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London um 1893. Die Stadt wird von Angst und Entsetzen geschüttelt: Jack the Ripper geht um, und die Polizei muss tatenlos miterleben, wie Dutzende junger Frauen bestialisch erstochen werden.
In dieser Zeit lädt H. G. Wells einige Freunde zu sich und berichtet von der Erfindung und Konstruktion seiner Zeitmaschine Utopia. Sein Vortrag wird jäh durch eine Razzia Scotland Yards unterbrochen. Als die Beamten - immer noch auf der Suche nach dem Mörder - das Haus unverrichteter Dinge verlassen haben, macht H. G. Wells eine grausige Entdeckung. Die Tasche seines Freundes Dr. Leslie John Stephenson enthält den eindeutigen Beweis: Er ist Jack the Ripper! Und er ist inzwischen mit der Zeitmaschine in die Zukunft entkommen. H. G. Wells macht sich ebenfalls in die Zukunft auf, um den Massenmörder zu fangen und dingfest zu machen. Ein atemberaubender Wettlauf durch Raum und Zeit beginnt...
Ein brillanter Roman, der auch die vertrackteste Logik der Zeit-Paradoxa mühelos überspielt.
Flucht ins Heute war der Debüt-Roman des US-amerikanischen Schriftstellers Karl Alexander und erschien erstmals im Jahr 1979. Im selben Jahr wurde er unter der Regie von Nicholas Meyer (Star Trek II – Der Zorn des Khan, The Day After, Star Trek VI: Das unentdeckte Land) verfilmt – in den Hauptrollen: Malcolm McDowell als H. G. Wells, David Warner als John Leslie Stephenson/Jack the Ripper und Mary Steenburgen als Amy Robbins.
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KARL ALEXANDER
Flucht ins Heute
Roman
Apex Science-Fiction-Klassiker, Band 49
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
FLUCHT INS HEUTE
Prolog
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Epilog
London um 1893. Die Stadt wird von Angst und Entsetzen geschüttelt: Jack the Ripper geht um, und die Polizei muss tatenlos miterleben, wie Dutzende junger Frauen bestialisch erstochen werden.
In dieser Zeit lädt H. G. Wells einige Freunde zu sich und berichtet von der Erfindung und Konstruktion seiner Zeitmaschine Utopia. Sein Vortrag wird jäh durch eine Razzia Scotland Yards unterbrochen. Als die Beamten - immer noch auf der Suche nach dem Mörder - das Haus unverrichteter Dinge verlassen haben, macht H. G. Wells eine grausige Entdeckung. Die Tasche seines Freundes Dr. Leslie John Stephenson enthält den eindeutigen Beweis: Er ist Jack the Ripper! Und er ist inzwischen mit der Zeitmaschine in die Zukunft entkommen. H. G. Wells macht sich ebenfalls in die Zukunft auf, um den Massenmörder zu fangen und dingfest zu machen. Ein atemberaubender Wettlauf durch Raum und Zeit beginnt...
Ein brillanter Roman, der auch die vertrackteste Logik der Zeit-Paradoxa mühelos überspielt.
Flucht ins Heute war der Debüt-Roman des US-amerikanischen Schriftstellers Karl Alexander und erschien erstmals im Jahr 1979. Im selben Jahr wurde er unter der Regie von Nicholas Meyer (Star Trek II – Der Zorn des Khan, The Day After, Star Trek VI: Das unentdeckte Land) verfilmt – in den Hauptrollen: Malcolm McDowell als H. G. Wells, David Warner als John Leslie Stephenson/Jack the Ripper und Mary Steenburgen als Amy Robbins.
London 1893
Der Gentleman stieg am frühen Abend an der Mile End-Station aus dem Zug und ging schnell zur Straße. Ein verstohlenes Lächeln huschte über sein Gesicht, das für den muskulösen Körper und den athletischen Schritt etwas zu schmal war. Aber er war trotzdem gutaussehend. Um einen verwegeneren Eindruck zu machen, hatte er sich seine Melone tief ins Gesicht gezogen.
Vorsichtig überquerte er die Straße, um auf dem nassen Kopfsteinpflaster nicht auszurutschen. In der behandschuhten Hand trug er eine schwarze Ledertasche. Von der Themse stiegen kalte, dichte Nebelschwaden auf und tauchten die Straße in düsteres Grau. In der Ferne erklangen Nebelhörner. Er nahm einen tiefen Atemzug. Da er über seinem gutsitzenden dunklen Anzug einen feinen Schafwollumhang trug, der die Kälte abhielt, fror er nicht. Er hatte etwas Kopfschmerzen, aber ansonsten fühlte er sich wirklich ausgezeichnet. Ja, es war herrlich, wieder im East End zu sein, wenn auch nur für kurze Zeit. Und das Wetter war für sein Vorhaben ideal, denn es bot die nötige Diskretion.
Er winkte eine vorbeifahrende Pferdekutsche heran. Die zweirädrige Droschke bremste, die Räder rutschten auf dem nassen Pflaster. Er schwang sich auf den Fahrgastsitz, lehnte sich nach vorn und suchte die Straße nach Vertreterinnen des ältesten Gewerbes ab. Er rechnete mit keinen Schwierigkeiten, da der Bezirk sich nicht geändert hatte. Es roch nach Fisch und Altöl von den Docks. Alles war mit einer dumpfigen Schicht Talg überzogen, und sogar die hellsten Gaslaternen wirkten verschwommen.
Der Gentleman ließ sich vom Droschkenkutscher an das nördliche Ende der Commercial Street fahren, wo die Reihe schäbiger Spelunken und schmutziger Herbergen ihren Anfang nahm. Er bezahlte den Kutscher für die Fahrt, dann verschwanden seine Umrisse in der Nacht. Voller Vorfreude schleckte er sich den Mund. Als er in die Nähe der Ecke Commercial Street und Folgate Street kam, trat eine Hure aus einer verrufenen Kneipe, hüllte sich in einen schmutzigen, fadenscheinigen Mantel und ging mit gesenktem Kopf in seine Richtung. Er hatte sich in einer Wandnische versteckt und beobachtete die Dirne. Sie war dünn und blass, die Augen waren dumpf, die Zähne gelb. Ihr Bauch war wegen dürftiger Ernährung leicht aufgedunsen. Der Gentleman bekam Herzklopfen und nickte unmerklich.
Er wollte sie soeben zu sich rufen, als das Freudenmädchen sich plötzlich umblickte und davoneilte. Etwas stimmte nicht. Er verließ die Nische. Der Grund für die Bedrängnis der Hure war ein Bobby, der gerade die Straße überquerte und ihr folgte. Der Gentleman lächelte wieder. Er beschloss, sie beide zu beschatten.
Die Dirne eilte an den rußgeschwärzten Häusern vorbei, ließ Spitalfield's Market hinter sich und bog in White's Row ein. Er nahm die Verfolgung auf und wunderte sich über ihre Ausdauer. Als er die enge Gasse erreichte, wo es nach ausländischen Vagabunden stank, verschwand sie in einem Gässchen. Der Bobby ging aber geradeaus weiter, und der Gentleman erlaubte sich ein kurzes, heiseres Lachen. Das galt dem Bobby.
Das schmutzige Gässchen wand sich wie ein trockenes Flussbett durch die Häuserreihen und Fabrikanlagen. Der Gentleman musste sich anstrengen, um mit ihr schrittzuhalten. Nun, das war nicht schlimm, denn es verstärkte sein Verlangen nach dem süßen Schleim der Dirne nur. Als die Dirne die Houndsditch Road erreicht hatte, machte sie kehrt und tauchte in ein Labyrinth von Gassen ein, die kein Ende zu nehmen schienen. Aber der Gentleman war mit dem Bezirk vertraut. Hin und wieder sah er ihre schlanke Gestalt um eine Ecke biegen, und das reichte ihm, ihre Spur nicht zu verlieren. Der Gentleman bewegte sich so schnell und leise, dass die wenigen Bettler und Diebe, die sich in den nasskalten Straßen herumtrieben, ihn nicht belästigten. Wie dem auch sei, seine starken Arme und Schultern, hätten sogar den Mutigsten von ihnen eingeschüchtert.
Endlich blieb sie stehen und lehnte sich gegen die Ziegelwand eines Gebäudes. Ihr Brustkorb hob und senkte sich schnell. Während sie sich ausruhte und neue Kräfte sammelte, schlich er an ihr vorbei, um den Anschein zu erwecken, aus der anderen Richtung gekommen zu sein. Als er hochblickte, sah er, dass er an der Kreuzung von Fairclough Street und Berner Street war. Man konnte deutlich das Rattern der District Line hören, die die Bürger durch diese Lasterhöhle Londons fuhr. Die Dirne war in einer unangenehmeren Lage als diese Bürger.
Mit kräftigen, lauten Schritten und einer überlegenen Miene ging er zu ihr hin. Zuerst lauschte sie, dann drehte sie den Kopf und sah ihn an. Sie ordnete schnell ihre Kleider und zwang sich zu ihrem nettesten Lächeln. Sie war jetzt nicht mehr bestürzt und niedergeschlagen, sondern in ihren Augen schimmerte neue Hoffnung. Sie fuhr mit der Zunge über ihre Lippen und nickte in Richtung auf ein hölzernes Tor, das als Eingang für die Arbeiter einer Kleiderfabrik diente.
Der Gentleman blickte kurz in alle Richtungen, dann drehte er sich wieder zu ihr und nickte. Er ließ es zu, dass das Freudenmädchen ihn an der Hand nahm und in einen kleinen Hof führte, der von Ziegelmauern umgeben war. Er hörte Singen, und als sie den kleinen Hof überquerten, sah er nach oben. Die Stimmen kamen aus dem zweiten Stockwerk des Gebäudes neben der Fabrikhalle. Eine Versammlung der sozialistischen Arbeiterbewegung nahm gerade ihren Anfang: sie sangen die Internationale.
Der Gentleman und die Hure erreichten den hinteren Teil der Fabrik. Jetzt betraten sie einen Hinterhof, der von vier Ziegelmauern umgeben war und an dessen Wänden große Müllbehälter auf gereiht waren. Einige davon waren mit den Resten billiger Stoffe gefüllt. Der Gentleman zögerte und inspizierte den Ort sehr kritisch. Dann lächelte er zustimmend, denn dieser Platz war für sein Vorhaben ideal. Hier waren sie ganz ungestört.
Aus seiner Weste nahm er seine reichverzierte goldene Taschenuhr und öffnete den Deckel. Sogleich begann das eingebaute Spielwerk ein französisches Wiegenlied zu spielen. Die Innenseite des Deckels war mit dem Bild einer schönen dunkelhaarigen jungen Dame versehen. Der Gentleman betrachtete das Porträt sehr eingehend, dann legte er die Uhr behutsam auf dem Sims über einem der Müllbehälter ab.
Die Nutte wandte sich ihm zu, knöpfte ihren Mantel auf und zog ihr Kleid und drei Petticoats bis zu den Hüften hinauf. Darunter trug sie nichts. Er schauderte vor Freude beim Anblick ihres rasierten Schambeins unterhalb des leicht geblähten Bauches.
»Fünf Schillinge, und Sie können tun, was Sie wollen, Sir«, flüsterte sie während der zweiten Strophe der Internationale.
Er sagte nichts, sondern reichte ihr eine Goldmünze. Sie sperrte erstaunt den Mund auf, trat einen Schritt zurück und zitterte. Er grinste. So viel Geld hatte die Dirne gewiss noch nie erhalten. Er wusste, dass sie sich ihm auch für wenige Schillinge hingegeben hätte, aber er zog diese Art vor. Das unerwartete zusätzliche Geld machte die Dirne plötzlich warmherzig und reizend, wie Mütter, die an ihrem Geburtstag Blumen erhalten.
Und diese Dirne war wie alle Frauen. Während er seine Hosen hinunterschob, küsste sie ihn dankbar. Sie schmeckte faulig, aber war das nicht bei allen Frauen so? Der ranzige Kuss erregte ihn. Sein Atem beschleunigte sich. Er spürte ihre Hände an seinen Oberschenkeln. Er konnte es nicht mehr erwarten.
Mit einem lustvollen Knurren wirbelte er sie forsch herum, hob ihre Kleider, beugte sie nach vorn und drang grob von hinten in sie ein. Sie stieß ein schmerzhaftes Grunzen aus. Für so viel Geld musste der Schmerz für sie eine Wonne sein, überlegte er.
Er korrigierte mit seinen Händen ihren Rhythmus, bis die Bewegungen ihrer Hüften seinen Stößen entsprachen. Sie machte begierig mit. Den Kopf hatte sie in den Nacken geworfen, und sie atmete schnell und stoßweise. Er lächelte. Sie wird einen Orgasmus bekommen. Das war vorzüglich, denn so sollte es das erste Mal sein.
Auch er warf den Kopf zurück und röchelte durch die zusammengebissenen Zähne. Dann schloss er die Augen, entspannte seine Muskeln und gab sich ganz seinen Gefühlen hin. Seine Gedanken überschlugen sich. Aus der Schwärze tauchten Farben und Formen auf. Die Dirne, die sich lustverzerrt krümmte, wurde seine Schwester. Das Gesicht war trotz des unschuldigen Wiegenliedes voller Wollust. Guter Gott, wie er sie liebte! Er wollte mit ihr für den Rest seines Lebens Zusammensein. Wie konnte man sagen, dass das verboten sei? Wie konnte man sich erdreisten, ihn dafür zu bestrafen? Er wollte mit ihr in ein fremdes Land fliehen und sie heiraten. Niemand würde es erfahren. Ihr gemeinsames Leben würde immer so sein, und diese Lust und Wonne würde nie enden. Es würde keine anderen geben... Für beide nicht. Das war überflüssig. Sie waren eins...
Was hatte sie am Höhepunkt ihrer Leidenschaft geflüstert? Es hatte andere Männer gegeben? Er war nicht der erste? Sie hatte ihn von Anfang an belogen? Sie hatte ihre kostbare Unschuld nicht für ihren wahren Geliebten bewahrt?
Die Farben und Formen wurden zusehends roter und schwärzer, und er stöhnte gequält, als sein Orgasmus begann. Gleichzeitig durchwühlten seine Hände die Taschen unter seinem Umhang und fanden, was sie suchten.
»Fassen Sie mich an, Sir! Fassen Sie mich an!«
Die Dirne griff hinter sich, um seine Hände zu nehmen, aber sie waren nicht da. Sie tastete und griff nach ihnen. Sie wimmerte und winselte, und ihr Körper begann bereits, krampfhaft zu zucken.
Er war der Erste und Einzige. Mit der linken Hand packte er sie am Haarschopf und zog den Kopf ganz nach hinten. Er war der Erste und Einzige. Mit der rechten schnitt er ihr mit einem Seziermesser von Ohr zu Ohr die Kehle durch.
Das Lied verhallte, und der Gentleman stieß einen langen, tiefen Seufzer aus. Seine Kopfschmerzen waren weg. Dann machte er sich daran, den toten Körper zu zerlegen. Er führte das Messer mit sicherer Hand und großer Schnelligkeit. Er verstand sich auf sein Handwerk. Als er geendet hatte, hob er die Teile vorsichtig in einen leeren Müllbehälter und fügte sie zu einem Bild des Schreckens zusammen. Dann trat er zurück, um sein Kunstwerk zu betrachten. Auf dem Boden hatte sich eine zentimeterhohe Blutlache gebildet, in der er mit seinen Schuhen patschte. Er verschob eine Hand seines Opfers etwas nach links, dann bewunderte er sein Werk wie ein Bildhauer, der eine Büste aus dem Stein schlägt.
Zufrieden steckte er die Taschenuhr wieder ein und befestigte die Kette an seiner Weste. Er machte sich daran zu gehen, hielt aber dann kurz inne. Er lauschte. Die sozialistischen Arbeiter applaudierten einem Redner, dann war es totenstill. Nur das gedämpfte Murmeln von Stimmen aus der Versammlung war vernehmbar.
Der Gentleman ging schnell über den Hof und eilte durch das Tor auf die Straße. Er hörte Pferdehufe auf dem Pflaster und das vertraute Quietschen der Stahlfedern einer Kutsche. Die Droschke bremste vor dem Häuserblock und ließ einen Fahrgast aussteigen, der das Gebäude betrat. Wahrscheinlich war es ein verspäteter Besucher der Versammlung. Der Gentleman lächelte über den glücklichen Umstand, lief zur Kutsche und stieg auf. Der Kutscher gab die Zügel, und das Gefährt setzte sich in Bewegung.
Sobald die Droschke in die Brick Lane eingebogen war, erkannte der Gentleman, dass er außer Gefahr war, und entspannte sich.
Hemmungslos gab er sich dem Gefühl des Triumphs hin, das ihn nach jedem Mord und der damit verbundenen sexuellen Entladung überkam. Er bebte innerlich, als er sich das Erlebte wieder durch den Kopf gehen ließ. Die Hure war so willig und erregt gewesen, dass sie der genialen Collage, die er aus ihren blutigen Teilen geformt hatte, durchaus würdig war. Ja, es war eines der befriedigendsten Erlebnisse seines ganzen Lebens gewesen. Vielleicht das beste. Die Freude über das gelungene Ereignis würde ihn Wochen, vielleicht sogar Monate glücklich und zufrieden sein lassen. Und wenn der Drang ihn wieder packte, würde er nach Bethnal Green oder Shoreditch zurückkehren.
Das einzige Problem war die Polizei. Bald würde sich die Nachricht über diesen neuerlichen Vorfall verbreitet haben und ein neues Raunen durch die Massen gehen, den bestialischen Mörder endlich dingfest zu machen und hinzurichten. Bestimmt würde die Öffentlichkeit ihrem Verlangen massiver denn je Nachdruck verleihen. Für lange Zeit würden die Detektive von Scotland Yard durch das East End schwärmen. In Zukunft musste er sehr vorsichtig und wählerisch sein. Dieser Gedanke gefiel ihm überhaupt nicht.
Vielleicht wäre es besser, England jetzt zu verlassen. Keine Frage, dass er sich das leisten konnte. Aber schon nach seiner ersten Tat würde man seinen neuen Aufenthaltsort kennen. Sein Stil war immerhin einzigartig. Sollte er unter Umständen nach Südfrankreich gehen, wo die Frauen kokett und die Polizisten unbeholfen sind? Er lächelte bei dem Gedanken, seine Messer an einem dunkelhaarigen Freudenmädchen am mondbeschienenen Strand von St. Tropez einzusetzen.
In einiger Entfernung hörte er einen weiteren Zug vorbeifahren. Das donnernde Geräusch riss ihn aus seinen Träumen. Er griff nach unten, öffnete seine Tasche, nahm weiße Lappen und ein Fläschchen Reinigungsmittel heraus und machte sich daran, seine Hände und Schuhe sorgfältig von den Blutspuren zu reinigen. Nicht ohne Befriedigung stellte er fest, dass er seine Kleider nicht besudelt hatte. Das schrieb er seinem Geschick und seinen medizinischen Kenntnissen zu.
Die Droschke hielt vor der Whitechapel-Station an. Der Gentleman stieg ab, zahlte und ging hinein. Er war die Ruhe selbst. Er löste eine Fahrkarte nach Mornington-Crescent und hörte sich geduldig die Ausführungen des Schalterbeamten an, dass er bei Charing Cross von der District Line auf die Northern Line umzusteigen hätte. Er wusste das bereits.
Dem Gentleman war nicht bekannt, dass der Bobby, der die Hure ursprünglich verfolgt hatte, die Kreuzung von Fairclough Street und Berner Street erreicht hatte, als er gerade abgefahren war. Der Bobby hatte Verdacht geschöpft, sich umgesehen und die Überreste der Hure im Hinterhof der Fabrik aufgespürt. Er hatte seine Kollegen herbeigepfiffen, die sofort reagierten, nachdem sie seinen knappen Bericht gehört hatten. Sieben Minuten, nachdem der Gentleman seinen Zug bestiegen hatte, wurde er vom Droschkenkutscher gegenüber der Polizei identifiziert. Und fünf Minuten später bestätigte der Schalterbeamte seine Identität und klärte die Polizei über sein Fahrtziel auf. Innerhalb einer Stunde war das Morddezernat von Scotland Yard mobilisiert und nun seinerseits auf Beutefang.
Mornington Place Nummer 17 war ein hohes und schmales Ziegelhaus mit einem ordentlichen Hof, den eine Hecke und ein schmiedeeiserner Gitterzaun begrenzten. Mit seinen drei Giebeln und dem dunkelbraunen Gebälk glich es allen übrigen Wohnhäusern östlich vom Regency Park zwischen Euston und Camden Town. Auch die Straßen glichen sich aufs Haar, denn sie waren wohlüberlegt und planmäßig angelegt. Am Abend waren sie mit lebhaften und tatkräftigen Menschen bevölkert, die sich zu einem Schwätzchen unter den Gaslaternen zu ihren Nachbarn gesellten oder Botengänge erledigten. Auch der Nebel und das frostige Wetter konnte sie nicht davon abhalten. Das war zwar unangenehm, aber mit einem warmen Wollschal und einem dicken Mantel ließ sich das gut ertragen. Wer konnte schon den Verlockungen eines gemütlichen Pub widerstehen, wo, nur einen Katzensprung entfernt, ein anregendes Gläschen Brandy und geselliges Beisammensein auf einen warteten.
Der Bewohner von Mornington Place Nummer 17 hielt große Stücke auf seine Nachbarschaft. Vielleicht war der Grund dafür, dass er mit seinen siebenundzwanzig Jahren zum ersten Mal in einem annehmbaren Stadtteil nördlich der City lebte und tun und lassen konnte, wie ihm beliebte. Erst kürzlich hatte er sich ein neues Fahrrad gekauft, das mit den modernsten Sicherheitsbremsen ausgestattet war, und fuhr nun allabendlich durch Mornington-Crescent. Er überanstrengte sich dabei nicht, sondern nahm die Eindrücke, Geräusche und Gerüche in sich auf, die sich ihm boten. Dann verarbeitete er die gesammelten Eindrücke zu umstrittenen - und deshalb sehr populären - Artikeln, durch die er sich einen anständigen Lebensunterhalt verdienen konnte.
Heute Abend hatte er beschlossen, sich im Regent's Park umzusehen, der sich in der Vergangenheit immer als guter Ort für neues Quellenmaterial erwiesen hatte. Er hatte auf seinem Stahlross bereits das York Gate erreicht, aber die vertraute Schönheit der gepflegten Grünflächen und tief herabhängenden Äste, deren Konturen im Nebel sanft und fließend waren, noch nicht registriert. Er selbst schien irgendwie benebelt zu sein. Als er jedoch an den See mit seiner glatten, schillernden Oberfläche kam, stieg in ihm plötzlich die Erinnerung an schöne Sommernachmittage auf, an denen er mit ausgewählter weiblicher Begleitung über den See gerudert war und eine Flasche gekühlten französischen Weins, Brot und Käse genossen hatte. Die Erinnerung daran ließ ihn erkennen, dass er seine eigene innere Aufregung noch nicht zu dämpfen in der Lage war. Die Londoner liebten ihn als abseits stehenden Beobachter, dessen Artikel dennoch vor Leidenschaft sprühten. Es war ihm, als hätte er mit seinem Fahrrad fünf Meilen mit Scheuklappen über den Augen zurückgelegt. Er verfluchte seine Zerstreutheit, dann lachte er. Der Grund war nicht schwer zu erraten. Er erwartete später am Abend alte Freunde und ehemalige Klassenkameraden, und - ach, du meine Güte! - welch eine Überraschung hielt er für sie bereit.
Er hätte an diesem Abend seine Fahrradtour überhaupt nicht angetreten, aber Mr. Hastings, der unerschrockene Herausgeber der Pall Mall Gazette, hatte bis zum Ende der kommenden Woche um drei weitere Artikel gebeten. Ja, er war mit seiner Arbeit in Verzug geraten, denn er hatte sich mehr als sonst mit voller Hingabe einem wissenschaftlichen Projekt in seinem obskuren Privatlaboratorium gewidmet. Er hatte auch mehr Geld ausgegeben, als die Artikel eingebracht hatten. Folglich war es unumgänglich, dass er neues Material fand - und zwar schnell.
Er lehnte sich vor, spannte die Muskeln seines kleinen, aber wendigen und kräftigen Körpers und trat fester in die Pedale. Die Straße vor ihm war seltsamerweise menschenleer, und für menschliche Artikel brauchte er menschliche Themen.
Der Nebel verwandelte sich in Sprühregen. Er wischte sich mit einem großen Taschentuch sein schönes, markantes Gesicht trocken. Durch die Nässe hing sein dichter dunkelhaariger Schnurrbart wie bei einem Walross über seinen Mund. Er fuhr ein kurzes Stück freihändig und verwendete beide Hände, die Haarmasse wieder in die richtige Form zu drehen. Dabei fiel ihm ein, dass ihm das Bartfett ausgegangen war und er sich bei nächster Gelegenheit in der Apotheke eine neue Dose besorgen musste.
Er fuhr eine Kurve und durch das Hannover Gate in den Park. Dort sah er einen sehr großen, dünnen und steifen Gentleman, der einen russischen Windhund mit ähnlichen Eigenschaften spazieren führte. Wie wäre es mit einem Artikel über die bemerkenswerte Ähnlichkeit (nicht nur körperlich, sondern auch psychologisch) zwischen Hundebesitzern und ihren Tieren? Er grinste spitzbübisch bei dem Gedanken, von verärgerten Adligen und Nichtadligen, die Dachshunde oder Bulldoggen besaßen, Beschwerdebriefe zu erhalten. Leider hatte er nicht die Zeit, sich mit den tausendundeins Arten und Züchtungen zu befassen, mit denen die Menschen sich zu umgeben pflegten. Nun gut, unter Umständen war das ein Thema für eine weniger hektische Zeit.
Er lenkte um einen Karren, der Milchkannen transportierte. Plötzlich sah er, wie das Pferd, das den Karren zog, den Schwanz hob und eine Ladung Fäkalien auf dem Pflaster ablud. Kein ungewöhnlicher Vorfall, überlegte er, aber was war mit den armen Teufeln, die die Straße tagtäglich reinigen mussten? Für sie (zweifellos osteuropäische Immigranten) war das nicht witzig. Nein, dieses Thema war zu alltäglich, vom sozialen Gefüge geprägt und zu realistisch für den romantischen Geschmack des Radfahrers. Und er hatte kein Verlangen, den ehrwürdigen Charles Dickens zu imitieren. Also blieb ihm nichts anderes übrig als weiter zu suchen.
Aber nach einer weiteren Meile an den Pedalen hatte der Radfahrer nichts Interessantes entdeckt und beschloss schließlich, es für heute bleiben zu lassen. Er radelte zum Fahrradständer vor dem Regent's Inn, einem Treffpunkt für junge Paare, die sich hier nach ausgedehnten Spaziergängen im Park ausruhten. Er ging hinein, um ein Gläschen zu trinken, und setzte sich an einen Tisch, der neben dem großen offenen Kamin stand. Er entfernte Schal und Jacke, dann lockerte er seine Krawatte.
Er trank sein Bier und sah sich im Raum um, um endlich eine neue Idee zu bekommen. An einem Tisch in der Ecke entdeckte er ein Paar, und sein Gefühl riet ihm, sie sich näher anzusehen. Also drehte er sich in ihre Richtung. Sie hielten sich an den Händen, und er lauschte. Sie beschwerten sich darüber, dass trotz der Novemberkälte zu viele Leute im Regent's Park seien. Der Radfahrer fragte sich, wo all die Leute gewesen waren, als er durch den Park radelte.
»Eigentlich sollten wir in deinem nächsten Urlaub ans Meer fahren, Liebling«, schlug die Frau vor. »Nicht einmal die Fischer werden dort sein.«
Der Mann gab ihr Recht. »Da es außerhalb der Saison ist, würde es auch billiger sein.«
Ein breites Lächeln zeigte sich auf dem Gesicht des Radfahrers. Er zog einen Notizblock und einen Stift aus seinen Kniebundhosen und begann zu schreiben. Wieso war ihm das nicht schon eher eingefallen? Die Küste war innerhalb einer halben Tagesreise mit dem Zug von London aus sein Lieblingsplatz. Er erinnerte sich - mehr erleichtert als schmerzlich - an ein Wochenende, das er dort im Januar mit seiner Frau Isabel verbracht hatte. Es diente der Erholung von einem leichten Schwäche- und Tuberkulose-Anfall. Er hatte damals in Biologie unterrichtet, und seine Frau Isabel hatte darauf bestanden, dass er sich ganz seinem Beruf und seiner Ehe widme und seine Träume aufgäbe, ein großer Schriftsteller und Erfinder zu werden. In seinen Augen stand sie für alles, was er verabscheute, und drängte auf eine Entscheidung zwischen ihr und seinen radikalen Ideen und unrealistischen Zielen. Er hatte sich dann für sich selbst entschieden. Jetzt grinste er schelmisch und schrieb einen Titel nieder: Wie man verheiratet am Freitag zur Küste fährt und am Montag als Junggeselle nach London zurückkehrt.
Er legte den Stift beiseite, leerte sein Glas, lehnte sich zurück und seufzte. Dieser Stoff würde wahrscheinlich sogar für drei Artikel reichen. Zöge man Isabels Krimskrams sammelnde Tante und eine ehemalige Studentin hinzu, die sowohl Frauenrechtlerin als auch mannstoll war, dann ließe sich daraus ein ganzer Roman machen.
Er wollte sich gerade ein weiteres Glas bestellen, als er vorsichtigerweise seine Taschenuhr hervorholte und einen Blick auf das Ziffernblatt warf.
»Mein Gott!«, rief er aus. Es war halb neun, und seine Gäste waren für neun Uhr bestellt! Er packte seine Sachen und rannte aus dem Gasthaus.
Er sprang auf sein Fahrrad und legte sich ins Zeug. Schon bald kam er an die Anhöhe, die er vor einer halben Stunde so gemütlich hinabgefahren war. Er trat die Pedale mit ganzer Kraft, aber der Berg war ungewöhnlich steil. Er atmete angestrengt, und trotz der Kälte begann er unter den Kleidern zu schwitzen. Hoffentlich würde er sich dadurch keine Lungenentzündung zuziehen!
Obwohl er sich immer sehr anstrengte, mit dem Fahrrad in Fahrt zu kommen, kam er nie schneller als mit Schrittgeschwindigkeit voran. Widerwillig stieg er ab und schob sein Fahrrad die letzten paar Meter zur Spitze des Hügels. Als er zu Fuß ging, runzelte er die Stirn und fragte sich, wieso die Fahrräder so primitiv sein mussten. Man könnte sie sehr wohl mit Übersetzungsmechanismen ausstatten, die die Umdrehungen der Räder änderten. Andere Maschinen waren mit solchen Vorrichtungen bestückt. Noch besser wäre eine Art Antriebsmotor, wie eine leichtgewichtige Version des Verbrennungsmotors von Daimler-Benz.
»Hmmm«, brummte er. Vielleicht sollte er sich demnächst damit befassen. Diese Idee schien ihm unendlich einfacher als seine gegenwärtige Erfindung. Er lächelte, bestieg sein Stahlross und radelte zurück nach Mornington-Crescent. Zum Teufel mit den Artikeln über die Küste! Sobald ihm sein Projekt in den Sinn kam, wurde er ganz aufgeregt und konnte sich auf nichts anderes konzentrieren. An diesem Morgen hatte er in seinem Laboratorium die letzten Handgriffe an seinem Gerät ausgeführt und konnte die Reaktion seiner Freunde kaum erwarten. Natürlich musste der Apparat noch getestet werden, aber' dieses Ereignis erfüllte ihn trotzdem mit großem Stolz und starker Befriedigung. Trotz einer dürftigen Kindheit und einer gestrengen biblischen Erziehung, trotz seines Versagens als Lehrling, seiner chronischen Tuberkulose, seiner mangelhaften Leistungen auf der Universität und der schlimmen Nachwirkungen seiner ersten Ehe - trotz all dieser Dinge war er im Begriff, die Geschichte zu ändern. Und noch heute würden seine Freunde als erste diese Tatsache erfahren. Schließlich würde die Wissenschaftliche Fakultät einen ehemaligen Studenten, der vor sieben Jahren hinausgeflogen war, mit einem Ehrentitel auszeichnen wollen.
H. G. Wells stieg vor dem Haus Nummer 17, Mornington Place, von seinem Fahrrad, schob es durch das Tor und lehnte es unter dem überwölbten Vorbau gegen die Mauer.
»Mr. Wells!«, rief die penible Mrs. Nelson, als er in die Küche eilte. »Wo waren Sie denn?« Sie faltete die Daily Mail, die sie gerade gelesen hatte, legte die Zeitung auf den Tisch hinter ihr, stand auf und goss automatisch eine Tasse Tee ein, die sie ihm dann reichte. Danach nahm sie wieder auf ihrem Stuhl Platz, schlug ein Bein über das andere und fuhr sich über das silbergraue Haar über ihrem schmalen und hübschen Gesicht. Dann musterte sie ihn kritisch mit ihren unerschrockenen blauen Augen und runzelte die Stirn. »Bei so einem Wetter sollten Sie nicht auf diesem komischen Apparat durch die Gegend sausen.«
»Das Wetter ist immer so«, erwiderte er seiner Haushälterin. Dann nahm er einen großen Schluck aus seiner Tasse.
»Aber in Ihrem Zustand...«
»Ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nicht besser gefühlt.«
Sie schüttelte den Kopf und seufzte. »Dasselbe hat Mr. Nelson gesagt. Am Tag, bevor er starb. Gott sei seiner Seele gnädig.«
H. G. beachtete ihre Bemerkung nicht und leerte seine Tasse. »Ist schon jemand da, Mrs. Nelson?«
»Nein, Sir.« Sie blickte hoch - ihre Augen funkelten - und fügte feindselig hinzu: »Wenn Ihre Freunde so wie Sie sind, dann müssen wir damit rechnen, dass sie zu spät kommen, nicht wahr?«
»Wenn es modern ist«, entgegnete er lächelnd. Dann stellte er Tasse und Untertasse auf die Anrichte neben der Spüle und ging in Richtung Tür.
»Ich habe Ihnen einen Pullover herausgelegt«, sagte sie zuneigungsvoll. »Im Salon ist es kühl.«
»Es ist kein Salon, Mrs. Nelson, es ist eine Bibliothek.«
»Nennen Sie es, wie Sie wollen, Sir, aber...«
»Ich lege noch ein paar Scheite aufs Feuer.« Er ging aus der Küche.
Mrs. Nelson wandte sich wieder der Daily Mail zu, konnte sich aber nicht konzentrieren. Sie schüttelte den Kopf, lächelte versehentlich und blickte an die Decke. Sie hatte ganz andere Ansichten als Mr. Wells. Besonders seinen Ansichten über Religion und Ehe widersprach sie heftigst. Hatte er nicht behauptet, dass neunzig Prozent aller Ehen in einer Revolte oder in passivem Ertragen enden? Und: Falls es einen Gott gibt, wie kann er dann zulassen, dass die Natur so rücksichtslos grausam ist? Als sie seine Scheidung gerügt hatte, hatte er sie mit einem Lachen und der frechen Bemerkung abgetan, dass sie schließlich keine Arbeit bei ihm gefunden hätte, wenn er nicht als Junggeselle leben würde. Zu ihrer Bestürzung hatte er weiterhin gesagt, dass es eine Wohltat für die ganze Nation sei, wenn eine so konservative Person wie Mrs. Nelson für einen so radikalen Menschen wie Mr. Wells arbeitete. Wie dem auch sei, sie hatte noch nie eine so aufregende und anspruchsvolle Tätigkeit wie als Haushälterin von Mr. Wells ausgeübt.
Sie goss sich Tee nach und hoffte, dass ihre belegten Brote die Zustimmung von Mr. Wells finden würden. Sie hatte sich große Mühe gegeben und den ganzen Nachmittag damit verbracht, sie zuzubereiten. Sie seufzte. Angesichts der fortgeschrittenen Stunde und der zu erwartenden Gäste würde er wahrscheinlich für den Wein größeres Interesse aufbringen.
Was aber nicht stimmte. Denn nachdem H. G. drei weitere Scheite auf das Feuer im Kamin gelegt hatte, nahm er einen der kunstvoll hergerichteten Appetithappen vom Zinntablett, kostete und fand ihn vorzüglich. Mit vollen Backen kauend, blickte er sich um. Abgesehen von den köstlichen Häppchen hatte Mrs. Nelson eine Schale mit feinen Früchten, verschiedenen Käsesorten und Brot vorbereitet. Den Tisch hatte sie liebevoll mit Silber, Kristallgläsern und mehreren Flaschen französischen Rotweins gedeckt. Auf dem Sideboard brannten mehrere Kerzen, und H. G. lächelte voller Stolz und Bewunderung.
Obwohl Teppiche, schöne Vorhänge und großzügiges Mobiliar fehlten, war es Mrs. Nelson gelungen, den Raum nett und gemütlich erscheinen zu lassen. Auf dem kleinen Sofa bemerkte er eine neue Decke. Die beiden mit rotem Samt gepolsterten Stühle waren entstaubt, und der imitierte Rokoko-Tisch mit chinesischen Motiven glänzte frischpoliert.
H. G. war entzückt. Angesichts der revolutionären Enthüllung war der Raum jetzt ideal für die Versammlung seiner Freunde geeignet.
Er wusste, dass seine Freunde erfreut und begeistert sein würden, denn einige von ihnen hatten ihn seit der Studienzeit nicht mehr gesehen. Damals hauste er in einem kleinen Kellerzimmer im West End und musste mit einem sehr dürftigen Stipendium durchkommen. Ah, Mrs. Nelson! dachte er. Welch eine wunderbare Frau sie war! Er wünschte sich, sie würde für immer seine Haushälterin bleiben. Denn was wäre das für ein Haushalt, wo alle immer derselben Meinung sind? Wie könnte da jemand etwas dazulernen?
Er war versucht, in die Küche zu stürmen und ihr einen Kuss auf die Stirn zu drücken. Aber er wollte sie nicht in Verlegenheit bringen, zumal es schon spät war. Er ging schnell nach oben und zog seine graue Tweedhose und sein bequemes Norfolk-Jackett an. Dann kämmte er sein dunkelbraunes Haar und betrachtete sich kritisch im Spiegel. Wie üblich lächelte er, denn er mochte sein Gesicht. Seine markanten, dennoch zarten Züge ergänzten seiner Meinung nach seine Leidenschaft für die Schriftstellerei und das Erfinder-Handwerk. Und eines Tages würde es zweifellos eine charmante, außergewöhnliche und intelligente Frau anziehen - eine emanzipierte Frau.
Mit glühenden Wangen fuhr er mit dem Kamm durch seinen Schnauzbart, dann war er bereit.
Kurz nach zehn kamen die ersten Gäste. Mrs. Nelson nahm in der Diele Mäntel und Hüte in Empfang und hängte sie in den Garderobenschrank. Dabei wunderte sie sich, dass Mr. Wells für diese Leute, die sie als Bohemiens oder Liberale verdächtigte, einen so großen Aufwand betrieb. Aber sie verhielt sich nichtsdestoweniger höflich und führte die Gäste in den Salon alias Bibliothek, wo Wells sie herzlichst begrüßte. Dann schloss sie die Tür zu diesem Raum und ging zu Bett, da es schon fast elf und sie müde war.
In der Bibliothek gab es zuerst eine kurze Unterhaltung über die Zeit nach dem Studium. Die Karrieren der anwesenden Herren waren steil verlaufen, wohingegen Wells noch auf sehr wackligen Beinen stand. Aber H. G. war dennoch optimistisch und sprühte vor Begeisterung, als er die kleinen Happen umherreichen ließ. Dann goss er Wein ein und reichte jedem Gast zusammen mit einer persönlichen Bemerkung ein Glas. Dann lud er sie mit einer ausfahrenden Geste ein, es sich bequem zu machen. Sie ließen sich auf dem Sofa und den Stühlen nieder und tranken den Wein. Da er in dem Raum nur über fünf Sitzplätze verfügte, entschied H. G. sich für einen Stehplatz. Aber das machte ihm nichts aus. Auf diese Weise konnte er das Gespräch besser lenken.
Und so nahm der Abend seinen Anfang.
H. G. schritt neben dem Kamin auf und ab und trank Wein. H. Ronald Smythe, jetzt ein engstirniger Wirtschaftswissenschaftler mit einem Forschungsauftrag von der Königin, sprach langatmig über die Frivolität der Belletristik. H. G. hörte geduldig zu und wartete. Seine schlanke, hinreißende Gestalt bewegte sich geschmeidig, aber würdevoll, denn er sprach immer mit dem ganzen Körper. Seine dunklen Augen wichen nie von Smythes Gesicht.
»Belletristik ist Lüge, und ich würde sogar so weit gehen, zu behaupten, dass sie das Verbrechen fördert«, sagte Smythe. Das halbe Glas Wein hatte sein schmales Hirn bereits so weit eingelullt, dass er nicht merkte, dass er zu laut redete und sich ständig wiederholte.
»Es ist mir neu, dass Bücher Verbrechen begehen sollen«, antwortete James Preston, Rechtsanwalt und Kandidat für die Parlamentswahlen. »Ich war immer der Ansicht, dass Menschen die Missetäter seien.«
Alles lachte.
»Was meint denn unser Gastgeber dazu?«, fragte Smythe, der jetzt so kastanienrot wie seine Fliege war.
H. G. machte eine halbe Drehung. Seine Stimme war dünn und piepsend, dennoch zuversichtlich. »Zuerst möchte ich unserem Ronald ein Kompliment für seine Beharrlichkeit aussprechen, die er für die gleichmacherischen Ansichten der Queen in bezug auf finanzielle Angelegenheiten aufgebracht hat.«
Die Gäste lachten und waren jetzt ganz entspannt.
»Wir sprachen über Belletristik und Verbrechen«, entgegnete der stattliche Volkswirt trocken.
»In der Tat«, antwortete H. G. »In der Tat. Ich bin mir über den Zusammenhang, den du, Ronald, aufgezeigt hast, nicht im Klaren, aber ich gebe dir recht, dass es ein Verbrechen ist, dass manche Dinge veröffentlicht werden.« Er machte eine Pause, da die Gäste wieder lachten. »Es ist ebenso ein Verbrechen, dass einige Dinge nicht veröffentlicht werden.« Seine Augen funkelten. Und dann begann er langsam und behutsam mit seinen Ausführungen. Seine Gäste waren jetzt entspannt, und er musste sie zuerst in die richtige Stimmung bringen, um von ihnen nicht verspottet zu werden.
»Wir alle wollen eine Welt frei von sozialen Ungerechtigkeiten, und sittlichen Geboten, die den Menschen niedriger als den Affen machen, von dem er abstammt.« Er machte eine Pause und zündete sich eine Zigarre an.
Merklich gelangweilt lehnte sich der Arzt Dr. Leslie John Stephenson wiederholt über die Stuhllehne und nahm einen Happen nach dem anderen vom Tablett. Er hatte einen Wolfshunger und ließ erst von den Speisen ab, als er merkte, dass er allein das halbe Tablett leergegessen hatte. Stets besorgt um sein Aussehen und Auftreten, fuhr er sich mit der Stoffserviette leicht über den Mund und wandte sich dann seiner Kleidung zu. Auf seinem Schoß lagen mehrere Brot- und Käsekrümel, die er behutsam in die Serviette beförderte, um sie dann gekonnt in ein Dreieck zu falten und auf den Tisch zu legen. Dann nahm er einen angemessenen Schluck aus seinem Weinglas, lehnte sich zurück, stützte das Kinn in eine Hand und hörte zu.
»Ihr redet von Kriminalität, meine Freunde«, fuhr H. G. fort. »Kriminalität existiert nur, weil die britische Monarchie und die Kirchenhierarchie den Großteil der Bevölkerung unterdrücken und wenigen Privilegierten die Freiheit lassen, zu tun was ihnen beliebt.«
»Willst du damit andeuten, dass die Königin und der Bischof von Canterbury kriminell sind?«, fragte Preston.
»Nur, dass sie es nicht besser wissen«, entgegnete H. G. »Obschon Queen Victoria meiner Meinung nach die Herzen der Menschen wie mit einem großen Briefbeschwerer ein halbes Jahrhundert belastet hat. Als vernünftiger und intelligenter Mensch könnte man das als das größte Verbrechen der jüngsten Geschichte bezeichnen.«
Als das Gelächter verklungen war, räusperte sich Dr. Stephenson und riss das Wort an sich. Seine Stimme war weich und melodisch und verriet eine Spur Melancholie. »Es spielt keine Rolle, in welcher Gesellschaft wir leben. Kriminalität wird es immer geben.«
»Nicht in einer Gesellschaft, in der alle Bürger satt werden und eine neue Ethik herrscht.«
Stephenson lächelte leicht. »Das kann nur geschehen, wenn man das ganze Volk einer Gehirnoperation unterzieht.«
Die Gäste schmunzelten auf Wells' Kosten, und H. G. erinnerte sich daran, dass Stephenson als Student in der Kricketmannschaft die Angewohnheit hatte, den harten Holzball mit einer schnellen Drehung gegen die Beine eines gegnerischen Schlägers zu schleudern. Offensichtlich hatte er gelernt, in einer ähnlichen Weise zu denken und zu sprechen.
»Mein lieber Stephenson«, sagte H. G., »freust du dich nicht auf den Tag, wo du in der Times gute Nachrichten zu lesen bekommst?«
»Wo liegt der Unterschied? Du selbst hast bereits das unzureichende Justizsystem der Queen erwähnt. Und die Absurdität der Religion, die vorschreibt, was man zu essen und wie man sich zu verhalten hat. Wenn die Justiz selbst unmoralisch ist, dann sollte man besser darauf verzichten. Wenn einige Verbrecher der Bestrafung entgehen und wenn es keinen Gott mit einer letzten Vergeltung gibt, dann kann uns die Kriminalität egal sein. Die Menschen sollen tun, was sie wollen. Die wohlverdiente Strafe wird sich automatisch einstellen, wenn sie sich an einem Stärkeren vergreifen.«
H. G. war sprachlos. Er kniff die Augen zusammen und musterte sein Gegenüber. Er verlor nicht die Geduld und überlegte kurz, um wieder die Oberhand zu gewinnen.
»Glaubst du nicht, John, dass wir die Menschen zu einer Moral erziehen sollten?«
»Wieso?«
»Um Recht und Ordnung aufrechtzuerhalten.«
Stephenson lachte. »Es gibt weder Recht noch Ordnung, Wells!«
»Und wie steht es mit der Heiligkeit des menschlichen Lebens? Oder glaubst du daran auch nicht?«
»Ich arbeite als Arzt, Wells. Leute kommen und gehen. Sie kommen auf die Welt, werden krank und sterben.« Er beugte sich vor und senkte seine Stimme, so dass sie noch melodischer klang. »Ich weiß von meinen Patienten nur, in welchem Zustand ihre Organe sind. Ich bin wie ein lumpiger Mechaniker, der eine Kutsche repariert. Nur werden meine Hände voll Blut, nicht voll Schmiere. Letztlich geht es nur um die Frage, ob man es in Ordnung bringen kann oder nicht, Wells. Wie kann man bewirken, dass die Räder sich weiter drehen und das Herz weiter schlägt?« Er hielt inne und lehnte sich wieder zurück. »Nun, was ist daran so verdammt heilig?«
H. G. wurde rot. »Nichts, wenn man es so formuliert.«
Die anderen lachten und rutschten aufgeregt auf ihren Plätzen hin und her.
»Der Literarischste unter uns hat soeben seine erste Debatte verloren«, sagte Smythe belustigt.
Wells sah ihn an. »Nicht ganz, Ronald. Ich stimme zwar zu, dass unsere derzeitige Justiz und Moral inkonsequent sind, aber man darf die Wissenschaft und Technik nicht außer Acht lassen. Diese werden letztendlich den Glauben an Gott und die Queen ersetzen. Sie sind die Hoffnung für die Zukunft der Menschheit. Sie werden zu einem neuen Zeitalter der Aufklärung führen. Und diese werden die Vergeltung ausüben, an die wir nicht zu glauben scheinen.«
Stephenson runzelte die Stirn und trank sein Glas leer. Ihm fiel nicht sofort eine Antwort ein, denn er hatte zwar eine gute Ausbildung und Erfahrung im medizinischen Bereich, war aber mit der Technik und den Spekulationen, wohin sie eines Tages führen würde, nicht sehr gründlich vertraut. Er schwieg also vorerst, wie es sein diktatorischer Vater in seiner Kindheit von ihm verlangt hatte.
Zwischenzeitlich hatte H. G. seine selbstsichere und würdige Haltung wiedergewonnen und fuhr fort: »In weniger als hundert Jahren wird es keine Kriege, soziale Ungerechtigkeiten oder Verbrechen mehr geben. Unsere Welt wird ein fortschrittliches Utopia sein, wo jeder in der Lage ist, neue geistige Höhen zu erschwingen und den Vergnügungen des Fleisches nachzugehen.« Er unterbrach seine Worte und sah seine Gäste an, die einschließlich Stephenson und Smythe interessiert zuhörten.
Es stand in der Tat etwas Großes bevor, und in den Ausdrücken seiner Gäste spiegelte sich diese Erkenntnis wider. Harper, der Psychologe, hatte die Augen geschlossen und drückte seine Finger auf den Nasenrücken, um sich besser konzentrieren zu können. Und Grinnell, der weitsichtige Lehrer, nickte andauernd mit dem Kopf und fuhr sich über seinen gepflegten Bart.
Aber dann wurde H. G. wieder von Stephenson unterbrochen. »Ich finde, dass der Mensch nicht nobel ist, H. G. Und es ist bestimmt nichts Entzückendes an einer menschlichen Seele, die in menschliches Fleisch eingesperrt ist. Weiterhin lässt der derzeitige Stand der medizinischen Wissenschaft nicht vermuten, dass der Mensch sich in Zukunft einschneidend ändern wird.«
Smythe nickte wild mit dem Kopf.
H. G. lächelte seinen Gegenspieler an. Jetzt, so fühlte er, hatte er die Oberhand gewonnen. »Ich kann dich gut verstehen, John. Du musst den ganzen Tag unter Kranken und Sterbenden zubringen. Unter Menschen, denen du gerne helfen würdest, aber dazu nicht in der Lage bist, da die Medizin noch in ihren Kinderschuhen steckt. Du wurdest vor deiner Zeit geboren, wie wir alle.«
»Worauf willst du denn hinaus?« Stephenson aß unfreiwillig drei weitere Häppchen. »Mehr Vorhersagen? Das sind doch keine Argumente.«
»Ich möchte lediglich sagen, dass gegen Ende des Zwanzigsten Jahrhunderts alle Menschen auf der Erde glücklich und zufrieden sein werden.«
»Kannst du nicht spezifischer werden?«, fragte Stephenson sarkastisch.
»Du kannst ein beliebiges Jahr nach 1950 wählen«, erwiderte H. G. mit feierlicher Geste. Dann zog er genüsslich an seiner kubanischen Zigarre.
Smythe konnte sich nicht länger zurückhalten. Er erhob sich schwankend. »Das mag zwar utilitaristisch klingen, Wells, aber wenn du uns Armageddon im - sagen wir - Jahre 1984 beschreibst, dann werden wir darüber nur lachen.«
»Dass du dich auf die Zustände des gegenwärtigen London beschränkst, ist einzig dein Fehler, Ronald.«
»Was sollen wir deiner Meinung nach tun?«, fragte Smythe. »Sollen wir dem Papst eine Petition für eine Enzyklika über die Reinkarnation vorlegen?«
Ein Großteil des Lachens ging auf das Konto von Wells. Die Stimmung, an der er so hart gearbeitet hatte, war wie weggeblasen. Er überlegte verwirrt, was er zur Antwort geben solle, als er plötzlich erkannte, dass er für seine Mitteilung keine besondere Stimmung oder dramatische Spannung benötigte. Bisher hatte die Debatte seinen Hang für Polemik befriedigt, aber dies war keine Diskussionsrunde alter Klassenkameraden über philosophische oder politische Bewegungen in den Teehäusern von South Kensington. Das war die wichtigste Versammlung seines ganzen Lebens.
Er brauchte nur zu erklären, mehr nicht.
»Also, H. G.«, sagte Preston, dessen Gesicht von drei Gläsern Wein gerötet war, »warum hast du uns wirklich eingeladen? Der Grund war sicherlich nicht, uns einer Erneuerung alter Wortgefechte zwischen dir, Smythe und Stephenson beiwohnen zu lassen.« Er steckte sich eine Zigarette an. »Diese Zeiten sind vorbei, und ich muss jetzt gehen, da mich morgen ein arbeitsreicher Tag erwartet.« Er machte Anstalten aufzustehen.
»Bleib sitzen, James«, sagte H. G., der viel ruhiger wirkte, als er war. »Ich komme sofort darauf zu sprechen.« Gedankenversunken drehte er drei weitere Kreise vor dem Kamin, nahm einen tiefen Atemzug und wandte sich seinen Gästen zu.
»Liebe Freunde, wie wir wissen, hat alles eine Länge, Breite, Tiefe und Dauer. Dauer - oder Zeit - ist die vierte Dimension, nicht wahr?«
Alle nickten zustimmend, obwohl Stephenson und Smythe etwas reserviert wirkten.
»Unser Leben verläuft in Form eines Falles oder Fluges durch die räumliche Dimension, Zeit, aber wir können zu jedem beliebigen Zeitpunkt nur drei Dimensionen wahrnehmen. Wie wir wissen, beginnt unser Dasein mit der Geburt und endet mit dem Tod. Demzufolge sind wir vierdimensionale Wesen. Was wir von Augenblick zu Augenblick sehen, ist nur ein Teil unserer Realität.«
»Das ermöglicht noch nicht den Weg zu deiner sogenannten Utopia«, sagte Stephenson.
Wells wollte ihm zuerst antworten, doch dann lächelte er nur und ließ die Bemerkung einfach unter den Tisch fallen. »Wenn Zeit eine Art Raum ist, stellt sich die Frage, wieso wir uns in der vierten Dimension im Gegensatz zu den anderen drei nicht umherbewegen können?«
»Das tun wir doch«, entgegnete Smythe. »Mit der Geschwindigkeit, die wir Minuten, Stunden, Tage, Wochen und so weiter nennen.«
»Und was wäre, wenn wir diese Geschwindigkeit verlangsamen oder beschleunigen könnten?«
»Unmöglich«, sagte Stephenson entschieden. »Die Zeit schreibt uns die Geschwindigkeit des Lebens vor. Und daran ist nicht zu rütteln.«
»Haben wir nur deswegen Wissenschaft studiert, um uns mit dem gegenwärtigen Stand zufriedenzugeben? Oder um das Unbekannte zu erforschen?«
Harper und Grinnell gaben Wells Recht. Stephenson, Smythe und Preston ließen sich scherzend darüber aus, wie es um Wells finanzielle Lage oder seine geistige Gesundheit stand. Aber keiner von ihnen machte Anstalten zu gehen.
Die Diskussion dauerte Stunden, mit kleinen Ess- und Trinkpausen. Wells genoß jede Minute davon, denn er tat das, was er sehr liebte - er gebrauchte Worte und Logik, um die Zweifler zu überzeugen. Auf die Zwischenrufe »Unmöglich!« zitierte er gelassen die neuesten Errungenschaften der Technik: Edisons Sprechmaschine, die praktisch anwendbare Glühbirne (er hatte bereits einige in seinem Labor installiert), den Verbrennungsmotor von Daimler-Benz, Marconis drahtlose Übertragung und - gelobt sei die Königin - Londons neue elektrische Untergrundbahn.
»Was ist unmöglich, meine Herren?« Wells breitete die Hände aus und steckte sich eine weitere Zigarre an. Er sah kurz auf die Uhr auf seinem Schreibtisch. In einer halben Stunde würde die Sonne aufgehen. Sie hatten die ganze Nacht geredet.
H. G. drehte sich um. Seine Augen strahlten, obwohl es so spät war. »Was hast du vor acht Jahren gemacht, John?«
»Medizin studiert. Was soll das beweisen?«
»Was war deine erste Vorlesung?«
»Anatomie.«
»Kannst du dir noch das Gesicht, die Statur und die besonderen Merkmale deines Professors vorstellen?«
»Selbstverständlich.«
»Wenn du deine Augen schließt, siehst du dann die Übersichten und Wandkarten über den menschlichen Körpern?«
»Sicher.«
»Kannst du dich an die erste Leiche erinnern, die deine Klasse seziert hat?«
»Was soll denn das, Wells? Natürlich kann ich das! Mein Gedächtnis ist völlig in Ordnung.«
»Dann ist dein Verstand soeben durch die Zeit gereist. Fait accompli.« H. G. lächelte, dann führte er den Gnadenstoß aus. »Und wenn dein Verstand das kann, warum nicht der Rest von dir?«
Die Gäste murmelten einander zu.
Stephenson war aufgesprungen. »Das ist gegen jede Vernunft!«, schrie er.
»Womöglich schon. Aber ist nicht die Aufhebung oder Überwindung der Schwerkraft dasselbe? Du weißt doch, dass mehr als ein Mensch in einem Ballon zu einer Höhe von mehr als fünftausend Fuß über der Erdoberfläche hinaufgestiegen ist, nicht wahr?«
Stephenson wollte etwas sagen, sank aber dann auf seinen Sitzplatz und überlegte angestrengt. Wer hätte sich vor zehn Jahren schon eine elektrische Glühbirne träumen lassen? Oder eine Sprechmaschine? Wer hätte sich vor hundert Jahren eine Kamera vorstellen können? Oder ein Grammophon? Die Technik schien sich immer schneller zu entwickeln. Vielleicht hatte Wells mit seiner utopischen Zukunft Recht. Seine Theorien schienen vernünftig-
Smythe hatte das Wort und gestikulierte triumphierend, als er sprach. »Kommt euch das nicht alles bekannt vor? Wie jene absurde Sammlung, die Wells vor fünf Jahren im Journal veröffentlicht hat?« Er drehte sich und sprach zu H. G. »Was hatte das für einen Titel?«
»Der ewige Argonaut.«
»Ach ja«, fuhr Smythe fort. »Handelte das nicht von einem jungen Mann, der durch die Zeit reiste und vielen großen Zivilisationen der Zukunft begegnete? Welch ein Unsinn! Vergiss deine Zeitmaschine, Wells. Es ist eine Zeitverschwendung und geziemt sich nicht für dich!«
H. G. räusperte sich und lächelte selbstgefällig. »Ich habe meine Zeitmaschine nicht nur nicht vergessen, meine Herren, ich habe eine konstruiert.«
Das Durcheinander der Stimmen weckte Mrs. Nelson. Sie lauschte und konnte die gedämpfte Stimme von Mr. Wells hören. Dann folgte ein erneuter Wirrwarr empörter Stimmen. Sie sah auf die Uhr auf dem Nachttischchen: 5.15 Uhr. Sie runzelte die Stirn. Welch ein kopfloser Mann! Trotz seiner gebildeten Art war er unvernünftig und charakterlos. So etwas gehörte sich nicht. Wenn Mr. Wells nicht so rücksichtsvoll war, seine Gäste zu entlassen, dann würde sie das höchstpersönlich erledigen. Sie stieg aus dem Bett und warf sich schnell einen grauen, knöchellangen Morgenmantel über ihr blaues Nachthemd.
Auf dem Weg nach unten schüttelte sie wieder den Kopf. Sie konnte diesen Mann einfach nicht verstehen. Er konnte so nett und rücksichtsvoll sein, um im nächsten Augenblick dann die ganze Nacht seine radikalen und gotteslästerlichen Ideen auszuspucken. Zweifellos stammten die guten Seiten von der gestrengen und umsichtigen Erziehung seiner Mutter. Und das andere hatte er von seinem leichtsinnigen Vater geerbt, der immerzu in einem halbprofessionellen Kricketclub spielte. Und erst diese Schule, die den armen, labilen Mr. Wells mit Darwinismus, Sozialismus und anderen Wahnvorstellungen vergiftet hat. Vielleicht könnte sie eines Tages den Vikar zu einer Tasse Tee bei ihnen überreden: Er wäre vielleicht in der Lage, dem jungen Mann den Kopf zurechtzusetzen.
Als sie die letzte Stufe der Treppe erreicht hatte, klopfte es an der Haustür. Wer konnte das um diese Zeit sein? Wieder klopfte es ungeduldig. Sie riss die Tür auf. Da die aufgehende Sonne sie blendete, musste sie mit der Hand die Augen abschirmen.
»Mr. Wells empfängt heute Abend keine weiteren Gäste mehr, Gentlemen«, sagte sie überheblich zu den beiden Herren mit einem starren, aber verschmitzten Gesichtsausdruck. Sie nahmen ihre Hüte ab und ordneten ihre schlecht sitzenden Anzüge. Mrs. Nelson wollte gerade die Tür vor ihrer Nase zuschlagen, als einer von ihnen eine Plakette hochhielt.
»Guten Morgen, Frau. Ich bin Inspector Adams, Scotland Yard. Entschuldigen Sie die frühe Störung, aber ist der Herr des Hauses da?«
Nachdem Wells die Neuigkeit verkündet hatte, waren die Gäste aufgesprungen und hatten ihn mit Fragen bombardiert. Stephenson war am lautesten. H. G. hatte den Mann noch nie so aufgeregt gesehen. Und warum nicht? Die Zeitmaschine würde den Tod auslöschen und, so überlegte er, hoffentlich auch die Existenz Gottes.
Als seine Gäste sich etwas beruhigt hatten, setzte Wells seine Erklärung fort. Er hatte das Phänomen Zeit und die Geometrie der vierten Dimension seit Jahren studiert und getestet. Seine Erläuterungen hielt er so einfach wie möglich, da seine Freunde nicht über sein Wissen verfügten und er sie unwiderruflich überzeugen wollte.
Er begann: »Gentlemen! Atome rotieren durch das Sonnensystem, wie unser Sonnensystem durch das Universum rotiert. Auch das Universum dreht sich, während es mit Lichtgeschwindigkeit durch den Raum reist.
Ich habe entdeckt, dass sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft permanent in unserem Universum existieren. Aber unser Bewusstsein registriert nur das Jetzt, weil es dazu erzogen wurde. Vielleicht ist das für Mutter Natur eine zwingende Notwendigkeit, um die Ordnung der Schöpfung aufrechtzuerhalten.
Die verschiedenen Zeitebenen oder Zeitsphären grenzen an diejenige an, in der wir uns jetzt befinden. Sie unterliegen den Gesetzen der Gauß'schen Koordinaten. In anderen Worten, eine bestimmte Zeitdimension ist lediglich ein elektromagnetisches Feld. Ein Strudel, wenn man es so nennen will.
Ich habe nun eine Maschine entwickelt, die Energiefelder nebeneinanderstellt und dadurch Reibung erzeugt. Das führt zu einer größer werdenden und sich ausdehnenden Kettenreaktion, die die Maschine aus einer Zeitsphäre in eine andere hebt, oder wörtlich gesagt dreht. Die Beschleunigung hält die Maschine und seinen Insassen in einem bewussten, aber aufgelösten Zustand jenseits aller Zeitebenen. Man kann willentlich in die Zukunft oder Vergangenheit gehen.«
»Wie weiß man, was was ist?«, fragte Grinnell.
»Wenn die Rotation nach Westen geht, erreicht man das Gestern. Nach Osten gewinnt man das Morgen.« H. G. trank sein Glas leer und goss frischen Rotwein ein.
»Und nach Norden findet man sich in Schottland wieder, nach Süden verschlägt es einen in die Themse«, bemerkte Smythe sarkastisch. »Hirngespinste.«
»Ruhe!« fuhr Stephenson ihn an. Er wandte sich an H. G. Seine Augen waren weit aufgerissen und glänzten. »Geht die Maschine, Wells?«