Flucht der Herzen - Crystal Caudill - E-Book
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Flucht der Herzen E-Book

Crystal Caudill

3,0

Beschreibung

Geheimdienstmitarbeiter Andrew Darlington hütet ein gefährliches Geheimnis, das niemals ans Licht kommen darf. Als er beauftragt wird, einen US-Marshall bei einem Fall zu unterstützen, hält er das lediglich für einen weiteren Karriereschritt. Doch dann wird der US-Marshall getötet und sein früheres Leben droht aufzufliegen ... Die verwitwete Lu hat nur ein Ziel: mit ihrem Sohn den Fängen der gefährlichen Familie Thorne zu entkommen. Das Angebot des Marshalls, als Informantin gegen die Thornes auszusagen, schien die perfekte Lösung zu sein. Unfreiwillig finden sich Andrew und Lu im selben Team wieder. Doch selbst wenn sie lernen, zusammenzuarbeiten, könnten die Geheimnisse, die sie verbergen, alle Hoffnungen und Träume zunichtemachen. Können sie ihrer Vergangenheit entfliehen – und der Familie, die ihre Mitglieder bei jeglichem Verdacht auf Verrat tötet?

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Seitenzahl: 532

Veröffentlichungsjahr: 2025

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CRYSTAL CAUDILL

Flucht der Herzen

Aus dem amerikanischen Englisch von Susanne Naumann

SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe,

die zur Stiftung Christliche Medien gehört,

einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung

christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

ISBN 978-3-7751-7654-5 (E-Book)

ISBN 978-3-7751-6249-4 (lieferbare Buchausgabe)

© der deutschen Ausgabe 2025 SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH

Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen

Internet: www.scm-haenssler.de · E-Mail: [email protected]

Originally published in English under the title: Counterfeit Hope

© 2023 by Crystal Caudill.

Originally published in the USA by Kregel Publications, a division of Kregel Inc., 2450 Oak Industrial Dr. NE, Grand Rapids, MI 49505. Translated and printed by permission. All rights reserved.

Lektorat: Cordula Orth

Übersetzung: Susanne Naumann

Cover design by Kregel Publications.

Titelbild: Nutzung mit freundlicher Genehmigung von Kregel Publications

Umschlaggestaltung: Stephan Schulze, Stuttgart

Satz und E-Book-Erstellung: Satz & Medien Wieser, Aachen

Gott: Möge alles zu deiner Ehre dienen.

Für Malaki:

Du bist mein Kind. Du bist mein Junge.

Du bist mein Stolz und du bist meine Freude.

Ganz gleich, was das Leben dir bringt –

Mögen die Liebe und Hoffnung Christi dein Leben erfüllen.

Ich liebe dich.

Denn wir sind gerettet auf Hoffnung hin. Die Hoffnung aber, die man sieht, ist nicht Hoffnung; denn wie kann man auf das hoffen, was man sieht?

Wenn wir aber auf das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir darauf in Geduld.

Röm 8,24-25

Inhalt

Über die Autorin

Über das Buch

Brief an die Leser

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Dank

Historische Anmerkungen

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Über die Autorin

CRYSTAL CAUDILL lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Cincinnati, Ohio. Wenn sie nicht gerade spannende historische Liebesromane schreibt, spielt sie gerne Brettspiele, trinkt heißen Tee oder liest andere großartige Bücher.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Über das Buch

Die Hoffnung auf eine Zukunft stirbt nie

Geheimdienstmitarbeiter Andrew Darlington versteckt ein gefährliches Geheimnis, das niemals ans Licht kommen darf. Als er beauftragt wird, einen US-Marshal bei einem Fall zu unterstützen, hält er das lediglich für einen weiteren Karriereschritt. Doch dann wird der US-Marshall getötet und sein früheres Leben droht aufzufliegen …

Die verwitwete Lu hat nur ein Ziel: mit ihrem Sohn den Fängen der gefährlichen Familie Thorne zu entkommen. Das Angebot des Marshals, als Informantin gegen die Thornes auszusagen, schien die perfekte Lösung zu sein. Unfreiwillig finden sich Andrew und Lu im selben Team wieder. Doch selbst wenn sie lernen zusammenzuarbeiten, könnten die Geheimnisse, die sie hüten, alle Hoffnungen und Träume zunichtemachen. Können sie ihrer Vergangenheit entfliehen – und der Familie, die ihre Mitglieder bei jeglichem Verdacht auf Verrat tötet?

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Brief an die Leser

Liebe Leserinnen und Leser,

die Heldin der Geschichte, die Sie gleich lesen werden, wurde von Gott erschaffen, doch die Welt hat sie gebrochen. Lu Thorne ist eine ehemalige Prostituierte und eine Diebin, eine Frau, die Missbrauch erfahren hat, und eine verwitwete Mutter, gefangen in einer kriminellen Familie, die sie und ihren Sohn nicht gehen lassen will. Sie werden ihr Leben kennenlernen und Sie werden die Kämpfe kennenlernen, die sie bestehen muss, darunter immer wieder von Neuem Missbrauchserfahrungen. Ich habe versucht, das Schwere mit einer gewissen Leichtigkeit zu beschreiben, doch wenn diese Dinge möglicherweise negative Gefühle oder Gedanken in Ihnen auslösen, ermutige ich Sie, die entsprechenden Abschnitte einfach zu überspringen – aber lesen Sie auf jeden Fall weiter. Es war Gott, der mich bewog, Lus Geschichte aufzuschreiben, und ich habe sehr, sehr viel darüber gebetet. Lu findet zuletzt Hoffnung und Erlösung, doch der Weg dorthin ist, wie für die meisten von uns, kein leichter. Zum Glück lässt Gott uns diesen Weg nicht allein gehen.

Ich würde gerne voraussetzen, dass meine Leser Jesus und die Hoffnung, die er schenkt, persönlich kennen, aber ich weiß, dass es nicht immer so ist. Wenn Sie mehr über Jesus und darüber, wie sehr er SIE – ja, SIE – liebt, erfahren möchten, dann lade ich Sie ein, die Webseite www.crystalcaudill.com/hope zu besuchen und/oder mir auf [email protected] eine E‑Mail zu schreiben. Liebesromane sind schön und gut, aber die wunderbarste Liebesgeschichte, die je erzählt wurde, ist die Geschichte von der Liebe Gottes zu Ihnen.

Mit innigen Gebeten und in schwesterlicher Liebe

Crystal Caudill

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Kapitel 1

Landkreis, Indiana

18. August 1884

Dies war das letzte Mal. Nach dem heutigen Tag würden sie und Oscar frei sein, geflohen von dem Diebeshaufen, der offiziell ihre Familie war. Bills Kneipenkumpane johlten und schrien, als Lu Thorne sich zu dem Betrunkenen hinüberbeugte und ihn auf die bärtige Wange küsste. Dabei hatte sie ihm den Geldbeutel schneller entwendet, als er den Kopf drehen konnte, um ihre Lippen zu erwischen. Stattdessen traf sein Mund nur ihre Haare. Nachdem sie ihm nun schon monatelang auf diese und ähnliche Weise die Taschen erleichterte, hätte er es besser wissen müssen, als sie auch nur auf Armeslänge an sich heranzulassen. Doch Bill ließ sich wieder und wieder von ihrem tief ausgeschnittenen Mieder, ihren nackten Armen oder ihren kurzen Röcken, die die Knöchel frei ließen, ablenken. Ihre Schönheit war schon immer ihre größte Waffe und zugleich ihr größter Fluch gewesen.

»Irgendwann werd’ ich einen Kuss von dir kriegen, Lu.«

Sie schob seine Geldbörse in eine versteckte Tasche in ihrem Kleid und trat einen Schritt zurück. »Aber nicht heute, Süßer.«

»Komm, lass mich’s noch mal versuchen! Das nächste Mal bin ich schneller!«

»Geht nicht. Ma Frances’ Regeln. Die anderen wollen auch ihre Chance haben.«

»Und wer belohnt mich jetzt für meine harte Arbeit?« Bills schob die Unterlippe vor und wollte ihr die Hände um die Taille legen.

Hatte er keine Gedanken für seine treue Ehefrau und die neun Kinder, die zu Hause auf ihn warteten und am Verhungern waren?

Sie schenkte ihm ein Lächeln, obwohl sie viel lieber seinen Stuhl umgekippt hätte. Der lebenslange Umgang mit Männern wie ihm hatte sie gelehrt, dass er auch diesmal nichts aus seiner Niederlage lernen würde. »Wie wär’s mit was zu trinken?«

»Na ja, besser als nichts« – sein Blick glitt über sie, von Kopf bis Fuß – »es sei denn, du hast mir Besseres zu bieten.«

Nicht mal, wenn er im Sterben läge. »Horace«, wandte sie sich an den Barmann, »schenk’ ihm einen Drink aus der Flasche ganz unten rechts ein.« Der Fusel sollte Bill Magenschmerzen machen, damit er sich trollte. »Geht aufs Haus«, meinte sie zu Bill.

Horace zog die bereits ausgestreckte Hand zurück. »Bei mir gibt’s keine freien Drinks.«

Nein, was war er mutig heute Abend! Dabei sollte er besser als alle anderen wissen, dass Widerstand gegen ein Mitglied der Thorne-Gang nur Ärger bedeutete. Ein Wort zu einem ihrer Schwäger und er würde diese Kühnheit für den Rest seines Lebens bereuen. Oder nein – angesichts der schlechten Laune, die Clint heute hatte, würde er nicht einmal die Nacht überleben.

»Ach ja?« Sie stützte einen Ellbogen auf die Theke und blickte ihn vernichtend an.

Horace' Kiefer mahlte, doch dann griff er nach der Flasche und knallte sie auf den Tisch.

»Danke.«

Er ignorierte sie und goss das Glas halb voll.

Wie gut sie diese Bitterkeit erzwungener Einwilligung verstand! Doch Horace musste sie nur selten erdulden, wohingegen sie ihr ganzes Leben unter der Fuchtel irgendeines Herrn gestanden hatte. Der heutige Abend war da keine Ausnahme.

Doch ab morgen ist es anders.

Lu unterdrückte ein Lächeln, während Bill trank. Die Mitgliedschaft in der Thorne-Gang war keine freie Entscheidung für sie gewesen, doch das hieß nicht, dass sie für immer dort bleiben musste. US-Marshal Walt Kinder hatte ihr eine Fluchtmöglichkeit aus den Fängen der Matriarchin gezeigt und sie würde ihre Chance nutzen. Walt würde sie und ihren fünfjährigen Sohn nach Newburgh schmuggeln. Dort würde sie ihn dann abhängen und für immer verschwinden. Es war ein Risiko, so ein doppeltes Spiel mit dem US-Marshal zu spielen, doch sie konnte nicht gegen die Thornes aussagen – das war ein sicheres Todesurteil. Eine Zukunft hätte sie nur in einer Stadt, in der sie keiner kannte, an einem Ort, an dem sie eines dieser neuen Geschöpfe werden konnte, über die Pastor Newcomb immer predigte, und wo sie Oscar endlich das bieten konnte, das sie selbst niemals hatte: ein ehrenhaftes Leben.

Sie konnte es kaum erwarten.

Sie tätschelte tröstend Bills Schulter und widmete sich dann den anderen Stammkunden des Saloons. Trotz der vielen Durchreisenden im Ort war die Ausbeute miserabel. Die beiden Münzgeldbeutel und die wenigen Einzelmünzen, die sie erbeutet hatte, würden nicht ausreichen, um Ma Frances zufriedenzustellen, ihre und Oscars Zukunft zu sichern und die Familien von Bill und der Witwe Zachary zu unterstützen. Bills Familie konnte auch ohne Lus Hilfe überleben, schließlich hatte sie das in den Jahren vor ihrer Ankunft auch geschafft. Bei der Witwe Zachary lag die Sache anders. Es war Lus Schuld, dass Mrs Zacharys Ehemann ums Leben gekommen war. Lu konnte nicht fortgehen, ohne der Frau und ihrer Tochter zu helfen, Landkreis zu verlassen und damit den ständigen Schikanen der Thornes zu entkommen. Allein konnte die Witwe des früheren Sheriffs diese Herausforderung nicht bewältigen, sie besaß nicht die Mittel dafür. Im Gegensatz zu ihr konnte Lu stehlen, was sie und Oscar zum Weglaufen brauchten. Eines Tages würde sie dieses Diebesleben nicht mehr nötig haben, doch im Moment musste sie damit zufrieden sein, dass sie und Oscar Landkreis verlassen konnten und Mrs Zachary die Möglichkeit bekam, dasselbe zu tun. Doch um den Zacharys und sich selbst helfen zu können, brauchte sie ein neues Opfer.

Sie ließ den Blick über die fleckigen Tischreihen wandern, an denen die Stammkunden in unterschiedlichen Stadien der Betrunkenheit saßen, und die Wahrheit, die sich ihr erbarmungslos aufdrängte, machte den letzten Rest Hoffnung auf einen ertragreichen Abend zunichte. Diese Männer hatten kaum noch Geld in den Taschen. So viel also dazu, dass sie sich heute zum letzten Mal erfolgreich als Taschendiebin betätigen würde.

Sie wollte gerade gehen, als die Tür aufschwang.

Zwei müde Reisende traten ein. Sie gingen zu zwei freien Stehplätzen am Ende der Bar. Lu musste blinzeln. Pastor Newcomb sprach zwar immer von Gottes Vorsehung, doch sie wusste genau, dass das nicht für Leute wie sie galt, zumal sie die Ursache dafür war, dass die Kirche in einer schrecklichen Feuersbrunst zu Schutt und Asche verbrannt war. War es möglich, dass Gott sie dennoch in seine Vorsehung einschloss? Sie schnaubte. Was für ein Unsinn zu denken, dass er ihr jemanden schickte, den sie bestehlen konnte! Es war schlicht und einfach Zufall, dass die beiden Männer ausgerechnet in diesem Moment den Saloon betraten.

Sie zupfte ihr Kleid zurecht, sodass es ihre Vorzüge bestmöglich zur Geltung brachte, und versuchte, die beiden Männer einzuschätzen. Der Kleinere – er hatte dunkles Haar, breite Koteletten und einen Schnurrbart – sah mürrisch und unfreundlich aus. Sein schäbiger Anzug – unter den vielen Flicken war der ursprüngliche Stoff kaum noch zu erkennen – ließ vermuten, dass er ein Habenichts war. Das wenige, das er besaß, hatte er höchstwahrscheinlich in seinen Socken versteckt.

Er stellte eine lederne Arzttasche auf den Boden und wandte sich an Horace. »Kaffee.«

Wusste er nicht, wo er war? Der arme Doktor hatte keine Zukunft in dieser Stadt und würde sich wohl kaum von ihr bezirzen lassen.

Obwohl über und über mit Staub bedeckt, war der Größere der beiden – ein Dandy-Typ – vielversprechender. Ganz offensichtlich lag ihm etwas an der Meinung anderer. Sein dunkelblondes Haar war trotz der Unmengen an Pomade stark gelockt, was ihm ein jungenhaftes Aussehen verlieh, dem auch der breite Backenbart nichts anhaben konnte. Sein maßgeschneiderter Anzug aus kariertem Stoff, die lange silberne Uhrkette und die schwarze Seidenweste zeugten von einem Wohlstand, den man hier nicht kannte. Als er sich jetzt an die Wand lehnte, die Knöchel kreuzte und dabei lässig die Arme verschränkte, konnte sie den Umriss einer dicken Brieftasche erkennen, der sich in einer Tasche seines Überrocks abzeichnete. Das, was er da bei sich trug, würde ausreichen, um ihr und Oscar ein neues Leben zu ermöglichen. Reichtum allein machte zwar noch kein gutes Opfer aus, aber an der Art, wie er die Serviermädchen musterte, sah man, dass er ein Schwerenöter auf Beutejagd war. Als die Augen des Schönlings, wie sie ihn in Gedanken nannte, auf sie fielen, konnte sie an dem Aufleuchten seiner Augen und dem breiten Grinsen erkennen, dass ihm gefiel, was er sah. Er hatte sein Opfer gefunden – und sie ihres.

Langsam, wie beiläufig, schlenderte sie zu ihm hinüber, eine Hand in die Hüfte gestemmt, mit zurückgenommenen Schultern. Wenn er eine Show wollte, bitte schön, dieses Spielchen beherrschte sie. Sein Blick wanderte zu ihrem tief ausgeschnittenen Mieder und glitt wieder hoch zu ihrem Gesicht. Dabei kroch eine tiefe Röte seinen Hals hinauf. Sein Adamsapfel hüpfte auf und ab. Er war tatsächlich noch unbedarfter, als sie gedacht hatte! Ließ sich viel zu leicht ablenken. Schade, sie hätte eine letzte Herausforderung für ihre Fähigkeiten zu schätzen gewusst.

»Neu hier?« Sie verstärkte das Timbre in ihrer Stimme und bedachte die beiden Männer mit einem anzüglichen Lächeln.

Der Doc wandte den Blick ab, doch der Schönling antwortete: »Gerade vom Pferd runter. Wir suchen eine Unterkunft.«

»Tut mir leid, Süßer. Hab’ gehört, dass das Hotel voll ist, aber ich könnte Horace überreden, euch ein Zimmer im Obergeschoss zu geben« – sie beugte sich vor – »natürlich nur, wenn der Preis stimmt.«

Das war für gewöhnlich der Moment, in dem das Gesicht ihres Opfers aufleuchtete und der Betreffende sich die Freiheit nahm, sie zu berühren, doch der Schönling blieb reglos stehen und sah sie einfach nur an. Lag sie falsch? Suchte er womöglich gar nicht diese Form der Unterhaltung?

»Wir bleiben nicht hier.«

Der Einwand kam von hinten, deshalb drehte sie sich um, sodass der Doc in den Genuss der vorteilhaften Aussicht kam. »Wir sind nicht interessiert. Haun Sie ab und suchen sich jemand anders, dem Sie Ihre Reize andienen können.«

Heißer Zorn stieg in ihr auf. Sie wäre glücklich gewesen, ihre Reize nie mehr andienen zu müssen, aber ihr Sohn hatte eine bessere Zukunft verdient.

»Achten Sie nicht auf ihn«, mischte der Schönling sich ein. »Wir suchen nach einer Bleibe für länger.«

Sie drehte dem Doc wieder den Rücken zu, wobei sie ihn absichtlich mit ihrer Tournüre streifte, und fuhr mit dem Finger von oben nach unten über die Weste des Schönlings. Sie musste ihn nur dazu bringen, dass er sich lange genug berühren ließ, um seine Brieftasche zu klauen. »Ma Frances hat noch Zimmer frei. Ich könnte Sie ihr vorstellen.«

Ein leicht spöttisches Lächeln trat auf sein Gesicht. »Und wie soll das gehen, wo wir beide einander doch noch gar nicht vorgestellt wurden?«

Sie machte Fortschritte. »Meine Freunde sagen Lu zu mir.«

»Und Ihre Feinde?«

Lu ignorierte den Kommentar des Docs und presste sich gegen den Schönling, bis der wahrscheinlich nicht mehr zwischen dem Druck ihres Körpers und dem der Theke unterscheiden konnte, an die er sich lehnte und die dafür sorgte, dass sein Überrock leicht geöffnet war. »Und wie nennen Ihre Freunde Sie, außer ›Schönling‹?«

Sein Adamsapfel hüpfte erneut, er schien wie paralysiert angesichts ihrer unverhohlenen Avancen. Der arme Mann war so leicht zu manipulieren! Sie strich erneut über seine Brust, diesmal mit der ganzen Hand. Dabei glitt ihre andere Hand in seine Manteltasche. Ihre Finger streiften bereits das weiche Leder, doch in diesem Moment beschloss dieser Schwachkopf, sich wie ein Ministrant zu verhalten: Er stieß sie fort. Sie stolperte zurück und ließ dabei die Brieftasche in ihrer größten Rocktasche verschwinden.

»Das reicht.« Er war tiefrot geworden vor Scham. »Ich bin nicht so einer.«

»Mein Fehler. Ich lasse Sie ja schon in Ruhe.« Sie hatte, was sie brauchte.

Doch der Doc trat ihr in den Weg. »Aber vorher geben Sie mir noch Joes Brieftasche zurück.«

»Wie bitte?« Er hatte bestimmt nur geraten. Sie war noch nie beim Stehlen erwischt worden.

Der Schönling – Joe – klopfte seine Taschen ab und sah sich gleich darauf panisch nach dem fehlenden Gegenstand um. »Sie ist nicht da.«

»Natürlich nicht.« Der Doc stellte sich breitbeinig hin und schob das Kinn vor wie ein Bulle im Angriff. »Sie haben drei Sekunden, dann übergeben wir Sie dem Sheriff.«

»Ist das alles? Ich bitte darum, Doc.« Sie hob die Handgelenke, als trüge der Mann Handschellen bei sich, und lächelte. »Aber Sie müssen mich schon selbst festnehmen.«

Er wirkte überrascht, dann sah man, wie er überlegte.

Was er auch beschloss, ihr war es egal. Seit ihr Schwager Clint Sheriff Zachary erschossen und seinen Posten übernommen hatte, waren die einzigen Verbrechen, die in dieser Stadt zu einer Festnahme und Bestrafung führten, Vergehen gegen die Thornes. Die Polizei von Stendal hatte viel zu viel Angst, um tätig zu werden. Wenn der Doc den Sheriff rief, sperrte Clint sie vielleicht ein Weilchen ein, weil er auf diese Weise besser sein eigenes Begrabschspielchen mit ihr treiben konnte. Sie würde es über sich ergehen lassen, weil es das letzte Mal war.

Doch jetzt sagte der Doc: »Ich schlage Ihnen einen Deal vor. Die Brieftasche meines Freundes gegen Ihre gestohlenen Sachen.« Damit zog er nicht eine, sondern beide schmutzigen Börsen heraus, die sie zuvor den anderen Männern abgenommen hatte.

Unmöglich. Sie hatte nichts gespürt, nicht einmal ein Anheben ihrer Röcke. Es musste ein Trick sein. Keiner klaute ihr etwas aus ihren Rocktaschen! Er musste die beiden Börsen bei sich gehabt haben. Sie hatte sich die, die die gestohlen hatte, nicht wirklich angeschaut. Sie klopfte diskret die Stellen ab, in denen sie die Börsen verstaut hatte, doch der weiche Kleiderstoff bot keinerlei Widerstand.

Sie straffte sich. Er hatte tatsächlich ihre geklauten Börsen. »Wie?«

»Das Wichtigste ist Ablenkung. Davon haben Sie für uns beide genug geliefert.« Er kräuselte arrogant die Lippen.

Doktor, soso. »Hochstapler« war noch eine zu höfliche Bezeichnung für ihn. Wenn die Thornes herausfanden, dass sie Konkurrenz in der Stadt hatten, würden sie ihn in Stücke reißen. Eigentlich müsste sie ihn warnen, aber allem Anschein nach war er ziemlich clever, er würde es schon selbst herausfinden. Sie würde nicht ihre Zukunft aufs Spiel setzen, indem sie heute einen Krieg begann.

Sie zog die Brieftasche aus ihrem Rock, hob sie hoch und streckte dabei ihre andere Hand aus. »Ich hoffe, euer beider Visagen nie mehr wiederzusehen.«

Der Doc reichte die Brieftasche weiter an seinen Freund. »Diese Hoffnung beruht durchaus auf Gegenseitigkeit.«

Sie schnaubte nur und marschierte energischen Schritts zur Tür hinaus. Sobald sie hinter ihr zuschwang, flitzte sie hinter eine Baumreihe. Triumph! Der Doc mochte im Vorteil gewesen sein, doch er wusste nicht, dass er es mit der »flinken Lu« zu tun hatte. Triumphierend zog sie einen dicken Packen Banknoten aus der Tasche. Jetzt, da sie die Reserve des Schönlings besaß, konnte sie Billys Geld seiner Frau geben, für die Witwe Zachary sorgen und Ma Francis’ Forderungen erfüllen und hatte trotzdem noch eine ansehnliche Summe für ihr neues Leben mit Oscar. Jetzt musste sie noch ein paar Dinge in Ordnung bringen, dann konnte sie nach Hause gehen.

Bald war es Morgen und morgen war sie frei.

Andrew Darlington starrte auf die geschlossene Saloontür. Er sah noch immer die wütenden blaugrauen Augen vor sich, eingerahmt von üppigem schwarzem Haar. Diese Frau war gefährlich und möglicherweise die beste Taschendiebin, die er je allein hatte arbeiten sehen. Sie hatte die Gabe der Schönheit, mit der Gott sie bedacht hatte, wie eine Waffe eingesetzt und Josiah bei lebendigem Leib das Fell über die Ohren gezogen. Hätte Andrew nicht über die gleichen Taschendiebfähigkeiten verfügt wie sie, hätte er ihr torkelndes Zurückstolpern als Versuch gesehen, sich zu fangen und nicht hinzufallen.

»Lu hat mein Geld gestohlen!« Josiah Isaacs warf seine große Brieftasche auf die Theke.

Andrew hob sie auf und öffnete sie. Keine einzige Banknote war mehr da. Wirklich genial. Es erforderte beträchtliches Geschick und sehr große Fingerfertigkeit, die Banknoten herauszuholen, ohne dass ein möglicher Beobachter es mitbekam. Er verbiss sich ein Lächeln. Die Fähigkeiten eines Diebs, wie beeindruckend sie auch sein mochten, durften niemals seine Bewunderung erregen. Er war ein Mann des Gesetzes, wenn er auch momentan verdeckt ermittelte. Diebe, ganz gleich, welches Geschlecht sie hatten oder wie sie aussahen, verdienten das Gefängnis und es war seine Pflicht, sie genau dorthin zu bringen.

»Schätze mal, du musst zahlen, Doc.« Josiah ließ sich mit einem Grunzen auf einen Barhocker fallen. »Das war alles, was ich hatte.«

»Ich hab’ doch gesagt, du sollst dir einen Teil in die Socken stecken.«

Der Barmann schenkte ihnen zwei Tassen Kaffee ein und beäugte dabei die leere Brieftasche. »Sie hatten es offenbar mit unserem Willkommensteam zu tun. Lu mag Besucher ganz besonders gern.«

Josiah beugte sich vor. »Irgendeine Idee, wo ich sie finden und mir mein Geld wiederholen kann?«

Wenn er getan hätte, was Andrew ihm geraten hatte, bräuchte er sich jetzt keine Sorgen wegen einer Rüge ihres Vorgesetzten zu machen. Der Geheimdienst verlangte centgenaue Abrechnungen über ihre Ausgaben. Captain Abbott war ein fairer Mann, aber dass Josiah sich von einer Frau den Kopf hatte verdrehen lassen, würde gar nicht gut ankommen.

»Jeder in der Stadt weiß, wo Sie Lu und ihre miese Familie finden.« Der Barmann stellte die Kaffeekanne auf den Herd in der Ecke. »Am besten verlassen Sie so schnell wie möglich die Stadt und vergessen das Geld.«

»Das würd’ ich ja gern, aber wir sind hier wegen Eli und Walt Kinder. Wir müssen eine Weile bleiben.« Ein paar Monate, möglicherweise ein ganzes Jahr, wenn Andrew sich nicht irrte.

Schon normale Fälschungsdelikte nahmen mindestens so viel Zeit in Anspruch – und dies war kein normaler Fall. Die umliegenden Bezirke litten schon seit Monaten unter der Schreckensherrschaft einer Mörder- und Diebesbande und die lokalen Behörden waren zu feige, um etwas dagegen zu unternehmen.

Nach der Ankunft von US-Marshal Walt Kinder und seines Bruders Eli in der Gemeinde Landkreis hatte sich herausgestellt, dass die Gerüchte der Realität nicht im Mindesten gerecht wurden. Illegales Whiskybrennen, Bank- und Zugüberfälle und Tausende von Dollars an gefälschten Münzen gingen sämtlich auf das Konto eines einzigen Netzwerks von Kriminellen. Angesichts des Ausmaßes der Verbrechen hatten die US-Marshals den Geheimdienst um Hilfe gebeten – ein seltenes Zugeständnis angesichts der jahrzehntelangen Spannungen zwischen den beiden Behörden. Doch selbst unter diesen Voraussetzungen und obwohl Walts Informant bereit gewesen war, gegen seine Kumpane auszusagen, würde es noch lange dauern, bis alle, die damit zu tun hatten, aufgespürt und die nötigen Beweise zusammengetragen waren.

»Die Kinders sind gute Leute. Faire Preise und freundlich dazu. Ich bin Horace.«

Andrew streckte ihm die Hand hin. »Sie können Doc Andrew zu mir sagen.«

»Joe.«

Horace schüttelte ihre Hände, dann sah er zu den Stammgästen hinüber, bevor er sich zu ihnen vorbeugte. »Noch eine Warnung, nur zu Ihrem Besten: Bringt nicht die Thornes gegen euch auf. Das gilt auch für Lu.«

Andrew stockte der Atem. »Sagten Sie Thorne?«

»Ja. Die ganze Familie ist ein Haufen von Raufbolden. Sind letzten November hier aufgetaucht, haben das Stendal-Hotel ausgeraubt und den Sheriff umgebracht. Nachdem sie dann einen der Ihren begraben mussten, haben sie sich hier fest angesiedelt. Lu ist noch die Beste von ihnen. Sie klaut nur. Die anderen schneiden Ihnen die Kehle durch oder erschießen Sie, wenn Sie ihnen auch nur ein Haar krümmen.« Horace schüttelte den Kopf und presste die Lippen zusammen. »Mein Junge hat sich ihnen einmal widersetzt und wurde fast totgeprügelt, mit 'nem Schlagring aus Blei. Ist seither nicht mehr derselbe.«

Thorne war ein häufiger Name. Dass es sich um dieselben Thornes handelte, war nahezu unmöglich. »Haben Sie Anzeige erstattet?«

»Das wäre nicht ratsam. Der Sheriff ist Lus Schwager.«

Daher also Lus Reaktion auf seine Drohung vorhin. »Gut zu wissen. Wie auch immer, wir brauchen eine längerfristige Unterkunft. Was wissen Sie über diese Ma Frances?«

»Haben Sie mir denn nicht zugehört? Mit den Thornes wollen Sie nichts zu tun haben, glauben Sie mir. Besser, Sie wohnen in Stendal und fahren täglich hier raus.«

»Wie lauten die Namen der anderen Familienmitglieder?« Als Horace den ganzen Albtraum vor ihm enthüllte, hätte Andrew beinahe die Fassung verloren.

»Cyrus ist der Älteste. Er sieht Ihnen ähnlich, ist nur ein bisschen ekliger. Clint ist jetzt Sheriff, nachdem er seinen Vorgänger umgebracht hat. Er ist ein stämmiger Typ, so stark, dass er einen Ringkampf mit 'nem Bullen gewinnen würde. Priscill ist seine Frau, aber sie werden Sie nicht viel zu Gesicht kriegen. Lu kennen Sie bereits. Sie hat einen Sohn – Oscar heißt er, glaub’ ich. Frances Thorne sieht aus wie Ihre Lieblingsoma, aber glauben Sie das bloß nicht. Ach, und hüten Sie sich vor Geschäften mit Grossman. Er gehört zwar nicht zur Familie, ist aber vom selben Schlag.«

Irvine und Richard Thorne hatte er nicht erwähnt, aber ein Missverständnis war trotzdem ausgeschlossen. Es war tatsächlich dieselbe Familie. Seine Familie – oder jedenfalls seine ehemalige. Andrew griff nach seiner Tasse. Er durfte Horace nichts verraten. Und auch Josiah nicht. Nach den vielen Korruptionsfällen in den letzten Jahrzehnten hatte der Geheimdienst strikte Regeln für zukünftige Einstellungen erlassen. Mittelschichtangehörige mit tadellosem Ruf. Wenn Andrews kriminelle Vergangenheit auch nur ansatzweise ans Licht kam, würde man ihn hochkant hinauswerfen.

»Danke, das war sehr hilfreich. Hey, Doc« – Josiah nickte zu Horace hinüber – »bezahl den Mann, damit er wieder an die Arbeit gehen kann.«

Andrew fischte ein paar Münzen aus seiner Tasche und sprach dabei ein stummes Gebet. Von allen offenen Fällen, die sie hatten, von allen Kriminellen, mit denen sie es zu tun hatten, mussten es ausgerechnet diese sein!

Sobald Horace außer Hörweite war, lehnte Josiah sich zurück und faltete die Hände über dem Bauch. »Gut. Das war sehr informativ und bequem. Jedenfalls wissen wir, an wen wir uns wenden müssen, wenn’s um Klatsch und Tratsch geht. Was meinst du, wie lange brauchen wir, um mit den Thornes ins Gespräch zu kommen?«

Ewig, wenn’s nach ihm ging.

Auf der anderen Seite der Bar fluchte jemand. »Sie hat es wieder getan!«

»Hör auf, hier rumzubrüllen. Ich bin Clint begegnet, bevor ich reinkam. Er patrouilliert draußen. Du hättest dein Geld also sowieso verloren.«

Andrew starrte in die schwarze Brühe, die man ihm als Kaffee vorgesetzt hatte. Er hatte sich vor langer Zeit geschworen, das Land von Kriminellen, wie seine früheren Angehörigen es waren, zu befreien. Jetzt hatte Gott den Kreis geschlossen. Wenn er die Thornes verhaftete, würde er ein für alle Mal beweisen, dass er seine Vergangenheit hinter sich gelassen hatte und etwas sein konnte, was sie nie sein würden. Ehrbar. Achtbar. Ein Held.

Er durfte sich nicht in der Grauzone verschwiegener Informationen verstecken. Die einzige Möglichkeit, seinen Ruf und sein Ansehen als Geheimdienstagent zu retten, bestand darin, seinen Vorgesetzen seine Vergangenheit zu beichten. Er musste zulassen, dass sie alles, was er je gesagt oder getan hatte, auf den Prüfstein stellten. Es war ein Risiko, doch so Gott wollte, würden sie in ihm sehen, was seine außergewöhnlichen Adoptiveltern, die Darlingtons, in ihm gesehen hatten. Kriminelle konnten sich ändern.

»Hat es dir die Sprache verschlagen?«, fragte Josiah. »Oder hast du Angst, eine Vermutung anzustellen und dich zu irren?«

»Kümmer du dich um Walt und seinen Informanten.« Andrew stand auf. »Den Rest überlass mir.«

Mit Gottes Gnade würde dieser Fall nicht das Ende seiner Karriere bedeuten, sondern eine Chance, alles Unrecht seines früheren Lebens wiedergutzumachen.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Kapitel 2

Die Nacht war wolkenlos. Im hellen Mondlicht ging Lu zurück in die Stadt. Nicht, dass jemand sie wegen ihres spätabendlichen Gangs über Land befragen würde. Die meisten würden annehmen, dass sie hin und wieder für Molly arbeitete – eine Annahme, die völlig unbegründet, aber nicht überraschend war. Doch je weniger Fragen gestellt wurden, desto größer war die Chance, dass die Thornes ihr Geheimnis nicht erfuhren. Nach heute Nacht würde es allerdings ohnehin keine Rolle mehr spielen.

Morgen früh würde Bills Frau ihren im Hühnerstall versteckten Krug ein letztes Mal gefüllt finden, voller denn je. Und noch ein paar andere Familien würden von der Beute, die sie bei dem Schönling gemacht hatte, profitieren. Nur die Witwe Zachary ließ sich nicht helfen. Sie hatte sich wieder einmal geweigert, »Blutgeld« von der Frau zu nehmen, deren Familie ihren Mann ermordet hatte. Wieder einmal zog sich die immer gegenwärtige Schlinge der Schuld noch ein wenig enger um Lus Hals zusammen. Hätte sie nicht gelogen, um sich zu schützen und die Wahrheit über den Tod ihres Mannes Irvine zu verschleiern, könnte Sheriff Zachary noch am Leben sein und seine Frau und seine Tochter wären nicht zur Armut verdammt.

Oder, schlimmer noch, gezwungen, eines von Mollys Mädchen zu werden.

Lu schauderte.

Vielleicht sollte sie es sich noch einmal überlegen und doch gegen die Thornes aussagen. Wenn die Prozesse erfolgreich waren, wie Walt Kinder es ihr versprochen hatte, würden sie die Zacharys nie mehr quälen können. Dann könnte Lu ihr Schuldgefühl endlich überwinden und Luella Preston werden, eine Mutter, die ihrem Sohn Oscar ein sicheres Zuhause bot. Er würde in die Gesellschaft aufgenommen werden, würde Freundschaft mit den anderen Kindern schließen und eine gute Ausbildung erhalten. Sie würde sich nie mehr Sorgen machen müssen, was wohl aus ihm würde, wenn sie den Kampf um seine Unschuld verlor.

Doch nein. Wieder einmal brach die Wahrheit in ihre Träume ein und machte sie zunichte. Ein Prozess änderte überhaupt nichts. Die Zacharys wären immer noch arm. Und schlimmer noch, im Zusammenhang mit dem Prozess konnten Fragen nach Irvines Tod aufkommen und Lus Geheimnis auffliegen lassen. Dann würde kein Deal der Welt sie retten. Oscar würde im besten Fall in ein Waisenhaus gesteckt. Wahrscheinlich aber würde er bei irgendeinem Thorne enden, dem es gelingen würde, als freier Mann aus dem Prozess herauszukommen – wahrscheinlich Ma Frances, ausgefuchst wie sie war –, und er würde, wie es Lus größte Angst war, zu einem Kriminellen heranwachsen. Nein, sie konnte nicht als Zeugin aussagen. Es gab zu viel, was schiefgehen konnte. Wenn sie und Oscar erst einmal geflohen waren, konnte sie der Witwe Zachary Geld schicken. Dann konnte die Frau es nicht ablehnen.

Lu ging am Laden für Reiterbedarf und Futtermittel vorbei, über die brach liegenden Felder in Richtung des Hauses der Familie Thorne. Die einzige Möglichkeit, sowohl für die Zacharys als auch für Oscar zu sorgen, bestand darin, an ihrem ursprünglichen Plan festzuhalten – heute Nacht mit Walt Kinder zu fliehen, ihn dann jedoch abzuhängen, sobald sie und Oscar außerhalb von Ma Frances' Reichweite waren.

Im Haus drang ihr das süße Aroma verbotener gebackener Köstlichkeiten in die Nase und quälte ihre Zunge. Offenbar verwöhnte Ma Frances Oscar wieder einmal mit einem Dessert. Lu schmunzelte. Wenn sie ihre Wirkung auf Männer nicht verlieren wollte, musste sie eine schlanke Taille behalten, deshalb durfte sie nicht zu viel Süßes essen. Doch ab morgen konnte sie so hässlich wie ein Opossum sein. Ein winziger Bissen würde ihr allerdings schon jetzt nicht schaden. Sie ging durch das Wohnzimmer in die leere Küche.

Perfekt. Auf dem Tisch stand ein Holunderbeerkuchen, von dem bereits ein großes Stück fehlte. Sie schnitt sich ein Stückchen mit einer weichen Beerendolde und knusprigem Rand ab und rief dann die Treppe hinauf: »Oscar, ich bin wieder da.«

Keine tapsenden Schritte. Komisch. Er musste eingeschlafen sein. Dieser Junge konnte sogar während eines Tornados schlafen, wenn man ihn ließ. Wenn sie ihren Kuchen gegessen hatte, würde sie hinaufgehen und ihn in ihre gemeinsame neue Zukunft tragen. Sie rundete die Hand zu einer Schale, um etwaige Krümel und Sahnetropfen aufzufangen, und führte den Bissen zum Mund.

»Stopp!« Ma Frances kam von der hinteren Veranda in die Küche gerauscht. Ihre Miene war so düster wie ihre schwarze Trauerkleidung.

Lu hielt inne, den Bissen auf halbem Weg zum Mund. Konnte diese Frau einem nicht einmal ein winziges Häppchen erlauben? Schließlich würde sie dadurch ja keine hundert Pfund zunehmen.

»Was hast du Walt Kinder über unsere Unternehmungen erzählt?«

Lu ließ die Hand sinken. Sie spürte, wie ihr der Schweiß zwischen den Schulterblättern herablief. Ma Frances konnte nichts von ihren Plänen mit Walt wissen. Sie waren zu vorsichtig gewesen. Nicht einmal sein Bruder Eli, der als Schwätzer bekannt war, hatte etwas geahnt. Sie zwang sich zu einer Ruhe, die sie nicht empfand. »Ich habe gar nichts erzählt. Er war einfach eines meiner Opfer im Saloon.«

»Er ist ein Verräter. Sag mir alles, was du ihm je gesagt hast.« Ma Frances packte sie am Handgelenk und schüttelte sie. Der Kuchen – die Beeren und die Kruste – flogen durchs Zimmer.

»Dasselbe, was ich jedem Mann erzähle. Dass er gut aussieht und der Traum jedes Mädchens ist.«

Ma Frances ließ Lus Handgelenk mit einem verächtlichen Schnauben los. »Ich sollte eigentlich wissen, dass du nur eine Sache im Kopf hast. Einmal Hure, immer Hure.«

Lus Nackenhärchen richten sich auf. Ihr einstiges Gewerbe war ihr aufgezwungen worden, sie hatte es nicht freiwillig gewählt. Und sie würde ein solches Leben nie mehr führen, solange sie atmete. »Wie kommst du darauf, dass Walt ein Verräter ist? Dass die Bande ein paar Fehlschläge hatte, sagt doch noch gar nichts.«

»Er ist ein Gesetzeshüter. Clint hat den Beweis heute Morgen gefunden.«

Die Panik kämpfte mit der Logik. Ma Francis konnte sie nicht wirklich verdächtigen, sonst wäre Lu schon tot. »Das glaube ich nicht. Walt ist zu smart, um Polizist zu sein. Bist du sicher, dass Clint nicht nur eifersüchtig ist?« Alle wussten, wie sehr er hinter ihr her war. Diese Obsession warf ein zweifelhaftes Licht auf seine Behauptung, »Was für einen sogenannten Beweis hat er denn gefunden?«

Ma Frances nahm einen Stapel Papiere vom Tisch und hielt sie hoch. »Seiten über Seiten mit Notizen über unsere kleine Organisation. Er hatte sogar eine Quelle, die ihm Informationen lieferte und sich bereit erklärt hatte, gegen uns auszusagen.«

Lus Knie drohten zu versagen, sie griff nach der Stuhllehne, um sich festzuhalten. Ma Frances musste die Wahrheit kennen. Es konnte nicht anders sein, bei den vielen Informationen, die sie besaß. Sie trieb ein Katz- und Mausspiel mit ihr, bis sie den letzten, tödlichen Schlag ausführen würde. Lu saß in der Falle.

»Wenn ich rausfinde, wer uns verpfiffen hat, ist derjenige genauso tot wie Walt.«

Lu blinzelte. »Du weißt nicht, wer es ist?«

»Dieser verdammte Kerl hat die Identität des Informanten verschleiert.«

Ihr Kopf war plötzlich ganz leicht, ihre Kraft kehrte zurück. Sie war in Sicherheit. Heute Nacht konnten sie, Oscar und Walt –

»Moment. Walt ist tot?«

»Natürlich ist er tot – oder er wird es bald sein. Ich kann doch nicht zulassen, dass der Mann alles ruiniert.« Sie deutete mit ihrem Daumen über ihre Schulter hinter sich auf den. »Hab’ ihm Holunderbeerkuchen mit einer guten Dosis Laudanum gegeben, genug, um ihn auszuschalten, bis die Wirkung einsetzt. Ich will, dass dieser Mann für den Ärger, den er unserer Familie gemacht hat, leidet.«

»Du kannst ihn doch nicht umbringen!«

»Sagt wer? Dieser hochnäsige Pastor? Dem ist unsere Familie doch egal. Mir nicht. Als Irvine dich heiraten wollte, habe ich dich dieser Puffmutter abgekauft. Ich habe dich auf deinem schwangeren Hintern sitzen lassen, während wir anderen kämpften, um über die Runden zu kommen. Ich habe dich nicht an Molly verkauft, als Irvine starb. Du schuldest mir Loyalität, nicht irgendeinem Pastor.«

»Aber wenn Walt ein Ordnungshüter ist, werden dann nicht andere kommen und ihn suchen? Wir müssen aus der Stadt weg.« Wenigstens war nicht alle Hoffnung dahin. Sie und Oscar würden im allgemeinen Chaos verschwinden.

»Wir werden diese Stadt niemals mehr verlassen. Irvine ist hier begraben und ich verlasse ihn nicht. Cyrus und Clint werden Walts Tod wie einen Unfall aussehen lassen.« Ma Frances warf die Papiere ins Feuer. »Ich hab’ mich um die Beweise gekümmert. Du wirst dich um seinen Bruder kümmern.«

»Ich kann Eli nicht umbringen.«

»Jeder in dieser Familie hat seinen Job zu machen. Willst du sagen, dass du nicht zur Familie gehörst? Wenn ja – wir kommen auch ohne das Geld, das du klaust, zurecht.« Ma Frances griff in ihre Tasche, in der sie immer eine Deringer mit sich herumtrug.

Lus Hand verkrampfte sich so sehr, dass es wehtat. Es musste einen Weg geben, die Sache aufzuschieben oder zu verschwinden, bevor sie ihrer Liste unverzeihlicher Sünden eine weitere hinzufügte. »Heute Abend ist es zu spät für alles. Er wird Verdacht schöpfen und mich überwältigen.« Die Waffe, die ihre Schwiegermutter halb aus der Tasche gezogen hatte, schimmerte. »Aber wenn ich ihm morgen früh Kuchen bringe, wird er das als Flirtversuch auffassen.«

Ma Frances schwieg und schien nachzudenken, dann steckte sie die Waffe wieder ein. »Gut, aber du musst gehen, bevor der Laden öffnet. Später wird ihm dann übel werden und er wird inmitten einer ganzen Horde von Zeugen sterben. Keiner kann uns verdächtigen, wenn wir gar nicht da sind, wenn es passiert.«

Lu nickte, doch ihre Gedanken überschlugen sich. »Wo ist Oscar?«

Mit ein bisschen Glück konnten sie aus dem Dachbodenfenster klettern, wenn alle schliefen, und Walts Pferd nehmen. Er brauchte es ja nicht mehr.

»Beim Campen mit Priscill. Ich wollte nicht, dass er hinter meinem Rücken von dem vergifteten Kuchen nascht.«

Perfekt. »Soll ich zu Priscill gehen und sie von ihm befreien?«

»Unsinn. Du hast einen Job zu erledigen. Wenn du versagst, verkaufe ich dich an Molly oder lass dich neben Irvine beerdigen. Hast du verstanden?«

»Ja, Ma’am.«

»Gut. Jetzt gib mir, was du heute Abend verdient hast, und geh nach oben. Ich will nicht, dass Clint kommt und von dir abgelenkt wird.«

Lu ließ die kleinste Börse in Ma Frances' ausgestreckte Hand fallen und trottete nach oben. Wie hatte nur alles so aus dem Ruder laufen können? Hätte Gott sie denn nicht retten müssen? Mary Newcomb sagte, dass er das wollte, und Lu hätte beinahe geglaubt, dass er es tatsächlich vorhatte, als Walt ihr einen Deal anbot. Aber jetzt?

Oben an der Treppe blieb sie stehen und blickte durch das Dachfenster in den endlosen, sternenübersäten Himmel. Was war sie doch für eine Närrin gewesen! Wenn sie an jeden dieser Sterne eine Sünde hängte, würden ihr die Sterne ausgehen, nicht die Sünden. Gott wollte nicht, dass sie zu seinen Heiligen zählte. Ihre Sünden waren zu viele und zu groß. Und morgen wäre sie gezwungen, noch eine in den Himmel zu hängen. Sie krauste die Nase und spürte das Stückchen vergifteten Kuchen, das daran klebte.

Kuchen. Das war die Antwort auf ihr Dilemma.

Walt Kinders Fuß mochte sich im Steigbügel verklemmt haben und sein Körper mitgeschleift worden sein, doch er war nicht an einem Sturz vom Pferd gestorben. Andrew zog Elis Patchworkdecke über Walts übel zugerichtetes Gesicht, doch das half nur wenig gegen den Gestank von Erbrochenem und Kot, der ihn umgab. Angesichts des dunkelviolett verfärbten Mageninhalts, der an seiner Kleidung klebte, und des Fehlens tödlicher Verletzungen vermutete Andrew einen Giftmord. Niemand hatte einen solchen Tod verdient und ganz bestimmt nicht ein Mann, der einer Stadt, die in der Hand von Schurken war, Gerechtigkeit bringen wollte. Mochte Walts Seele jetzt bei Gott ruhen.

Er ließ Walts Leiche unter dem Quilt auf Elis Wohnzimmersofa liegen und ging über den Flur in die Küche.

Josiah, der neben Eli am Tisch saß, blickte auf. »Hast du was gefunden?«

»Falls er etwas bei sich hatte, das den Informanten verraten hätte, ist es jetzt fort.« Zusammen mit dem Informanten. Ob er Walt hintergangen hatte, ebenfalls tot war oder sich versteckte, jedenfalls war er zu dem Treffen gestern Abend nicht erschienen. »Die Gang muss rausgefunden haben, dass Walt ein Marshal war. Es sieht so aus, als hätten sie ihn geschlagen, bevor sie ihn umbrachten.«

Elis schlug die Hände vors Gesicht, seine Stimme brach. »Was soll ich jetzt seiner Frau und den Kindern sagen?«

»Dass er sie geliebt hat.« Josiah schob ihm ein Glas Wasser hin, doch Eli ignorierte es. Er schluchzte weiter.

Andrew trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. Der Mann hatte jedes Recht zu trauern, aber sie hatten jetzt einfach keine Zeit für so etwas. Es bestand noch immer die Möglichkeit, dass der Informant am Leben und in Gefahr war, deshalb mussten sie so schnell wie möglich herausfinden, wer er war. »Hat Walt irgendwas gesagt, was angedeutet hätte, mit wem er zusammengearbeitet hat?«

Eli fuhr sich mit dem Ärmel unter der Nase entlang. Es dauerte einen Moment, bis er antworten konnte. »Nein. Ich hatte Glück, dass ich nicht wusste, dass er ein Marshal war. Er hat mir nie irgendetwas erzählt. Hat immer gesagt, drei könnten ein Geheimnis wahren, wenn zwei tot wären, und dass er mich nur ungern umbringen wolle.«

Kluger Mann. Leider besaßen sie deshalb nun nicht den kleinsten Hinweis, wo sie ansetzen konnten. Sie wussten lediglich, dass sie sich in den Südwesten wenden mussten. Eli hatte natürlich das Recht, seinen Bruder zu begraben, doch wenn er länger als nötig in Landkreis blieb, riskierte er sein Leben. »Wir kümmern uns um das Begräbnis, aber du musst die Stadt sofort verlassen.«

»Das kann ich nicht. Mit dem Sattelladen bestreite ich meinen Lebensunterhalt und ich bin zu alt, um irgendwo anders neu anzufangen.«

»Willst du lieber woanders neu anfangen oder hier ermordet werden?«

Josiah warf Andrew einen tadelnden Blick zu. »Hören Sie mal zu, Mr Kinder. Wenn wir die Thorne-Gang ausheben, werden Sie wieder sicher in Landkreis wohnen können. Warum besuchen Sie nicht Walts Familie und trösten sie ein bisschen? Wir bleiben solange hier und kümmern uns um den Laden.«

»Wir sind aber nicht hier, um uns um einen Laden zu kümmern, Joe.«

»Aber er wäre die perfekte Tarnung. Du bist ein reisender Quacksalber, der sein Wundermittel verkauft, und ich ein Kapitalanleger, der ein passendes Objekt sucht.« Er streckte die Arme aus. »Sieht aus, als hätte ich eins gefunden, sogar mit Unterkunft.«

Eli nickte. »Der Laden macht nicht viel Arbeit. Die meisten schauen nur herein, um ein Schwätzchen zu halten. Ich gebe euch die Hälfte des Gewinns, wenn ihr mir helft, die Stadt zu verlassen, und das Geschäft für mich führt, während ich fort bin.«

So, wie Josiah sich die Hände rieb, war die Sache beschlossen, ob es Andrew gefiel oder nicht. Nun gut. Eine Privatunterkunft war für ihre Zwecke tatsächlich günstiger. »Pack ein paar Sachen ein. In zehn Minuten brechen wir auf.«

Eli rannte beinahe hinaus, über den Flur in sein Schlafzimmer.

»Also, wie ist der Plan?« Joe lehnte sich zurück und streckte die Beine aus, als sei er hier zu Hause.

»Ich begleite Eli nach Evansville und setze ihn in einen Zug nach – wo auch immer Walts Familie wohnt. Du mischst dich unter die Leute in der Stadt und knüpfst Kontakte.«

Es klopfte an der Wohnungstür.

»Ich pass auf Eli auf.« Josiah ging zu ihrem Schützling ins Schlafzimmer.

Andrew stellte sich neben die Tür und machte sich auf eine Schießerei gefasst. »Wer ist da?«

»Das Beste, was dir im Leben passieren kann.« Die weibliche Stimme klang bekannt. »Mach schon auf, Süßer.«

Der singende Tonfall und der Kosename bestätigten ihm die Identität der Sprecherin. Lu Thorne. Ein hübscher Köder, damit er die Tür öffnete und einen Haufen Gangmitglieder einließ. Er lauschte angestrengt auf Geräusche auf den Stufen nach unten in den Laden. Nach irgendeinem Geräusch, das darauf hinwies, dass sie nicht allein vor der Tür stand. Nichts. »Ich bin noch nicht angezogen.«

»Umso besser. Ich hab’ Kuchen zum Frühstück mitgebracht und ein Angebot, das du nicht ablehnen kannst.«

Nach ihrem Auftreten gestern Abend zu schließen, konnte dieses Angebot nur ins Schlafzimmer führen. Oder – in Anbetracht der Tatsache, dass sie eine Thorne war – direkt ins Grab. Keine der beiden Aussichten war verlockend.

Da keine Antwort kam, fuhr sie fort: »Bitte, Eli. Ich habe dir eine Nachricht geschickt, dass wir uns sehen müssen. Es ist wichtig.«

Ein Treffen mit Eli? Andrew blickte sich nach der geschlossenen Schlafzimmertür um. Hielt Eli ihn und Josiah zum Narren? Besser, er nutzte die Gelegenheit und fand es heraus. Um an wertvolle Informationen zu gelangen, gab es nichts Besseres, als einen Kriminellen zu verblüffen.

Er öffnete die Tür und zog Lu herein.

Sie stolperte ihm entgegen in einem Wirbel aus Rot und Schwarz, wobei ihr Hauptinteresse der Rettung der Kuchenplatte galt, die sie in den Händen hielt. »Du bist aber ganz schön gierig heute Morgen.« Als sie sich gefangen hatte, blickte sie auf. Ihre Augen wurden groß, jegliche Andeutung eines Lächelns verschwand aus ihrem Gesicht. »Sie!« »Lu.«

Sie trat zurück und hielt den Kuchen wie einen Schild zwischen sie beide. »Was machen Sie denn hier?«

»Dasselbe würde ich Sie fragen, wenn es nicht so offensichtlich wäre.«

Ein zornglühender Blick traf ihn, kühlte jedoch sofort zu einem verführerischen, aufreizenden Lächeln ab, gefolgt von einer sinnlichen Bewegung ihrer nackten Schultern. Lu war eine sehr selbstsichere Frau, doch in ihm hatte sie ihren Meister gefunden. Andrew sah ihr in die blaugrauen Augen, statt dorthin zu sehen, wo sie es wollte.

»Es ist sehr unhöflich, eine Dame so schlecht zu behandeln.«

»Entschuldigen Sie vielmals, aber ich hatte Sie nicht für eine solche gehalten.«

Platsch. Der Kuchen landete in seinem Gesicht, die Glasplatte zersprang auf dem Boden in tausend Stücke. Die warme, klebrige Masse fiel in Klumpen auf seine Füße. Erst jetzt wurde ihm bewusst, was er da gesagt hatte, und sein Gewissen meldete sich. Er hatte ihre Reaktion verdient. Lus Schulter streifte die seine, während er sich die Beeren aus den Augen wischte und auf den Boden fallen ließ. Dann wischte er sich das Gesicht mit einem Taschentuch ab und ging ihr nach ins Wohnzimmer.

Lu starrte auf den Leichnam unter der Decke. »Ist das … Haben Sie …?« Sie drehte sich zu ihm um. Der Schreck, der sich auf ihrem Gesicht abzeichnete, verriet, dass sie in ihm die Katze und sich selbst als Kanarienvogel sah. »Haben Sie Eli umgebracht?«

»Nein.« Er hätte die Decke zurückschlagen können, um seine Aussage zu beweisen, aber er wollte nicht einmal sie diesem grauenvollen Anblick aussetzen. »Er hat die Stadt verlassen, nachdem wir seinen Bruder gefunden haben. Ermordet. Walt wurde hinter einem Pferd hergeschleift.«

Ein erleichterter Seufzer war zu hören.

»Eli sagte, dass die Thornes sich als Nächsten ihn vornehmen würden. Muss ich annehmen, dass Sie aus diesem Grund hier sind?«

Sie stemmte die Fäuste in die Hüften und legte heraufordernd den Kopf schief. »Ich sagte nur, dass ich mit Eli sprechen muss.«

»Und warum?«

»Das geht Sie nichts an. Warum sind Sie hier, wenn Eli fort ist?«

»Er hat uns sein Geschäft verkauft. Um Walts Begräbnis sollen wir uns ebenfalls kümmern.«

»Verkauft? Er kommt also nicht zurück?«

»Nein.«

Ein Grinsen, so breit wie der Mississippi, trat in ihr Gesicht. »Das tut mir aber leid. Ich hätte gern ein letztes Stück Kuchen mit ihm gegessen.«

Bei der Erwähnung von Kuchen schrillten in Andrews Kopf die Alarmglocken. Zwischen der Purpurfarbe von Walts Erbrochenem und den Purpurflecken auf Andrews Taschentuch schrie die Wendung »ein letztes Stück Kuchen« förmlich nach Gift, das die beiden Brüder sehr schnell wiedervereinigt hätte, wenn Lu hätte zu Ende führen können, wozu sie gekommen war. Gift, das sich wahrscheinlich bereits in Andrews Körper ausbreitete, während sie hier standen und plauderten.

»Eli ist fort und es wird Zeit, dass Sie auch gehen.« Er packte ihren Arm, bereit, sie hinauszuwerfen, falls es nötig sein sollte.

Sie rammte ihm die Ellbogenspitze in den Bauch. »Ich finde selbst raus, danke.« An der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Sie können dem Schönling sagen, dass ich mich schon darauf freue, ihn wiederzusehen.«

»Er hat seine Lektion gelernt. Sie werden ihm nicht noch einmal die Taschen ausräumen.«

»Zu schade, dass Sie nicht genauso schnell lernen.« Sie hielt für den Bruchteil einer Sekunde seine Brieftasche hoch und war gleich darauf verschwunden. Er hörte sie noch die Treppe hinunterlaufen.

Verdammtes Frauenzimmer! Zum Glück befanden sich nur wenige Banknoten in der Börse. Den Rest seines Geldes hatte er an einer anderen Stelle sicher verstaut. Andrew schloss die Tür und eilte zum Ausguss in der Küche. Als er damit fertig war, sein Gesicht zu schrubben, warteten Josiah und Eli bereits mit fertig gepackter Tasche.

»Ich schwöre, ich habe keine Nachricht bekommen.« Eli hob die Hände und schüttelte den Kopf.

»Entspannen Sie sich. Sie wollte Sie umbringen.«

Josiah massierte sich die Stirn. »Dein Mangel an Taktgefühl überrascht mich immer wieder.« Er ließ die Hand sinken. »Wahrscheinlich wird der Laden bewacht. Wir müssen Eli bis heute Abend hier verstecken und ihn dann hinausschmuggeln.«

»Einverstanden. Bis dahin kannst du dich um Walts Begräbnis kümmern. Ich bleibe bei Eli und suche Walts Notizen.«

Lu wusste vermutlich nicht, dass er ihr Schwager war, doch das hieß nicht, dass die anderen Thornes ihn nicht erkannten, wenn er sich in Landkreis blicken ließ. Andrew durfte nichts riskieren, indem er einfach weitermachte, ohne zuvor mit Captain Abbott in Evansville über seine Verwicklung in die Angelegenheit zu sprechen.

Die Thornes mussten vor Gericht gestellt werden. Seine Aufgabe war es, das zu bewerkstelligen.

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Kapitel 3

Wie viele Cremeschichten brauchte sie noch, um nicht mehr auszusehen wie ein Waschbär? Lu musterte sich im Spiegel, runzelte die Stirn und legte eine dritte dicke Schicht Creme auf die geschwollenen Tränensäcke unter ihren Augen. Ma Frances wäre gar nicht zufrieden mit ihrem Aussehen. Aber spielte das eine Rolle? Die Männer, die sie bestahl, sahen selten höher als bis zu ihrem Busen, und wenn, dann nur, um ihr einen Kuss aufzuzwingen. Solange Ma Frances nicht herausfand, dass Lu in Mary Newcombs Haus mitten in der Nacht einen unvergifteten Holunderbeerkuchen gebacken hatte und ihr Schlafmangel darauf zurückzuführen war, war alles in Ordnung.

Zumindest bis sie erfuhr, dass Eli nicht tot war.

Wenn der Feigling doch nur lange genug geblieben wäre, um seinen eigenen Tod vorzutäuschen! Jetzt konnte sie nicht mal so tun, als hätte sie ihn umgebracht, weil der Doc und der Schönling von Elis Flucht wussten. Sie würde wohl nicht umgebracht und auch nicht verkauft werden, aber sie würde leiden müssen, so viel stand fest.

Das weiche Leder der Brieftasche des Docs berührte Lus Haut, als sie den Deckel der Cremedose zuschraubte. Sie musste kichern. Die Frustration auf dem purpurfleckigen Gesicht des Docs, als er feststellte, dass sie ihn übertölpelt hatte! Das war die perfekte Rache dafür, wie er sie behandelt hatte. Mit diesem erheiternden Bild vor Augen und in dem Wissen, dass Eli in Sicherheit war, konnte Lu jede Strafe, die Ma Frances einfiel, ertragen.

Die Schlafzimmertür flog auf, Oscar stürmte herein. »MawMaw sagt, es ist Zeit zum Aufstehen.«

Sein Blick wanderte von dem leeren Bett zum Frisiertisch, an dem sie saß. Bei ihrem Anblick strahlte er auf. Auf seinen mageren Stelzenbeinen kam er zu ihr, das wirre dunkle Haar hing ihm über die großen Ohren, die von seinem breiten Gesicht abstanden. Oscar sah genau aus wie sein Vater, der einzige Thorne, in dem wenigstens eine Spur Gutes zu finden gewesen war.

Er kletterte auf ihren Schoß. »Ich will fischen gehen. Können wir? Bitte, bitte. Biiiitteee!«

Das Herz tat ihr weh. Wie gern hätte sie Ja gesagt, aber Ma Frances hatte ihr verboten, allein mit Oscar Ausflüge zu machen, als sie herausgefunden hatte, dass Lu offenbar Gefallen an Pastor Newcombs Predigten fand. »Nicht heute.«

Oscar zog einen Schmollmund und sie rieb ihre Nase an seiner, bis er kicherte.

»Wie war das Campen mit Tante Priscill?«

Er zuckte die Achseln. »Ich durfte nichts machen, was Spaß macht, und musste die ganze Zeit im Zelt bleiben. Sie sagte, draußen seien Ungeheuer, die uns holen würden, wenn ich rausgehe. Ich hatte keine Angst, aber ich musste bei ihr bleiben und sie beschützen.«

»Das war sehr mutig von dir.« Doch es gefiel ihr gar nicht, dass Priscill ihrem Sohn den Unsinn von Ungeheuern in den Kopf gesetzt hatte. Der arme kleine Kerl litt ohnehin schon an Albträumen.

»Ich war mutig.« Oscar schob die Brust vor. »Zur Belohnung will ich jetzt fischen gehen.«

Ihr Liebling! Möge Gott ihn beschützen! Belohnungen waren für ihn so wichtig wie die Luft zum Atmen. Wenn sie sie ihm vorenthielt, bekam er einen Wutanfall. Nur eine einzige Ablenkung funktionierte immer. »Wie wäre es, wenn wir stattdessen zur Scheune gehen und nach Tabby schauen?«

»Juchhu!« Er hüpfte auf und ab. »Ich bekomme einen Welpen!«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Ich werde ihn Jack nennen, wie in der Geschichte.«

Es hatte keinen Sinn, mit ihm zu streiten. In seinen Augen gehörten die Welpen, die bald zur Welt kommen würden, bereits ihm. »Gib Mommy noch eine Minute, dann fragen wir MawMaw, ob wir gehen können.«

Oscar führte einen kleine Begeisterungstanz auf. »Juchhu!«

Seine Ausgelassenheit bestärkte sie in ihrer Entschlossenheit. Sie würden fliehen. Sie musste nur dafür sorgen, dass Ma Frances zufrieden war, bis sie einen neuen Plan hatte, und das bedeutete, sich ihr wie ein neugeborenes Lämmchen zu präsentieren und nicht wie ein angemalter Waschbär.

Sie betrachtete sich prüfend im Spiegel. Die Zeit war freundlich zu ihr gewesen, doch ein junger Hüpfer war sie mit fünfunddreißig nicht mehr. Ein Hauch Gesichtspuder linderte die Falten und etwas roter Lippenstift und blauer Lidschatten täuschte ebenfalls über die Alterszeichen hinweg. Zur Vervollständigung der Fassade befestigte sie einen falschen Pony in ihren Haaren und bauschte ihn auf. Sie mochte kein Lämmchen sein, aber wenigstens war sie auch kein Waschbär mehr. In ihrem schlichten Rock und der hochgeschlossenen Bluse würde sie Ma Frances jetzt wie ein wohlerzogenes Kind um Ausgang bitten.

Oscar hüpfte neben ihr her und plauderte wie ein Wasserfall. »Jack hier« und »Jack da«, bis sie unten in der Küche waren.

Er lief zu Ma Frances, die gerade einen Teig knetete. »Wir gehen zu Tabby. Kommst du mit?«

Ma Frances hielt inne und sah sie stirnrunzelnd an. »Was wollt ihr?« Ihr drohender Ton konnte einem Bären Angst einjagen. Die Frau herrschte über ihre Familie wie eine Gefängnisaufseherin. Alles, was sie als Verstoß gegen ihre Anordnungen auslegte, verlangte nach einer schnellen, grausamen Strafe.

Lu faltete die Hände und senkte das Kinn auf die Brust. »Ich hab’ ihm gesagt, dass wir dich erst fragen müssen.«

Zufrieden mit Lus Unterwürfigkeit verzog Ma Frances’ die Lippen, dann sagte sie zu Oscar: »Natürlich gehen wir. Wir haben sowieso dort zu tun.«

Nicht, dass Lu Gefallen daran gefunden hätte, Münzen zu fälschen, aber wenigstens ging es dabei nicht um Männer und sie konnte Oscar in ihrer Nähe haben. Ma Frances knetete ihren Teig zu Ende, legte ihn in eine Schüssel und deckte ein Handtuch darüber.

Sobald sie Oscar mit einem Nicken die Erlaubnis gegeben hatte, zog er Lu zur Tür. Seine Großmutter stapfte hinter ihnen her. »Los, kommt! Jack wartet auf mich!«

Seine Eile zu zügeln war leichter, als sein Plaudern zu unterbinden. Während sie an dem reifenden Maisfeld entlanggingen, hielt Oscar große Reden über seine künftigen Abenteuer mit seinem neuen Welpen – trotz Ma Frances’ ständigen Einwänden, dass der Köter in der heruntergekommenen Scheune leben müsste. Laut Oscar würden er und Jack Geldstücke eingraben, um Riesen anzulocken, und dann ihre Schätze stehlen. Am Ende des Feldes riss er sich von Lus Hand los und lief voran zum Seiteneingang der alten Scheune.

Obwohl er die Anweisung des geheimen Klopfzeichens bisher immer befolgt hatte, fing Lu an zu zittern. Was, wenn Clint oder Cyrus ihn nicht klopfen hörten und mit einer Waffe auf den unerwarteten Eindringling zielten und womöglich abdrückten? Sie rannte ebenfalls los und konnte Oscar noch überholen. Als die Tür aufging, blickte Cyrus hoch – die Hände auf den Ziegeln, die er gerade übereinanderfügte, nicht am Gewehr. Heuballenstapel gaben Deckung in dem offenen Raum, aber es gab kein Anzeichen für eine tödliche Bedrohung.

Oscar schlüpfte eilig an ihr vorbei, zu begierig, zu seiner trächtigen Hündin zu gelangen, um an Schüsse zu denken. Tabby begrüßte ihn mit eifrigem Schwanzwedeln. Als er sich hinwarf, um auf Augenhöhe mit ihrem gewölbten Leib zu sein, schlabberte sie ihn mit feuchter Zunge ab.

»Beeil dich, Jack! Ich will mit dir spielen!«

Oh, ihr süßer Junge! Eines Tages würde er eine normale Kindheit haben, mit Welpen und Freunden. Keine unausgesprochenen Drohungen würden seine unschuldigen Spiele mehr gefährden. Sie beobachtete ihn ein Weilchen, dann schob sie den Traum beiseite.

Mit einem Seufzen ging sie zu Cyrus auf der anderen Seite der Scheune. »Soll ich die stapeln?«

Er zog die Brauen hoch. »Hast wohl etwas gutzumachen?«

»Ich will einfach meinen Beitrag leisten. Oder soll ich wieder mit den Gussformen arbeiten?«

Ihr Versuch in der letzten Woche, dabei zu helfen, eine neue Charge Münzen zu prägen, hatte in einer Katastrophe geendet. Statt Münzen zu produzieren, hatte sie vier Münzformen, darunter ihre beste, zerbrochen. Zu ihrer Verteidigung konnte sie lediglich sagen, dass sie es nicht mit Absicht getan hatte. Es war zwar Absicht gewesen, dass sie die eine Grossman über den Schädel gehauen hatte, als er sie begrabschen wollte, doch dass er daraufhin auf den Tisch sackte und dabei die anderen zerbrach, hatte sie nicht vorhersehen können.

Cyrus ließ den Ziegel, den er in der Hand hielt, auf einen Haufen fallen, stand auf und klopfte sich den Ruß von der Hose. »Mach die Wand zwei tief und sechs hoch, dann füll die Zwischenräume mit Lehm. Den Raum für den Ofen habe ich schon ausgespart.«

Lu nahm seinen Platz ein und machte sich an die Arbeit.

Ma Frances umrundete den Aufbau und runzelte die Stirn. »Warum baut ihr einen neuen Schmelzofen?«

»Diese dämliche Töle hat sich den anderen als Geburtsstätte ausgesucht. Man kann sich dem verdammten Viech nicht nähern, ohne dass sie knurrt und nach einem schnappt.«

»Du könntest den Köter erschießen.«

Er zog eine Braue hoch. »Und Oscar traurig machen?«

Sie wechselte das Thema, als wollte sie nicht zugeben, dass ihre Abscheu gegen den Hund größer war als ihr Wunsch, Oscar glücklich zu sehen. »Habt ihr Walt zum Reden gebracht?«

Lu fiel der Ziegel aus der Hand und hätte sich bei dem Versuch, ihn noch zu fangen, beinahe verletzt.

Cyrus schnaubte. »Der hat bis zuletzt nur gekotzt und gestöhnt.«

»Beruf ein Treffen mit den Jungs ein und sieh zu, ob du ein paar Informationen aus ihnen rauskriegen kannst.« Ma Frances stieß die Ferse ihres Stiefels auf einen Klumpen Erde und zermahlte ihn zu feinem Staub. »Ich will wissen, wer es wagt, mir die Stirn zu bieten.«

Lu schluckte und legte einen weiteren Ziegel auf das höher werdende Mauerrund. Eigentlich konnte keiner aus der Gruppe um Cyrus wissen, dass sie damit zu tun hatte, doch in dieser kleinen Stadt wusste man nie. Die Gerüchte kursierten wie Bargeld – die meisten waren falsch, aber gemixt mit genügend Wahrheit, um die zu täuschen, die nicht klug genug waren, weiter nachzuforschen. Eine winzige Andeutung und Ma Frances würde unbarmherzig Rache üben.

»Apropos Verräter, Lu …« Ma Frances drehte sich zu ihr um.

Lu sog scharf die Luft ein und betete, dass ihr Gesicht nichts verriet.

»Ist die Sache mit Eli erledigt?«

»Er ist weg.«

Cyrus, schon immer der cleverste der Brüder, sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Weg – aber nicht tot?«

Ma Frances brauchte keine weitere Bestätigung und hob die Hand zu einer schallenden Ohrfeige. »Du dämliches Miststück!«

Lu verkroch sich hinter den halbfertigen Schmelzofen und schützte ihren Kopf mit den Armen. »Es ist doch nicht meine Schuld, dass er Walts Leiche gefunden hat und abgehauen ist, bevor ich ihn erwischen konnte.«

»Ich wusste schon immer, dass der Mann ein Feigling ist.« Cyrus spuckte aus. Der Schleim traf sie am Arm und an der Wange. »Ärger dich nicht, Ma. Er geht bestimmt nicht zur Polizei. Er weiß, dass wir ihn dann zur Strecke bringen würden.«

Ma Frances gab Lu einen Tritt in den Hintern. »Das sollte er tatsächlich bleiben lassen, sonst kriegst du die Strafe ab, die für Eli gedacht war.«

Damit drehte sie sich um und ging zu dem langen Brett auf zwei Sägeböcken, zehn Meter entfernt. Lu richtete sich auf.

Ma inspizierte die letzte Charge Münzen auf dem behelfsmäßigen Tisch. »Wie sind deine Pläne für den Zugüberfall, jetzt, wo wir wissen, dass wir verraten worden sind?«

Cyrus trat neben sie und wischte die restlichen Münzen vom Tisch. »Wir sollten es lieber nicht riskieren.«

»Und woher sollen wir das Gold nehmen, um mehr herzustellen?« Ma Frances starrte auf den leeren Keramiktiegel. »Oscar hat bald Geburtstag und ich hab’ schon ein halbes Dutzend Geschenke im Montgomery-Ward-Katalog für ihn ausgesucht.«