Irreale Wahrnehmung - Hassan M.M. Tabib - E-Book

Irreale Wahrnehmung E-Book

Hassan M.M. Tabib

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Beschreibung

Dieser Band enthält eine Auswahl von sieben spannenden, rührenden, ja, bis zur letzten Seite fesselnden Erzählungen, die sich im Hintergrund mit unseren persönlichen Wahrnehmungen auseinandersetzt. Jede Geschichte berührt so sehr, als wenn man mitten im Geschehen dabei ist. Es geht um Liebe und Opferbereitschaft, um einen perfekten Mord, um Sehnsucht nach einem zweiten Frühling sowie die verschiedensten Lebenssituationen und gesellschaftlichen Restriktionen. Jede Geschichte ist sinnlich, anregend und packend geschrieben.

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Für

Lili, Zino, Tara, Kian und Haily

Bemerkung: Alle Namen, Orte und wichtige Attribute wurden geändert. Ähnlichkeiten mit realen Personen sind reiner Zufall.

Inhaltsverzeichnis

Irreale Wahrnehmung

Mein Kumpel Edgar

Der Geizhals

Begegnung mit meinem Rivalen

Silberner Hochzeit

Die Misanthropin

Doppelgeschlechtlichkeit (Der Hermaphrodit)

Irreale Wahrnehmung

I

Unser Gehirn ist ein genialer Betrüger, meinte mein Freund, Dr. Richard Stille. Er ist ein hochbegabter und erfahrener Psychologe, arbeitet als Personalberater, Gerichtsgutachter und ist zudem Autor von mehreren Sachbüchern. Wir kennen uns seit einer Ewigkeit, treffen uns gelegentlich in einem Sportverein und spielen zusammen Schach.

Bei unserer letzten Begegnung, nach einer Schachpartie, drehte sich unser Gespräch um die allgemeine Psychologie.

Er war der Meinung, dass der subjektive Wahrnehmungsprozess unserer fünf Sinne, insbesondere die visuellen und auditiven Sinne, oftmals durch eine gehobene Stimmung oder depressive Verstimmung beeinflusst werden könnte. Diese Empfindungen führten häufig zu einer falschen Auffassung von unserer Umwelt, aber auch irrtümlichen Bewertung eines Sachverhalts.

Als Beispiel erzählte er eine phänomenale Geschichte, über die ich mehrere Tage lang intensiv nachdachte. Er sagte:

»Seit Jahren versuchte meine Frau, mich für eine Kreuzfahrt zu begeistern. Aber ich hatte kein Interesse an dieser Art von Reise und wollte daher nichts davon wissen.

Es waren mehrere Gründe, die dazu führten, dass ich immer wieder unnachgiebig ihren Wunsch ignorierte.

Zum einen reizte mich die Vorstellung, dass man die ganze Zeit untätig in einem schwimmenden Hotel herumsitzen muss, an einem solchen „Vergnügen“ überhaupt nicht. Zum Zweiten hatte ich jedes Mal, wenn dieses Thema zur Sprache kam, die furchtbare Szene vom Untergang der Titanic lebhaft vor Augen. Man ist bei einem Schiffsunfall tatsächlich völlig hilflos und dem ganzen Szenario buchstäblich ausgeliefert.

Dennoch sprang ich kurz vor ihrem 60. Geburtstag über meinen Schatten und tat das, wonach sie sich immer gesehnt hatte. Denn sie sagte mir bei jeder passenden Gelegenheit, dass sie sich als Geburtstagsgeschenk etwas Außergewöhnliches wünschte. Ich versuchte also, jegliche Abneigung und Angst zu überwinden, und buchte für den Monat Juni eine Kreuzfahrt in das Schwarze Meer, in die Badewanne Europas, wo sich kein Eisberg befindet und das Meer normalerweise zu dieser Jahreszeit konstant ruhig bleibt.

Ich muss allerdings gestehen, dass ich von dem Resultat dieser Entscheidung völlig überrascht war. Wir erlebten einen Urlaub, wie man ihn sich auch an Land immer vorstellt: schönes Wetter, leckeres Essen, unterhaltsame Abendprogramme, interessante Gesellschaft, eindrucksvolle und gut organisierte Ausflüge nach Troja, Athen, Santorini, Kreta, Ephesos usw.

Außerdem befand sich auf dem Oberdeck ein gut eingerichtetes Fitnesscenter, in dem man einige Stunden hart trainieren konnte. Diese Einrichtung war sehr wertvoll, da man in diesem luxuriösen und beweglichen Hotel die meiste Zeit über mit Essen und Trinken beschäftigt ist.

Gleich am ersten Tag unseres Urlaubs freundete ich mich in dem Fitnesscenter mit einem Herrn Adriano Pertini, einem Italiener, etwa in meinem Alter, an. Sein Name und sein Gesicht kamen mir irgendwie bekannt vor, aber ich weiß nicht, ob es an meiner sorglosen Urlaubsstimmung oder Gedächtnisschwäche lag, dass ich ihn nicht gleich erkannte.

Er hatte für sein Alter eine unglaubliche Kondition; er konnte auf dem Laufband mindestens eine Stunde ohne Pause in sehr schneller Geschwindigkeit laufen.

Ich war von seiner imponierenden Willensstärke und ausgesprochen freundlichen Ausstrahlung begeistert.

Bereits am zweiten Tag unserer Begegnung verstanden wir uns ausgesprochen gut miteinander. Er war hilfsbereit, charmant, witzig und redselig. Im Gegensatz zu ihm war seine Frau, Maria, introvertiert und sagte kaum etwas. Sie war das beste Opfer für meine Frau, die normalerweise selten jemanden zu Wort kommen lässt.

Maria war eindeutig einige Jahre jünger als Adriano. Sie schminkte sich kaum und gerade der Verzicht auf diese Verschönerungskünste verlieh ihr eine Natürlichkeit, die sehr angenehm wirkte.

Eigentlich hatte sie es auch gar nicht nötig. Sie war eine sehr schöne und begehrenswerte Frau.

Beim Mittagstisch oder Abendessen schlossen sich uns noch fünf weitere Personen an. Das waren ein Ehepaar aus Österreich, Sofia und Patrick Flath, ein Ehepaar aus Polen, Elizabeth und Alfred Jacobi und ein deutscher Junggeselle, Michael Schwarz.

Wie es bei einer solchen Vergnügungsreise üblich ist, geht man schnell dazu über, sich zu duzen und mehr Privates voneinander zu erfahren. Normalerweise beginnt die Kommunikation mit Erzählungen über die Familie, Arbeit, Hobbys und anschließend werden Visitenkarten ausgetauscht.

Maria und Adriano konnten kaum Deutsch sprechen und mit Ausnahme von Michael beherrschte niemand von uns die italienische Sprache. Wir unterhielten uns daher die meiste Zeit auf englisch.

Am dritten Tag unserer Reise wussten unsere neuen Freunde, nach einigen Stunden Aufenthalt in dem Oberdeck-Café, beinahe alles über uns. Meine Frau berichtete zuerst jedem detailliert und anschaulich Einzelheiten über unsere Hobbys, Kinder und Enkelkinder. Dann sie ging auf unsere Berufe ein und sagte mit gewissem Stolz:

»Mein Mann und ich lernten uns während des Studiums kennen. Wir haben beide Psychologie studiert. Nach dem Studium mussten wir zuerst zwei Jahre in einer Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie arbeiten. Obwohl die Aufgabengebiete sowie das Gehalt nicht schlecht waren, wollte mein Mann seinen Vertrag nicht mehr verlängern und ließ mich dort alleine weiterarbeiten.

Er wechselte seine Stelle und arbeitete als freiberuflicher Mitarbeiter für verschiedene Branchen; er ist Journalist, Personalberater, Gerichtsgutachter und Buchautor. Ich glaube, er ist mit seinen zahlreichen Tätigkeiten glücklicher als damals mit seiner Tätigkeit in der Klinik.

Dennoch bin ich der Meinung, dass er mit seinen guten Fachkenntnissen in Psychologie als Psychotherapeut mehr Erfolg haben und auch mehr Geld verdienen könnte.«

Natürlich hatte sie das alles nicht umsonst erzählt. Sie erwartete, dass die anderen, vielleicht nicht in dem gleichen Tempo und Temperament, uns dennoch einen Einblick in ihr Privatleben gewähren würden. Allerdings waren unsere neuen Freunde zu ihrer großen Enttäuschung, mit Ausnahme von Adriano, nicht ganz so gesprächig, für meinen Geschmack manchmal sogar etwas langweilig.

Michael wirkte ein wenig schüchtern, eher reserviert. In ein paar kurzen Sätzen erzählte er, dass er seit mehreren Jahren in San Camillo, bei Rom, lebte und Besitzer eines großen Blumengeschäftes war.

Das österreichische Ehepaar war nicht dazu zu bewegen, nur ein einziges Wort über ihr privates Leben zu verlieren – sie waren allerdings aufmerksame Zuhörer –, und das polnische Ehepaar konnte sich schlecht auf englisch verständigen. Nur Adriano tanzte nach der Pfeife meiner Frau und antwortete auf alles, was sie fragte.

Er erzählte, dass er und seine Frau direkt in Rom wohnten. Sie hatten vier große Söhne, zwei lebten in Kanada, einer studierte in München und der Jüngste in Mailand. Seine Frau hatte ihren Beruf kaum ausgeübt. Sie heiratete ihn unmittelbar nach ihrem Abitur, blieb die ganze Zeit zu Hause und sorgte für ein anheimelndes und harmonisches

Familienleben. Seit ihren Kindern ein eigenes Leben führten, hatte sie mehr Zeit für ihr Hobby. Sie züchtete verschiedene Rosen und Orchideen in ihrem großen Garten bzw. in einem riesigen Wintergarten.

»Und was machst du die ganze Zeit, mein Lieber?«, fragte meine Frau, während sie Adriano wie eine Kriminalbeamtin anstarrte.

»Ich bin Buchautor.«

In diesem Augenblick wurde mir plötzlich bewusst, wer er war. Vor acht Jahren hatte er einen Vortrag über die Aufgabe eines Schriftstellers im 21. Jahrhundert im Londoner P.E.N.-Club gehalten. Ich erinnerte mich daran, dass seine These sehr imposant war und er großen Zuspruch erhielt.

Was für ein Zufall, was für eine Ehre; ich war mit einem berühmten und hochbegabten Schriftsteller befreundet. Von diesem Zeitpunkt an nutzten wir jede Gelegenheit, dem Ehepaar Pertini Gesellschaft zu leisten.

Wenn ich heute an diese Zeit zurückdenke, erkenne ich beschämt, dass wir manchmal wohl doch zu aufdringlich waren. Ob es bei einem Ausflug zu einer griechischen Insel oder bei einem Abendprogramm war, wir wollten stets mit Adriano und Maria zusammen sein.

Was uns an Adriano besonders faszinierte, war sein Verhalten gegenüber seiner Frau. Er verhielt sich ihr gegenüber stets höflich, liebevoll und aufmerksam. Wie oft stand er plötzlich auf und servierte ihr Getränke oder lief abends, wenn das Wetter etwas kühl geworden war, schnell in ihre Suite und brachte ihr einen warmen Pullover. Es passierte auch häufig, dass er nicht auf den Kellner wartete, wenn ihr Kaffee kalt war, sondern er stand selbst auf und holte ihr eine neue, frische Tasse.

Er benahm sich ihr gegenüber immer respektvoll, hörte ihr konzentriert zu und tat mit einer unglaublichen Hingabe alles, was sie sich wünschte.

Einmal nach dem Mittagessen überreichte er Maria eine kleine Schachtel. Alle am Tisch, insbesondere meine Frau, waren neugierig zu wissen, was sich in der kleinen Geschenkpackung befand.

Langsam öffnete Maria die Schachtel, betrachtete den Inhalt fast eine Minute lang und nahm schließlich ein Paar wunderschöne goldene Ohrringe heraus.

Wir erfuhren, dass Maria einen Tag zuvor diesen Schmuck im Schaufenster der Schiffsboutique bewundert und Adriano diesen kurz danach heimlich gekauft hatte.

Maria war sichtlich überrascht und zu Tränen gerührt. Sie schaute ihren Mann liebevoll an und sagte leise „danke“.

Merkwürdig fand ich die unangemessene Bemerkung unseres deutschen Junggesellen Michael. Er musterte Adriano ärgerlich und sagte:

»Verdammt! Sie waren schneller als ich. Ich war bereits um 10:00 Uhr in der Boutique und die Verkäuferin sagte, dass jemand sie bereits erworben hatte.«

»Wozu brauchen Sie Damenohrringe?«, fragte meine Frau erstaunt.

»Ich hatte vor, meine Freundin damit zu überraschen. Dieser Schmuck ist sehr kunstvoll, leider gab es nur ein einziges Paar.«

»Darf ich fragen, warum Sie ohne Ihre Freundin reisen?«

Zuerst wusste Michael nicht, was er auf ihre Frage erwidern sollte. Aber dann sagte er in einem Ton, der mir unglaubwürdig erschien:

»Sie konnte mich leider nicht begleiten.«

Während dieser zehntägigen Kreuzfahrt wurde Maria des Öfteren von Adriano überrascht, dieses Mal war sie jedoch hingerissen. Besonders, als sie das beigefügte Kärtchen las, und nach langer Überlegung zeigte sie uns, was er geschrieben hatte. Die Karte ging von Hand zu Hand, obwohl der Text italienisch war. Dennoch waren die Wörter wie „amore“, „mia bella Maria“ oder „ti amo“ nicht schwer zu verstehen.

Adrianos außergewöhnlich liebevolles Verhalten Maria gegenüber machte die anderen Frauen am Tisch recht eifersüchtig. Meine Frau konnte sich jedes Mal die Bemerkung nicht verkneifen, dass ich von Adriano lernen müsse, wie man mit seiner Frau umzugehen hat.

Diese spitze Bemerkung wiederholte sie auch dann, wenn wir uns spätabends in den Tanzsaal begaben. Denn kaum hatten wir den Raum betreten, fand unser Zusammensein ein jähes Ende; die ganze Zeit über tanzte Adriano ausschließlich mit seiner Frau Maria.

Im Laufe der Zeit versetzte diese ungewöhnliche Zuneigung, dieser sanfte, höfliche Umgang, diese dauerhafte Verehrung nicht nur meine Frau in Neid und manchmal sogar in Verzweiflung, sondern nach und nach auch die anderen Frauen aus unserer Gruppe.

Ich muss gestehen, dass mir aus der Perspektive meiner beruflichen Erfahrung diese intensive Verehrung ziemlich übertrieben, sogar regelrecht anormal vorkam.

Sicherlich konnte man davon ausgehen, dass sie einfach ein perfektes Ehepaar waren, aber für einen objektiven Norddeutschen mit jahrelanger Erfahrung im Fach Psychologie, wie ich, war dieses exzeptionelle Verhalten nicht „normal“, schon gar nicht, wenn man seit über 30 Jahren miteinander verheiratet ist. Und wenn ich nicht ein treuer Fan von Adriano gewesen wäre, hätte ich behauptet, dass er uns die ganze Zeit eine merkwürdige Komödie vorspielte.

Einmal in der Bar, während eines Gesprächs über Schlafgewohnheiten, erzählte Maria, dass Adriano ihr in der letzten Zeit jeden Abend eine Geschichte vorlesen würde, bis sie ruhig einschlief. Sie sagte, dass sie sich so daran gewöhnt hatte, dass sie ohne dieses liebevolle Ritual nicht schlafen konnte.

Auf meine Frage, ob er immer ein perfekter Ehemann gewesen war, erhielt ich keine Antwort; sie schaute mich nachdenklich an und blieb merkwürdig schweigsam.

Am achten Tag unserer Reise kehrte das Schiff in Richtung Türkei zurück. Während dieser unvergesslichen Tage entwickelte sich zwischen unseren Gruppenmitgliedern eine herzliche und freundschaftliche Beziehung. Ich muss zugeben, dass die Anwesenheit des Ehepaars Pertini in diesem Zusammenhang eine große Rolle spielte.

II

Am letzten Tag unserer Reise, nach dem Abendessen, schlug meine Frau vor, dass sich die Männer und Frauen in getrennten Räumlichkeiten treffen sollten. Die Männer könnten in die Bar gehen und sich über Politik oder Fußball unterhalten. Die Frauen wollten unter sich bleiben und miteinander plaudern. Ich war erstaunt, dass alle mit ihrem Vorschlag einverstanden waren.

Wir (Adriano, Michael, Alfred und Patrick) begaben uns in eine Bar auf dem siebten Deck.

Kaum hatten wir das erste Glas Bier geleert, entschuldigte sich Michael und sagte, dass ihn die Müdigkeit übermannt habe und er deshalb in seine Kabine zurückgehen wolle. Angeblich hatte er in der letzten Nacht nicht richtig schlafen können.

Patrick blieb noch fünfzehn Minuten länger; aber dann wollte auch er seine Kabine aufsuchen und sich ein Fußballspiel zwischen Deutschland und Österreich anschauen. Und zu meinem Erstaunen blieb unser polnischer Freund Alfred danach auch nicht mehr lange und verabschiedete sich verlegen. Er konnte sich ohne die Hilfe seiner Frau kaum mit uns auf englisch unterhalten.

Adriano und mir machte es jedoch nichts aus, dass wir unter uns blieben. Ich bestellte eine Flasche Wein und erzählte von meinen zahlreichen Tätigkeiten, vor allem wie schwierig es sei, ein Sachbuch erfolgreich zu veröffentlichen. Ich sagte:

»Im Gegensatz zu den USA liest man in Europa nur wenige Bücher über Psychologie. Vielleicht liegt es daran, dass ein Buch über allgemeine Psychologie oder die Psychoanalyse in der Regel zu teuer ist.

Die meisten meiner Leser sind Studenten oder auch Mitarbeiter aus der Personalabteilung von großen Unternehmen.

Ohne meine Tätigkeit als Berater und Gerichtsgutachter könnte ich nicht von den Tantiemen meiner Bücher leben.«

Dann war er an der Reihe und gab völlig andere Statements ab. Sein erstes Buch hatte er im Jahr 1970 geschrieben. Er sagte:

»Das erste Buch war die große Enttäuschung meines Lebens. Ich war persönlich bei unzähligen Verlagshäusern, aber keiner hatte Interesse an meinem Werk. Ich gab jedoch nicht auf, schrieb mein zweites Buch und hatte dieses Mal mehr Glück. Ein bekannter Verlag schloss mit mir einen Autorenvertrag ab und ein Jahr später konnte ich sogar das erste Buch doch noch veröffentlichen.

Dann setzte der Erfolg wie eine Lawine ein. Nach der Veröffentlichung meines dritten Buches rannten mir die Agenturen mehrerer Verlage förmlich die Türe ein. Heute kann ich von den Tantiemen meiner 16 Bücher, vier davon sind immer noch in den Top 10, gut leben.«

Als ich das Thema wechselte und zu dem kam, was uns in den letzten Tagen intensiv beschäftigt hatte, nämlich sein übertriebenes Verhalten gegenüber Maria, versuchte er mit der Bestellung einer neuen Flasche Wein meine Bemerkung zu ignorieren, obwohl die Flasche noch fast halb voll war.

Aber ich war ziemlich neugierig und ließ nicht locker. Ich sagte:

»Ich bewundere an dir, lieber Freund, dass du nicht nur ein exzellenter Schriftsteller und eine angenehme Persönlichkeit bist, sondern es hat den Anschein, dass du auch ein perfekter Ehemann bist. Darüber hinaus staune ich darüber, wie du so ruhig, so bewusst, beherrscht und liebevoll mit allen Menschen umgehst.

Meine Frau ist der Meinung, dass du ein richtiger Gentleman, ein perfekter Ehemann und zudem ein guter Psychologe bist.« Als ich keine Reaktion auf meine Komplimente erhielt, sagte ich weiter: »Offen gesagt dachte ich am Anfang, dass du die Rolle eines Protagonisten aus einem deiner Bücher spielst.

Eigentlich stehen wir Psychologen solch außergewöhnlichem Verhalten etwas skeptisch gegenüber und ordnen es sogar in unserer Fachsprache als „non real attitude“ ein. Dennoch muss ich gestehen, dass dein starker Charakter und vor allem dein Benehmen eine ganz neue Erfahrung für mich sind.

Ich beuge mich jedoch der Realität und erkenne neidlos an, dass es im Gegensatz zur Theorie vieler Kollegen von mir doch möglich ist, nach mehr als 30 Jahren Eheleben noch genauso mit seiner Partnerin umzugehen wie während der ersten Ehejahre.«

Er schwieg immer noch und wirkte etwas nachdenklich. Einige Male traf sein Blick auf meinen fragenden Gesichtsausdruck und ich glaubte, er wollte etwas dazu sagen. Aber plötzlich stand der Kellner neben uns und füllte unsere Gläser aus einer neuen Weinflasche. Nach einer langen Weile hob er sein Glas, trank den Wein bis auf den letzten Tropfen und sagte mit weicher, ja ziemlich alkoholisierter Stimme:

»Ich kann dir versichern, dass es nicht meine Absicht war, vor dir oder den anderen einen braven Ehemann zu spielen und dadurch einen außergewöhnlichen Eindruck zu vermitteln. Ich bin dennoch der Auffassung, dass die Liebe und Leidenschaft kein exklusives Recht der Jugend sind, sondern dass sie ein Leben lang Bestand haben können.« Er schaute mir direkt in die Augen und fügte hinzu: »Aber ich denke, mit dem Fachterminus „non real attitude“ wolltest du etwas Bestimmtes andeuten.

Da wir uns seit dem Beginn dieser Reise bestens verstanden haben, sogar gute Freunde geworden sind, möchte ich deine Bemerkung nicht einfach im Raum stehen lassen. Du verdienst eine ehrliche Antwort.

Ich gebe zu, meine Beziehung zu Maria war nicht immer so imposant und geprägt von Harmonie und Liebe, jedenfalls nicht während mehrerer Jahre unseres gemeinsamen Lebens.

Wir haben uns während eines kurzen Urlaubs in Rimini kennengelernt und ich machte ihr bereits bei der dritten Begegnung einen Heiratsantrag.

Ich war glücklich, endlich meine Traumfrau gefunden zu haben. Ich heiratete sie und hatte vor, zuerst mit ihr ein sogenanntes unstetes Leben zu führen.

Ich meine damit, viel zu reisen, Diskotheken zu besuchen und viele verrückte Dinge zu machen, die ich in meiner Jugendzeit verpasst hatte.

Aber dazu kam es nicht. Bereits einen Monat nach unserer Hochzeit war sie schwanger. Das war allerdings kein Zufall, sondern sie verfolgte eben ihren eigenen Plan: Sie wollte viele Kinder haben und sie bekam vier – vier Söhne innerhalb der ersten sieben Ehejahre.

Ich möchte betonen, dass ich über die Geburt dieser vier wunderbaren Kerle sehr glücklich war; sie haben viel Freude in unser Leben gebracht.

Aber andererseits muss ich doch zugeben, dass ich nicht so früh eine große Familie haben wollte. Ich war dafür noch nicht reif genug. Ja, ich war einfach seelisch nicht auf diese große Verantwortung vorbereitet.

Stell dir vor, plötzlich hatte ich eine liebevolle Mutter für unsere Kinder, aber keine Partnerin für mein lang ersehntes abenteuerliches Leben. Bereits bei der Geburt unseres zweiten Sohnes musste ich alle meine Pläne für Fernreisen und ein aufregendes Nachtleben aufgeben. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mich auf die Arbeit zu konzentrieren.

Ich musste tatsächlich hart arbeiten, um meiner Großfamilie ein gutes Leben zu ermöglichen.

Wie du weißt, hat ein Buchautor keine geregelten Arbeitszeiten. Es kommt häufig vor, dass man die ganze Nacht über, das gesamte Wochenende oder sogar während der Weihnachtstage arbeiten muss. Jedenfalls tat ich es so. Meine Frau war mit den kleinen Kindern beschäftigt und ging in ihrer Rolle als Mutter völlig auf, während ich jeden Tag tief in den Ozean der Arbeit eintauchte. Ich schrieb zahlreiche gute bis sehr gute Romane.

Jahrelang war meine Frau für das Haus und die Erziehung unserer Kinder zuständig und ich war der Alleinverdiener. Dieses geordnete Leben lief jahrelang ganz normal, bis uns ein Kind nach dem anderen verließ, um sein eigenes Leben zu bestreiten.

Irgendwann merkten wir beide, wie leer das Haus plötzlich war. Auf einmal wirkte alles ruhig; kein Lärm, kein Streit, kein Lachen, nur sie, ich und ein großes, trauriges Haus.

Obwohl wir uns beide guter Gesundheit erfreuten und keine finanziellen Probleme hatten, waren wir irgendwie mit unserem Leben unzufrieden. Ja, wir waren nicht das gleiche glückliche Ehepaar wie vor der Geburt unserer Kinder. Unser Verhalten blieb oberflächlich betrachtet vielleicht dasselbe, aber dadurch, dass wir unser Leben nun als leer und bedeutungslos wahrnahmen, verspürten wir das Gefühl, dass sich unsere Seelen verändert hatten, sodass wir uns selber fremd geworden waren.

Wir hatten in den letzten Jahren verlernt, wie ein liebevolles Ehepaar unsere gemeinsamen Gefühle miteinander zu teilen: aufrichtig miteinander zu reden, dem anderen Verständnis entgegenzubringen und vor allem Interesse für die Gefühle, Hobbys oder Kreativität des Partners zu zeigen. Noch schlimmer, wir hatten sogar keine Kraft oder Lust, miteinander zu streiten.

Jeder von uns tat alles, was der andere verlangte, jedoch ohne Sinn oder Zweck der Handlungen zu hinterfragen.

Sie kümmerte sich nach wie vor um das Haus und nach dem Auszug des letzten Kindes um ihr Hobby. Sie züchtete ihre Blumen und besuchte ab und zu ihre Mutter oder ihre Freundinnen. Selbstverständlich sorgte sie dafür, dass ich mindestens einmal am Tag eine warme Mahlzeit bekam. Und ich … ich vergrub mich nach wie vor in mein Büro und arbeitete jeden Tag nicht weniger als zehn Stunden. So lief unser Leben weiter, wenn man es überhaupt Leben nennen konnte.

Bis eines Tages etwas Außergewöhnliches passierte, etwas, was auf einmal mein ruhiges Leben total verändert hat.«

Plötzlich hielt Adriano in seiner Erzählung inne. In seinem Gesicht konnte ich deutlich erkennen, dass er sich nicht schlüssig war, ob er mit mir über dieses außergewöhnliche Ereignis sprechen wollte. Aber als Psychologe wusste ich, wie ich mich in solch einer Situation zu verhalten hatte.

Ich schaute ihn verständnisvoll und aufmunternd an und versuchte ihm mit meiner ruhigen Art Mut zu machen, mir sein Herz bedenkenlos auszuschütten.

III

Adriano nahm einen Schluck Wein und setzte seine Erzählung fort.

Zuerst dachte ich, dass er das Thema absichtlich gewechselt hatte. Aber nach und nach bemerkte ich, dass er doch seinen Leitgedanken verfolgte. Er wollte vorher das eingetretene Ereignis logisch begründen. Er sagte:

»Ich nehme an, dass einige deiner Bücher in eine andere Sprache übersetzt worden sind. In diesem Fall stimmst du mir als Buchautor zu, dass man sich stets Sorgen hinsichtlich der Übersetzungsqualität seines Buches macht. Man möchte sicherstellen, dass bei der Übersetzung in eine andere Sprache die Authentizität des Textes nicht verloren geht. Selbstverständlich muss man bei exotischen Sprachen wie chinesisch oder arabisch einfach blindes Vertrauen haben, aber bei den Sprachen, die man selbst beherrscht, zum Beispiel englisch, spanisch oder französisch, möchte man doch deren Richtigkeit prüfen.

Ich lege Wert darauf, das Buch sorgsam zu lesen und mich von der Korrektheit der Übersetzung zu überzeugen, bevor es veröffentlicht wird. Ich verlange von dem Verlag, dass die Übersetzerin mir ihre Arbeit – in der Regel kapitelweise – zur Verfügung stellt, bevor das Buch veröffentlicht wird.

Das heißt, wenn ich damit zufrieden bin, gebe ich es für den Druck frei.

Natürlich ist dieses Verfahren mühsam und zeitaufwendig, aber ich kann nach der Publikation ruhig schlafen.

Letztes Jahr schloss mein Verlag einen Vertrag mit einer französischen Buchagentur ab. Mein Wunsch, dass der übersetzte Text vorerst mit mir abgestimmt werden müsste, wurde vertraglich festgelegt.«

Er hielt einen Augenblick inne, vermutlich, um mich auf das nun folgende bedeutungsvolle Ereignis aufmerksam zu machen, und fuhr fort: »Ich hatte allerdings keine blasse Ahnung, dass dieses Mal der Abstimmungsprozess einen enormen Einfluss auf mein ruhiges Leben nehmen würde.

Eines Tages rief mich eine Frau Margaret Grandes aus Paris an und stellte sich als Übersetzerin meines Buches vor. Ich kann sogar heute nicht wirklich erklären, warum ich plötzlich Herzklopfen hatte.

Es war nicht nur ihre angenehme und erotische Stimme, die mich nach und nach maßlos faszinierte, sondern auch ihre Art, stets witzig, aber immer auch zutreffend zu formulieren.

Eigentlich kann nur jemand die Kunst der Formulierung sowie die raffinierte Wortauswahl beherrschen, der dieser Sprache mächtig ist. Margaret beherrschte nicht nur die französische Sprache, sie sprach darüber hinaus italienisch und englisch so perfekt wie ihre Muttersprache. Sie war eine lustige, witzige, aber auch intelligente Frau. Jedes Mal, wenn wir uns miteinander unterhielten, brachte sie mich in eine fröhliche Stimmung.

Eine Woche nach unserem ersten Gespräch schickte sie mir das erste Kapitel via Internet und schrieb mir eine nette Bemerkung dazu, etwas wie:

„Keine Sorge, Chéri, wenn Du die Übersetzung nicht gut findest. Deine Story ist so spannend, dass man auf meine schwache Formulierung nicht achten wird.“

Dennoch muss ich sagen, dass ihre Arbeit tadellos war. Ich las das erste Kapitel zwei- oder dreimal kritisch durch und bemerkte erleichtert, dass die Übersetzung absolut authentisch war, ja, absolut perfekt. Sie hatte sogar einen grammatikalischen Fehler in dem original italienischen Text gefunden und schickte mir diesen auf einem Extra-Dokument.

Am nächsten Tag teilte ich ihr mit, dass ich mit ihrer Arbeit zufrieden war. Sie sagte mit ihrer lustigen Art:

„Ich danke dir, Chéri. Bitte ruf meinen Boss an und erzähle ihm, was du mir gerade gesagt hast. Vielleicht wird er dann einen langfristigen Vertrag mit mir abschließen.“ Dann änderte sie das Thema und wollte etwas über mein Privatleben erfahren. Sie fragte:

„Bist du verheiratet?“

„Ja, ich bin verheiratet.“

„Bist du ein glücklicher Ehemann?“

„Bist du eine glückliche Ehefrau?“

Sie lachte wieder ganz herzlich und erwiderte:

„Shakespeare sagte einmal: „Gut gehängt ist besser als schlecht verheiratet.“ Jedenfalls lebe ich noch.“

Wir haben an diesem Tag beinahe eine Stunde miteinander geplaudert. Wir sprachen über verschiedene Themen. Bei jedem Thema war sie gut, sogar sehr gut informiert. Ihre logischen, geistreichen und tiefsinnigen Argumente versetzten mich in große Begeisterung. Ich hätte gerne gewusst, wie alt sie war, wie sie aussah. Aber ich hatte Hemmungen, sie danach zu fragen.

Ab der zweiten Woche telefonierten wir fast jeden Tag eine Stunde lang miteinander.

Manchmal fragte ich mich mahnend, was mit mir los war? Warum rief ich sie jeden Tag an? Was sollte daraus werden? Vor allem, was würde sie von mir denken? Sie wusste, wer ich war und wie alt ich war.

Andererseits war ich von ihrer verführerischen, sexy Stimme so berauscht, dass ich nur noch an Margaret denken konnte. Im Laufe der Zeit spürte ich verwundert, dass sie mein Herz erobert hatte.

Um ihr den Grund für meine täglichen Anrufe plausibel darzulegen, versuchte ich immer, ein sachliches Argument zu finden.

Zum Beispiel beanstandete ich einen Satz, der nicht sinngemäß übersetzt worden war, oder ich bemängelte bei einem bestimmten Wort die korrekte Rechtschreibung, was sie natürlich alles leicht und entschieden entkräften konnte.

Manchmal hatte ich Angst, dass diese unbekannte Französin einen tiefen und dauerhaften Einfluss auf mein Leben nehmen würde. Und manchmal war ich über diese Veränderung in meinem trostlosen Leben sehr glücklich. Ich weiß, es klingt hinterhältig und egoistisch, aber ich muss sagen, dass jeden Abend, wenn ich auf meinem Bett lag, meine Gedanken nur bei Margaret waren.

Drei Monate lang kommunizierten wir miteinander in Sachen Übersetzung via Internet und jeden Tag führten wir miteinander ein langes privates Telefongespräch.

Im zweiten Monat unserer geschäftlichen und freundschaftlichen Beziehung merkte ich, dass ich nicht der Einzige war, der auf ein solches Ferngespräch gewartet hatte. Es schien, dass sie genauso süchtig geworden war wie ich. Offenbar hatte mein emotionales Verhalten auch sie angesteckt.

Ich erinnere mich an eine Situation, als ich sie einmal wegen eines Arzttermins erst am Nachmittag anrufen konnte. Ich konnte deutlich merken, dass sie verärgert war.

Sie beklagte sich: „Hast du mich aus Spaß so lange warten lassen?“

Ich kann gar nicht beschreiben, wie glücklich ich über ihren scharfen Ton war. Denn daran merkte ich, dass sie mich mochte. Mein Gott, sie vermisste meinen Anruf. Das bedeutete unmissverständlich, dass diese immer stärker gewordene Zuneigung auf Gegenseitigkeit beruhte.

Ja, ich war überglücklich, dass sie mich beschimpfte und darauf bestand, dass ich sie in Zukunft pünktlich um 10:00 Uhr anrufen sollte.

Die Zeit verging zu schnell; plötzlich hatten wir unser Projekt beinahe beendet. Als sie mir das 18. Kapitel zuschickte, war ich tief besorgt.

Der Gedanke, dass aus dieser aufkeimenden Beziehung bald nur noch kalte Asche zurückbleiben könnte, machte mich nervös. Ich war tieftraurig, sehr unglücklich. Noch zwei weitere Kapitel, dann würde ich keinen dienstlichen Grund mehr finden können, um sie anzurufen. Es würde mindestens zwei bis drei Jahre dauern, bis ich ein neues Buch geschrieben hatte und sie dann mit der Übersetzung betrauen konnte. War ich in der Lage, so lange zu warten? Nein, unmöglich, das konnte ich nicht.

Ich hatte das Gefühl, dass sie die gleichen Sorgen quälten. Denn plötzlich nahm sie sich Zeit und schickte mir jeden Tag nur noch eine einzige Seite. Es dauerte fast zwei weitere Wochen, bis sie endlich das 19. Kapitel vervollständigt hatte.

Unsere persönlichen Telefongespräche setzten sich jeden Tag fort. Die meiste Zeit über redete sie. Sie erzählte über alles Mögliche, ihre Schulzeit, ihre Freunde und über ihren zweiten Job.

„Warum hast du noch einen zweiten Job? Ich dachte, dass du mit deiner Übersetzungsarbeit gutes Geld verdienst?“, fragte ich interessiert.

„In Paris kann man nie genug Geld haben. Fast die Hälfte aller Berufstätigen in dieser Stadt haben zwei Jobs. Einen, um die teure Miete zu begleichen, und den anderen, um die teuren Lebenshaltungskosten bestreiten zu können.“

„Und welche Tätigkeit übst du in deinem zweiten Job aus?“

„Ich arbeite in einem Tonstudio. Ich synchronisiere ausländische Filme.“

Ich konnte mir denken, dass ich nicht der Einzige war, der ihre zauberhafte Stimme liebte.

Irgendwann kam das Unvermeidliche. Sie schickte mir die letzte Seite des letzten Kapitels und ich war vollkommen unglücklich. Die Vorstellung, dass sie bald nicht mehr Teil meines Lebens sein würde, machte mich schier wahnsinnig. Ich war traurig, dass ich bald wieder in meinen trostlosen Alltag zurückfallen musste. Ich würde wohl oder übel auf diese Stimme, diese selige Musik, die meinen Tagesablauf auf so eine wunderbare Art und Weise aufhellte, verzichten müssen.

Eines Tages, nach dem letzten Datentransfer, rief sie mich am späten Abend an. Ihre Stimme klang deutlich traurig, ernst; nein, nicht mehr sexy und wie immer verführerisch. Sie fragte, ob es nicht zweckmäßig wäre, wenn ich einige Tage nach Paris reisen würde. Wir könnten dann alle offenen Fragen noch einmal durchgehen und gemeinsam die Sätze herausfinden, die noch zu korrigieren wären.

Die Idee war gut. Obwohl ich mir sicher war, dass wir kaum einen weiteren Fehler finden würden. Aber es gab mir die Möglichkeit, diese Frau, diese verführerische Frau, die mich beinahe vier Monate lang bezaubert hatte, endlich kennenzulernen. Ich erhielt einige Tage die Gelegenheit, in ihre Augen zu schauen, ihre Gestalt zu bewundern und ihren Duft zu atmen. Ich konnte ihre Hände in den meinen halten, sie umarmen und vielleicht noch mehr …

Ich muss zugeben, dass mich meine intimen Fantasien manchmal regelrecht schockierten. Ich war damals 60 Jahre alt, vor allem verheiratet. Ich fragte mich mahnend, wie das möglich sein konnte, dass die verführerische Stimme einer völlig unbekannten Frau solche fieberhaften Gefühle in mir aufkeimen ließen?

Andererseits war ich damals, wie ich bereits sagte, wie ein Junkie, einfach süchtig nach ihrer Stimme. Vielleicht war das ein Grund, dass ich nicht in der Lage war, diese logische oder vernünftige Frage zu beantworten.

Ja, ich sehnte mich glühend danach, diese außergewöhnliche Frau kennenzulernen. Seit dem Beginn unserer Kommunikation spürte ich deutlich, dass sich mein Herz wieder bemerkbar machte. Es hämmerte heftig in meiner Brust, alle meine Sinne waren wieder lebendig. Ich war glücklich, den Zauber meiner Jugendzeit wieder ein wenig spüren zu können. Offenbar hatte ich seit langem tief in mir ein starkes Bedürfnis nach Wärme, Geborgenheit und Liebe. Ich sagte ihr am Telefon:

„Ja, liebe Margaret, ich komme zu dir. Das ist eine exzellente Idee. Du musst mir nur sagen, wann. Wann du genügend Zeit hast; Zeit, das Projekt zusammen abzuschließen, Zeit, uns über Privates zu unterhalten, und Zeit, um einander besser kennenzulernen.“

Sie war von meiner spontanen Reaktion vollkommen begeistert. Ich spürte, dass sie sich diese Begegnung mehr wünschte als ich. Sicherlich nicht wegen der Überarbeitung des Manuskriptes, denn wir beide wussten, dass es daran kaum etwas zu ändern gab.

Wie ich bereits erwähnte, sprach sie beide Sprachen fließend. Ich hatte in allen 20 Kapiteln nicht einen einzigen Fehler finden können. Möglicherweise konnte man mit Mühe hier und da einen Tippfehler oder ein fehlendes Komma ausfindig machen, jedoch keine fehlerhaften Sätze. Mein Protest während der letzten vier Monate bezüglich der korrekten Schreibweise war sowieso nur eine Ausrede, um mit ihr ins Gespräch zu kommen.

Ich vermutete, dass sie bereits alles für meinen Aufenthalt in Paris organisiert hatte. Sie teilte mir den Termin mit, der auf den dritten bis zehnten November fiel. Der Ort war das Hilton Hotel in Paris und sie bestand darauf, mich am Flughafen abzuholen. Sie erwähnte nebenbei, dass sie während dieser Woche die ganze Zeit über bei mir bleiben wollte.

Ich traute mich nicht zu fragen, was sie mit der ganzen Zeit meinte? Wo blieb die Zeit mit ihrem Mann?

Am selben Tag buchte ich meinen Flug bei der Lufthansa.

Wie sie wünschte, würde ich am dritten November in Paris ankommen und am zehnten November nach Rom zurückfliegen. Danach schickte ich ihr meine Reisedaten per E-Mail.

Mir war schon bewusst, dass ich dabei war, die größte Dummheit meines Lebens zu begehen. Aber wie gesagt, ich musste es tun … ich musste es tun, weil ich für die unzähligen Fragen meiner neugierigen Seele plausible Antworten finden wollte.«

Adriano hielt plötzlich inne. Er sah mich mit einem prüfenden, eindringlichen Blick so an, als ob er meine Gedanken lesen wollte. Ich glaube, er wollte wissen, ob ich für seine Gefühle, für das Hintergehen seiner Ehefrau, was im absoluten Gegensatz dazu stand, was ich in den letzten Tagen erlebt hatte, Verständnis zeigte.

Nein, ich konnte das nicht. Im Gegenteil, ich hatte erhebliche Schwierigkeiten, sein dramatisches Geständnis nachzuvollziehen. Ich konnte nicht begreifen, wie ein Mensch, der sich die ganze Zeit wie ein mustergültiger Ehemann präsentierte, auf einmal von einer potenziellen Affäre sprach.

Dennoch versuchte ich, mir meine Verwirrung nicht anmerken zu lassen. Ich blickte ihn nach wie vor freundlich, konzentriert, ermutigend und schweigend an. Ich denke, er bemerkte selbst, dass er mit seinem Geständnis den positiven Eindruck der letzten Tage mutwillig zerstörte, auch wenn mein Pokergesicht einen anderen Eindruck zu vermitteln versuchte.

Er nippte an seinem Wein und setzte seine Erzählung fort:

»Ich kann mir gut vorstellen, dass diese Geschichte für dich oder für jede andere Person aus unserer Reiseclique verwirrend, merkwürdig, vielleicht sogar absurd klingt.

Ich weiß, es ist in der Tat schwer zu begreifen, wie sich ein 60-jähriger verheirateter Mann, Vater von vier erwachsenen Kindern, in eine unbekannte, junge, verheiratete Frau verlieben konnte.

Ich weiß, ich weiß, es ist verrückt, es ist töricht. Ja, ich wollte eine verheiratete Frau, von der ich nicht wusste, wie sie überhaupt aussah, wie alt sie war und vor allem, was sie von mir, meinem Leben und meiner äußeren Erscheinung hielt, heimlich in Paris besuchen.

Eine logische Erklärung habe ich dafür nicht. Dennoch muss ich zugeben, dass es doch ein schwaches Argument gab, was mich ungemein motivierte, diese Frau zu treffen. Vielleicht kannst du mich als erfahrener Psychologe besser verstehen.

Ich hatte ein starkes Bedürfnis herauszufinden, was eine Frau wie Margaret von einem Mann wie mir hielt? Ich wollte wissen, wie alt ich wirklich geworden war. Gab es in meinem Alter noch so etwas wie einen zweiten Frühling?

Ja, lieber Freund, ich hatte das Bedürfnis zu wissen, wo ich stand. War ich noch für eine Liebe gut oder zählte ich schon zum alten Eisen? Ich bin mir sicher, dass es Millionen von Männern in meinem Alter gibt, die für die gleiche Frage eine überzeugende Antwort suchen.

Wie auch immer, am dritten November flog ich nach Paris. Ich erzählte Maria, dass ich wegen der letzten Phase vor der Publikation meines Buches in Frankreich nach Paris reisen musste.

Ich erinnere mich daran, dass ich die gesamte Strecke über den ersten Moment unserer Begegnung innerlich durchspielte.

Was für ein Mensch würde mich auf dem Flughafen empfangen? Wusste sie wirklich, wie ich aussehe? Würden meine grauen Haare sie nicht erschrecken?

Und andauernd quälten mich Fragen, die ich hartnäckig nicht beantworten wollte.

Ich fragte mich ernsthaft: Was wäre, wenn aus diesem Besuch eine große Liebe entstünde? Wärest du in der Lage, so viele Ehejahre mit Maria einfach hinter dir zu lassen und mit Margaret ein neues Leben zu beginnen?

Und sie, was würde sie tun? Würde sie sich ebenfalls deinetwegen scheiden lassen und mit dir zusammenleben?

Dann stellte ich erschrocken fest, dass ich überhaupt nicht wusste, wie sie aussah.

IV

»Als ich um 14:00 Uhr den Grenzkontrollbereich des Charles de Gaulle Airports verließ, hatte ich solches Herzklopfen wie noch nie in den letzten Jahrzehnten.

In der Ankunftshalle standen zahlreiche Personen, die Namensschilder hochhielten und ihre erwarteten Passagiere in Empfang nehmen wollten. Ich schaute gespannt in alle Richtungen, sah jedoch nirgendwo meinen Namen. Wo ist Margaret? Wie sollte ich sie jetzt finden?

„Willkommen in Paris, lieber Adriano!“ Die Stimme war mir wohl bekannt. Ich drehte mich um und erblickte sie zum ersten Mal.

Vor mir stand eine Frau, höchstens 24 Jahre alt, jedenfalls etwas jünger als mein jüngster Sohn. Sie war ziemlich korpulent, schätzungsweise 1,60 Meter groß, hatte lange, lockige, dunkelblonde Haare und war relativ „normal“ angezogen. Sie umarmte mich herzlich und küsste meine Wange.

Offenbar war sie eine starke Raucherin; ihre Haare und ihr hellgrauer Mantel rochen, obgleich vorsorglich parfümiert, nach starkem Zigarettenrauch, was ich als sehr unangenehm empfand.

Dieser stürmische und herzliche Empfang ließ mich annehmen, dass sie bereits wusste, wen sie erwartete.

Wir fuhren mit dem Fahrstuhl in die Tiefgarage, wo ein alter kleiner Citroën stand. Sie verstaute meine Koffer im Kofferraum und fuhr gleich in Richtung Stadtmitte.

Unterwegs sprach sie die ganze Zeit. Und ich war ungewöhnlich sprachlos. Ganz stolz berichtete sie mir von ihrem zweiten Job, der normalerweise um 16:00 Uhr begann und ca. fünf Stunden dauerte.

Sie sagte, dass sie seit zwei Wochen einen Pornofilm synchronisierte.

Sie lachte wie immer voller Freude und erzählte weiter, dass sie in diesem Film wenig zu reden brauchte und die meiste Zeit stöhnen musste. Als sie keine Reaktion von mir sah, wechselte sie das Thema und ließ mich wissen, was sie geplant hatte:

„Ich bringe dich zu deinem Hotel und gehe dann wieder zu meiner Arbeit. Ich muss leider dort noch ein bis zwei Stunden arbeiten. Dann bin ich mit meiner Aufgabe endgültig fertig und stehe dir die ganze Zeit zur Verfügung; ich meine Tag und Nacht. Nur heute muss ich dich ein paar Stunden allein lassen.“ Sie zog eine Packung Zigaretten aus ihrer Tasche, hielt sie vor mein Gesicht, und als ich wortlos den Kopf schüttelte, steckte sie sich eine in den Mund, zündete sie an und sagte weiter: „Ich komme spätestens um 19:00 Uhr zu dir und dann gehen wir gemeinsam essen.

Überlasse mir die Auswahl des Restaurants und der Bar sowie das Programm der anderen Tage. Ich habe alles perfekt organisiert.“

Ich fand es gut, dass sie mich einige Stunden allein lassen wollte. Damit bekam ich die Gelegenheit, meine Nerven etwas zu beruhigen und gleichzeitig noch einmal über meine spontane Entscheidung nachzudenken. Auch sie hatte nun die Chance, da sie jetzt wusste, wie ich aussah, ihre Meinung entsprechend zu revidieren und sich eventuell zurückzuziehen.

Sie hatte eine schöne Suite im Hilton Hotel, nicht weit von der Champs-Élysées entfernt, reserviert.

Als ich mein Zimmer betrat, stellte ich den Koffer ungeöffnet in eine Ecke und legte mich einfach auf das Bett. Ich erinnere mich daran, dass ich ziemlich verwirrt war. Mir war nicht ganz klar, was mich so unangenehm störte.

Hatte ich eine andere Person erwartet? War sie zu jung für mich?

War mir ihr penetranter Zigarettengestank unangenehm?

Eigentlich hatte ich keine Vorstellung, was für eine Frau ich gerne auf dem Flughafen getroffen hätte. Dennoch war ich ziemlich enttäuscht; sie war nicht mein Typ. Das Einzige, was stimmte, war ihre Stimme; sie war wie immer lebhaft, sexy und aufmunternd.

Verdrossen, ja peinlich berührt, lag ich auf dem Bett, wie gelähmt, und versuchte, meine Gedanken zu sortieren. Irgendetwas in mir versetzte mich in Unruhe. Ich erinnere mich, dass ich krampfhaft versuchte, den schrillen Protest meiner Seele verstummen zu lassen. Ich wollte keine Kritik in Bezug auf meine Tat hören. Ich mahnte mich, erst Ruhe zu bewahren und dann eine Entscheidung zu treffen.

Fast zwei Stunden lag ich wie versteinert auf dem Bett und versuchte, mit meinen Gedanken ins Reine zu kommen.

„Was machst du eigentlich hier?“ Diese Frage wiederholte sich andauernd in meinem Kopf. Und ich versuchte hartnäckig, darauf keine Antwort zu finden. Denn jede logische, vernünftige Antwort führte zu einer radikalen Entscheidung, nämlich sofort nach Rom zurückzufliegen. Aber das wäre Margaret gegenüber unfair und mein zweiter Fehler gewesen.

Wie sie versprochen hatte, kam sie gegen 19:00 Uhr ins Hotel. Ich wartete bereits in der Lobby. Es klingt vielleicht komisch, aber ich wollte nicht, dass sie mich auf meinem Zimmer überraschen konnte.

Als sie mich ansah, strahlte sie vor Glück, bewegte sich ganz locker mit einem breiten Lächeln im Gesicht und funkelnden Augen.

Ich bin davon ausgegangen, hatte sogar gehofft, dass sie sich etwas festlicher anziehen würde.

Etwas, was zu meinem seriösen Outfit passen könnte. Ich trug meinen dunkelblauen Anzug und eine darauf abgestimmte Krawatte dazu.

Aber sie erschien im gleichen Outfit: graues Kostüm, grauer Mantel mit vielen Falten, fleckig und eingehüllt in Tabakgeruch.

Ich kam mir vor wie ein alter Herr, der sich auf Dienstreise in Paris befand und seine Tochter zum Abendessen begleiten wollte.

Das Restaurant, das sie ausgewählt hatte, war eine Klasse für sich: groß, elegant und mit vielen gut gekleideten Gästen. Auch das Essen und der Wein waren ausgezeichnet. Margaret schien absolut zufrieden zu sein, jedenfalls machte sie einen glücklichen Eindruck.

Eigentlich fand ich sie, bei genauer Betrachtung, ganz hübsch; nicht besonders attraktiv, aber immerhin natürlich, aufrichtig und sympathisch, sehr sympathisch.

Am meisten möchte ich nach wie vor ihre verführerische Stimme hervorheben; sie klang wie eine bezaubernde Melodie.

Sie war auch eine interessante Gesprächspartnerin. Sie hörte aufmerksam zu und argumentierte dann logisch und überzeugend.

Nach dem Essen wollte sie nicht nur etwas über meinen beruflichen Werdegang erfahren, sondern sie zeigte auch großes Interesse an meinem Privatleben.

Zuerst wollte sie das Geschlecht und Alter meiner Kinder wissen und dann fragte sie ganz direkt nach meiner Ehe: „Wie lange bist du verheiratet und wie lange möchtest du deine Ehe noch aufrechterhalten?“

Als sie mich schweigend, eher zurückhaltend sah, begründete sie ihre Fragen damit, dass sie den Eindruck gewonnen hatte, dass ich mit meiner Ehe unzufrieden wäre und mir ein neues Leben aufbauen wollte.

Ihre Begründung gefiel mir nicht. Ja, ich war sogar wütend und enttäuscht. Allerdings nicht wegen ihrer Offenheit, sondern ich war wütend auf mich selbst.

Ich ärgerte mich, dass auf einmal mein Eheleben, mein Heiligtum, zur Diskussion gestellt wurde.

Es stimmte zwar, dass ich mit meinem Leben nicht sonderlich zufrieden war, aber ich suchte weder eine neue Lebensart noch hatte ich vor, den Zustand meiner Ehe infrage zu stellen.

Sie schaute mich die ganze Zeit über fragend an und ich hatte nicht die geringste Lust, ein bisschen, nicht einen Millimeter, von meinem Privatleben preiszugeben. Schon gar nicht wollte ich etwas über meine Frau erzählen. Das war das einzige Sperrgebiet in meinem Leben. Plötzlich stand ich auf und entschuldigte mich.

Ich suchte den Waschraum auf. Ich erinnere mich daran, dass ich fast zehn Minuten verdrossen in der Toilettenkabine saß und versuchte, endlich meine Gedanken zu ordnen.

Ich traf die Entscheidung, das Gespräch ausschließlich auf das übersetzte Manuskript zu beschränken, sobald ich an unseren Tisch zurückgekehrt war.

Als ich dort ankam, saß sie nicht mehr an ihrem Platz. Der Kellner teilte mir mit, dass sie sich in der Raucherlounge befand. Sie kam nach ein paar Minuten zurück.

Ich weiß nicht, was sie geraucht hatte, allerdings war der Gestank kaum auszuhalten. Vielleicht hatten sich, zusätzlich zu ihrem eigenen Zigarettenrauch, die unangenehmen Gerüche von verschiedenen Zigarren, Pfeifen oder anderen Tabakwaren aus der Raucherlounge in ihren Haaren und Kleidung festgesetzt.

„Das Rauchverbot in allen öffentlichen Gebäuden ist in der Tat eine Schande für die französische Gesellschaft“, beklagte sie sich verbittert. Sie fügte hinzu:

„Früher konnte man unbesorgt überall rauchen. Aber seit einigen Jahren muss man entweder ein öffentliches Gebäude verlassen oder sich, in einem renommierten Restaurant wie hier, in die Raucherlounge begeben.“

„Willst du nicht gerade wegen dieser Unannehmlichkeiten mit dem Rauchen aufhören?“