Flucht in die Hoffnung - Tina Rothkamm - E-Book
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Tina Rothkamm

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Beschreibung

Als sich Tina Rothkamm in einen charmanten tunesischen Arzt verliebt, scheint das Glück perfekt. Bald ist Tochter Emira unterwegs - doch schon in der Hochzeitsnacht zeigt der Bräutigam sein wahres Gesicht. Jahre der Angst beginnen, in denen Tina Rothkamm für eine freies Leben mit der kleinen Emira kämpft. Erst als der Arabische Frühling das Land aufwühlt, bietet sich ihr eine letzte Chance: die Flucht in einem Fischerboot übers offene Meer.

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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Pendo Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2012

ISBN 978-3-492-95544-7

© Pendo Verlag in der Piper Verlag GmbH, München 2012 Umschlaggestaltung: Mediabureau Di Stefano, Berlin Umschlagfoto: Jill Flug/Fotoatelier Süd Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

PROLOG

Wir sitzen in einem Boot.

Wie oft schon hatte ich diese Redewendung gehört und auch selbst so dahingesagt – und keine Ahnung gehabt, was das bedeuten konnte: in einem Boot zu sitzen.

Dieses Boot, in dem ich mehr kauerte als saß, kam mir vor wie eine Nussschale, so schutzlos fühlte ich mich angesichts seines Zustands. Es handelte sich um einen ausrangierten Fischkutter, der in seinen besten Tagen dicht an der tunesischen Küste geschippert war. Ob er überhaupt noch seetauglich war? Die Bordwände waren nicht einmal mannshoch, eine schützende Reling gab es nicht. Bis nach Italien sollte er uns bringen – uns, das waren rund einhundertzwanzig verzweifelte Tunesier, die vor den Unruhen und der Arbeitslosigkeit flohen, und mittendrin meine Tochter und ich.

Wie tief muss die Verzweiflung sein, dass ein Mensch sich irgendwelchen Schleppern anvertraut und eine Überfahrt nach Europa erkauft? Dass er all die Schicksale derer ignoriert, die auf einer ebensolchen Fahrt erstickt oder ertrunken sind? Dass er sich in ein Boot zwängt, das den Namen kaum verdient? Warum wagt es jemand, alles hinter sich zu lassen und sein Leben aufs Spiel zu setzen, um zu fliehen?

Weil die Alternative noch schrecklicher wäre. Weil Armut oder Gewalt einen zerstören können. Weil hinter allem diese innere Stimme nicht erloschen ist, die einem sagt, dass der Kampf um Freiheit und ein menschenwürdiges Dasein niemals aussichtslos ist. Dass es gut gehen kann, gut gehen wird …

Genau das sagte auch ich mir, seit ich an Bord geklettert war.

Dicht an dicht hockten wir, sodass kaum eine Zigarette dazwischengepasst hätte. Wenn einer auch nur das Bein bewegen, in eine andere Stellung wechseln wollte, hatte das Auswirkungen auf alle; wir waren miteinander verbunden in einer wabernden Welle. Ein eingeschlafener Fuß, ein eingeschlafener Arm, jedes Husten pflanzte sich fort und wurde ausbalanciert von allen.

Als das Boot schon längst überfüllt war, kam einer der Schlepper und pferchte uns noch enger zusammen. Mindestens zwanzig weitere Männer kletterten an Bord, alle ohne Gepäck. Was sie besaßen, trugen sie am Leib. Für manche war ihr Leib alles, was sie hatten. Ihr Leib und die Hoffnung, die wir teilten. Dass unsere Nussschale es schaffen möge. Dass wir nicht kenterten, dass kein Marineschiff uns rammte, dass wir aus dem Wasser gezogen wurden, wenn ein Sturm aufkäme. Dass wir von den unsäglichen Flüchtlingsdramen verschont bleiben würden, die man in den Medien nur bruchstückhaft mitbekam. Jeder von uns wusste, dass diese Überfahrt sein Leben kosten konnte. Für mich war es doppelt arg, denn ich hatte für zwei Menschen entschieden. Für mich und für meine Tochter Emira.

Aber dies war unsere einzige Aussicht auf ein gemeinsames Leben daheim in Deutschland. All meine Versuche, zusammen mit meiner Tochter auf legalem Weg auszureisen, waren in den vergangenen Jahren gescheitert.

Eines war klar: Ewig konnten wir uns nicht verstecken. Irgendwann in diesen Tagen, zwischen dem unbändigen Wunsch, meiner Tochter ein freies Leben ohne Gewalt zu ermöglichen, und der Angst, entdeckt zu werden mit allen Konsequenzen, gab es plötzlich nur noch den Weg nach vorn. Das Schlepperboot nach Lampedusa war unsere letzte Chance.

»Mama, wann sind wir da?«, fragte Emira mit einer Stimme, als sei sie ein Kleinkind und nicht das große achtjährige Mädchen.

»Bald«, behauptete ich, ohne es zu wissen. Ich bemühte mich, mir meine Angst nicht anmerken zu lassen. Emira sollte sich sicher fühlen an meiner Seite, endlich sicher. Dabei wusste ich nicht einmal, ob wir überhaupt ankommen würden.

»Dort«, ich wies Richtung Sonne, obwohl das wahrscheinlich falsch war, aber für mich war es in diesem Augenblick wahr. »Dort liegt Europa.«

»Und da, kuck mal, Mama …« Emira zeigte auf die Küste. »Das ist Djerba!«

»Ja, tatsächlich! Du hast recht.«

Emira winkte Richtung Land, winkte ihrem Vater, der keinesfalls freudig am Strand stand und zurückwinkte, sondern uns wahrscheinlich noch immer verbissen suchte. Wie viele Schergen hatte er diesmal auf uns angesetzt?

»Bislema, Baba!«, sandte Emira ihm einen Gruß. Auf Wiedersehen, Papa!

Ob sie ihn jemals wiedersehen würde? Ob sie ihn überhaupt wiedersehen wollte, nach allem, was geschehen war? Ich würde ihn ihr nicht wegnehmen, so wie er es umgekehrt versucht hatte.

»Bye-bye, Farid«, sagte ich mit tonloser Stimme, denn in mir war nichts als Leere. Da gab es kein Gefühl mehr für diesen Mann. Ich hatte ihn geliebt, wie ich nie zuvor geliebt hatte, und gehasst, wie ich es nicht für möglich gehalten hatte. Seine Machenschaften hatten mich dazu getrieben, den Wahnsinn dieser Überfahrt zu wagen. Es war das Schrecklichste, was er mir hatte antun können: mir meine Tochter zu nehmen.

Ich wusste, wie sich so etwas anfühlte. Mir waren bereits zwei Kinder entglitten. Um dieses würde ich kämpfen, diese Tochter würde mir niemand nehmen, das hatte ich mir geschworen. Niemand – und auch nicht das Meer.

Unser Boot kehrte Djerba den Rücken. Ich drehte mich nicht um. Ich wollte nichts mehr mit dem Ort zu tun haben, der einmal das Symbol für meine größte Sehnsucht gewesen war. Ich war neununddreißig Jahre alt und würde mich nie mehr blenden lassen wie vor elf Jahren, als ich glaubte, den Mann meines Lebens kennengelernt zu haben. Wie oft hatte ich mir gewünscht, ihm nie begegnet zu sein … und doch hatte ich ihm begegnen müssen, damit unsere Tochter geboren werden konnte.

Mein Traum war gescheitert. Jetzt ging es nur noch darum, Emira zu retten.

Ich drückte sie fest an mich.

»Bald sind wir da«, machte ich uns beiden Mut. Ein ganzer Tag und eine Nacht in der Nussschale lagen vor uns.

»Und dann kriege ich Würstchen mit Senf«, freute Emira sich.

»Ja«, versprach ich und wusste in diesem Moment ganz genau, wie Glück schmeckte: nach deutschen Würstchen mit Senf.

PAUSCHALREISE INS GLÜCK

Das neue Jahrtausend war erst wenige Wochen alt, da entdeckte ich bei einem Spaziergang am Rhein ein kleines Reisebüro mit einem großen Glücksversprechen: Sonne, Meer und Palmen – sieben Tage und Nächte für 149 Mark. Ich blieb stehen. Im Schaufenster sah ich mein Spiegelbild von mir. Übermüdet sah ich aus, erschöpft. Urlaubsreif, dachte ich und musste unwillkürlich lächeln.

Eine Pauschalreise hatte ich noch nie gebucht. Mit meinen Eltern war ich in einem VW-Bus in den Ferien durch Frankreich und Spanien gefahren. So sah Urlaub bei uns aus: improvisiert, abwechslungsreich und spontan. Wie sehnte ich mich zurück nach dieser Leichtigkeit. Doch die war unwiederbringlich verloren, seit meine Mutter so plötzlich gestorben war.

Ich atmete durch, um mich von den Schatten der Vergangenheit zu befreien. Sonne, Palmen, das weite Meer … wie verlockend das klang. In den vergangenen Wochen war ich sehr fleißig gewesen und hatte neben meiner Ausbildung zur Eurythmielehrerin noch eine Weiterbildung als Coach für Burn-out-gefährdete Manager absolviert. Ein paar Tage ausspannen würden mir guttun. Und warum nicht? Warum nicht mal was völlig Verrücktes wagen und eine Pauschalreise buchen!

Ich betrat das Reisebüro, das ausschließlich Schnäppchenreisen vertrieb, und als ich es verließ, hatte ich gebucht. Dreisternehotel, Halbpension. Über Tunesien wusste ich kaum etwas, doch es klang faszinierend: nach orientalischer Musik, köstlichem Essen, nach Wüste, rassigen Pferden und klassischem Bauchtanz. Den und seine Musik liebte ich schon lange. Bauchtanz schien mir eine perfekte Ergänzung zu den fließenden Bewegungen, die bei der Eurythmie zum Ausdruck gebracht werden. Eurythmie ist eine durchgeistigte Bewegungskunst, während der Bauchtanz ein Erdentanz ist, der seine Wurzeln in Afrika hat.

Dass ich Eurythmie studierte, lag wohl mit an meiner damaligen Eurythmistin an der Waldorfschule. Frau Dinkel, wie sie passenderweise hieß, war eine besondere Persönlichkeit, die mich schon damals mit ihrer Herangehensweise an das Leben sehr beeindruckte.

Bei vielen meiner männlichen Schulkameraden war die Eurythmie nicht sonderlich beliebt. Besonders Schüler in der Pubertät machen sich gene über die »komischen« Bewegungen lustig. Gerade den Skeptikern versuchte ich dann nahezubringen, welch tieferen Sinn diese Bewegungen haben und dass sie besondere Möglichkeiten bieten, den Willen zu stärken, soziale und empathische Fähigkeiten zu üben und das Leben besser zu meistern.

Das eigene Leben meistern … doch, das würde ich nun auch endlich schaffen, selbst wenn meine beiden Söhne beim Vater lebten und ohne mich aufwuchsen. Ich wunderte mich, dass ich überhaupt noch Tränenflüssigkeit hatte, so viel hatte ich in den vergangenen Monaten geweint. Wie hatte alles so weit kommen können, wie nur hatten sie mir entgleiten können … Und dabei hatte ich mir so sehr eine Familie gewünscht, hatte versucht, einem hochgesteckten Ideal zu entsprechen, und war daran fast zerbrochen. Bis ich eines Tages begriffen hatte, dass ich nach vorne schauen musste, um weiterexistieren zu können. Irgendwie musste ich versuchen, das Beste aus meinem Leben zu machen. Ich war ja noch nicht mal dreißig, da konnte viel geschehen, und es mochte sich alles noch zum Besten wenden.

Im Augenblick jedenfalls war nur eines sicher: Ich würde mich so schnell nicht wieder verlieben. Und wenn, dann müsste das ein Mann sein, der genau wusste, was er im Leben wollte. Einer, der weiterkommen wollte, der mit beiden Beinen fest im Leben stand und mit mir zusammen eine solide Existenz aufbauen würde. Und wer weiß, dachte ich, vielleicht wäre diese Existenz ja eines Tages tragfähig genug, um meine beiden Jungen zu mir zu holen. Das hoffte ich insgeheim, daran hielt ich mich fest. Gut, dass ich nicht wusste, was noch alles auf mich zukam.

Ende Februar 2000 war es so weit: Ich flog nach Tunesien. Unvergessen ist mir bis heute der erste Anblick des Landes vom Flugzeug aus. Ich sah die trockenen Steppen unter mir, die staubigen Städte mit ihren nackten, kargen Steinhäusern und war überwältigt. Alles erschien mir atemberaubend – auch das Dreisternehotel in Sousse. Ich war ja noch nie in einem arabischen Land gewesen und auch nicht in einem Dreisternehotel. Heute weiß ich, dass es gar kein besonderes Hotel war. Alles war, wie es eben so ist, wie jeder Pauschalurlauber es kennt. Doch ich machte so etwas zum ersten Mal und war rundum begeistert. Wie liebevoll der Zimmerservice jeden Tag die Handtücher faltete. Dann die Auswahl am Büfett, die bequemen Liegestühle auf der Sonnenterrasse, der kleine Springbrunnen im Pool. Und erst das große, weite Meer. Zwei Stunden spazierte ich am ersten Tag am Strand entlang und konnte mich nicht satthören am Schwappen der Wellen. Hier würde ich wieder zu Kräften kommen, das spürte ich.

Am nächsten Morgen wachte ich auf von einem eigenartigen Geräusch. Ich hatte zuerst keine Ahnung, was das sein mochte. I-aaah! Vielleicht ein Esel? Ich sprang aus dem Bett und schaute aus dem Fenster. Tatsächlich, ein Esel! Er war vor einen Pflug gespannt, und ein alter Mann mit O-Beinen pflügte mit ihm die trockene Erde unter den Palmen. Hin und wieder schnalzte er mit der Zunge, um den Esel anzutreiben, dem das herzlich egal war. Der alte Mann machte trotzdem weiter, so als wolle er klarstellen, dass er das Sagen hatte. Ich schaute den beiden zu, bis sie aus meinem Blickfeld verschwanden. Offensichtlich hatte ich nicht nur eine Urlaubsreise, sondern auch eine Zeitreise gebucht.

Wie es sich für ein Hotel dieser Kategorie gehörte, gab es ein abwechslungsreiches Animationsprogramm. Am dritten Nachmittag trieben mich die Neugier und wohl auch die Sehnsucht in die Kinderdisco. Ich schaute den Kindern zu, die im Takt der Hip-Hop-Musik herumhüpften, und stellte mir meine beiden Jungs dabei vor. Traurigkeit stieg in mir auf, doch bevor die Verlorenheit nach mir greifen und mich verschlucken konnte, stand wie aus dem Nichts ein großer, stattlicher Mann in Anzug und Krawatte vor mir.

»Hast du Lust, ein Bier mit mir zu trinken?«, fragte er ohne Umschweife in einwandfreiem Englisch.

Ich nickte, und wir setzten uns an die Bar. Der gut aussehende Mann stellte sich als Farid vor. Drei Stunden später waren wir noch immer ins Gespräch vertieft. Wir redeten über Allah und die Welt, gerade so, als kennten wir uns schon lange und hätten uns Ewigkeiten nicht gesehen. Was es da alles nachzuholen gab! Irgendwann bekamen wir Hunger, und Farid lud mich zu Couscous ein, und danach zogen wir weiter in eine Disco. Im Stroboskoplicht – dies allein hätte mich misstrauisch machen sollen – las er mir aus der Hand, wie er es angeblich von seiner Großmutter gelernt hatte. Ich lachte und glaubte seinen Prophezeiungen nur zu gern, denn er pries meine Zukunft so glücklich, wie ich sie mir insgeheim erträumte. Langes Leben, eine glückliche Ehe, gesunde Kinder, viel Geld. Seine braunen Augen funkelten mich an, als könnte er all das herbeizaubern. Auf der Tanzfläche erwies er sich als würdiger Partner, wir rockten und fetzten und lachten und tanzten ganz engen Blues. Und da wusste ich es: So fühlte sich Glück an. Das hatte ich in den vergangenen Jahren vergessen.

Am nächsten Morgen um fünf Uhr brüllte jemand in mein Ohr.

»Allah u Akbar.«

Ich fiel fast aus dem Bett. Dann fragte ich mich, was für ein Bett das war und wo Allah plötzlich herkam. Letzteres begriff ich als Erstes: von einem Lautsprecher, der an der Moschee angebracht war, und die stand direkt neben dem Haus. Farid lachte mich an, und in seinen Augen las ich … Liebe.

So schnell? Ja, so schnell. Es war die sprichwörtliche Liebe auf den ersten Blick, dieses Gefühl, das wie aus dem Nichts zu kommen scheint, plötzlich und unerwartet. Ich stand in hell lodernden Flammen, und Farid erging es nicht anders.

Nach dem Frühstück, bestehend aus B’ziza, einer Mischung aus verschiedenen Getreidearten, die mit Fenchelsamen, Rosenblättern und Gewürzen gemahlen und mit Wasser und Zucker zu einem Brei verarbeitet werden, zeigte Farid mir die Stadt. Besser gesagt, er trieb mich durch die engen Gassen der Soukhs. Seine Hand war groß, warm und trocken und wies mir den Weg. Er wusste genau, wohin er wollte. Und nur das zählte. Wenn ich irgendwo stehen blieb, zog er mich weiter. Ich ließ es geschehen. Ich fühlte mich beschützt, mit diesem Mann an meiner Seite konnte mir nichts passieren. Dieses Gefühl hatte ich vermisst – und nicht nur das. Ich sog es ganz in mich auf und fühlte mich mit einem Mal sicher und geborgen in dieser Welt.

Farid war Arzt. In der Disco hatte er mir ein Foto von sich gezeigt mit Mundschutz. Das fand ich ein bisschen übertrieben, wenn ich ehrlich war. Aber irgendwie gefiel es mir auch. Menschen, die den Mut haben, ihre eigenen Leistungen zu benennen oder vielleicht sogar zu preisen, haben mich schon immer fasziniert. Da fiel es nicht weiter ins Gewicht, dass Farid sein Studium noch nicht abgeschlossen hatte. Immerhin war er Arzt im Praktikum und schrieb an seiner Doktorarbeit. Er war kein Traumtänzer, sondern hatte einen Plan für sein Leben, wollte weiterkommen. Hatte ich mir nicht genau so einen Mann heimlich gewünscht?

Der Markt war voll von exotischen Gerüchen und fremdartigen Kleinigkeiten. Neugierig blickte ich mich um. Doch sobald ich innehielt, um etwas genauer zu betrachten, zog Farid mich weiter, als hätten wir keine Zeit dafür, als würde irgendwo etwas Großartiges auf uns warten. Was und wo das war, wusste nur er … In Wirklichkeit wartete nichts, da lief er nur davon. Denn wenn ich stehen geblieben wäre und womöglich etwas in die Hand genommen hätte, wäre es Farids Pflicht gewesen, mir das zu schenken. Ich war eine Frau, er war mein Begleiter, und weil er kein Geld hatte und nicht in Verlegenheit geraten wollte, durften wir nicht anhalten. In der arabischen Öffentlichkeit ist es nicht üblich, dass eine Frau etwas bezahlt. Dafür ist der Mann zuständig.

Das alles wusste ich damals noch nicht. Ich wusste überhaupt sehr wenig über dieses Land und seine Menschen. Woher auch? Ich hatte einfach nur abschalten und ein wenig Sonne tanken wollen inmitten der Hotelkulisse. Niemals hätte ich damit gerechnet, dass mein Leben eine solche Wendung nehmen könnte. Vielleicht rannte ich deshalb in diesem Höllentempo in mein Unglück – das sich als der gut aussehende, gepflegte Farid verkleidet hatte und mich mit seiner fremdartigen Intensität blendete.

Wir waren Hals über Kopf ineinander verliebt, und die Zeit lief gegen uns. Viel zu schnell näherte sich mein Urlaub dem Ende, und es hieß Abschied nehmen. War es da nicht richtig, dass er mich durch die Soukhs zog und wir jede Minute auskosteten, die uns blieb?

Zurück in Düsseldorf rief ich Farid jeden Tag an, was zu der teuersten Telefonrechnung meines Lebens führte. Das Schicksal hatte mir eine neue Richtung gewiesen und meine Planung wie ein Erdbeben durcheinandergebracht. Meine Sehnsucht nach Farid war kostspielig – und machte mich ungeduldig. Nach vier Wochen stieg ich erneut in den Flieger nach Tunesien, und so ging es noch einige Male hin und her.

Auf einmal hatte ich zwei Leben. Ich pendelte zwischen dem Glücksrausch mit Farid in Tunesien und meiner Ausbildung zum Coach in Düsseldorf. Und es war tatsächlich ein Glücksrausch, den wir erlebten. Ich spürte so eine innige Liebe zu diesem Mann, und in seinen Augen las ich, dass es ihm genauso erging. Ich war nicht irgendeine blonde Touristin, mit der er sich vergnügte. Nein, da war mehr zwischen uns, und neben aller Anziehung war es diese Stärke, die von ihm ausging, dieses Versprechen, mich anlehnen, mich fallen lassen zu können, was mich so fesselte. Obwohl alle Zeichen dagegen sprachen, glaubte ich nach wie vor an meine Zukunft als Entspannungstrainerin für gestresste Manager – besser gesagt, ich wollte daran glauben. Wenn in meinem Innern die Frage auftauchte, wie ich diesen Job mit meiner Liebesgeschichte vereinbaren sollte, schob ich sie schnell beiseite. Denn darauf wusste ich keine Antwort. Ich wollte meinen Beruf nicht aufgeben, er sollte für mich der Auftakt zu einem neuen Leben sein.

Doch je öfter ich mit Farid zusammen war, desto mehr Raum nahm er ein, während meine berufliche Zukunft schrumpfte. Auch Tunesien wurde immer größer – und Deutschland kleiner.

WANDERIN ZWISCHEN DEN WELTEN

Bald schon fühlte ich mich zerrissen zwischen den zwei Welten, in denen ich lebte. Was konnte ich tun, um sie zu vereinen? Vielleicht sollte ich einmal für längere Zeit in Tunesien bleiben, vielleicht musste ich so tun, als würde ich dort leben. Vielleicht wäre das der richtige Weg, um zu einer Entscheidung zu gelangen.

Gesagt, getan. Ich fuhr mit dem Auto nach Genua und von dort mit der Fähre nach Tunis. Was für ein Abenteuer!

Farid hatte für die Dauer meines Aufenthalts eine Wohnung für uns gemietet. War dies ein Vorgeschmack auf unsere Zukunft? Wie glücklich ich plötzlich war. Mit einem Mal war mein Alltag das Paradies.

Wann begann er, der Fall aus dem Paradies? Damals schon?

Eines Tages, ich bereitete gerade das Mittagessen vor, klopfte es heftig an unserer Wohnungstür. Farid öffnete, und sogleich begann ein lautes Wortgefecht. Zu dieser Zeit verstand ich noch kein Tunesisch, doch es war klar, dass hier keine Komplimente ausgetauscht wurden. Auf einmal knallte die Tür ins Schloss. Stille. Ich hielt meine Hände unter das Wasser, rieb den Couscous ab und rief nach Farid. Nichts. Offenbar hatte er die Wohnung mit den Fremden verlassen. Nach zehn Minuten wurde ich unruhig. Was war los? Ich wartete weitere zehn Minuten und lief dann auf die Straße. In einem parkenden Wagen vor unserem Haus entdeckte ich Farid und zwei Männer. Alle drei gestikulierten wild. Ich beobachtete sie eine Weile und überlegte, was ich tun sollte. Farid schien in Bedrängnis zu sein. Also ging ich zu dem Auto und klopfte an die Fensterscheibe. Als keiner reagierte, öffnete ich die Tür.

»Alles okay?«, fragte ich Farid.

»Ja«, antwortete er, aber ich glaubte ihm nicht.

»Was sind das für Männer?«, fragte ich ihn.

Er antwortete nicht. Da setzte ich mich einfach in das Auto. Vielleicht brauchte er meine Hilfe. Farid wies auf den Mann am Steuer. »Das ist mein ältester Bruder. Und das«, er zeigte auf den anderen Mann, neben dem ich nun saß, »das ist mein Onkel.« Beide Männer waren gut gekleidet in schwarze Stoffhosen und weiße Hemden.

Ich reichte ihnen die Hand, erst dem Onkel, er erschien mir älter, dann dem Bruder, und sie ergriffen sie schnell und sacht, so wie man es in arabischen Ländern tut, wo der deutsche Händedruck, der über den Charakter eines Menschen Auskunft geben soll, als unhöflich gilt. Bei strenggläubigen Moslems ist es nicht üblich, dass ein Mann einer Frau überhaupt die Hand reicht, und wenn, dann ohne Blickkontakt.

Irritiert wandte ich mich an Farid.

»Ich wusste gar nicht, dass du … Wie viele Brüder hast du überhaupt? Ich dachte, deine Familie lebt in der Nähe von Tunis, in Karthago, hieß der Ort nicht so? Ich dachte, du würdest hier nur studieren und …«

Farid schnitt mir das Wort ab. »Es ist jemand gestorben.«

Ich schlug mir die Hand auf den Mund. »Oh! Das tut mir leid. Entschuldige.« Ich schaute seine Verwandten an und kondolierte auch ihnen.

Die Männer ignorierten mich und setzten ihr Gespräch fort, von dem ich nichts verstand, doch ich reimte mir zusammen, dass sie Farid fragten, warum er nicht bei der Beerdigung gewesen sei.

Und so war es auch, wie er mir später erklärte. Ich hätte gern mehr über Farids Familie und besonders seinen Bruder und Onkel gewusst, doch er war nicht in Stimmung, über sie zu sprechen.

»Lass uns heute Nachmittag einen Ausflug machen«, wechselte er das Thema.

Mich beschäftigte dieser Vorfall noch lange, zumal die beiden Männer auf mich den Eindruck gemacht hatten, dass sie nicht wussten, wer ich war. Verschwieg Farid mich vor seiner Familie? Versteckte er mich gar vor ihnen? Aber weshalb? Was zwischen uns geschah, das war doch keine beliebige Affäre, das war Liebe!

Natürlich machte ich mir Gedanken, wie sich Farids Kultur mit unserem Zusammenleben vereinbaren ließ. Doch er hatte sich mir gegenüber nie wirklich zu seinem Glauben bekannt, ich sah ihn nicht beten, und schließlich war er auf mich zugegangen und hatte sich so offen und frei wie ein europäischer Mann gezeigt. Ich wäre nicht auf die Idee gekommen, dass seine Familie seinen Lebensstil ablehnte oder gar kontrollierte. Liebe macht blind, sagt man. Doch Liebe ist ein so essenzielles Gefühl, dass man Angst hat, sie könnte zerbrechen. Dass man alles tut, um sie zu bewahren. Auch die Augen verschließen.

In den folgenden Tagen versuchte ich mehrfach, das Gespräch auf seine Familie zu bringen, aber stets blockte Farid in der ihm eigenen, eleganten Art ab. Wenn ihm ein Thema unangenehm war, sprach er einfach von etwas anderem oder sagte gar nichts. Wenn er nicht reden wollte, redete er auch nicht, und niemals fühlte er sich verpflichtet, eine Frage zu beantworten. Ich drängte ihn nicht weiter, zu kostbar waren mir die wenigen Tage und Wochen, die wir gemeinsam verbrachten. Ich dachte nicht voraus, und ich wusste ja nicht, wie sehr ich in Zukunft darunter leiden sollte.

Eine Woche später entdeckte ich auf der Heimfahrt von einem langen Ausflug ein Richtungsschild.

»Kuck mal!«, rief ich. »Das ist doch der Ort, wo deine Eltern wohnen! Wir könnten sie besuchen.«

»Nicht direkt«, erwiderte Farid.

»Was meinst du mit ›nicht direkt‹?«

»Sie wohnen in der Nähe von Sousse.«

»Aber … da wohnen wir doch auch!«

»Hm.«

»Warum hast du mir das denn nicht gesagt? Da hätten wir sie schon oft besuchen können! Ich dachte, sie wohnen in Karthago! Du kannst mir doch sagen, wo deine Eltern wohnen! Warum hast du mich belogen?«

Farid kitzelte mich.

»Nicht!«, rief ich ihn lachend zur Ordnung. »Ich muss mich auf den Verkehr konzentrieren!«

Schon waren wir weitergefahren. Als mir das Ganze am Abend wieder einfiel, kam ich zu dem Schluss, dass er mich mit Karthago als dem Wohnort seiner Eltern hatte beeindrucken wollen. Es hieß, in Karthago würden viele reiche Leute leben. War er nicht süß? Ich wusste ja, wie sehr er auf sein Ansehen bedacht war. Ganz offenbar war es ihm wichtig, was ich von ihm hielt. Sicher war das auch der Grund dafür, dass er mir immer so lange Listen schrieb und am Telefon diktierte, was ich ihm alles aus Deutschland mitbringen sollte. Markenjeans, Markenschuhe, Markenhemden. Es gefiel mir, dass er genau wusste, was er wollte, und mehr noch: dass er wusste, wie er sich mir gegenüber verhalten musste, um genau das zu bekommen, was er haben wollte.

Im Nachhinein ist man immer klüger, heißt es. Und während ich über diesen Zeilen sitze, weiß ich nur zu gut, dass ich hätte aufhorchen sollen, nachhaken, ihn mit Distanz betrachten. Doch ich war jung, und ich war verliebt. In mir war kein Argwohn, kein Misstrauen. Ich glaubte noch immer an das Gute im Menschen.

Außerdem: Seine männliche Entschiedenheit machte mich einfach schwach. So etwas war ich nicht gewöhnt, und statt mich dagegen zur Wehr zu setzen – wie und warum auch? –, schmolz ich einfach dahin. So einen Mann hatte ich noch nie kennengelernt. Einen, der wusste, was er wollte, und sich nicht scheute, es zu verlangen. Es tat gut, sich anlehnen zu dürfen, das Ruder ein wenig aus der Hand zu geben. Zu lange hatte ich stark, immer stark sein müssen.

Mein Vater, mein Vorbild für die Männerrolle, ist ein sehr fürsorglicher, liebevoller und weicher Mann, ganz anders als Farid. Ich war neu in dieser Liga und genoss die erotische Ausstrahlung unbedingter Durchsetzungskraft. Zudem hatte ich einen unglaublichen Lebenshunger, den ich mit Farid teilte. Wir gingen jede Nacht aus. Tanzten manchmal bis zum Morgengrauen und genossen es, in den Augen anderer zu lesen, was für ein schönes Paar wir waren. Der hochattraktive, charmante Arzt und die hübsche blonde Deutsche. Nicht, dass ich mich selbst so bezeichnet hätte. Es wurde uns schlichtweg so oft gesagt, dass wohl irgendetwas dran sein mochte.

Über unsere Zukunft sprachen wir nicht, denn das hätte nur wehgetan, da sie eine Trennung beinhaltete. Viel zu schnell würde auch dieser Urlaub zu Ende sein, und viel zu lange würde es bis zum nächsten dauern. Dabei wollte ich gar keinen Urlaub mehr in Tunesien machen. Ich wollte wissen, wie es wäre, wenn ich dort leben würde. Deshalb spielte ich im Urlaub Alltag. Ich besorgte den Haushalt in der kleinen Wohnung und kochte jeden Tag. Farid schrieb an seiner Doktorarbeit, nachmittags gingen wir ans Meer. Wie unkompliziert das alles war! Niemand lehnte mich ab, weil ich Deutsche war, ganz im Gegenteil, oft wurden wir abends eingeladen, alle interessierten sich für mich, und ich wurde überall herzlich aufgenommen.

Als ich schließlich wieder in Düsseldorf war, hatte ich schon nach wenigen Stunden … Fernweh? Nein, ich hatte Heimweh nach Tunesien. Ich konnte mir nicht länger vorstellen, meine beruflichen Pläne als Coach tatsächlich zu verwirklichen. Was sollte ich im kalten Deutschland? Ich wollte zurück in die Sonne zu den dunkelhäutigen Menschen, die so herzlich lachten.

»Meine Pläne in Deutschland passen nicht zu meiner neuen Liebe in Tunesien«, sagte ich zu meiner Oma.

»Man muss der Stimme seines Herzens folgen«, antwortete sie und zwinkerte mir zu. »Besonders, wenn sie zu einem Arzt führt.«

Meine Oma fand es klasse, dass ihre Enkelin einen Arzt zum Freund hatte. Ein Arzt im Haus erspart das Krankenhaus oder so ähnlich.

Wenn meine Mutter noch gelebt hätte, wäre es mir vielleicht schwerer gefallen, Deutschland zu verlassen. Doch sie war nur siebenundvierzig Jahre alt geworden. Mutter starb auf dem Heimweg von ihrem Arbeitsplatz in einer Werbeagentur in Düsseldorf. Meine Eltern hatten sich in der Nähe der Großstadt ihren Lebenstraum in Gestalt eines alten Bauernhauses erfüllt, das sie zehn Jahre lang in jeder freien Minute renovierten. Seit zwei Jahren war das Haus fertig. Meine Mutter wollte beruflich noch einmal richtig durchstarten. Sie war eine Macherin: tatkräftig, kontaktfreudig, lebensbejahend, fröhlich, mutig. Ein polnischer Geisterfahrer, übermüdet und betrunken, raste auf der Autobahn frontal in ihren Wagen. Sie hatte keine Chance gehabt.

In der ersten Reihe an ihrem Grab standen meine elfjährige Schwester und mein Vater, der ohne sie völlig hilflos war. Meine Eltern waren beide Grafiker gewesen, später wandte sich mein Vater ganz der Kunst zu. Da war kein Raum für das normale Alltagsleben, Bankgeschäfte, Behördengänge, Bürokratie, das organisierte alles meine Mutter.

Ich hatte meine Mutter zum letzten Mal am Flughafen gesehen. Zwanzig Jahre war ich damals alt und studierte in England. Nach einem Besuch zu Hause sollte mich eigentlich mein Vater zum Flughafen bringen, so war es abgemacht.

»Ich möchte lieber von Mama gebracht werden.«

»Das ist doch Unsinn«, widersprach mein Vater. »Ich fahre ohnehin in die Stadt und …«

Ich setzte meinen Willen durch. Wenig später wusste ich, warum.

Meine Mutter begleitete mich bis zur letzten Sicherheitskontrolle. Dort umarmten wir uns lange. Wahrscheinlich sagte ich so etwas wie »Bis bald!« oder »Bis zum nächsten Mal!«.

Der plötzliche Tod meiner Mutter riss ein schwarzes Loch in mein Leben. Nicht Abschied nehmen dürfen, sich nicht vorbereiten können darauf, dass jemand geht, das ist hart.

Ich hatte ein wunderbares Verhältnis zu meiner Mutter, sie war meine engste Vertraute und beste Freundin. Sie erlaubte mir eigentlich alles. Mit zwölf in die Disco, mit vierzehn war ich übers Wochenende allein zu Hause in Düsseldorf, weil meine Eltern ihr Bauernhaus renovierten. Sie vertrauten mir, und ich nutzte ihr Vertrauen nicht aus. Heute denke ich, dass mir mit einer strengeren Erziehung vieles, was in meinem Leben später geschah, erspart geblieben wäre.

Aber vielleicht war es auch nicht die fehlende Strenge, sondern vielmehr dieses hohe Maß an Vertrauen, das meine Eltern in mich und andere setzten. Manche Menschen hüten Liebe und Vertrauen ängstlich, andere verschenken beides großzügig und ohne Bedingung. So war ich, und neben allem Schmerz, den Farid mir zufügen sollte, tat es doppelt weh, dass er mir dieses Urvertrauen nahm.

Farid wollte nicht nach Europa, was mir nur recht war, da ich die Sonne und das Meer so mochte.

»Wenn du in Tunesien leben willst, könntest du als Reiseleiterin arbeiten«, schlug er mir am Telefon vor. »Was willst du denn sonst machen? Du musst das Geld für uns zwei verdienen, denn ich studiere ja noch.«

»Kein Problem!«, rief ich und war überglücklich. Schließlich hatte er mich in seiner unnachahmlichen Art gerade eingeladen, das Leben mit ihm zu verbringen. Plötzlich tat sich eine Zukunft für mich auf. Ein Leben, das auf Liebe gründete.

Also bewarb ich mich bei einem großen deutschen Reiseveranstalter als Reiseleiterin, wurde angenommen und zu einer Schulung auf Mallorca eingeladen. Als ich die Zusage schwarz auf weiß in den Händen hielt, beendete ich meine Hospitanz bei dem Coach, von dem ich in der Vergangenheit so viel gelernt hatte. Er zeigte großes Verständnis für meine Entscheidung.

»Was für eine schöne Perspektive! Das freut mich für dich, und ich beneide dich. Ich würde nur zu gern im Süden leben! Und wer weiß – vielleicht machst du dich ja eines Tages in Tunesien als Coach selbstständig. Dort gibt es auch Manager mit Burn-out!«

»Ja, vielleicht«, rief ich überschwänglich. Alles schien auf einmal möglich.

Es gab so viel zu planen, dass ich mich kurzfristig entschied, für fünf Tage nach Tunesien zu fliegen, um mich mit Farid zu besprechen. Doch er schloss mich in die Arme und sagte nur: »Das machst du schon, Tina.« Und dann wollte er mit mir feiern und ausgehen. Zuerst irritierte mich das, dann schrieb ich meine Besorgnis in den Wind. Was sollten wir lange überlegen, wie es vielleicht werden würde. Wir würden es einfach tun.

COUSCOUS AUF DEM WASSER

Im März 2001 begann meine Ausbildung zur Reiseleiterin auf Mallorca. Ich genoss diese Zeit, umgeben von netten und interessanten Menschen, die ein gemeinsames Ziel hatten, und bereute meine Entscheidung nicht im Geringsten. Nach bestandenen Kursen lud ich meinen blauen Kangoo in Düsseldorf bis unters Dach voll und machte mich auf in das große Abenteuer Tunesien, in dem mein neues Leben beginnen würde. Wann immer ich anhielt, wurde ich angesprochen.

»Sie haben das Auto aber vollgeladen. Ziehen Sie um?«

»Das kann man wohl sagen.«

»Und wohin, wenn man fragen darf?«

»Nach Tunesien«, antwortete ich stolz und konnte es gar nicht oft genug sagen.

»Tunesien! So weit weg!«

»Ja«, lachte ich. »In Genua nehme ich die Fähre.«

»Da haben Sie noch eine ziemliche Strecke vor sich.«

»Ach, das geht schon. Die Überfahrt dauert vierundzwanzig Stunden, und dann muss ich noch weiter bis nach Sousse.«

»Ist da nicht der Flughafen in der Nähe?«

»Richtig.«

»Da wären Sie mit dem Flieger aber schneller.«

»Das stimmt. Aber meinen Hausstand könnte ich nicht mitnehmen.«

»Also dann gute Fahrt, junge Frau.«

»Danke. Für Sie auch!«

Irgendwann bei einem dieser Gespräche an den Autobahnraststätten begriff ich auf einmal, dass ich nun nicht mehr davon redete, sondern mittendrin war in diesem Abenteuer. Ich, Tina Rothkamm, hatte alle Zelte in Deutschland abgebrochen. Wo würde ich sie als Nächstes aufschlagen, wie würde es weitergehen? Es kam mir so vor, als würde ich ein geradezu unerträglich spannendes Buch lesen, das Buch meines eigenen Lebens … und das Umblättern dauerte mir viel zu lang. Hätte ich damals gewusst, was auf mich zukommen würde, hätte ich dann zurückgeblättert, es zugeschlagen und die Handlung neu geschrieben? Wahrscheinlich – oder vielleicht auch nicht. Manche Menschen müssen ihre Erfahrungen bitter und schmerzhaft sammeln, und offenbar gehörte ich dazu.

»Und was machen Sie in Tunesien, wenn man fragen darf? Sind Sie vielleicht Deutschlehrerin?«

»Nein!«, wehrte ich lachend ab. »Ich will einfach da leben.«

»Allein?«

»Mit meinem Freund.«

»Und er ist Tunesier? Das ist ja interessant.«

»Das finde ich auch. Fremde Kulturen haben mich schon immer fasziniert.«

»Haben Sie keine Angst? Als blonde Frau in einem arabischen Land?«

»Ich habe bisher kein einziges negatives Erlebnis gehabt. Alle waren immer sehr nett zu mir.«

»Obwohl Sie nicht verschleiert sind? Oder ziehen Sie so ein Tuch über, wenn Sie das Land erreichen?«

Ich musste lachen. Verschleiert würde ich Farid bestimmt ziemlich exotisch vorkommen.

»Aber nein!«, antwortete ich. »In Tunesien laufen viele Frauen unverschleiert herum. Es ist ihre Entscheidung. Und es wird nicht gern gesehen, wenn Frauen an der Universität ein Kopftuch tragen.«

»Ach, tatsächlich? Dann sind die ja strenger als wir! Was es nicht alles gibt!«

»Ja. Und wie wenig man weiß«, vollendete ich.

»Dann wünsche ich Ihnen eine gute Fahrt. Und viel Glück!«

»Danke! Ihnen auch!«

Viel Glück, viel Glück, viel Glück! Das bekam ich an allen Ecken und Enden zu hören, und mein Auto fuhr immer schneller mit einer Leichtigkeit, die mir Flügel verlieh.

In der Schlange vor der Fähre wurde ich plötzlich nervös. Wieso dauerte das so lange? Ich konnte es kaum erwarten, bis das Riesenschiff mit dem Bauch voller Autos endlich ablegte.

Überall vibrierte frühlingshafte Vorfreude. Die Touristen scharrten förmlich mit den Hufen, und auch die Biker mit ihren wüstentauglichen Motorrädern und die Wüstenfahrer in ihren Jeeps konnten es kaum erwarten, dass das Abenteuer begann. Es roch geradezu nach Aufbruch.

In der Nacht saß ich lange an Deck und schaute in den gigantischen Sternenhimmel. Gern hätte ich das Wasser schwappen gehört, doch die Bootsmaschine brüllte. Sterne in südlichen Ländern erscheinen viel näher als bei uns, zum Greifen nah. Im Grunde genommen brauchte ich nur meine Hand auszustrecken und sie mir zu pflücken, einen nach dem anderen, so viele ich wollte. Dafür musste ich mich nicht mal anstrengen. Sternschnuppen fielen vom Himmel, doch ich zählte sie nicht. Mein Glück war ja schon da, fuhr mit mir über das Meer. Ich war 28 Jahre alt und frei, frei, frei!

Der Chefkoch, den ich zufällig kennenlernte, sorgte dafür, dass ich eine Luxuskabine mit Meerblick bekam, ohne dafür bezahlen zu müssen, und ließ mir den leckersten Couscous meines Lebens bringen. Niemals zuvor hatte ich so etwas Köstliches gegessen.

Ich genoss den Blick durch das Bullauge auf das Meer und hätte gleichzeitig lachen und weinen und schreien können vor Freude, bis zum Platzen voller Energie und Tatendrang.

Am Hafen von Tunis empfing mich ein völlig durchgefrorener Farid. Er wartete seit Stunden und machte ganz den Eindruck, als müsste ich ihn erst mal aufpäppeln. Dabei war ich es doch, die eine lange Reise hinter sich hatte. Wir gingen etwas essen und uns aufwärmen, dann fuhren wir … nach Hause! Farid hatte in Sousse einen Bungalow für uns gemietet, und ich konnte es kaum erwarten, mein neues Zuhause endlich zu sehen. Was er mir erzählt hatte, klang wunderbar, eine gute Wohngegend, nah am Meer.

Endlich waren wir da. Doch in dieser guten Wohngegend sahen alle Bungalows gleich aus. Wie sollte ich mich hier jemals zurechtfinden?

Auch Farid hatte Probleme. Ich neckte ihn, weil er unseren Bungalow nicht fand.

Seine Lippen wurden schmal. »Ich weiß genau, wo er ist. Ich will dir nur die Gegend zeigen«, behauptete er und verlangte: »Jetzt links!« Und kurz darauf: »Rechts!« So fuhren wir im Kreis, und seine Stimme klang immer nervöser.

Das machte mich auch nervös. Farid hatte keinen Führerschein, also war ich schuld, dass wir den falschen Weg eingeschlagen hatten. Verdrehte Welt mit diesem Mann!

Ich hatte das Steuer in der Hand, und er sagte, wo es langging, und wenn ich abbog und sich die Richtung als falsch erwies, war das mein Fehler. Ich hatte die finanziellen Mittel, er sagte, was damit geschehen würde. Ich brachte die Möbel und den Fernseher und bezahlte die Miete für den Bungalow, und er gab mir das Gefühl, sein Gast zu sein. Weil er so bestimmt auftrat. Tunesisches Feuer …

Ende der Leseprobe