Von orientalischen Träumen zur Tragödie im Westen - Hassan M.M. Tabib - E-Book

Von orientalischen Träumen zur Tragödie im Westen E-Book

Hassan M.M. Tabib

4,9

Beschreibung

Bijan kann die strenge Tradition, die gesellschaftlichen und religiösen Verpflichtungen und vor allem die politische Situation in seinem Heimatland, Iran nicht mehr ertragen. Seine Seele dürstet nach Freiheit in einer heilen Welt, möglicherweise irgendwo im Westen. Im Westen, so heißt es, hat der Horizont eine andere Farbe und das Leben eine bessere Qualität. Es gibt dort eine große persönliche Freiheit und man kann unbesorgt in Frieden leben. Nach Abschluss seines Studiums realisiert er die seit langem geplante Auswanderung aus dem Iran in den Westen. Er ahnt jedoch nicht, dass auf ihn unzählige spannende, abwechslungsreiche, aber auch schauderhafte Ereignisse warten. Der ungewollte Besitz von Geheimdokumenten der iranischen Geheimpolizei „SAVAK“ und die atemberaubende Auseinandersetzung mit ihren Agenten bringen ihn in erhebliche Schwierigkeiten. Von orientalischen Träumen zur Tragödie im Westen beschreibt unterhaltsam verschiedene ineinander verschachtelte Episoden so anschaulich, als ob diese mit einer hochwertigen Kamera aufgenommen seien: Während sich das Buch langsam, gefühlvoll und intensiv auf die Handlung fokussiert, werden im Hintergrund die unterschiedlichen Mentalitäten und Weltanschauungen von Orientalen, Europäern und Amerikanern deutlich erkennbar. Schonungslos werden die Schwächen, aber auch Stärken der verschiedenen Gesellschaften eindrucksvoll aufgeführt. Es ist ein sehr spannendes, manchmal rührendes, immer mitreißendes Stück Zeitgeschichte.

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Für meine Frau Maryam

Inhalt

Vorbemerkung des Autors

1. Die Sehnsucht nach einem fernen Horizont

2. Eine ernsthafte Verwicklung

3. Das Objekt

4. Nancy

5. Ein merkwürdiges Bildnis

6. Die Kaiserin von Oberbayern

7. Welch Glück, geliebt zu werden

8. Die Erpressung

9. Die Traumhochzeit

10. Der Bruch des Schweigens

11. Vorurteile

12. Eine Seele, zwei Welten

13. Ein gemeines Spiel des Schicksals

14. Schwimmen im Colorado

15. Keep America clean

16. Ein neues Mitglied der Familie

17. Die unerwartete Begegnung

18. Der Djinn von Kalifornien

19. Die Gartenparty

20. Ein Graues Kreuz als Unterschrift

Vorbemerkung des Autors

Fünfzehn Jahre lange schleppte ich einen Karton voll loser Notizen mit mir herum, um irgendwann genügend Zeit zu finden und ein Buch zu schreiben. Aber obwohl mir genügend Zeit zur Verfügung stand und mich immer wieder das brennende Verlangen verfolgte, endlich mit der Arbeit zu beginnen, musste ich diese kribbelnde Idee widerstandslos aufgeben. Ich hatte Angst, ja ich hatte Angst und empfand eine unüberwindbare Hemmung, endlich dieses so bedeutende Projekt meines Lebens in Angriff zu nehmen.

Es gab zwei schwerwiegende Gründe für mein passives Verhalten: Zum Ersten fürchtete ich, mich selbst und einige andere Personen mit der Offenbarung einiger Dokumente der iranischen Geheimpolizei (SAVAK) in Gefahr zu bringen.

– Diese Geheimdokumente wurden 1964 in der SAVAK-Hauptverwaltung in Teheran gestohlen, und ich war, so unglaublich es klingt, auf einmal ungewollt ihr Besitzer. –

Und zum Zweiten ich litt damals unter einer psychischen Störung. Trotz einer wirkungsvollen zweijährigen Therapie und der uneingeschränkten Unterstützung meiner Familie und Freunde war es mir kaum möglich, das Trauma einer schauderhaften Tragödie, die ich im Zusammenhang mit dieser Geschichte in Los Angeles erlebt hatte, einfach zurückzudrängen und wieder ein „normales“ Leben zu führen.

Aber im Laufe der Zeit bekam ich allmählich meine geistigen Kräfte zurück. Ich konnte wieder objektiv urteilen und meine Emotionen zu diesem Zweck beiseitelassen. So war es mir möglich langsam, aber mit voller Kraft und Überzeugung ein weites Feld zu beackern, in dem meine besten und schrecklichsten Erlebnisse begraben waren.

1983 fasste ich endlich Mut und begann zu schreiben. Ich fing an, anhand tausender zerknickter Zettel die chronologische Reihenfolge dieser Geschichte festzulegen und gleichzeitig in verborgenen Winkeln meines Gedächtnisses zu forschen. Und zwar von dem Tag, als ich meine Heimat verließ, begann ich alles sachlich und emotionsfrei aufzuschreiben.

Als ich begann, voller Konzentration täglich meine Geschichte aufzuschreiben, hatte ich keinen Grund mehr, mich vor der iranischen Geheimpolizei zu fürchten.

Denn inzwischen war die Epoche des Schahs zu Ende und die islamische Revolution mit Ayatollah Khomeini an der Spitze ließ die Vermutung zu, dass man vor dieser schrecklichen Organisation keine mehr Angst zu haben brauchte. Offiziell hieß es, dass die SAVAK aufgelöst wurde. (Ich wusste aber damals nicht, dass das neue Regime nur den Namen der Organisation in VEVAK geändert hatte. Sie richteten einen Überwachungsapparat ein, der zehn Mal mächtiger und beängstigender als die SAVAK war und bis heute noch ist.)

Die Geschichten, die Sie in diesem Buch lesen, sind authentisch. Die Episoden in der Türkei, Deutschland und den USA sowie die Entwendung der SAVAK-Dokumente sind wahr; all diese Ereignisse sind in Wirklichkeit genau so passiert, wie sie in diesem Buch dargestellt werden.

Dennoch ich versichere ausdrücklich, dass die Namen der Gestalten dieses Romans NICHT mit denen von realen Personen übereinstimmen, die diese auch teilweise inspiriert haben.

Springe, 31.12.1999

1. Die Sehnsucht nach einem fernen Horizont

Es waren die letzten Frühlingstage des Jahres 1964 in Teheran. Um sechs Uhr morgens waren die Straßen belebt und voll von Menschen, da die Teheraner normalerweise Frühaufsteher sind. Die angenehme Brise vom Alborz Gebirge verheimlichte die ständig steigende Temperatur.

Wir standen vor einem Reisebüro in einer Nebenstraße der Stadtmitte. Ich wollte nach Deutschland, zuerst mit dem Bus nach Istanbul und anschließend mit dem Zug nach Frankfurt/M.

Mein Gepäck bestand aus einem Koffer und einer Reisetasche, im Gegensatz zu fast allen anderen Passagieren, die diverse große Koffer, zahlreiche Teppiche und mehrere Handtaschen, gefüllt mit Geschenken und Süßigkeiten, bei sich trugen.

Damals waren die Busse nicht so komfortabel wie heute; kleiner, wacklig und sehr laut. Man musste das komplette Gepäck auf dem Dach des Busses unterbringen. Nach meiner Einschätzung war das Gewicht des Gepäcks unseres Busses erheblich schwerer als das Gewicht aller Passagiere zusammen.

Der Busfahrer und sein Beifahrer benötigten fast eine Stunde, um die auf ca. zweimal drei Meter zusammengelegten Gepäckstücke auf der gesamten Dachfläche des Busses ordentlich zu verlegen und mit einem langen Seil zu befestigen.

Die meisten Passagiere waren in meinem Alter; jedoch reisten auch einige ältere Damen und Herren, Kaufleute oder Touristen, mit. Insgesamt waren es fünfundzwanzig Passagiere und ca. zweihundert begleitende Menschen – für persische Verhältnisse ist das ganz normal – die um den Bus herumstanden (Mütter, Väter, Brüder, Schwestern, Freunde, Nachbarn und viele neugierige Passanten, die sich zufällig in der Nähe des Reisebüros aufhielten). Ich war ziemlich müde und vielleicht auch noch etwas betrunken. Mit meinen Freunden hatte ich die ganze Nacht gefeiert. Es gab keine wilden Partys. Wir nannten diese Feste Männerabende.

Männerfreundschaften sind in Iran etwas Besonderes, ja etwas Heiliges.

Ein Europäer würde es vielleicht auf den ersten Blick als homosexuelle Beziehung einstufen. In Wirklichkeit aber ist es Liebe ohne sexuelle Zuneigung, ist es herzliche Sympathie ohne jegliche Erwartung, es ist die Berührung von Seelen, einfach Männerfreundschaft.

Meine Freunde und ich sahen richtig angeschlagen aus. Die ganze Nacht hatten wir gefeiert und Wodka aus großen Gläsern getrunken, getanzt und Poesie deklamiert, aber auch unanständige Witze erzählt. Ich glaube, wegen dieses Lärms konnte kaum jemand schlafen.

Meine arme Mutter stand im Schatten eines Baumes und beobachtete uns ganz traurig. Sie konnte nicht fassen, dass ich sie wirklich verlassen würde. Mein Bruder Iraj war – obwohl er alles selbst organisiert hatte – noch trauriger als meine Mutter. Ich glaube, ich werde ihre liebevollen und besorgten Gesichter niemals vergessen.

Der Busfahrer ermahnte uns zum letzten Mal, dass er allmählich fahren wollte, und stellte den Motor an. Die bittere Zeit des Abschieds machte mich hilflos. Ich wusste nicht, was zu tun war. Mir fehlte jedes Wort, um meine Mutter zu beruhigen oder mich bei meinem Bruder für die finanzielle Hilfe und seine Bemühungen für diese Reise zu bedanken.

Als Erste umarmte ich meine Mutter. Ich küsste ihr Gesicht, das von Tränen ganz feucht war. Sie konnte kaum sprechen, sie sagte ganz leise, dass ich auf mich aufpassen sollte. Mein Bruder war sehr ernst und machte einen besorgten Eindruck. Er wollte, dass ich ständig mit ihm in Verbindung bleibe. Meine Freunde wirkten ganz vergnügt, wenn vielleicht auch noch etwas betrunken. Jeder nahm mich in den Arm, küsste mich und machte eine lustige Bemerkung:

»Ich wünsche dir einen Harem mit tausend blonden deutschen Mädchen.«

»Komm als Millionär zurück, du verträumter Ausreißer!«

Mein bester Freund Parwiz sagte:

»Egal, wohin du gehst, vergiss nicht, dass du ein anständiger Perser bist.

Du sollst deine Wurzeln niemals verleugnen!«

Ich stieg in den Bus und setzte mich in die zweite Reihe neben einen jungen Mann. Der Bus war bis auf den letzten Platz besetzt und der Fahrer versuchte durch Hupen die Menschen auf die Abfahrt aufmerksam zu machen, aber keiner achtete darauf.

Die meisten dieser Rebellen waren meine Freunde. Sie sangen mir ein lustiges Lied zum Abschied:

»Wir sind einen Frauenrivalen los, los, los.«

Der Fahrer fuhr langsam auf die Hauptstraße und ich beobachte belustigt, wie meine Freunde fast zweihundert Meter jubelnd hinterherliefen. Aber es ging alles zu schnell; in zwanzig Minuten waren wir bereits am Stadtrand von Teheran. Ich konnte das traurige Gesicht meiner Mutter nicht aus meinem Kopf verbannen. Ich stellte mir vor, wenn sie nach Hause zurückkehrte, würde sie stundenlang weinen. Ich blickte mich neugierig im Bus um, um zu prüfen, ob ich irgendeinen der Passagiere kannte. Ich weiß nicht, ob es an der Müdigkeit, Betrunkenheit oder Gleichgültigkeit lag, dass ich glaubte, niemanden erkannt zu haben, außer einem jungen Mann, dessen Gesicht mir vertraut schien. Er saß in der vierten Reihe und sprach leidenschaftlich mit seinem Nachbarn. Ich war mir sicher, ihn von irgendwoher zu kennen. Es fiel mir nicht ein, dann schloss ich die Augen und schlief wie ein müder Hund ein.

Es war gegen elf Uhr, als ich wach wurde. Sofort bemerkte ich, dass die Sonne einen heißen Tag schmiedete. Die meisten Passagiere schliefen noch. Zum ersten Mal betrachtete ich den jungen Mann neben mir genauer. Er sah gut aus, war achtundzwanzig bis dreißig Jahre alt und elegant gekleidet. Wir tauschten miteinander ein höfliches Lächeln aus. Er hatte etwas Sonderbares im Gesicht, das sich nicht einordnen ließ. Heute weiß ich, dass er auf mich einen verängstigten Eindruck machte, jedenfalls wirkte er unsicher und immer geistig abwesend. Ich bemerkte gleich, dass er keine Lust hatte, mit mir zu plaudern. Ich erinnerte mich, dass er von niemandem an der Bushaltestelle verabschiedet worden war, jedenfalls von keinem, der sich wie meine wilden Freunde bemerkbar gemacht hatte.

Der Bus fuhr durch die wunderbare Landschaft. Man muss tatsächlich neidlos anerkennen, dass Iran ein wunderschönes, interessantes und vielseitiges Land ist. Alles, was die Natur in anderen Ländern sparsam und geradezu geizig zur Schau stellt, findet man hier so großzügig und abwechslungsreich. Die hohen Berge, die tiefen grünen Täler, die endlosen duftigen Wälder und auf einmal die unendliche Wüste.

Die Fahrt durch diese paradiesische Landschaft hätte ein Vergnügen sein können, wenn allerdings die Straßenverhältnisse etwas besser gewesen wären.

Spätabends erreichten wir schon die persische Grenze in Bazargan. Die majestätischen Berge vom Ararat mit ihren zwei Gipfeln (3925 bzw. 5165m) erweckten in mir gemischte Gefühle, Angst und Respekt.

Wir mussten dort in dem einzigen Hotel vor Ort übernachten, da die türkischen Zollbehörden uns am Abend nicht abfertigen wollten. Mein junger Nachbar wurde spürbar nervöser und machte einen hilflosen Eindruck.

Er blickte ängstlich mehrere Male zum Hotel, aber auch in Richtung der türkischen Grenze. Offenbar war er mit der ungeplanten Übernachtung nicht zufrieden, jedenfalls ich hatte den Eindruck, er wusste nicht, was er tun sollte.

Der Busfahrer sah völlig erschöpft aus. Er freute sich offenbar, dass er sich nach der langen Fahrt erholen konnte. Er stieg aus und sagte laut, dass jeder Einzelne für seine Koffer verantwortlich sei und es besser wäre, diese mit ins Hotelzimmer zu nehmen.

Es war inzwischen ziemlich kühl geworden. Der Mond schien unglaublich hell und die großen Sterne flimmerten am Himmel, als wenn sie einen willkommen heißen wollten.

Ich ging gleich mit meinem Koffer und der Reisetasche in das für mich vorgesehene Zimmer. Ich hatte keinen so großen Hunger, um im Restaurant zu essen, außerdem war meine Reisetasche voll mit Obst und Süßigkeiten.

Gegen zweiundzwanzig Uhr wollte ich mich schlafen legen.

Plötzlich hörte ich jemanden ununterbrochen und leise an die Tür klopfen. »Wer könnte das sein?« Zögerlich ging ich zur Tür und machte sie auf. Das war mein stiller Nachbar aus dem Bus. Er wirkte sehr ängstlich und unsicher und fragte mich, ob er hereinkommen dürfte.

Ich war etwas verwirrt, aber auch neugierig. Es war das erste Mal, dass er mit mir sprach. Er trat ein und schloss die Tür. Vorsichtig blickte er sich um und sagte:

»Entschuldigen Sie die Störung. Ich heiße Dariush, ich reise wie Sie nach Istanbul und von dort will ich in die USA.

Ich habe aber ein ziemlich großes Problem und hoffe, dass Sie mir helfen werden.« Regungslos blickte ich ihn an. Seine Körperhaltung wirkte sehr steif und mit einem geheimnisvollen Lächeln erzählte er weiter: »Wenn ich heute Abend hierbleibe, besteht keine Chance, mein Ziel zu erreichen. Man sucht mich überall. Ich dachte, vielleicht würden Sie mir einen Gefallen tun.«

»Einen Gefallen? Was kann ich für Sie tun?«

»Wollen Sie nicht wissen, wer hinter mir her ist?«

»Ich hoffe, dass Sie mir das sagen werden.«

Er strahlte mich plötzlich mit einem solch klaren, freudigen Blick an und sagte:

»Ich kann nicht viel erzählen. Es genügt, wenn ich einfach sage, dass die SAVAK-Leute1 mich suchen. Ich muss so schnell wie möglich aus Iran verschwinden, und das ist genau das, was ich tun möchte.

Ich habe entschieden, heute Abend über die Berge in die Türkei zu gehen. Man erzählte mir, dass es unproblematisch sein soll. Wissen Sie, ich habe nichts zu verlieren, es ist mir egal, ob die Leute mich hier an der Grenze verhaften oder in den Bergen erwischen.«

»Über die Berge? Sie wissen genau, dass die Türkei ein gefährliches Land ist«, erwiderte ich, »es ist sehr riskant, lebensgefährlich, ich würde es an Ihrer Stelle nicht tun.«

Ohne in mein Gesicht zu blicken, antwortete er:

»Gefahr? Mein ganzes Leben verbrachte ich mit der Gefahr. Ich bin aber nicht hier, um mit Ihnen über meine Pläne zu diskutieren. Ich bin hier, um Sie um einen Gefallen zu bitten. Werden Sie es tun?«

»Aber Sie haben noch nicht gesagt, was ich für Sie tun soll.«

»Ich möchte, dass Sie ein Päckchen für mich in die Türkei bringen.«

Ich ließ mir meine Verwirrung nicht anmerken und fragte ganz leise:

»Drogen?«

»Nein, um Gottes Willen, es handelt sich um einige Dokumente; wichtige Dokumente, in Wirklichkeit sind sie meine Lebensversicherung. Ich möchte Sie herzlich bitten, mir diesen Gefallen zu tun und mein Leben zu retten. Keiner wird Sie wegen des Päckchens verdächtigen. Ich habe leider nicht so viel Zeit, ich muss mich beeilen. Bis morgen Mittag versuche ich, in Dogubayazit zu sein. Das ist eine kleine Stadt, ungefähr dreißig Kilometer entfernt von hier. Dort werde ich wieder in den Bus steigen und mit Ihnen nach Istanbul weiterfahren.

Der Busfahrer hat mir versprochen, in Dogubayazit eine Stunde zum Mittagessen zu rasten. Wenn ich es rechtzeitig schaffe, dann steige ich dort zu.«

»Ich glaube nicht, dass er Ihnen einen solchen Gefallen tun wird, denn nach dreißig Kilometern Fahrt will kein Mensch nochmals essen.«

»Das stimmt, aber ein Abfertigungsprozess mit fünfundzwanzig Passagieren nimmt in der Regel an der türkischen Grenze mehrere Stunden in Anspruch. Außerdem gab ich dem Busfahrer zwei große Scheine in die Hand, sodass eine gewisse moralische Verpflichtung im Raume steht!«

Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Während seiner Ausführungen studierte ich sein Gesicht genauer. Er war ein außerordentlich attraktiver junger Mann. Schwarze Augen, schwarzes glattes Haar, eine sehr interessante Nase, und sein ovales Gesicht war von Angst und Sorge geprägt. Er war etwas größer als ich, etwa 178–180cm. Man konnte ihm auf den ersten Blick uneingeschränktes Vertrauen schenken. Seine respektvolle, herzliche Ausstrahlung ließ mir kaum Chancen, ihm zu widersprechen, schon gar nicht, seinen Wunsch abzulehnen! Er war in Schwierigkeiten und wirkte recht hilflos.

»Wo ist das Päckchen?«, fragte ich neugierig.

Er strahlte mich mit einem triumphierenden Blick an und sagte:

»Ich werde es gleich holen.«

Ich machte eine Geste, um ihm zu verstehen zu geben, dass ich mich noch nicht entschieden hatte, aber er machte die Tür schnell auf und verschwand dann für zwei Minuten. Wieder klopfte es leise, und bevor ich die Tür ganz öffnete, trat er in mein Zimmer herein.

»Hier ist das Päckchen«, sagte er und überreichte mir einen großen, gelben Umschlag, der bereits mit Klebeband zugeklebt war.

»Was soll ich damit machen?«

»Einfach in Ihre Reisetasche stecken und mir in Dogubayazit zurückgeben.«

»Was mache ich, wenn Sie es nicht schaffen und ich Sie nicht wiedersehe? Dreißig Kilometer zu Fuß erreicht kein Mensch in einer Nacht, schon gar nicht über die Berge.«

»Es muss klappen. Ich mache mich gleich auf den Weg. Wenn Sie aber recht haben und es schiefgeht, dann vernichten Sie alles, verbrennen Sie es. Machen Sie, was Sie wollen.«

Er wurde für einen Moment still und fast versteinert, dann fragte er mich:

»Wohin fahren Sie eigentlich?«

»Nach Deutschland.«

»Nach Deutschland? Wo in Deutschland?«

»Nach Frankfurt am Main.«

»Können Sie mir Ihre Adresse geben, oder verlange ich zu viel?«

»Nein, das ist selbstverständlich kein Problem.«

Ich schrieb meine Anschrift auf einen Zettel und drückte diesen in seine Hand.

»Das ist meine Adresse für die nächsten vier Wochen. Ich möchte zuerst bei meinem Onkel wohnen, bis ich etwas Eigenes finde.«

Er warf einen Blick auf das Stück Papier und sagte:

»Sollte ich morgen mein Ziel nicht erreichen, werde ich Sie in Deutschland besuchen. Sollte jedoch irgendwas schieflaufen, dann werde ich jemanden beauftragen, das Päckchen bei Ihnen abzuholen.

Allerdings brauchen wir ein Erkennungszeichen.«

Er überlegte einige Sekunden, und dann fragte er mich:

»Wann haben Sie Geburtstag?«

»Am 11. November.«

»Gut, wenn jemand in meinem Auftrag zu Ihnen kommt, muss er zuerst elfte elfte sagen. Aber davon will ich nicht ausgehen. Es muss einfach klappen. Bitte drücken Sie mir die Daumen, dass alles gut geht.« Dann steckte er den Zettel in seine Hosentasche und blickte dankbar in meine Augen. Auf einmal umarmte er mich mit all seiner Kraft und sagte leise: »Ich wünsche Ihnen eine gute Reise. Hoffentlich sehen wir uns wieder.«

Er ging aus der Tür und ich sagte:

»Viel Erfolg, mein Freund.«

Ich bemerkte, dass er etwas sagen wollte, der Laut jedoch erstarb auf seinen Lippen. Ohne mich anzuschauen, verschwand der junge Mann in den dunklen Flur.

Stundenlang lag ich auf meinem Bett und konnte nicht schlafen. Ich war nicht sicher, ob ich alles richtig verstanden hatte. Jahrelang hatte ich in Ruhe und Frieden gelebt. Kaum eine erwähnenswerte Aufregung und auf einmal solch eine unglaubliche Geschichte. In der Tat war ich total verwirrt und unsicher. Ich konnte nicht fassen, dass ich in eine unerklärliche, möglicherweise sogar kriminelle Angelegenheit verwickelt worden war.

Wieso hatte er ausgerechnet mich ausgesucht? Warum waren SAVAK-Leute hinter ihm her? War Dariush ein Kommunist? Was sollte ich mit dem Päckchen machen, wenn ich ihn nicht mehr sehen sollte?

Der große Umschlag lag noch auf dem Tisch. Ich blickte ihn an, als ob er eine tickende Zeitbombe wäre. Einige Male überlegte ich, ob es richtig wäre, das Päckchen aufzumachen und den Inhalt zu prüfen. Aber ich dachte, das wäre nicht korrekt und anständig.

1 Geheimpolizei

2. Eine ernsthafte Verwicklung

Der Busfahrer weckte uns alle um sechs Uhr morgens. Ich machte mich schnell fertig, um anschließend im Restaurant des Hotels zu frühstücken. Gegen sieben Uhr mussten wir unsere Koffer zuerst der persischen Behörde vorzeigen und dann zu Fuß in das türkische Zollgebäude gehen. Der Busfahrer hatte zuvor von jedem Passagier für die persische sowie türkische Zollbehörde Geld gesammelt. Er meinte, das würde das Verfahren beschleunigen. Das war ein Denkfehler! Die Beamten überprüften jeden Koffer genauestens und am Ende verlangten sie von den meisten Geld für die Ausfuhr nicht erlaubter Waren. Die persischen Zollbeamten hatten zum Glück kein großes Interesse an meinen Sachen gezeigt. Ich musste lediglich meine Reisetasche öffnen. Ich war sehr froh, dass ich das Päckchen in meinem Koffer zwischen einer Hose und einem Sakko versteckt hatte. Um kein besonderes Interesse zu wecken, hatte ich sogar meine Schulzeugnisse und zwei weitere Bücher daraufgelegt.

Die türkischen Zollbeamten wollten allerdings genau wissen, was sich in dem gelben Umschlag befand.

»Es sind Familienbilder und private Briefe«, antwortete ich ärgerlich.

Einer der Beamten trat mit seinem Fuß gegen meinen Koffer und sagte mit aggressivem Unterton:

»Pack deine Sachen und verschwinde!«

Eilig schloss ich den Koffer und ging aus dem stickigen Gebäude heraus. Nun musste ich wieder mit meinem überprüften Gepäck zum Bus gehen. Als ich dort ankam, bemerkte ich, dass zwei Männer mit dem Fahrer laut diskutierten. Einer der beiden war klein und hatte eine Glatze. Ein breiter Schnurrbart schmückte sein kleines Gesicht. Er trug eine dunkle Brille. Der andere war ziemlich dick, hatte große, hervorstechende Augen und warf mir einen feindseligen Blick zu. Er wirkte sehr streng und autoritär. Ungeachtet seines beängstigenden Aussehens versuchte ich, ihnen unauffällig zu lauschen.

»Wieso ist er nicht in seinem Zimmer?«, fragte der kleinere Mann.

»Woher soll ich das wissen? Ich war von der Fahrt sehr müde und bin gleich ins Bett gegangen«, erwiderte der Busfahrer leise.

Der Dicke flüsterte etwas, was ich nicht hören konnte, aber es musste etwas Schlimmes gewesen sein, denn der Busfahrer sah besonders verletzt aus. Das Blut stieg ihm ins Gesicht und begann, es tiefrot zu färben. Beide Männer stiegen aus dem Bus und gingen leise vor sich her schimpfend in Richtung des Hotels.

Es dauerte eine Ewigkeit, bis sich zehn weitere Passagiere dem Bus näherten und neben mir standen. Alle beklagten die unmenschliche Behandlung durch die türkische Zollbehörde. Der Busfahrer kam endlich und begann mit Hilfe seines Kollegen, unsere Koffer auf das Dach des Busses zu laden. Er sah nervös und ziemlich beleidigt aus. Ich fragte mich die ganze Zeit, ob die beide Männer SAVAK-Leute waren. Wenn meine Vermutung stimmte, dann hatte Dariush recht; er wäre bestimmt sofort verhaftet worden.

Aber was war inzwischen mit ihm passiert? Hatte er Erfolg gehabt? Hatte er den Weg gefunden? Woher wusste er, in welche Richtung er gehen musste? Ich fand keine Antwort auf all meine Fragen.

Als mein Koffer endlich auf dem Dach verstaut war, stieg ich gleich in den Bus. Ich vermisste meinen Nachbarn, sein Platz war frei. Bis jetzt hatte keiner der anderen Passagiere seine Abwesenheit bemerkt. Nur ich und der Busfahrer wussten, dass er sich entschieden hatte einen anderen Weg zu wählen.

Endlich hatten wir die unangenehme und anstrengende Abfertigung hinter uns. Kurz vor zwölf Uhr stellte der Busfahrer den Motor an und fuhr am Fuß des Ararat langsam nach Dogubayazit.

Es war ein merkwürdiges Gefühl zu wissen, dass ich meine Heimat zum ersten Mal verlassen würde. Ich erinnere mich, dass ich etwas traurig war, ja, geradezu melancholisch. Mir stiegen Tränen in die Augen, und mit jeder weiteren Sekunde wurde ich ein bisschen sentimentaler.

»Wohin fahre ich eigentlich? Wer kann mir sagen, ob ich in Deutschland glücklich werde? Wie kann sich ein verträumter Poet wie ich in einem Land mit einer anderen Sprache, anderen Mentalität wohl fühlen?

Ob es richtig ist, eine liebevolle Familie und eine große Zahl von guten Freunden zu verlassen, um in ein Land zu reisen, das eine völlig andere Kultur, ein anderes Klima und eine andere Tradition hat?«

Aber ich wollte es so. Obwohl ich Iran über alles liebte, konnte ich mich nicht mit vielen Lebensgewohnheiten, Traditionen, der Religion und sogar mit den kulturellen Verpflichtungen anfreunden bzw. identifizieren. Ich fühlte mich von vielen meiner Landsleute unverstanden und daher nicht wohl. Wie oft hatten meine Familie oder Freunde bemängelt, dass ich wie ein Europäer dächte und mich dementsprechend benähme.

Während meines Studiums an der Universität Teheran hatte ich häufig meiner Mutter und besonders meinem Bruder gesagt, dass ich nach Beendigung meines Studiums nach Deutschland reisen und dortbleiben möchte. Zuerst hatte keiner meine Pläne ernst genommen, doch als sie meinen sturen, überzeugten Willen bemerkten, waren alle besorgt. Eines Tages sagte mein Bruder, dass er mir helfen würde. Er wolle, dass ich glücklich werde. Er schrieb einen Brief an unseren Onkel Shahram in Frankfurt am Main, erzählte von meiner Absicht und bat ihn, mir behilflich zu sein.

Als seine Antwort kam, war ich sehr enttäuscht. Er warnte mich, dass ich mir gründlich überlegen sollte, ob ich wirklich nach Deutschland auswandern wollte. Er schrieb, dass dort die Leute kalt, gefühllos und anders als bei uns seien. Man müsse viel mehr arbeiten als in Iran. Die Menschen hätten kaum Verständnis für Spaß und Unterhaltung. Dort herrsche immer schlechtes Wetter, und die meiste Zeit sei es sehr kalt. Man lebe nur für die Arbeit und selten träfe man jemanden, der es umgekehrt sehe. Die meisten Menschen hätten wenig Interesse daran, freund-schaftliche Beziehungen mit Ausländern zu knüpfen.

Außerdem befürchtete er, dass ich mit meinem Literaturstudium nicht so einfach eine vernünftige Stelle bekommen würde.

Diesmal nahm ich selbst zu dem Brief von Onkel Shahram Stellung. Ich schrieb:

„Lieber Onkel,

Du hast meinen Bruder falsch verstanden. Ich möchte nach Deutschland auswandern, um zu leben, zu arbeiten und für immer und ewig dort zu wohnen. Mir geht es nicht darum, wie ein Deutscher zu leben, sondern darum, mein eigenes Leben in Deutschland aufzubauen. Ich reise dorthin nicht zum Vergnügen, sondern um meine Zukunft nach meiner Vorstellung zu gestalten.

Auch wenn Du mir bei diesem schwierigen Schritt nicht helfen willst, werde ich trotzdem all meine Kraft daransetzen, um mein Ziel zu erreichen.“

Vier Wochen danach schickte mir Onkel Shahram einen dicken Umschlag mit einem interessanten Inhalt: eine amtliche Einladung nach Deutschland, ein Buch über deutsche Landschaften und ein erfreulicher Brief.

Er schrieb, dass er sich sehr freuen würde, wenn ich nach Deutschland käme. Er könnte mit mir viele Sachen unternehmen, z. B. Sport, Reisen oder einfach mit mir Farsi sprechen, was er am meisten vermisste.

Damals brauchte man, um ein dreimonatiges Visum für die Bundesrepublik Deutschland zu erhalten, einen gültigen Reisepass und eine Einladung von einer deutschen Familie. Monika, die Verlobte meines Onkels, lud mich herzlich ein.

Genau ein Jahr nach dem Abschluss meines Studiums hatte ich alles unter Dach und Fach: Reisepass, Visa für Deutschland, Türkei, Bulgarien, Jugoslawien, Österreich, ein Ticket nach Istanbul sowie ca. sechstausend DM in verschiedenen Währungen, türkische Lire, österreichische Schillinge usw.

Traditionsgemäß musste ich bei allen Verwandten, Freunden und sogar Nachbarn vorbeigehen und mich persönlich verabschieden. Darauf hatte meine Mutter bestanden. Jeder wünschte mir viel Glück und gab mir ein Andenken. Ich erinnere mich, dass ich mit Ausnahme von zwei Büchern (Khayam Poesie und ein Fotoband aus Esfahan) keine der Geschenke mitgenommen habe.

Ich war damals mit einem Mädchen aus unserem Bekanntenkreis befreundet. Sie hieß Ferry, eine sehr attraktive und intelligente Frau. Ich hatte keine Zweifel, dass sie mich liebte. Das hatte sie zwar nie gesagt, aber ich spürte ihre starke Zuneigung.

Dennoch ließ ich ihr kaum eine Möglichkeit, mir ihre Gefühle mitzuteilen. Ich hatte Angst, dass ich mich in sie verlieben und all meine Träume dann aufgeben würde. Ich wusste, dass sie immer in der Nähe ihrer Familie leben wollte und kein Verständnis für meine Ambition hatte, nach Deutschland auszuwandern.

Als ich mich bei ihr und ihrer Verwandtschaft verabschiedete, war sie die ganze Zeit sehr traurig, still und nachdenklich. Während meines kurzen Aufenthalts in ihrem Haus benahm ich mich wie ein Idiot; ich sah oft auf meine Armbanduhr, hörte kaum jemandem zu und zeigte am Ende eine nicht gerade herzliche Geste wie „also bis irgendwann“.

Aber vor der Haustür umarmte sie mich, ungeachtet ihrer schockierten Mutter, und küsste meine Wange mit den Worten: »Ich werde mein ganzes Leben auf dich warten, du gehörst zu mir.«

Ganz seltsam verhielt sich mein Vater. Er sprach bis zum letzten Tag kein Wort über meine Reise. Es schien mir, als wenn er meine Reise nach Deutschland überhaupt nicht zur Kenntnis nehmen wollte. Er verließ das Haus morgens kurz nach sieben Uhr und kam die meiste Zeit sehr spät nach Hause. Er redete sowieso wenig mit mir. Vielleicht war ich schuld daran, ich war in meinen ungreifbaren Träumen verloren und hatte Angst mit jemandem darüber zu diskutieren, der gegen meinen Plan argumentierte. Außerdem beschäftigte er sich, wie viele persische Väter, fast gar nicht mit der Erziehung der Kinder; das war Sache meiner Mutter.

Aber dann passierte etwas Merkwürdiges. Als ich Mutter bei der Vorbereitung meiner Abschiedsfeier helfen wollte, kam er in die Küche und sagte, dass er mit mir sprechen möchte.

Wir gingen in sein Arbeitszimmer und er begann mit einer leisen, freundlichen Stimme zu sprechen:

»Du willst uns tatsächlich verlassen. Ich kann es nicht glauben, auch wenn wir uns seit Jahren nicht richtig verstanden haben. Man hatte immer das Gefühl, dass du wie ein Fremder in dieser Familie warst. Es ist für mich sehr schmerzlich, dass du deine Familie, deine Freunde und schließlich sogar deine Heimat verlassen willst. Ich frage mich, was passiert ist, dass du anders bist als dein Bruder.

Wieso kannst du nicht wie ein normaler Mensch in diesem wunderbaren Land bleiben, arbeiten, heiraten, Kinder zeugen und einfach leben?

Sag mir bitte, was du gegen diese Familie hast? Kannst du mir erklären, was wir falsch gemacht haben?«

Was er sagte, war verletzend. Wie könnte ich ihm klarmachen, wie ich darüber dachte? Wie könnte ich ihn überzeugen, dass ich an meine Träume fest glaubte? Ich versuchte es trotzdem:

»Meine Entscheidung hat weder mit Ihnen noch mit der ganzen Familie etwas zu tun.« (In Iran duzt man normalerweise seinen Vater nicht.) »Lieber Papa, ich liebe Sie, ich liebe Mami, ich liebe die ganze Familie. Aber es tut mir leid, dass ich anders bin als all die anderen Mitglieder der Familie. Ich kann nichts dafür, dass ich mich hier nicht wohl fühle. Ich sehe keine Perspektive für mich in diesem Land. Ich kann auch nicht erklären warum, aber glauben Sie mir, ich fühle, dass ich mein Leben in Deutschland viel besser führen kann. Ich verspreche Ihnen, wenn ich merke, dass ich mich geirrt habe und kein Glück mit meinem Plan habe, komme ich zurück. Aber ich muss es versuchen, sonst werde ich das ganze Leben unglücklich sein.«

Das war das erste Mal, dass ich jemals in seinen Augen Träne gesehen habe. Er war für mich immer eine mächtige und autoritäre Person. Er umarmte mich, küsste mich auf meine Stirn und sagte, dass ich ihn sofort informieren solle, wenn ich im Ausland finanzielle Hilfe bräuchte. Ich solle ihn regelmäßig über meine Lebenssituation informieren.

Leider konnte er an meiner Abschiedsfeier nicht teilnehmen, da er aus beruflichen Gründen nach Esfahan reisen musste.

Ich wusste nicht, wie lange ich Gefangener meiner Gedanken war. Ich konnte auch einfach an nichts Anderes denken als an meine Familie.

Dariush Geschichte eroberte wieder meine Aufmerksamkeit, als wir die Stadt Dogubayazit erreicht hatten.

Der Busfahrer kündigte eine Stunde Pause an. Er hielt am Rande der Stadt gegenüber einer ziemlich großen Teestube. Der Geruch von gegrilltem Hammelfleisch machte so ziemlich jeden hungrig.

Alle stiegen aus dem Bus und nahmen auf den zahlreichen abgenutzten Holzbänken sowie den wackeligen Stühlen, die unter den Bäumen standen, Platz.

Mit neugierigem Blick suchte ich nach Dariush. Ich schaute sogar in die Küche, Toilette und Nebenräume. Er war aber nicht da. Ich kam enttäuscht aus der Teestube und betrachtete mit scharfem Blick den Hügel und die Berge um mich herum. Wohin man sehen konnte – nur Landschaft. Ich empfand eine seltsame Sorge. »Wo kann der Kerl bloß geblieben sein?« Ich mochte den Gedanken nicht, dass er eventuell in Schwierigkeiten geraten war.

Ich bemerkte, dass der Busfahrer genau wie ich nervös und besorgt war. Er blickte in die Richtung, aus der er Dariush vermutete. Er stand einige Minuten regungslos da, hob dann einen Stein vom Boden und warf ihn voller Wut auf den Sandweg.

Erschöpft von meinen eigenen Sorgen nahm ich auf einem unbequemen Stuhl neben einem ausgetrockneten Bach Platz. Wie die meisten Gäste bestellte ich Hammelfleisch und Fladenbrot.

Zum ersten Mal sah ich mir mit großem Interesse die Gesichter meiner Mitreisenden genauer an. Während der Fahrt hatten die meisten miteinander Freundschaft geschlossen und saßen jetzt zu zweit oder zu dritt zusammen.

Es schien, als wenn alle froh und zufrieden wären. Sie erzählten Witze, Geschichten oder sangen etwas Lustiges. Immer hörte man das Lachen der Menschen sowie laute Stimmen. Ich saß allein, etwas traurig und nachdenklich. Während ich ewig auf mein Mittagessen wartete, beobachtete ich einen jungen Mann, dessen Gesicht mir schon während der Fahrt im Bus bekannt zu sein schien. Er – höchstens fünfundzwanzig Jahre alt, dunkelblond – hatte freche, glänzende, blaue Augen und wirkte richtig lebensfroh und sehr lustig.

Er blickte mich auch einige Male an, während er seiner Clique ständig Witze erzählte und diese anfing zu lachen.

Plötzlich betrachtete er mich erstaunt genauer, holte tief Luft, richtete seinen Zeigefinger auf mich und kam wie eine geschmeidige Katze auf mich zu.

»Ich werde verrückt!«, schrie er wie ein Kind, dass sein Lieblingsspielzeug wiedergefunden hatte.

»Das bist du, du Hundesohn! Was machst du in diesem gottverlassenen Dorf?«

Ich begriff zuerst nicht, was auf einmal los war. Aber als er mir gegenüberstand, konnte ich ihn endlich erkennen.

Bahram, das war sein Name, nein, wir alle nannten ihn Bahram, der Schreckliche.

Bahram war in der Grundschule mein bester Freund gewesen, und jetzt, nach fast dreizehn Jahren, sah ich ihn am Ende der Welt wieder! Er umarmte mich, beschimpfte mich und küsste mich voller Emotionen.

Er konnte die Tränen in seinen Augen nicht verbergen. Während er seine Hände auf meine Schulter legte, fragte er mich:

»Fährst du mit diesem Bus nach Istanbul?«

Ich war immer noch sprachlos, und mit einer Kopfbewegung bestätigte ich seine Frage. Mühsam konnte ich einige Worte aus meiner trockenen Kehle herausbringen:

»Wohin fährst du?«

»Nach Deutschland. Ich möchte zuerst eine Woche Urlaub in Istanbul machen, dann fliege ich nach Deutschland. Weißt du, ich studiere seit zwei Jahren in Heidelberg. Ich habe mir alles viel einfacher vorgestellt, aber es ist alles sauschwer.«

»Was studierst du?«

»Medizin. Ich möchte Frauenarzt werden, vielleicht verstehe ich die Frauen dadurch besser«, lachte er aus ganzem Herzen wie früher.

Ein dicker, großer Mann brachte mein Essen und stellte es auf den Tisch.

Er hatte einen schwarzen Schnurrbart und wenig Haare auf dem Kopf.

»Er sieht aus wie unser früherer Hausmeister«, sagte Bahram und lachte so laut, dass jeder erstaunt in unsere Richtung blickte. Er hatte recht, der Ober sah aus wie unser Hausmeister in der Grundschule. Wir nannten ihn Monster. Was Bahram dem Hausmeister angetan hatte, werde ich nie in meinem Leben vergessen können.

»Was willst du in Istanbul?«, fragte er.

»Ich fahre von dort aus mit dem Zug nach Deutschland«, antwortete ich und begann zu essen.

»Du in Deutschland? Was willst du in Deutschland? Urlaub?«

»Nein, ich beabsichtige, dort zu leben, vielleicht für immer.«

»Mensch, bin ich froh, dann können wir uns oft treffen.«

»Einverstanden, aber ich möchte mit deinen Schweinereien nichts mehr zu tun haben.«

Er lachte wieder und sagte ganz stolz:

»Du musst zugeben, das war notwendig. Der Tanzbär hat uns einen Teil unserer Kindheit kaputtgemacht und wir mussten ihn eben fertigmachen.«

Auf einmal wurde er bitterernst. Seine Augen strahlten nicht mehr. Ich konnte ihm nicht widersprechen, das Monster aus unserer Schule war ein richtiges Schwein. Er erlaubte sich, jedem Kind an den Po zu fassen. Besonders litten die Schüler, wenn sie zu spät in die Schule kamen, sie konnten fast mit einer Vergewaltigung rechnen.

Er war ein fetter Riese. Seinen Kopf rasierte er täglich, und sein langer, buschiger Schnurrbart erweckte bei allen Angst. Sogar die Lehrer fürchteten ihn. Ich erinnere mich, meinem Vater einmal von seinem Verhalten erzählt zu haben. Er wurde richtig wütend. Er kam in die Schule und beschwerte sich beim Schuldirektor. Der Direktor ließ den Hausmeister in sein Büro kommen, aber der bestritt natürlich meine Anschuldigungen. Mein Vater drohte, dass er das Kultusministerium einschalten würde, wenn diese Schweinereien nochmals passierten.

Von diesem Tag an ließ er mich in Ruhe, aber er belästigte andere Schüler nach wie vor.

Eines Tages sagte Bahram mir, dass er das Monster umbringen wollte, weil er beinahe von ihm nach dem Sportunterricht in der Umkleidekabine vergewaltigt worden wäre.

Ich empfahl ihm, sofort seinen Vater zu unterrichten, damit dieser etwas unternehmen könnte. Aber er sagte, dass er einen besseren Plan hätte. Eine Woche nach diesem hässlichen Ereignis sah ich beide auf dem Schulhof; er erzählte ihm etwas und das Monster hörte mit großer Aufmerksamkeit zu. Dann kam er zu mir und sagte, dass der erste Schritt getan wäre.

»Was meinst du mit dem ersten Schritt?«, fragte ich ganz verwirrt.

»Ich habe ihm versprochen, eine Creme für seinen Schnurrbart zu besorgen. Ein indischer Balsam, wodurch sein Schnurrbart besser wächst und glänzt, es ist der gleiche Balsam, den dein Vater benutzt.«

»Mein Vater? Was für ein Balsam? Was für eine Creme?«

Er presste meine Hand und sagte mit ernsthafter Stimme:

»Du musst mir helfen, er wird dich bestimmt fragen, ob dein Vater mit dem Balsam zufrieden ist. Ich habe ihm erzählt, dass meine Tante mehrere Flaschen aus Indien mitgebracht hat, und eine davon benutzt auch dein Vater.«

»Was hast du vor?« fragte ich besorgt.

»Du hältst dich raus. Nur wenn er dich fragt, erzählst du, dass dein Vater sehr zufrieden ist.«

»Was ist das für eine Creme? Was ist in der Flasche drin?«

»Ich erzähle dir alles, wenn ich sie habe.«

Ich ahnte, dass etwas Schreckliches passieren würde. Zwei Tage später kam Bahram mit der Flasche in die Schule. Er sah ein bisschen nervös aus. Sein Gesicht war blass, aber in seinen Augen konnte man ein ungewöhnliches Strahlen sehen. Er zeigte mir einen kleinen schwarzen Flakon und sagte:

»Er bekommt heute, was er verdient.«

In der dritten Stunde sagte er, dass die Aktion beginnen sollte. Ich war überhaupt nicht sicher, ob ich mitmachen wollte, zumal ich nicht wusste, was in der Flasche war, und, ehrlich gesagt, ich hatte Angst, mich damit ernsthaft zu befassen. Dennoch ging ich mit ihm auf den Schulhof, wo sich das Monster normalerweise unter einem Baum ausruhte. Wir standen direkt vor seinen Füßen. Er schaute uns für einige Sekunden mit halb offenen Augen an, und plötzlich stand er auf. Um ihm in seine Augen schauen zu können, mussten wir den Kopf waagerecht hochheben; er war bestimmt zwei Meter groß.

»Was wollt ihr?«, fragte er mit rauchiger Stimme.

»Ich habe die versprochene Flasche mitgebracht«, antwortete mein Freund in einem respektvollen Ton. Der Hausmeister nahm sie aus Bahrams Hand, blickte neugierig darauf, warf mir einen tiefen Blick zu und fragte:

»Ist es wahr, dass dein Vater den gleichen Balsam benutzt?«

Ich bekam zuerst keinen Ton heraus, aber dann log ich mit fast gebrochener Stimme, dass mein Vater die gleiche Creme nahm, um seinen Schnurrbart damit zu pflegen, und dass er mit der Wirkung sehr zufrieden wäre.

Auf einmal war er freundlich zu uns. Jedenfalls blickte er nicht mehr so feindselig wie sonst.

»Nach dem Benutzen müssen Sie allerdings zehn Minuten in der Sonne liegen«, sagte Bahram mit einem ehrlichen Gesicht.

»Fein, fein, geht ihr jetzt wieder in eure Klassenzimmer. Der Unterricht beginnt in einigen Minuten; ich werde gleich euren Wunderbalsam ausprobieren.«

Ich wusste immer noch nicht, was das für eine Tinktur war. Auf dem Weg zu unserem Klassenraum blieb Bahram ganz ruhig. Lediglich ein triumphierendes Blitzen in seinen Augen verriet seine Freude.

Ich wagte nicht, nochmals zu fragen. Doch endlich brach er das lästige Schweigen und sagte bedeutungsvoll:

»In zehn Minuten wird das Monster aussehen wie ein glatt rasiertes Ferkel!«

»Warum? Was ist in der Flasche drin?«

»Haarentferner! Wadjebi, das billigste Enthaarungsmittel, das man in jedem Badehaus kaufen kann.«

»Haarentferner?«, schrie ich fast.

»Du hast richtig gehört. Wadjebi, Haarentferner. Jetzt komm und lass uns den Zirkus vom Fenster in unserem Klassenzimmer beobachten, schließlich haben wir Logenplätze.«

Wir saßen, seit wir zur Schule gingen, in der letzten Reihe an einem großen Fenster. Von dort konnte man den Schulhof immer gut im Auge behalten. Wie oft haben wir gesehen, wie widerlich das Monster zu spät kommende Schüler sexuell belästigte.

Der Hausmeister hatte sich ein sonniges Plätzchen auf dem Hof gesucht. Er schüttelte die Flasche, öffnete und roch zuerst misstrauisch, aber dann rieb er die graufarbige Creme in seinen buschigen Schnurrbart. Nachdem er die Flüssigkeit bis zum letzten Tropfen gierig herausgeschüttelt und einmassiert hatte, legte er sich auf eine Holzbank direkt in die Sonne.

Wir wurden des Öfteren von unserem Lehrer ermahnt, dass wir nicht ständig hinausblicken sollten, sondern uns doch besser auf den Unterricht zu konzentrieren hätten. Aber diesmal blieben seine Aufforderungen wirkungslos. Ich konnte meinen Blick nicht vom Monster losreißen.

Ich saß da wie versteinert. Ich atmete unregelmäßig, mein Herz klopfte so laut, dass Bahram es sofort bemerkt hatte.

»Beruhige dich, du solltest diese Sensation genießen«, sagte er leise.

»Ich verstehe nicht, normalerweise stinkt Enthaarungsmittel, wieso merkt der Kerl es nicht?«, fragte ich.

»Das ist meine eigene Mischung«, lächelte er und erzählte stolz weiter:

»Ich habe anstatt Wasser etwas Paraffin und Rosenwasser reingetan.«

»Wenn er seinen Schnurrbart verliert, wird die ganze Welt für ihn zusammenbrechen.«

»Er wird nicht nur seinen Bart verlieren«, flüstert Bahram mit einem geheimnisvollen Lächeln.

»Was noch?«

»Seine Oberlippe auch, denn er liegt mehr als zehn Minuten in der Sonne.«

Mein Herz schlug noch heftiger, meine Beine zitterten. Ich glaube, ich war am ganzen Körper verschwitzt.

Ich muss an dieser Stelle erwähnen, dass der Schnurrbart in fast allen orientalischen Ländern ein männliches Symbol ist. Ich erinnere mich, dass mein Vater mich oft kritisierte, weil ich immer mein ganzes Gesicht rasierte und dadurch mein männliches Symbol entfernte. Auch unsere Lehrer trugen alle Schnurrbärte, natürlich nicht solche wie das Monster, sondern einen gepflegten, schmalen Streifen.

»Was geht hier vor?«, fragte der Lehrer.

Ich hatte nicht gemerkt, dass er nah bei uns stand.

»Der Hausmeister nimmt ein Sonnenbad«, antwortete Bahram mit einem fröhlichen Gesicht.

»Und was ist so lustig dabei?«

Wir ließen seine Frage unbeantwortet, weil in diesem Moment etwas passierte, worauf ich seit fünfzehn Minuten gewartet hatte. Ein Schrei, nein, es war wie eine schreckliche Explosion.

Das Monster stand mit einer Menge schwarzer Haare in seiner Hand und fluchte laut wie ein verwundeter Bär.

»Ihr Hurensöhne, ihr verdammten Ratten, ich bringe euch um! Seht, was ihr mit meinem Gesicht gemacht habt. Ich bringe euch um!«

Er bewegte sich wie ein Gorilla in seinem Käfig. Sein Schrei war unüberhörbar.

Ich konnte sehen, dass viele Schüler und Lehrer mit verwirrten Gesichtern am Fenster standen. Der Schuldirektor war sofort auf den Hof gelaufen und ging zu ihm.

Trotz seines feuerroten Gesichtes konnte ich deutlich erkennen, dass die Oberlippe blutete. Er zeigte dem Direktor eine Handvoll Haare und sagte, fast weinend:

»Sehen Sie, was diese zwei Teufel mit mir gemacht haben, ich bringe beide um.«

Der Schuldirektor versuchte ihn aufzuhalten, aber er rannte genau auf unser Klassenzimmer zu. Bahram nahm mich fest bei der Hand und sagte ganz ängstlich:

»Komm, lass uns abhauen, bevor es zu spät ist.«

Ohne Widerstand ging ich mit ihm an unseren Schulkameraden vorbei, die uns mit leuchtenden Augen und offenen Mündern nachblickten.

Wir drängten uns aus dem Klassenzimmer heraus und liefen rasch eine Etage höher. Von dort konnte man zum Dach des Schulgebäudes kommen. Gott sei Dank – die Tür war nicht abgeschlossen. Wir flüchteten in Richtung des Nachbargebäudes, einer kleinen Töpferei. Bahram hatte sich oft auf dem Dach der Schule aufgehalten, besonders, wenn er am Unterricht nicht teilnehmen wollte.

Er sprang zwei Meter tief auf den Balkon der Töpferei und befahl mir mit einem Handzeichen, dass ich das Gleiche tun sollte. Ich hatte keine andere Wahl, sprang hinterher und er half mir dabei. Dann öffneten wir eine Tür, die zu einer Werkstatt im Obergeschoss führte. Schnell gingen wir hinein. Vier ältere Herren arbeiteten an der Töpferscheibe. Schockiert blickten sie uns von oben bis unten an.

»Entschuldigen Sie«, sagte ich mit leiser Stimme. Bahram nahm wieder meine Hand und schrie laut:

»Bleib nicht stehen.«

Wir rannten durch eine Tür und dann eine schmale Treppe hinunter. Ich kann mich nicht erinnern, wie viele Männer im Erdgeschoss arbeiteten. Aber es waren viele! Keiner von ihnen nahm unsere Anwesenheit zur Kenntnis. Wir gingen aus der Töpferei heraus – die Luft war rein – und dann liefen wir hastig in Richtung des Stadtparks.

Ich hatte keine Kraft mehr in meinen Beinen. Ich glaubte, dass mein Herz platzen würde vor lauter Aufregung. Bahram ließ meine Hand nicht los. Er rannte und schleppte mich mit sich. Wir waren fast eine Stunde auf der Flucht. Müde und völlig erschöpft lagen wir auf dem trockenen Rasen unter einem Baum. Ich weiß nicht, wie lange ich bewegungslos liegen blieb, bis ich einigermaßen normal atmen konnte!

»Wir haben den Scheißkerl fertiggemacht«, lachte Bahram und sprang hin und her.

Ich konnte nicht fassen, wie ein Junge mit zwölf Jahren so stark und selbstbewusst sein konnte.

In den nächsten Tagen mussten wir für unsere Tat geradestehen. Wir wurden aus der Schule geworfen. Das Monster wollte aus guten Gründen keine Anzeige bei der Polizei erstatten, aber es drohte uns über unsere Schulkameraden mit Rache. Mein Vater musste ihm eine saftige Abfindung zahlen, um ihn etwas zu beruhigen. Ich habe das Monster nach diesem schrecklichen Ereignis nicht mehr gesehen, aber meine ehemaligen Mitschüler erzählten, dass seine Oberlippe ganz scheußlich aussah, wie verbrannt! Angeblich war er nach diesem Vorfall etwas zurückhaltender und ruhiger geworden. Man sagte, dass er sich während der Unterrichtszeit nicht mehr blicken ließ. Bahram war mit seiner Familie wieder in seine Heimatstadt – Ramsar am Kaspischen Meer – umgesiedelt. Ich musste eine andere Schule besuchen, die mehr als zehn Kilometer von meiner Alten entfernt war. Ich verlor dann Bahram aus den Augen… und jetzt, nach fast dreizehn Jahren, sah ich ihn in einem Dorf am anderen Ende der Welt wieder… und uns erzählt man in der Schule, dass die Welt so groß sei!

Meine Gedanken wurden durch das scharfe Bremsen eines Militärjeeps in die Realität zurückgeholt. Der Wagen mit persischem Kennzeichen hielt direkt neben unserem Reisebus an. Die zwei Männer von der Grenze, die SAVAK-Leute, stiegen aus und gingen sofort zu dem Busfahrer, der mit seinem Kollegen am Tisch saß. Von meinem Platz aus war es unmöglich zu hören, was sie miteinander besprachen. Der Busfahrer machte einen höflichen, aber auch etwas ängstlichen Eindruck.

Er stand auf und mit einem langsamen Kopfnicken schien er alles zu bestätigten, was die Männer ihm sagten.

»Was ist los?«, fragte Bahram etwas verwirrt, »weißt du, was das für Männer sind?«

»Ja, ich glaube schon. Sie sind bezahlte Killer, im Auftrag des Monsters, und wollen dich umlegen«, scherzte ich.

Er lachte so laut, dass sogar die beiden mysteriösen Männer es hören konnten. Sie warfen uns einen langen, bösen Blick zu und schüttelten ihren Kopf. Der kleine Mann ging zu dem Jeep, holte eine Reisetasche heraus, verabschiedete sich von seinem Kollegen und stieg in den Bus. Der Dicke drohte dem Busfahrer noch mit irgendetwas – sein Gesicht wirkte richtig furchterregend – kletterte dann in sein Fahrzeug und fuhr wieder zurück zur persischen Grenze.

»Wo wird der Glatzkopf sitzen?«, fragte Bahram.

»Neben mir fürchte ich. Neben mir ist ein Platz frei.«

»Wenn wir unterwegs sind, kannst du zu uns kommen. Wir werden schon Platz für dich schaffen«, tröstete er mich. Der Busfahrer stand auf und sagte laut, dass alle in den Bus steigen sollten. Dann ließ er den Motor an. Ich blickte noch einmal in die Richtung, aus der Dariush kommen müsste. Es war aber niemand zu sehen.

»Nein, nein, das ist schon besser, dass es nicht geklappt hat. Vielleicht ist es ja sein Glück, dass er es nicht geschafft hat, rechtzeitig hier zu sein«, dachte ich. Doch die Gefahr schien selbst in der Türkei nicht gebannt zu sein.

Ich folgte allen Passagieren und stieg in den Bus. Wie ich es geahnt hatte, setzte sich der kleine Mann auf den Platz von Dariush. Ich wünschte mir, meinen Platz mit jemandem in der Nähe von Bahram tauschen zu können, aber das war fast unmöglich. Da er mit seinen lustigen Witzen und seiner charmanten Art alle Passagiere in seiner Umgebung faszinierte, war es daher undenkbar, jemanden aus seiner Clique um diesen Gefallen zu bitten. Es blieb mir keine andere Wahl. Also nahm ich neben dem kleinen Mann Platz. Er achtete überhaupt nicht auf mich, sondern las ein billiges Taschenbuch.

»Wenn er sich unanständig benimmt, holst du dir bei mir den indischen Balsam ab«, sagte Bahram mit einem gemeinen Grinsen, als er zu seinem Platz ging.

Ich versuchte, seine Bemerkung zu ignorieren, aber ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Der kleine Mann blickte mich scharf an und las sein Buch weiter.

Endlich setzte sich der Bus in Bewegung. Ab jetzt begann eine anstrengende und beunruhigende Fahrt. Wir fuhren durch das gefährliche türkisch-kurdische Gebirge mit zum Teil tiefen und furchterregenden Tälern. Wegen des kurzen Sommers und des langen Winters sahen die Straßenverhältnisse katastrophal aus. Löcher bis zu dreißig Zentimetern Tiefe auf den Straßen machten die Fahrt zu einem riskanten Spiel für den Busfahrer. Er musste ständig nach links und rechts fahren, um solche Schikanen zu umgehen. Unterwegs sah ich oft mit Erschrecken, dass zahlreiche Autos, Busse und Lastwagen am Rande der Fahrbahn stehen geblieben waren.

Die Fahrer versuchten, entweder den kaputten Motor zu reparieren oder einen geplatzten Reifen zu wechseln. Fast alle fünf bis zehn Kilometer lag ein Unfallauto am Fuße des Berges oder an der tiefsten Stelle des Tals.

Theoretisch hätte ich auch nach Deutschland fliegen können, um mir diese lebensgefährliche Reise zu ersparen, aber es gab mehrere Gründe, warum ich ausgerechnet diesen Weg gewählt hatte. Erstens: Ich wollte die Gelegenheit nutzen und meine erste lange Reise durch persische und europäische Landschaften richtig genießen.

Zweitens konnte ich so mit meinem Geld etwas sparsamer umgehen, und letztendlich wollte ich dafür sorgen, dass die deutschen Grenzbeamten mir keinen Touristenstempel in meinem Reisepass vermerkten. 2 Bei einer Fahrt mit der Bahn war diese Möglichkeit zehnmal größer als beim Fliegen. Diesen Tipp hatte ich von meinem Onkel Shahram.

Das Wetter war angenehm warm. Ich machte meine Augen zu und wollte etwas schlafen, aber der widerliche Körpergeruch meines Nachbarn machte mich krank.

Ich dachte zwar, dass ich es bis Istanbul aushalten würde, aber es war unerträglich.

Zur Ablenkung versuchte ich, meine Gedanken zu sortieren. Was könnte das alles bedeuten? Weshalb fährt dieser Kerl mit uns? Weiß er, dass das Päckchen bei mir ist? Wo ist bloß Dariush geblieben? Hat er den Weg nach Dogubayazit nicht gefunden oder wurde er von Kurden überfallen? Ich hoffte, auf mindestens eine meiner Fragen eine Antwort zu finden. Aber die Ungewissheit machte mich wütend und ich begann, die Verwirrung und Enttäuschung zu spüren.

Ich weiß nicht, wie lange ich mit geschlossenen Augen in meine Gedanken versunken war, als ich plötzlich durch einen unangenehmen Fremdkörper auf meiner Schulter gestört wurde; das war ein verschwitzter Kopf. Ich machte die Augen auf und zu meinem Entsetzen stellte ich fest, dass der unerwünschte Nachbar wie ein Bär im Winterschlaf mit seinem Kopf auf meiner Schulter ruhte. Ich ekelte mich vor seinem Körpergeruch und seinem unrasierten Gesicht. Am schlimmsten war sein stinkender, offener Mund! Mein Magen drehte sich um.

Ich hob meine Schulter so hoch wie möglich, um ihn indirekt zu wecken, aber es war zwecklos. Er schlief so tief, als wenn er seit mehreren Tagen nicht im Bett gewesen war. Ich beobachtete ihn für einige Sekunden. Er sah absolut harmlos aus, ja, er wirkte wie ein armes Schwein, das eine undankbare Aufgabe übernehmen musste. Ich blickte neugierig auf seine offene Reisetasche, die er auf seinen Schoß gelegt hatte.

Mehrere Äpfel, ein Stück Fladenbrot, eine Landkarte, zwei rote, abgenutzte, dicke Akten und ein großes schwarz-weißes Bild waren zu sehen. Mein Interesse am Bild war groß.

Ohne Überlegung versuchte ich, mit der linken Hand das Bild so zu drehen, dass ich es besser sehen konnte. Ich schaute noch einmal auf sein Gesicht, aber er schlief, er schnarchte leise und unregelmäßig.

Sein mühsamer und keuchender Atem schlug mir direkt ins Gesicht. Ich hielt die Luft an, schob meine Hand in seine Reisetasche, fasste das Bild an, drehte es vorsichtig um, und plötzlich, geradezu elektrisiert, zuckte meine Hand zurück: Das war ein aktuelles Foto von Dariush! Der Typ war tatsächlich im Auftrag der Geheimpolizei unterwegs.

In Iran wollten viele Menschen, wie ich auch, niemals etwas mit der SAVAK und ihren schmutzigen Geschäften zu tun haben. Man nahm ihre Existenz zur Kenntnis, aber man tat so ziemlich alles, um ihnen aus dem Weg zu gehen.

Das war die ganze Kunst des Überlebens zur Schah-Zeit. Theoretisch konnte man machen, was man wollte, solange man sich nicht mit Politik befasste, und wenn man es doch tat, dann durfte man nie etwas gegen das Regime sagen oder tun.

Alle wussten, dass mehrere hunderttausend Agenten im Auftrag der SAVAK tätig waren, vom Taxifahrer bis zum Mullah aus der Moschee. Man konnte keinem Menschen trauen. Teilweise misstrauten Familienangehörige einander. Statistisch gesehen gab es in jeder Familie einen aktiven Mitarbeiter der SAVAK.

Ich bezweifele heute noch, dass der Schah damals wusste, was alles in seinem heiligen Namen getrieben wurde. Er hatte kaum Kontakt zum Volk, seine Leute trennten ihn systematisch von der untersten Schicht. Er lebte im siebten Himmel, ohne zu wissen, was für eine Hölle unter seinen Füßen zu finden war! Er war meiner Meinung nach naiv genug, um sich ständig mit neuen fantasievollen Titeln schmücken zu lassen.

Erst wurde sein Name mit Schah-an-Schah-Aryamehr ergänzt, und irgendwann gaben ihm seine Generäle den Titel Sayeh Khoda, einfach gesagt, Schatten des Gottes.

Dieser Gedanke machte mich so wütend und ärgerlich, dass der kleine SAVAK-Mann durch eine hektische Bewegung von mir geweckt wurde. Für einige Sekunden wusste er nicht, was vorgefallen war, aber dann bemerkte er sofort, dass er mit Schweißperlen bedeckten Kopf und Gesicht an meiner Schulter geschlafen hatte.

»Entschuldigen Sie bitte, ich wollte Sie nicht belästigen«, sagte er in einem freundlichen Ton. »Anscheinend bin ich sehr müde gewesen.

Normalerweise schlafe ich nie im Bus oder im Zug.«

»Es macht nichts«, sagte ich, ohne ihn anzuschauen.

»Eigentlich sind Sie schuld daran: Sie haben lange Zeit geschlafen und mich angesteckt«, sagte er lachend. Er schaute in seine offene Reisetasche, nahm einen Apfel heraus und zeigte ihn mir.

»Darf ich Ihnen zur Entschädigung einen Apfel anbieten?«

»Nein, danke, ich kann im Moment gar nichts essen.«

»Gut, wenn Sie später darauf Appetit haben, sagen Sie mir Bescheid, ich habe noch mehr davon.« Dann biss er hinein und sagte weiter:

»Die besten Äpfel der ganzen Welt kommen aus meiner Heimat, der Stadt Tabriz, süß, saftig und gesund.« Ich sah ihn völlig regungslos an, er aß weiter und meinte: »Meine Mutter hat einen großen Obstgarten. Immer wenn ich auf Dienstreise bin, gibt sie mir so viel Obst mit, dass ich sowieso nicht alles aufessen kann.«

»Sind Sie jetzt auf Dienstreise?«, erkundigte ich mich auf einmal interessiert.

»Ja, ja, kann man so sagen. Ich fahre bis Ankara, um die türkischen Kollegen zu bitten, mir bei der Suche nach einem Dieb behilflich zu sein.«

»Sind Sie Polizist?«, fragte ich etwas leiser.

»Ja, aber ich trage keine Uniform. Sagen Sie…«, plötzlich drehte er sich um und blickte mir tief in die Augen: »… sagen Sie, gestern saß den ganzen Tag ein junger Mann auf diesem Platz, er ist fast siebenhundert Kilometer mit Ihnen gefahren. Können Sie mir sagen, worüber er mit Ihnen gesprochen hat?«

»Mit mir? Der Kerl war überhaupt nicht gesprächig. Ist er ein Dieb?«

Ich war ganz ruhig und versuchte mich glaubhaft, aber auch ein bisschen naiv darzustellen.

»Jawohl, der Kerl ist ein gefährlicher Dieb. Wir fragen uns, wo er geblieben ist. Er war bis Bazargan im Bus, seine Koffer befinden sich noch im Hotel, aber keiner weiß, wo er sich versteckt hat.« Dann flüsterte er mit leiser und tiefer Stimme: »Ahnen Sie, wo er sich versteckt haben könnte?«

»Nein, keine Ahnung, vielleicht ist er wieder nach Teheran zurückgefahren.«

»Unmöglich, ausgeschlossen. Er hat weder ein Auto noch einen Komplizen. Außerdem sind alle Straßen gesperrt, und keiner kann ohne Kontrolle durchfahren.«

»Was hat er denn gestohlen?«, fragte ich, ohne großes Interesse zu zeigen.

»Ich weiß nicht. Die Kollegen aus Teheran wollen ihr Eigentum zurückhaben. Was er genau ausgefressen hat, wissen nur sie und Allah.«

»Wo sind Sie tätig?«

»Ich komme aus Tabriz, der andere Kollege aus Teheran.«

»Der Dicke?«

Ohne auf meine Bemerkung einzugehen, sagte er:

»Wir kriegen ihn, davon bin ich überzeugt, und wenn er einen Komplizen hat, fassen wir den auch. Bis heute konnte uns noch niemand entwischen.

Es ist nur eine Frage der Zeit.«

Ich wollte weder ihn noch seine Drohungen weiterhin ertragen. Ich stand auf und sagte ihm, dass ich zu meinem Freund gehen möchte. Er machte einen beleidigten Eindruck und begann sein Buch weiterzulesen. Bahram blickte mich freundlich an:

»Offenbar hast du eine angenehme Gesellschaft. Ich dachte, du wolltest zu uns kommen?« Er rückte näher an seinen Nachbarn und machte mir somit Platz.

»Ich war etwas müde und bin für eine Stunde eingeschlafen.«

Ich saß neben ihm. Seine Freunde schauten mich interessiert an. Ich ahnte, dass er ihnen möglicherweise die Geschichte vom Monster erzählt hatte. Er stellte mir in seiner lustigen Art seine Clique vor: drei Studenten, fünf Kaufleute und eine Hausfrau, die ihren Mann das erste Mal auf einer Geschäftsreise begleitete. Einer der Kaufleute hieß Farhad.

Er war Mitte vierzig und ziemlich groß. Er sah mich an und fragte mit esfahanischem Akzent:

»Was erzählt dir dieser Blutsauger die ganze Zeit?«

»Meinst du den Polizisten?«

»Er heißt Dawood Khan, er ist kein normaler Polizist. Er und seine ganze Familie arbeiten für die SAVAK.«

»Er sagte, dass er einen Dieb verfolgt. Er will die türkische Polizei bitten, ihm bei der Suche und einer eventuellen Festnahme behilflich zu sein.«

»Ich wette, dass er hinter einem Passagier aus diesem Bus her ist«, sagte Bahram. Aber Farhad erwiderte:

»Ich glaube nicht, sonst hätte er sich die Mühe erspart und diesen angeblichen Dieb direkt an der persischen Grenze verhaftet.«

»Woher kennst du ihn?«, fragte ich Farhad erstaunt.

Ohne mir zu antworten, schaute er mich für eine Weile ärgerlich an. Er wirkte auf einmal so ernst und etwas traurig.

Langsam konnte man in seinen großen schwarzen Augen deutlich Tränen schimmern sehen. Bahram gab mir durch einen Blick zu verstehen, dass ich keine weiteren Fragen stellen sollte. Doch Farhad brach selbst das Schweigen:

»Ich habe diesem Kreis bereits vor einer Stunde die schrecklichste Geschichte meines Lebens erzählt. Und schuld daran ist dieser Kerl. Aber auch du sollst wissen, wieso ich das alles über ihn weiß!«

Er atmete tief durch und begann zu erzählen:

»Meine Schwester studierte an der Universität von Tabriz, weil sie wie Tausende junger Leute keinen Studienplatz in Teheran bekommen hatte. Trotz dieser Entfernung und unserer persischen Mentalität, dass ein Mädchen nicht allein in einer fremden Stadt leben darf, waren wir mit ihrer Entscheidung einverstanden.

Sie lernte gut, sodass sie uns mit ihrer Leistung stolz und glücklich machte. Auf einmal hörten wir, dass sie sich dem Komitee Resistenz angeschlossen hatte, und nach vier Monaten Mitgliedschaft war sie bereits die Vorsitzende. Da ich wusste, dass das Komitee gegen das Schah-Regime arbeitete, flehte ich sie an, sich von diesem Verein zu lösen. Aber sie war überzeugt, dass man etwas gegen die Ungerechtigkeit und das undemokratische Regime tun musste. Im April des letzten Jahres organisierte sie eine große Demonstration gegen das Schah-Regime.

Sie hatte fünfzehntausend Menschen mobilisiert. Das war nach dem Aufstand von Mosadegh die eindrucksvollste Kundgebung in Tabriz. Obwohl die Demonstration friedlich verlief, dauerte es aber dennoch keine zehn Minuten, bis Polizei und Armee eingriffen. Es gab viele Tote und Verletzte. Meine Schwester wurde prompt verhaftet. Sie wurde im Gefängnis vergewaltigt, geschlagen und anschließend hingerichtet. Ihr Henker sitzt jetzt da, der kleine, schreckliche Dawood Khan!«

Farhad war wieder still. Sein Gesicht zitterte von all den schmerzhaften Erinnerungen. Ich wünschte mir in diesem Augenblick, dass ich die Frage nie gestellt hätte. Ich sah ihn fest an und sagte:

»Es tut mir außerordentlich leid, dass ich mit meiner Frage die alten Wunden aufgerissen habe. Bitte verzeih mir.«

Bahram klopfte ihm auf die Schulter:

»Beruhige dich, mein Freund, man kann jetzt nichts mehr ändern. Wurde mindestens die Leiche deiner Schwester freigegeben?«

Farhad entspannte sich und antwortete:

»Ja, Dawood Khan hat uns die Leiche unter der Bedingung übergeben, dass wir für immer schweigen, niemals darüber mit jemandem reden und uns in Zukunft friedlich benehmen. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich ihn umgebracht; aber ich musste meiner Mutter versprechen, nichts zu tun, was mir schaden könnte. Sie hat nur noch mich und sie möchte, dass ich am Leben bleibe.«

Für mehrere Minuten waren alle still und nachdenklich, dann sagte Bahram plötzlich:

»Wir sind nicht mehr in Iran, wir könnten jetzt etwas gegen ihn unternehmen.«

»Ich lasse lieber die Finger von ihm. Ein Mann wie er hat bestimmt gute Beziehungen zur türkischen Behörde. Im Falle einer Auseinandersetzung werden wir wahrscheinlich Istanbul nicht erreichen«, sagte ich mit einem scharfen Blick zu Bahram.

»Was hat er dir genau erzählt?«, fragte Farhad ganz leise.

»Das, was ich gesagt habe, dass er einen Dieb verfolgt. Außerdem trägt er eine Reisetasche bei sich, gefüllt mit mehreren Akten. Ich vermute, dass er diese Dokumente der türkischen Behörde überlassen wird.«

Farhad überlegte einige Sekunden und sagte:

»Ich rate dir, dich wieder auf deinen Platz zu setzen. Es könnte für dich von Nachteil sein, wenn er merkt, dass du mit mir gesprochen hast. Wir werden sehen, ob wir etwas gegen ihn unternehmen. Du solltest dich da wirklich raushalten.«

Die anderen bestätigten das mit einem Kopfnicken. Also kehrte ich wieder an meinen Platz zurück, ohne etwas zu sagen.

Dawood Khan machte zuerst keine Bemerkung, aber nach einigen Minuten sagte er:

»Das war aber ein kurzer Besuch. Reisen Sie mit vielen Freunden nach Istanbul?«

»Nein. Ich kenne nur einen Mann aus meiner Schulzeit.«

»Ja, ich verstehe. Auf so einer langweiligen Busreise muss man sich ja irgendwie beschäftigen. Ist Ihr Freund der Kerl, der ständig Witze erzählt?«

»Ja, er ist ein lustiger Bursche.«

»Für meinen Geschmack zu lustig.«