihre Reisenden zu verabschieden.

Während meine Eltern ihre Blicke auf den Eingang fixierten, standen wir in der langen Schlange der Swissair. Nach einer Stunde hatten wir endlich unsere Bordkarten. Es blieb nur noch wenig Zeit, um auf Shapors Eltern zu warten. Über Lautsprecher wurden alle Passagiere von Swissair aufgefordert, sich unverzüglich in den Warteraum zu begeben.

Gerade in diesem Moment sah ich meinen Onkel, der krampfhaft versuchte, durch diese Menschenmassen zu uns zu kommen. Er wirkte traurig und aufgeregt. Ich sah, wie er rücksichtslos die Leute zur Seite schob, um schnell zu uns zu gelangen. Als er endlich vor uns stand, hatte er Schwierigkeiten, sich richtig zu artikulieren. Er sagte:

»Es tut mir leid … sie haben … sie haben ihn verhaftet.«

»Wer ist verhaftet?«, unterbrach ich ihn scharf.

»Sie haben Shapors Vater verhaftet und ins Ewin-Gefängnis gebracht. Nilufar, Shapors Mutter, ist bei uns zu Hause. Sie ist völlig aufgeregt und durcheinander.«

Das war für uns alle ein schmerzlicher Schlag. Verdammt, warum gerade jetzt?

Minutenlang standen wir entsetzt und sprachlos da, bis Shapor leise, aber mit fester Stimme sagte:

»Ich komme nicht mit. Ich wünsche dir viel Erfolg in Europa.«

»Was erzählst du da? Natürlich kommst du mit. Du kannst für deinen Vater gar nichts tun.«

»Das weiß ich, aber meine Mutter braucht mich jetzt. Ich kann sie unmöglich allein lassen.«

Er bemerkte meine verzweifelten Gesichtszüge, umarmte mich fest und sprach weiter: »Jetzt musst du dich beeilen, sonst verpasst du deinen Flug. Ich komme irgendwann nach. Es tut mir leid, ich muss hierbleiben. Bitte versuche, zu verstehen, ich kann in dieser schrecklichen Situation meine Mutter nicht allein lassen.«

»Nein, nein, wir fliegen zusammen nach Deutschland. Wenn du hierbleibst, fliege ich auch nicht. Es ist ausgeschlossen, ich werde ohne dich nicht reisen.«

»Sei nicht kindisch. Du weißt ganz genau, wenn du hierbleibst, bist du in Gefahr. Du würdest zum Militär eingezogen werden. Rette dein Leben, geh ... bitte geh jetzt.«

Inzwischen ertönte die letzte Aufforderung von Swissair durch die Lautsprecher.

Shapor schubste mich in die Richtung der Passkontrolle und sagte:

»Geh … verschwinde! Ich verspreche, ich schwöre, sobald ich alles geregelt habe, komme ich zu dir. Wir werden unsere Pläne realisieren. Du würdest genauso handeln, wenn dein Vater verhaftet worden wäre, da bin ich mir sicher.«

Meine Eltern waren gleicher Meinung und drängten mich, zum Schalter der Passkontrolle zu gehen.

Mein Vater versprach, er würde sich für die Freilassung von Shapors Vater einsetzen. Er versicherte mir, dafür zu sorgen, dass Shapor zu mir käme, sobald dessen Vater frei sei.

Alle umarmten mich voller Zuneigung und wünschten mir viel Glück.

Ich schaute Shapor verzweifelt an, er hatte Tränen in den Augen und ein bitteres Lächeln auf den Lippen. Er sagte:

»Sei unbesorgt. Alles wird gut, bald komme ich zu dir und wir beginnen, unseren Plan zu verwirklichen, das verspreche ich dir. Bitte, jetzt beeil dich, sonst verpasst du deinen Flug.«

Plötzlich stand ich vor dem Schalter der Polizei. Die Beamten prüften meinen Pass, meine Bordkarte und ohne Beanstandung ließen sie mich den Flugwarteraum betreten.

Bald stand ich vor dem Gate von Swissair, saß dann auf meinem reservierten Platz im Flugzeug und flog schließlich durch den dunklen Himmel von Teheran – allein, ohne Shapor.

Kapitel 4

Am Frankfurter Flughafen wartete mein Cousin auf Shapor und mich. Er hatte in seinem großen Haus ein Zimmer für uns eingerichtet. Ich brauchte ihm nicht ein Wort von meinem bitteren Erlebnis zu berichten, an meinem traurigen und verzweifelten Gesicht hatte er schon abgelesen, dass Shapor nicht hatte mitfliegen können.

Mein Cousin ist ein gütiger und gefälliger Mensch und versuchte mich zu trösten, ich solle mir keine Sorgen machen. Er war zuversichtlich, dass Shapors Vater bald freikommen und Shapor nach Deutschland nachkommen werde. Das war gut gemeint und beruhigend, aber leider lief alles in eine völlig andere Richtung, als ich gehofft hatte.

Eine Woche nach meiner Ankunft in Deutschland hatte man Shapors Vater wegen seiner unislamischen Tätigkeiten nach einem kurzen Prozess hingerichtet. Das berichtete mein Vater mir in einem langen Telefongespräch. Er erklärte mir, dass die Pasdaran bei einer Hausdurchsuchung in Shiraz noch drei Fässer Rotwein in einem Geheimkeller gefunden hatten, obwohl Shapors Vater behauptet hatte, dass er unmittelbar nach der Revolution alle Weinbestände vernichtet habe. Er hatte dem Richter erklärt, dass er unmöglich diese edlen Tropfen vernichten könne, das sei eine große Sünde. Als ein passionierter Weinbauer war das ein ehrliches Statement, doch diese Aufrichtigkeit war sein Todesurteil.

Es ging das Gerücht um, dass die Leute, die sein Haus und seine Grundstücke in Shiraz hatten kaufen wollen, Mitarbeiter der Pasdaran gewesen waren.

Glücklicherweise konnte man Shapor, da er die ganze Zeit in Teheran gewohnt hatte, nicht wegen des Verstoßes seines Vaters gegen die islamische Verordnung zur Verantwortung ziehen, praktisch wusste er von nichts.

Aber es kam für ihn noch schlimmer; man hatte ihm drei Wochen Zeit eingeräumt, um sich beim Militär zu melden. Er müsse – wie alle anderen jugendlichen Iraner – seinen Militärdienst absolvieren.

Mein Vater versicherte mir, er werde alles daran setzen, damit ihn seine Einheit nicht an die Front schicken würde, sondern er eine leichte Aufgabe in der Verwaltung bekäme.

Für mich waren in dem fernen fremden Land diese furchtbaren Ereignisse sehr bedrückend. Der Gedanke, dass schon kurz vor der ersten Etappe unseres Ziels alle unsere fantastischen Träume wie Seifenblasen zerplatzten, machte mich sehr traurig.

Die ersten vier Wochen meines Aufenthalts in Frankfurt sperrte ich mich in meinem Zimmer ein und telefonierte jeden Abend mit meinem Vater.