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Else Urys Buch 'Flüchtlingskinder' ist ein bewegendes und realistisches Porträt über das Schicksal von Kindern während des Ersten Weltkriegs. Der Roman ist in einem klaren und einfachen Stil geschrieben, der es Lesern jeden Alters ermöglicht, sich in die Geschichte hineinzuversetzen. Ury schafft es, die Grausamkeiten des Krieges und die Hoffnungslosigkeit der Flüchtlinge auf einfühlsame Weise darzustellen, ohne dabei an Emotionalität zu sparen. 'Flüchtlingskinder' ist ein wichtiger Beitrag zur deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts und zeigt Urys Talent für die Darstellung von menschlichen Schicksalen in schwierigen Zeiten.
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Seitenzahl: 264
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Schneeweiß war das Häuschen, in dem Peter und Hanni wohnten. Ein lustiges rotes Ziegeldach hatte es und grüne Fensterläden; wie aus einer Spielzeugschachtel schaute es aus, so sauber und nett.
Das war aber noch nicht das Schönste.
Das Schönste war der große Garten mit den süßen Erdbeeren und Himbeeren, den Johannisbeer- und den Stachelbeerhecken und den vielen, vielen Obstbäumen. Ja, der Garten, der war so recht der Tummelplatz der beiden Geschwister. Im Haus sah man sie jetzt während der heißen Sommerzeit eigentlich nur des Nachts beim Schlafen. Denn auch die Mahlzeiten wurden in der kühlen Geißblattlaube eingenommen.
An den Garten schloß sich eine große Wiese, die war über und über mit bunten Blumen besät. Hei – war das eine Lust, hier zu pflücken, Sträußchen zu binden und Kränze zu winden. Hanni machte diese stille Beschäftigung mehr Spaß als Peter. Denn Peter war ein Wildfang, liebte Tollen und Klettern, die Dorfgänse zu jagen und im Bach zu waten.
Nun werdet ihr doch sicherlich denken, daß Peter der Bruder war und Hanni das Schwesterchen.
Ja, prosit Mahlzeit! Gerade umgekehrt! Peter hatte zwei dunkelblonde Zöpfchen und die übermütigsten Braunaugen, die ein kleines Mädel von acht Jahren nur haben kann. Ein hellrotes Kleidchen trug's, und die Schürze zeigte ständig Flecke und Risse. Hanni dagegen, das um ein Jahr jüngere Brüderchen, war ein flachsblonder, braver kleiner Bub mit träumerischen Blauaugen.
Wie kam es denn aber, daß die Eltern ihrem Töchterchen einen Jungennamen gegeben hatten und den Buben mit einem Mädchennamen riefen?
Das kam so:
Eigentlich hieß Peter Annedore, und der Hanni war ein kleiner Hans. Als die Annedore zur Welt kam, hatten die Eltern bestimmt geglaubt, ihr erstes Kindchen müßte ein Junge sein. Peter sollte er heißen, denn den Namen hatten von jeher die ältesten Knaben der Familie Kaschuba getragen. Da lag plötzlich ein strampelndes Mädelchen statt des erwarteten Jungen in der Wiege.
»Unser kleiner Peter«, sagte die Mutter scherzhaft auf das Töchterchen. Aber bald zeigte es sich, daß dieser Name viel besser für die wilde kleine Hummel paßte, als der sanfte Name Annedore, den sie bei der Taufe erhalten. Nicht lange, da nannten die Eltern, ja, das ganze Dorf das ausgelassene kleine Ding Peter – selbst der Herr Lehrer in der Schule rief sie so auf, wenn er nicht gerade unzufrieden mit ihr war.
Hans aber, der sanfte, kleine Kerl mit den verträumten Blauaugen, erhielt von den Eltern den Kosenamen »Hanni«.
Peter und Hanni liebten sich innig. Wehe dem Jungen im Dorf, der es wagte, mit ihrem Hanni mal anzubinden, der bekam es ganz gewiß mit Peter zu tun. Die Kleine hatte kräftige Muskeln und schreckte vor dem ärgsten Raufbold nicht zurück.
Dafür hing der Hanni aber auch an seinem Schwesterchen mit der ganzen Zärtlichkeit seines kleinen Herzens.
Manch dummer Streich von Peter blieb unausgeführt, weil der Hanni in seiner Bravheit sie davon zurückhielt. Peter sollte keine Schelte kriegen.
Hinter der großen Wiese floß ein Bächlein, das sprang ebenso übermütig dahin wie Peter. Daran lag es wohl auch, daß Peters liebster Aufenthalt dort am Bach war, öfters sogar auch im Bach. In den heißen Julitagen kannte die Kleine kein größeres Vergnügen, als Schuh und Strümpfe abzustreifen und barfuß im Wasser mit den kleinen Wellen um die Wette zu hopsen.
Jenseits des Baches reiften goldene Felder, weites, weites Land breitete sich da. Soweit, daß es ganz hinten bis an den blauen Himmel anstieß.
»Am andern Ufer des Baches ist Rußland«, sagten die Kinder.
Damit hatten sie nicht so ganz unrecht. Denn in der Nähe des ostpreußischen Dörfchens, in dem Peter und Hannis Vater als angesehener Gemeindevorsteher lebte, war die russische Grenze. Fast zwei Stunden hatte man noch bis dahin zu gehen, aber für die beiden Kinder hieß eben alles, was jenseits des Baches lag, Rußland.
»Wir reisen heute nachmittag nach Rußland«, verkündete Peter jubelnd bei Tisch.
»Und ich fahre mit meinem Schiffchen hin«, fiel Hanni freudig ein.
Die Eltern lächelten über die kindliche Vorstellung.
»Da laßt euch nur nicht nach Sibirien verschleppen, ihr kleinen Reisenden«, schmunzelte der Vater.
»Sibirien – was ist denn das?« Peter spitzte neugierig die Ohren.
»Sibirien ist ein großes russisches Land, in dem es so eisig kalt ist, daß den Leuten dort statt der Nase ein Eiszapfen mitten im Gesicht wächst«, erzählte der Vater, der ein Späßchen liebte, den aufhorchenden Kleinen.
»Brrr, ich will nicht in das alte Sibirien«, meinte Hanni, sich schüttelnd.
»Gibt's da auch viele Eisbonbons?« Peters Augen blitzten unternehmungslustig.
»Aber freilich, dort wachsen die Eisbonbons auf den Bäumen«, laut auf lachte der Vater.
»Bleibt nur lieber zu Hause bei Vater und Mutter, Kinderchen«, mischte sich Frau Kaschuba belustigt ein. »So gut ist es nirgends wie daheim. Heute abend gibt es auch gerade Kartoffelpuffer mit Kirschkompott – so was Feines bekommt ihr in Sibirien sicher nicht.«
Es war am Nachmittag. Die Mutter war mit dem Einkochen der Obstmarmeladen beschäftigt, welche die kleinen Süßschnäbelchen so gern mochten. Vater war in seinen hohen Stulpstiefeln auf die Wiesen gegangen, wo man gerade bei der Heuernte war. Hektor, der schwarze Hofhund und beste Freund der Kinder, lag müde blinzelnd in der warmen Nachmittagssonne.
»Du, Hanni, weißt du, was wir heut' machen – etwas ganz Famoses!« Peter flüsterte es strahlend dem seinen Triesel peitschenden Hanni ins Ohr. Hektor brauchte das Geheimnis nicht zu hören.
»Was denn, Peter?« halb neugierig, halb ängstlich klang's zurück. Denn Hanni wußte, wenn Peter etwas »ganz Famoses« vorhatte, war es sicher nichts Erlaubtes.
»Wir wandern nach Sibirien aus!« Mit einem glückseligen Luftsprung kam das große Geheimnis heraus.
Hektor knurrte mahnend, denn Peter hatte in ihrer Freude nicht gerade leise gesprochen.
»Dich geht das gar nichts an – du brauchst ja nicht mitzukommen, Hektor. Aber du, Hanni – ei, wie ist's, wollen wir?«
»Nein, Muttchen erlaubt nicht, daß wir allein so weit gehen. Und es ist mir auch zu kalt in Sibirien – ich mag keinen Eiszapfen statt der Nase haben.« Hanni faßte ängstlich nach seinem Stupsnäschen.
»Ach was, heute ist es so doll heiß, daß es in Sibirien sehr angenehm sein muß. Denke mal, wie fein, Hanni, wenn wir uns heut' nachmittag noch schneeballen können, mitten im Sommer. Und die vielen Eisbonbons, die wir uns von den Bäumen pflücken werden!«
Die Eisbonbons – die zogen.
Hannis Blauaugen begannen zu leuchten. »Meinst du, daß auch rote Himbeerbonbons da wachsen, Peter?«
»Aber natürlich, Himbeer-, Erdbeer- und Apfelsinenbonbons, alle möglichen Sorten.« Peter tat, als wüßte sie in Sibirien so gut Bescheid wie in ihrem Garten.
»Ach Peter – weißt du, Peterchen, könnten wir nicht lieber bis morgen mit unserer Reise nach Sibirien warten?«
»Ja, warum denn bloß? Heute ist gerade so schönes Reisewetter. Und wer weiß, ob Muttchen morgen noch Marmelade einkocht – heute haben wir den ganzen Nachmittag für uns allein.«
»Aber es gibt doch heute abend Kartoffelpuffer mit Kirschen und – und in Sibirien gibt's keine, sagt Muttchen«, wandte Hanni traurig ein.
»Bis heute abend, das ist ja noch schrecklich viel Zeit. Da sind wir doch längst wieder zurück. Komm nur, flink! Wir holen nur noch deine Pelzmütze und meine Muffe aus der Bodenkammer herunter.« Das Mädel zog den Buben kurz entschlossen mit sich fort.
Auch Hektor setzte sich, so faul er auch war, in Bewegung. Schon vor Jahren, als die Kleinen noch im Korbwägelchen mit den blauen Gardinen lagen, pflegte er sie getreulich zu bewachen. »Unsere gute alte Kinderfrau«, hatte die Mutter ihn immer lobend genannt.
Als gute Kinderfrau durfte er die beiden Kinder nicht ohne Schutz lassen, wenn sie solche abenteuerlichen Pläne hatten. Darum gab Hektor schweren Herzens sein Nachmittagsschläfchen auf.
An dem großen Birnbaum wurde die erste Rast gemacht.
»Du, Hanni, was zu futtern müssen wir uns mitnehmen, der Weg ist weit – halt' mal deine Pelzmütze auf.«
Wie ein Eichkätzchen war Peter den knorrigen Stamm emporgeklettert.
Fürs Futtern war Hanni immer zu haben. Eifrig sammelte er die schönen goldgelben Früchte, die Peter ihm geschickt herabwarf, ein und stopfte zum Überfluß auch noch seine Hosentaschen damit voll. Kein Gedanke kam dem Jungen, daß es eigentlich hätte umgekehrt sein müssen – er war es gewöhnt, daß die Schwester auf die Bäume kletterte und er brav unten blieb.
Rutsch – da war sie schon wieder auf der Erde angelangt, ritsch – da zeigte ihr rotes Kleidchen, das Mutter erst gestern abend geflickt, einen klaffenden Riß. Aber das tat Peters Fröhlichkeit durchaus keinen Abbruch.
»Die Leute in Sibirien werden's wohl nicht so genau mit der Ordentlichkeit nehmen«, tröstete sie sich schnell und packte den Rest der Birnen in ihre Muffe.
Nun standen die drei am Bach.
Peter begann sofort ihre Sandalen abzustreifen.
»Du, wir könnten doch das Endchen bis zum Brücklein hinuntergehen, Peter«, wandte Hanni gehorsam ein, denn das Waten im Bach war verboten.
Hektor, der ziemlich wasserscheu war, fand die Brücke ebenfalls als Übergang entschieden geeigneter.
Nicht so Peter.
»Ei nein, wenn man nach Sibirien will, darf man sich vor einem bißchen Wasser nicht fürchten«, da pantschte das kleine Mädel auch bereits durch das Bächlein. Hanni, wie immer, getreulich hinterdrein.
Auch die gute alte Kinderfrau mußte sich dazu bequemen, sich die schwarzen Pelzstiefel naß zu machen. Freilich nur unter mißbilligendem Geknurr.
»Sind wir nun in Rußland, Peter?« fragte Hanni ein wenig ungläubig, denn wenn man sich umwandte, konnte man noch das rote Ziegeldach des väterlichen Hauses durch die Bäume schimmern sehen.
»Ja, hier ist Rußland!« Da Peter dies in so bestimmtem Ton verkündete, mußte Hanni es wohl glauben. Die große Schwester war ja ein ganzes Jahr älter als er.
»Es sieht in Rußland eigentlich auch nicht anders aus als bei uns drüben am Bach«, meinte Hanni ein wenig enttäuscht.
»Komm du nur erst nach Sibirien, Junge. Da wirst du schon Augen machen. Dort hinten – siehst du, da ganz hinten die Windmühle auf dem kleinen Berg, das wird sicher Sibirien sein.« Die beiden Kinder setzten sich in Trab und rannten, so schnell sie nur konnten, den Feldrain zwischen dem hohen Getreide entlang, um möglichst schnell am Ziel zu sein. Wie ein goldener Ährenwald wogten die schweren Halme ihnen zur Seite.
Leuchtend blaue Kornblumen und purpurner Mohn lockte zum Pflücken.
»Laß sein, Hanni, wir haben heute keine Zeit dazu, sonst essen uns die Leute in Sibirien am Ende die ganzen Eisbonbons fort.«
Der brave Hanni ließ die Blumen im Stich und schnaufte nicht weniger rot als der Mohn, hinter seinem Schwesterchen her.
Die Julisonne meinte es gut, sie brannte und stach.
»Puh – Sibirien muß noch sehr weit sein«, der kleine Kerl blieb tiefaufatmend stehen.
»Wieso denn, Hanni?« Auch Peter trocknete sich den Schweiß von der Stirn.
»Na, weil noch gar nichts von der Kälte zu spüren ist.«
»Ja, ich wollte auch ganz gern, daß meine Nase jetzt ein Eiszapfen wäre, es ist doll heiß. Wir könnten mal ein bißchen ausruhen und unseren Reisevorrat verzehren.« Die Kinder ließen sich im Schatten der hohen Ähren nieder und begannen aus der Pelzmütze zu schmausen.
Ei – das erfrischte.
Die gute alte Kinderfrau aber stand mit ausgetrockneter lang heraushängender Zunge daneben. Hektor hielt die ganze Reise nach Sibirien für eine Verrücktheit.
»Armes Tier!« Hannis gutes kleines Herz hatte Mitleid mit dem alten Freund. »Wenn wir doch unsern Bach hier hätten, daß du was zu saufen bekämst.«
»Dort steht ja eine Pappel, ich werde gleich mal sehen, ob es hier in Rußland keinen See gibt.« Peter, der wilde Strick, begann bereits wieder in die Höhe zu turnen.
»Nein, Hanni, nur lauter Kornfelder, aber Sibirien ist schon ganz nah, man sieht die Windmühle schon viel deutlicher«, klang es von der Pappel herab.
Mit dieser Aussicht war dem armen, durstigen Hektor wenig geholfen.
Peter kam wieder vom Baum herabgerutscht, und das Kleid hatte den zweiten Riß weg.
Aufs neue machten sich die drei auf die Wanderschaft.
»Sind wir denn noch nicht bald da, Peter?« Es klang bereits etwas weinerlich. Hanni war arg heiß und müde.
»Gleich – gleich, Hannichen! Wenn ich bloß die Windmühle erst mal wieder finden würde. Hier rechts war sie doch noch eben, und nun ist sie vom Erdboden verschwunden! Und ein Baum ist auch nirgends, daß man Umschau halten kann.« Peter lief bald rechts, bald links – kreuz und quer – sie hatten die Richtung verloren.
»Wollen wir nicht lieber umkehren, Peterchen?« wagte der Kleine vorzuschlagen. Es war ihm unbehaglich zumute bei diesem weglosen Hin und Her.
Die gute alte Kinderfrau gab, freudig mit dem Schwanz wedelnd, ihr lebhaftes Einverständnis kund. Peter aber war so leicht nicht von einem Vorhaben abzubringen.
»Wir müssen doch bald da sein – merkst du nicht, Hanni, daß es schon viel kälter wird? Sicher sind wir gleich in Sibirien,« tapfer lief das kleine Mädel voran.
In der Tat, es wurde kühler. Die Sonne hatte sich verkrochen. Ein Wirbelwind fuhr wild durch die Getreidehalme und den beiden kleinen Auswanderern unbarmherzig zausend ins Haar. Peters rotes Zopfschleifchen nahm er mit davon.
»Das muß schon sibirischer Wind sein.« Peter begann, trotzdem sie die Augen vor Staub kaum aufhalten konnte, nach den Eisbonbonbäumen zu spähen.
»Es wird dunkel – wir wollen nach Haus. Muttchen wartet gewiß schon mit den Kartoffelpuffern«, die ersten Tränen kullerten über Hannis dicke Pausbacken.
Aber auch vom verdüsterten Himmel begann es plötzlich zu tropfen – erst langsam – ganz langsam und schwer. Nun schneller – immer schneller – wolkenbruchartig rauschte der Gewitterregen herab.
Da – ein schwefelgelber Blitz – wie eine leuchtende Schlange zuckte er durch die Lüfte in die Felder hinein. Geblendet hielten sich die Kinder die Augen zu. Jetzt lautrollender Donner – lieber Gott, hatte das eingeschlagen?
Peter schlang schützend den Arm um das Brüderchen, das gerade beim Gewitter kein großer Held zu sein pflegte. »Wir rennen jetzt ganz flink nach Hause – komm nur, komm.« Peter lief auf gut Glück in irgendeiner Richtung.
Blitz auf Blitz – ohrenbetäubendes Krachen, dazu peitschte der Regen vom Himmel herab. Die Kinder, denen vor kurzem noch so heiß gewesen, begannen vor Nässe zu frösteln.
»Du, Peter, der liebe Gott ist böse, daß wir von Hause fortgelaufen sind«, flüsterte der verängstigte Junge.
Auch Peter waren schon, trotz ihrer sonstigen Keckheit, ähnliche Gedanken gekommen. Wenn der liebe Gott sie nun für ihr Fortlaufen strafte und sie immer tiefer nach Rußland hineinliefen, wenn sie am Ende niemals wieder heimfanden ... plötzlich begann auch Peter, das sonst so mutige Mädel, laut zu weinen.
Da standen nun die beiden Kinder mitten auf freiem Felde und heulten mit dem Gewittersturm um die Wette. Denn Hanni, der vorher nur leise geweint hatte, brüllte jetzt, wo er auch die Schwester verzagt sah, als ob er am Spieß steckte.
Peter trocknete plötzlich ihre Tränen. Sie war die Große, sie hatte die Verantwortung für den kleineren Bruder.
»Sei still, Hannichen. Sieh nur, da ist der Hügel mit der Windmühle wieder, jetzt sind wir gleich da!« Sie kletterte die kleine Anhöhe hinauf.
»Ich will gar nicht mehr nach Sibirien, ich will nach Haus zu Mutter und Vater«, schluchzte Hanni.
Auch Peter war Sibirien ganz gleichgültig geworden, sie suchte nicht mal mehr nach den Eisbonbonbäumen. Nur nach dem roten Ziegeldach ihres Häuschens hielt sie von der Höhe ängstlich Ausschau.
Aber das Land ringsum lag in grauen undurchdringlichen Regenschleiern. Kein Haus war weit und breit zu erblicken. Doch hier – ganz dicht seitwärts, dort arbeiteten ja noch Leute auf den Wiesen. »Komm, Hanni, komm – die werden uns den Weg zeigen können.« Im Galopp ging es wieder hinab. Der vor Nässe triefende Hektor in weiten Sprüngen voran.
Plötzlich stieß der Hund ein lautes Freudengeheul aus. Nanu – was hatte denn Hektor?
Die Kinder kamen näher. Die Leute, die dort noch in aller Eile die letzten Heuschwaden aufluden, hatten große Regensäcke gegen das Unwetter über den Kopf gezogen.
»Ach, bitte, können Sie mir nicht sagen, wo der Weg zum Haus vom Herrn Kaschuba geht?« wandte sich Peter höflich an einen der Männer.
»Zum Herrn Kaschuba wollt ihr« – der Regensack wurde in die Höhe gerissen und – »potzelement, das sind ja meine eigenen Krabben!« Da stand der Vater vor den verdutzten Kindern.
Die Tränen wandelten sich plötzlich in lauten Jubel. Die zwei erdrückten in ihrer Glückseligkeit fast den Vater, während Hektor ihn nicht weniger freudig umsprang.
»Aber um alles in der Welt, was habt denn ihr bei dem Unwetter, wo jedes Küken ins Nest kriecht, hier auf den Feldern herumzulaufen?« forschte der Vater ernst.
»Wir wollten doch so gern nach Sibirien, wo die Eisbonbons wachsen – nicht böse sein, Vatchen, nicht böse sein!« bettelten die zwei.
»Ihr seid ja mächtige kleine Schlauköpfe – nun aber mal marsch nach Haus, die Mutter wird sich nicht schlecht um euch sorgen.«
Warm ins Heu gekuschelt, mit Regensäcken zugedeckt, hielten die beiden kleinen sibirischen Auswanderer wieder ihren Einzug in das weiße Häuschen, wo die Mutter bereits vor Angst um ihre Lieblinge verging.
Bald lagen die bis auf die Haut durchweichten Kinder trocken und warm in ihren Betten. Und gab es auch statt der Kartoffelpuffer nur heißen Fliedertee – es war doch so schön, so wunderbar schön, daß Muttchen an ihrem Bette saß, daß sie wieder daheim waren bei Vater und Mutter.
Nie wieder wollten sie nach dem alten Sibirien, nie mehr über den Bach nach Rußland hinein.
Keiner, weder die Eltern noch die Kinder, ahnten an jenem Abend, wie bald dieses Wort ihr glückliches Familienleben zerstören sollte.
Ganz merkwürdige Tage kamen jetzt. Vater, der sonst stets vergnügt war und mit seinen Kindern scherzte und tollte, sah meistens ernst aus und furchte die Stirn. Dabei war solch herrliches Erntewetter, an dem mußte doch jeder Landwirt seine Freude haben.
Auch Muttchen war nicht wie sonst. Zwar arbeitete sie genau so emsig in Haus und Garten. Aber es kam vor, daß sie mitten im Bohnenabfädeln, bei dem die Kinder gar zu gern halfen, das Messer sinken ließ und mit sorgenvollen Augen in die Ferne blickte.
»Bist du böse, Muttchen?« erkundigte sich Peter angelegentlich, denn irgend etwas hatte sie eigentlich immer ausgefressen, manchmal sogar, ohne daß sie's wußte.
»Nein, mein Herzchen, nur – –«, ein tiefer Seufzer hob Mutters Brust.
»Nur?« Peter und Hanni spitzten neugierig die Ohren.
»Nichts, gar nichts – für euch, Kinderchen, ist das nichts – Gott schütze uns alle!« Muttchen betrachtete das Gespräch als erledigt. Aber nicht die beiden Kleinen.
»Du, Peter, weißt du nicht, warum Vater jetzt immer so ärgerlich aussieht, auch wenn's noch so gutes Essen gibt?« fragte Hanni nach dem ziemlich einsilbigen Mittagbrot. »Und als ich ihm nachher ›Gesegnete Mahlzeit‹ wünschte, da hat er mich gar nicht Huckepacke genommen, wie sonst, sondern mir bloß mal übers Haar gestrichen.«
»Und Muttchen hat so wenig gegessen und immerzu traurige Augen gemacht, als ob ich Gott weiß wie ungezogen gewesen wäre. Und die Blaubeerflecke in meiner weißen Schürze hat sie überhaupt nicht gesehen – und ›Gott schütze uns‹ hat sie heute vormittag gesagt. Du, Hanni, am Ende geht die Welt unter!«
»Ei, nein!« Hanni, der Held, packte erschreckt Peters Arm und sah ängstlich zum Himmel empor, von dem goldener Sonnenschein herniederlachte.
Die Überlegungen der Kinder wurden plötzlich durch Peitschengeknall unterbrochen. Beide stürzten zum Hof.
Nanu – Vater fuhr in die Stadt. Vor dem gelben Korbwägelchen wurde gerade der Schimmel eingespannt.
»Vatchen – ach, liebes Vatchen, nimm uns doch mit! Du hast neulich versprochen, wenn du das nächstemal nach Soldau einkaufen fährst, dürfen wir mit!« schmeichelnd angelte Peter in die Höhe nach Vaters Hals. Auch Hanni versuchte von rückwärts her eine zärtliche Umarmung.
Aber ungeduldig machte sich der sonst so liebevolle Vater los.
»Heute nicht – es gibt wichtige Dinge heute in der Stadt zu besprechen. Wer weiß, wann ich wieder nach Hause komme.«
»Du kannst uns ja inzwischen auf dem Marktplatz lassen, da gibt's so viele schöne Schaufenster anzugucken«, schlug Peter bittend vor.
»Nein, mein Herzchen, das ist heute dort wirklich nichts für Kinder! Ein andermal, wenn alles noch gut wird, wie wir hoffen wollen – –« Da knallte der Vater auch schon mit der Peitsche. Noch einmal nickte er seinen Lieblingen zu. Dann zog der Schimmel an. Der Wagen ratterte zum Hoftor hinaus.
Hannis Blauaugen hatte die Enttäuschung mit Tränen gefüllt. Peter aber ballte die kleinen Fäuste und trampste sogar mit dem Fuß auf.
»Immer ist man zu klein, nie darf man mit – und erfahren tut man auch nicht, was los ist. Ach, ich wollte, wir wären auch schon große Leute!« rief sie empört.
»Seid froh, daß ihr noch klein seid und keine Ahnung habt von dem Schweren, das kommen kann«, sagte die Mutter, welche dem abfahrenden Vater ebenfalls nachgeschaut, mit feuchten Augen.
Peter schüttelte das hübsche Köpfchen. Muttchen schalt nicht, daß sie mit den Füßen getrampelt hatte ... sie hatte Tränen in den Augen und war doch sonst so lustig mit ihnen ... Das kleine Mädel zuckte die Achsel. Daraus sollte ein anderer klug werden!
Aber im Laufe des Nachmittags gab es noch viel mehr zum Staunen. Da hatte man soviel zu sehen, daß die Kinder den Marktplatz in Soldau mit all seinen Schaufensterherrlichkeiten darüber vergaßen.
Zog denn das ganze Dorf heute um?
Karren und Leiterwagen mit allerlei Geräten, Möbeln, Körben, Kisten und Truhen beladen, schwankten die Dorfstraße entlang, der Eisenbahnstation zu. Aufgeregte Menschen liefen daneben, hastig und laut durcheinander rufend und ängstlich zurückschauend. Kühe, Schweine und Ziegen wurden vorbeigetrieben – ach, und da! – laut auf mußte Peter lachen.
»Sieh doch bloß mal, Hanni, da haben sie lauter Hühner in einen Kinderwagen gepackt, hör' nur, wie es durcheinander gackert, nein, ist das komisch!« Das kleine Mädchen wollte sich ausschütten vor Lachen.
»Aber jetzt erst, Peter, guck' bloß mal, jetzt« – Hanni, der neben seinem Schwesterchen auf dem Dach des niedrigen Gerätschuppens, dem besten Aussichtspunkt, thronte, wies begeistert auf eine neue Gruppe. »Schuster Anders und seine Frau schleppen ihre kleinen Zwillinge in einem Waschfaß davon – hahaha –« Hanni konnte nicht weiter. Es war zu köstlich!
»Ja, ist denn das ganze Dorf verrückt geworden, Hanni?«
»Peter – Peter – da trägt ja die alte Mutter Stine ihr Kälbchen huckepack, wie der Vater mich immer – –«
»Nein, es ist ja zum Totlachen!« Die Kinder jauchzten und jubelten von ihrem Dach herunter.
Sie ahnten in ihrer kindlichen Unbefangenheit nicht, wie schwer und traurig all diesen Menschen zumute war, die von Haus und Hof flüchten mußten vor den russischen Kosaken.
»Frau Kaschuba, wissen Sie es schon? Der Krieg ist erklärt!« Eine Nachbarin rief es über den Zaun der Mutter zu.
Es war das erstemal, daß Peter und Hanni das furchtbare Wort »Krieg« vernahmen.
Der Mutter entfiel vor Schreck die Gartenschere, mit der sie gerade die Tomatensträucher ausschnitt. Jäh brach der Zweig in ihren bebenden Fingern ab.
»Erbarm sich – Krieg mit Rußland – dann sei der Himmel uns hier an der Grenze gnädig! Ei, du Grundgütiger, und mein Mann gerade in der Stadt! Er wollte hören, ob es Gefahr hat, und inzwischen können uns die Russen schon das Dach über dem Kopf anzünden!« So aufgeregt hatten die Kinder ihre Mutter noch nie gesehen.
Hanni ließ sich angstvoll von seinem Auslug herabgleiten.
Wenn die Russen das Dach anzündeten, war es entschieden ratsam, es nicht als Sitzgelegenheit zu benutzen.
Peter aber blieb mit klopfendem Herzen. Sie mußte noch mehr erfahren.
»Ich würde Ihnen doch raten, Frau Kaschuba, sich und Ihre Kinder in Sicherheit zu bringen. Der Feind kann hier sein, ehe man sich's versieht. Vergraben Sie auch irgendwo im Garten oder Keller, was Sie an Silberzeug oder sonstigen Wertsachen haben, die Russen haben lange Finger.« Das letzte erklang nur noch im Flüsterton. Aber Peter hatte scharfe Ohren.
»Barmherziger, wenn mein Mann doch nur da wäre! Er hat Pferd und Wagen mit. Wer hätte denn gedacht, daß es so schnell kommen könnte. Ohne meinen Mann rühre ich mich nicht vom Fleck.«
»So geben Sie uns wenigstens Ihre Kinder mit, daß die in Sicherheit sind. Wir fahren in einer Stunde.« Die gutherzige Nachbarin eilte davon, denn sie hatte noch alle Hände voll zu tun.
Frau Kaschuba schlug die Schürze vors Gesicht. Da war es, das Furchtbare, vor dem sie schon seit Tagen zitterte, was ihren Mann ernst und wortkarg gemacht, und an das man doch immer noch nicht hatte glauben wollen – der Krieg!
Plötzlich fühlte sie sich von zärtlichen Kinderarmen umfangen.
»Weine nicht, Muttchen.« Das Töchterchen, dem das Lachen vergangen war, schmiegte den Kopf stürmisch an der Mutter Brust. »Wir fahren nicht mit der Nachbarin fort, wir bleiben bei dir. Und wenn die alten Russen kommen, jage ich sie mit der Mistgabel vom Hof!« Mit blitzenden Augen griff Peter nach der in der Ecke lehnenden Forke.
»Und ich hole meine Flinte und meinen Säbel.« Hanni, der sonst nicht gerade allzu mutig war, wollte nicht hinter der Schwester zurückstehen.
Die Mutter mußte unter Tränen lächeln.
»Gott gebe, daß dies nicht nötig sein wird und daß man uns in unserem Häuschen ungeschoren läßt. Ja, wir bleiben beisammen – es wird ja nicht so schlimm werden. Unser Vater wird auch bald zurückkommen und uns, wenn's nottut, holen.«
Jedoch Frau Kaschuba irrte sich. Es wurde Abend, das Essen stand auf dem Tisch, aber der Vater war noch nicht heimgekehrt. Auf der Dorfstraße hatte der Tumult allmählich abgenommen. Hinter dem Walde ging die Sonne purpurn unter – so schön, so friedlich lag das Dörfchen in grüne Matten gebettet da, als wäre der aufregende Tag, die drohende Gefahr ein böser Traum gewesen.
Unwillkürlich übte der köstliche Abendfrieden auch auf der Mutter erregtes Gemüt seine beruhigende Wirkung aus. Wer weiß, ob die Leute nicht alles viel schwärzer ansahen, als es in Wirklichkeit war. Wenn einer den Kopf verlor, verloren alle anderen ihre Überlegtheit mit. Stände es wirklich so schlimm, dann hätte ihr sorgsamer Mann ihr sicher Nachricht gesandt, wenn er nicht selbst kommen konnte.
Den Gartensteg entlang zwischen den schon schlummernden Levkojen und Reseden huschte der Sandmann. Keines wurde des kleinen unsichtbaren Männleins gewahr. Bis er hinter den Kindern stand und ihnen – schwabb – eine Handvoll aus seinem grauen Säckchen in die Augen streute.
Da begannen sie beide herzhaft zu gähnen.
»Es ist Schlafenszeit, Kinder, der Sandmann ist da.« Die Mutter nahm ihre Lieblinge an die Hand und ging mit ihnen ins Haus.
»Vater ist doch noch nicht zurück, ich wollte so gern aufbleiben, bis er wieder da ist.« Dabei fielen Peter die Augen beinahe zu.
»Das könnt ihr nicht abwarten, Herzchen, es mag spät werden. Nun schlaft gesund und der liebe Gott beschütze euch!« Zärtlich küßte die Mutter ihre Kleinen.
Wirklich, der Sandmann hatte seine Sache zu gut gemacht. Kaum vermochte Hanni sein Nachtgebet zu Ende zu sprechen und Peter zu überlegen, ob Russen und Diebe wohl dasselbe seien, daß man sein Silber vor ihnen verstecken müsse, da – schliefen sie auch schon fest.
Im Nebenzimmer am weitgeöffneten Fenster aber saß die Mutter und bewachte den Schlummer ihrer kleinen Lieblinge. Sie lauschte in die linde Sommernacht hinaus. Nur das gleichmäßige Murmeln des Bächleins. Ließ sich denn noch immer nicht das Rollen des heimkehrenden Wagens hören? Was war das für ein rötlicher Schein, der dort hinter den dunklen Wäldern aufzog? Es wurde der einsamen Frau bang in der nächtlichen Stille zumute.
Plötzlich wurde dieselbe jäh unterbrochen. Hektor schlug an. Peitschengeknall und Rädergeratter, erregtes Rufen, Kinderweinen und brüllendes Vieh – doppelt laut erschien es in der Ruhe der Nacht.
Das war nicht ihr heimkehrender Mann – um Gottes willen, was konnte das sein?
Frau Kaschuba machte den Hund los und eilte auf die Straße. Da zog beim Schein des Mondes wiederum Leiterwagen auf Leiterwagen vorüber, vollgepfropft mit Menschen, Tieren und Betten. Diesmal aber in ungleich größerer Hast als am Tage.
»Jochen« – Frau Kaschuba erkannte plötzlich einen im andern Dorfe wohnenden Großvetter. »Jochen, was hat denn diese eilige Flucht zu bedeuten?«
»Daß uns die Russen schon auf den Fersen sind! Siehst du nicht den rötlichen Schein am Himmel, Kathrin? Das sind die brennenden Dörfer, durch die sie ziehen. Kein Haus verschonen sie, alles wird niedergemacht, nicht Kind, nicht Vieh ist vor den Unholden sicher.«
»Flink, Kathrin, hole deinen Mann und die Kinder, ehe du dich versiehst, können die Russen hier sein«, rief Stine, seine Frau, in höchster Erregung vom Wagen.
Das Herz der armen Frau Kaschuba setzte vor Entsetzen aus. »Mein Mann ist noch nicht aus Soldau zurück, ich trenne mich nicht von ihm, ich gehöre zu meinem Mann. Aber die Kinder, Jochen, nein, die darf ich der furchtbaren Gefahr nicht aussetzen. Wenn du für meine Kinder sorgen willst, bis wir nachkommen, Stine, – mein Lebtag will ich's dir danken.«
»Ei freilich, nur rasch, rasch – warten können wir nicht!«
Frau Kaschuba war schon ins Haus geeilt.
»Peter – Peterchen, wach auf, zieh dir Strümpfe und Schuhe an, ihr müßt fort, die Russen kommen!« Sie rüttelte das fest schlafende Kind am Arm.
Aber Peter war nicht so leicht zu ermuntern.
»Ich gehe morgen erst um acht in die Schule«, brummte sie und legte sich auf die andere Seite.
Hanni jedoch gab überhaupt keinen Muck von sich. Der schlief wie ein Murmeltier.
Zeit zum Überlegen blieb nicht. Die Mutter griff nach der Bettdecke, hüllte das schlafende kleine Mädchen warm hinein und trug es, wie es war, zu dem Wagen draußen. Dort wurde es von Vetter Jochen in Empfang genommen und »aufgeladen«. Indessen eilte die Mutter in fliegender Hast zurück, um auch noch ihren kleinen Jungen in Sicherheit zu bringen. Hanni wurde in das große türkische Umschlagetuch, das noch von der Urgroßmutter herstammte, eingeknotet. Ein paar Sekunden später lag er neben seinem ruhig weiter schlummernden Schwesterchen auf dem Leiterwagen.
»Sitz mit auf, Kathrin, es geht dir schlecht, wenn die Russen kommen«, noch einmal versuchte Base Stine ihr Heil.
»Und wer weiß, ob dein Mann überhaupt noch von Soldau zurück kann«, fiel auch Jochen überredend ein.
»Nein – nein – ich lasse meinen Mann nicht im Stich. Die Kinder sind mit Gottes Hilfe in Sicherheit, mir wird unser Vater droben schon beistehen. Grüßt Peter und Hanni, wenn sie aufwachen, von ihrer Mutter. Dir vertraue ich sie an, Stine – –« Da setzten sich die Pferde schon in Trab.
»Wir fahren mit der Bahn weiter nach Königsberg«, rief der Vetter noch zurück.
Hektor, die gute alte »Kinderfrau«, blickte fragend zu seiner Herrin auf. Sollte er die Kinder nicht wie sonst begleiten?
»Ja, lauf, Hektor, lauf, du braves Tier, und gib gut acht auf unsere beiden – ich bin ruhiger, wenn ich dich bei ihnen weiß.« Frau Kaschuba klopfte den schwarzen Hundekopf aufmunternd. Hektor sprang in weiten Sätzen hinterdrein.
Ganz still stand die Mutter und sah dem Wagen nach, der ihre kleinen Lieblinge davontrug und alsbald mit der nächtlichen Dunkelheit verschwamm. Nur der da droben wußte, wie schwer ihr das Opfer gefallen, sich von ihren beiden Kleinen zu trennen, aber – eine Mutter denkt ja stets nur an das Wohl ihrer Kinder.
Frau Kaschuba stand und lauschte, bis das letzte Rollen der Wagen verklungen und der Bach nur wieder sein eintöniges Lied sang. »Der liebe Gott beschütze euch, meine geliebten Kinder, und führe uns bald wieder zusammen!« flüsterte sie aus tiefstem Herzensgrunde. Dann ging die mutige Frau in das einsame Haus zurück.
Inzwischen holperten die Wagen mit den aus der Heimat Flüchtenden die Landstraße entlang. Keines der beiden schlummernden Kinder ahnte, daß jede Sekunde sie weiter von ihrem Vaterhause, von dem treuen Mutterherzen entfernte. Sanft und ruhig schliefen sie inmitten des Wirrwarrs wie daheim in ihren Betten.