Flughafenwandern - Aleks Scholz - E-Book

Flughafenwandern E-Book

Aleks Scholz

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Beschreibung

»Wie in einem mittelalterlichen Abenteuerepos eilt der Held von Schauplatz zu Schauplatz und bekämpft das drachenhafte Techno-Imaginäre … in seinem erfrischend klugen, genresprengenden Text.« FAZ, Oliver Jungen Das Problem mit Flughäfen ist wohl, dass wir nicht dort sein wollen. Wir wollen woanders sein, und Flughäfen sind nur die Trittsteine in diese andere Welt. Es sind sonderbare Zwischenorte, die sich anders verhalten, als wir es gewohnt sind, und wenig Interesse daran haben, uns dort zu behalten, Orte, die einen einsaugen, nur um einen am anderen Ende wieder auszuspucken. Dabei geben sie sich große Mühe, möglichst geheimnisvoll zur wirken. Flughäfen sind so unlogisch wie Luftschokolade. Überall öffnen sich sinnlose Höhlen. Parkgaragen und Autobahnen verknoten sich in der vierten Dimension. Busse fahren ins Niemandsland. Es gäbe soviel zu verstehen, aber Flughäfen haben kein Interesse daran, verstanden zu werden, im Gegenteil, man gewinnt den Eindruck, dass sie uns für dumm halten. Flughäfen behandeln uns wie weiße Mäuse in einem seltsamen weltumspannenden Tierversuch. Aus der Gefangenschaft zu entkommen, die Struktur der Flughäfen zu erkunden, ihre Topographie zu kartieren, ihre Funktion zu enthüllen, zu überleben in einer inhumanen Umgebung, das ist die Aufgabe des Flughafenwanderers. »Flughafenwandern ist der Versuch, den Flughafen zu transzendieren, das große, störrische Ding, ihn aus den Angeln zu heben. Was bleibt übrig, wenn man den Kern des Flughafens, seinen Daseinszweck, ignoriert?« »Aleks Scholz, Autor und Astronom, erzählt leise, unspektakulär, genau und ironisch. Sehr beeindruckend, wie er Wissen in eine erzählerische Struktur gibt, die unterhält und nachklingt.« Anne Kuhlmeyer

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Impressum

Digitales Original: © CulturBooks Verlag 2016

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, [email protected]

www.culturbooks.de

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: November 2016

ISBN 978-3-95988-042-8

Über das Buch

»Flughafenwandern ist der Versuch, den Flughafen zu transzendieren, das große, störrische Ding, ihn aus den Angeln zu heben. Was bleibt übrig, wenn man den Kern des Flughafens, seinen Daseinszweck, ignoriert?«

Das Problem mit Flughäfen ist wohl, dass wir nicht dort sein wollen, sondern woanders, und Flughäfen sind nur die Trittsteine in diese andere Welt. Es sind sonderbare Zwischenorte, die sich nicht so verhalten, wie wir es gewohnt sind, Orte, die einen einsaugen, nur um einen am anderen Ende wieder auszuspucken. Dabei geben sie sich große Mühe, möglichst geheimnisvoll zu wirken.

Flughäfen sind so unlogisch wie Luftschokolade. Überall öffnen sich sinnlose Höhlen. Parkgaragen und Autobahnen verknoten sich in der vierten Dimension. Busse fahren ins Niemandsland. Es gäbe so viel zu verstehen, aber Flughäfen haben kein Interesse daran, verstanden zu werden, im Gegenteil. Flughäfen behandeln uns wie weiße Mäuse in einem seltsamen weltumspannenden Tierversuch.

Aus der Gefangenschaft zu entkommen, die Struktur der Flughäfen zu erkunden, ihre Topographie zu kartieren, ihre Funktion zu enthüllen, zu überleben in einer inhumanen Umgebung, das ist die Aufgabe des Flughafenwanderers.

»Aleks Scholz erzählt leise, unspektakulär, genau und ironisch. Sehr beeindruckend, wie er Wissen zu einer erzählerischen Struktur formt, die unterhält und nachklingt.« Anne Kuhlmeyer

Über den Autor

Alex Scholz, geboren 1975, ist Astronom und Autor. Zurzeit arbeitet er als Direktor des Observatoriums an der Universität von St. Andrews in Schottland. Zusammen mit Kathrin Passig veröffentlichte er das »Lexikon des Unwissens« und »Verirren«. Er war Redakteur des Weblogs Riesenmaschine und schrieb für die Süddeutsche Zeitung, den Standard, die taz, Die ZEIT, Spiegel Online und CulturMag. Aleks Scholz konnte 2010 auf den 34. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt den Ernst-Willner-Preis gewinnen. Bei CulturBooks ist zuletzt die Maxi »Lug, Ton und Kip. Die Erforschung der Wicklows« erschienen.

Aleks Scholz

Flughafenwandern

Teil 1: Europa und Nordamerika

Dieses kleine Heft enthält Beschreibungen vom Herumlaufen auf acht unterschiedlichen Flughäfen, geschrieben vorwiegend zum Privatvergnügen und zur Erheiterung meiner Eltern. (verworfenes Vorwort einer nur in meiner Fantasie existierenden ersten Auflage dieses Buches)

Die Idee von einem Buch zum Flughafenwandern ist so alt wie das Flughafenwandern selbst, also etwa fünfzehn Jahre. Einen Wanderführer für Flughäfen sollte es geben, genau wie für Gebirge, mit Karten, Routen und Schwierigkeitsgraden, so stellte ich es mir vor. Dazu kam es nie, vor allem, weil die Idee des Flughafenwanderns sich ständig veränderte, so wie die Flughäfen selbst, in denen ich herumlief. Kaum hatte ich das erste Kapitel fertig, war die Welt schon wieder anders, und ich musste von vorn anfangen. Flughafenwandern ist ein empirisches Langzeitprojekt, und dieses Buch eine Momentaufnahme.

Die meisten Texte im Buch entstanden in den Jahren 2009 und 2012, zu einer Zeit, als die Zahl der Passagiere an europäischen Flughäfen tatsächlich zurückging, erstmals in der Geschichte der Luftfahrt. Zum ersten Mal konnte man sich tatsächlich vorstellen, dass ein Flughafen in ferner Zukunft etwas völlig anderes sein könnte als ein Flughafen, vielleicht ein Freilichtmuseum, ein Co-Working-Space, ein Park oder ein eingezäuntes verbotenes Gelände, auf dem man nachts ungestört rumstromern kann. In diesen Jahren konnte man sich als Flughafenwanderer als Pionier fühlen, als Vorbote einer neuen Zeit. Im Februar 2009 startete das Blog »Airport Hiking«, die Keimzelle dieses Buches.

Die neue Zeit kam dann doch nicht so schnell. Die Krise war nur eine Krise und kein Zusammenbruch. Der Kapitalismus machte einfach so weiter, als sei nichts geschehen. Das alte System fand neue Mittel und Wege, um die alten Flughäfen weiter zu benutzen, sogar in verlorenen Orten wie Donegal und Shannon. Flughafenwandern ist weiterhin ein Geschäft für Außenseiter, für Freaks, für Leute, die einen Weg nach draußen suchen, ihn aber nicht finden. Das Blog zum Buch kümmert weiterhin vor sich hin. Einen zweiten Band wird es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nie geben.

Aleks Scholz

Fragmente dieses Buches wurden an folgenden Stellen vorab veröffentlicht:

»die horen«, 60. Jahrgang, Bd. 257, 2015

»unofficial britain«, Januar 2015

»Airport Hiking

Beneath the fabricating and universal writing of technology, opaque and stubborn places remain. Michel de Certeau

Die Dubliner Flughafenrunde. Ich bin sie viele Male abgelaufen, bei Regen, Schnee, Sonne, Kälte, Nebel, Dunkelheit. Terminal 1, Terminal 2, altes Terminal, zurück. In Irland, wo das Wetter an einem Tag mit dem am Tag davor scheinbar nichts zu tun hat, wo jeder Tag ein neues Kunstwerk ist, das aus Wolken, Wind, Licht und Niederschlag zusammengewürfelt wird, wo es keinen kausalen Zusammenhang zwischen heute und morgen gibt, benötigt man nicht viel Raum, um das Land kennenzulernen. Eine kurze Spazierrunde genügt völlig. Man könnte auch an derselben Stelle sitzen bleiben und auf die kommenden Tage warten. Das Neue liegt in der Zeitdimension.

Dublin drängt sich auf als Ziel für einen Spaziergang an einem regnerischen Sonntag, egal ob man in Irland, Kroatien oder Finnland wohnt. Durch die Proliferation der Billigflieger wurde der Flughafen von Dublin zu einer Art Zentrum Europas. Er ist einfach zugänglich und für den Wanderer weitestgehend harmlos, aber er ist auch nicht so klein, dass man in weniger als einer Stunde alle Optionen ausgeschöpft hat. Mit anderen Worten: Er ist perfekt. Mit den schnellen Verbindungen von Boston und Chicago kann man sogar über Tagesausflüge aus Amerika nachdenken.

Die Drei-Terminal-Tour ist der klassische Spaziergang in Dublin. Auf der gesamten Runde profitiert man von breiten Gehwegen und teilweise doppelspurigen Radwegen. Radwege, was für ein Luxus. Wer fährt schon Fahrrad auf einem Flughafen? Man beginnt vor Terminal 1, mehr als drei Jahrzehnte lang die einzige funktionierende Abflughalle. Es sieht aus wie ein großes, verunstaltetes Parkhaus, und wer glaubt, dass man Parkhäuser nicht verunstalten kann, der sehe sich Terminal 1 in Dublin an und denke noch einmal genau darüber nach. Von dort läuft man schnurgerade die Straße herunter, grob in Richtung Südosten zum Terminal 2, ein großes, gläsernes Ding, das wie ein riesiges Pantoffeltierchen kurz vor der Zellteilung wirkt. Die Straße verläuft direkt unter der Stelle hindurch, an der sich die beiden Zellhälften voneinander ablösen.

Wenn es dämmert, wird im Straßentunnel unter Terminal 2 das Licht eingeschaltet. Das Licht ist blau. Mehrere Minuten lang läuft man durch ein herrliches blaues Licht. Der Tunnel wirkt als Trichter für den Wind. Gemäß den Strömungsgesetzen nimmt die Windgeschwindigkeit an Engstellen zu, ein Effekt, der auch für das Funktionieren von Flugzeugen bedeutend ist, weshalb der Tunnel aus schwachem Wind starken macht und aus starkem Wind orkanartigen, ungefähr wie auf dem Südsattel des Mount Everest auf 7906 Meter Höhe, nur ohne Sauerstoffmangel. Dublin liegt am Meer, und starker Wind ist nicht selten. Wenn man Glück hat, leuchtet außerdem noch die rot angelaufene Sonne in den Tunnel – an Sommerabenden von der einen Seite, an Wintermorgen von der anderen.

Am Ende des Tunnels führt eine Ladung Treppen hoch zur Vorderseite von Terminal 2. Dort kann man noch ein wenig das Pantoffeltierchen streicheln, bevor man die Erforschung des Geländes fortsetzt. Ausschweifende Routen führen durch die Ostzone des Flughafens, die vorwiegend zugestellt ist mit Parkplätzen, Hotels, Büros. Viele angenehme Stunden kann man dort drüben im Niemandsland verbringen. Am Ende steht man womöglich an dem großen Kreisverkehr, der den Flughafen am Ostende abschließt und direkt zur M1 führt, eine von dreieinhalb Autobahnen auf der gesamten Insel. Noch ein paar Stunden weiter nach Osten abgeschweift und man erreicht die Irische See.

Die klassische Runde jedoch führt in eine andere Richtung. Von der Bushaltestelle vor Terminal 2 ein paar Hundert Meter nach Norden, vorbei an der Flughafenkirche, bis man auf den gegenüberliegenden Schenkel der U-förmigen Hauptstraße trifft. Dann läuft man in Richtung Westen und in einer geraden Linie auf das alte Terminal zu. Von dort sind es nur noch ein paar Meter zurück zum Ausgangspunkt. Auf dem gesamten Weg hat man gute Ausblicke auf das seltsame Terminal-Trio: Terminal 1 als lebende Ruine, Terminal 2, das von vorn aussieht, als käme es aus derselben Fabrik, die auch Raumschiff Enterprise hergestellt hat, und schließlich das alte Terminal, ehemals die Drehscheibe des Flughafens, der Dreh- und Angelpunkt, heute eine Fußnote und außer Betrieb. Ein und dieselbe Funktion, drei radikal unterschiedliche Implementierungen.

Bisher verschwiegen wurde das gut versteckte vierte Terminal. Es wurde verschwiegen, weil es zu klein ist, um sofort als Terminal erkennbar zu sein. Heute wirkt das in den 1950er Jahren gebaute kleine »North Terminal« eher wie eine in den 1970er Jahren erbaute Schwimmhalle. Das Gebäude stellte man rechts neben das alten Terminal, um mit der rapide steigenden Zahl an Passagieren klarzukommen. Dieser Plan war wie so viele Flughafenpläne langfristig nicht sehr erfolgreich; die Unmengen an Flugreisenden überrannten auch das »North Terminal«. Heute dient es vorwiegend als interessantes Anschauungsobjekt für Wanderer.

Wenn man mit der Runde fertig ist, kann man sich selbst zu einem Strawberry Sunrise von der Saftbar einladen und zurückfliegen, nach Rom oder Moskau oder wo auch immer man hergekommen ist.

»Think of this as our awkward phase«, entschuldigt sich der Flughafen Los Angeles im November 2011 bei seinen Besuchern. LAX, wie er sich rufen lässt, verspricht eine »Airport Warming Party«, wenn endlich alles fertig ist. Ein fast niedlicher Beschluss, wenn man bedenkt, dass vor den Bauarbeiten 2011 jahrelang andere Bauarbeiten stattfanden, und davor wieder andere. Es bleibt nichts anderes übrig, als sich damit abzufinden, dass Flughäfen immer »awkward«, peinlich oder unbeholfen sind, allenfalls manchmal in kurzen Phasen der Ruhe, bevor das Umbauen an anderer Stelle weitergeht. Terminals verwandeln sich in andere Terminals, Kraftwerke verschwinden, Parkhäuser entstehen.

Für den Flughafenwanderer stellt die Daueranwesenheit von Provisorien eher einen Vorteil dar. Wenn die meisten Wegweiser ins Nichts zeigen, wundert sich niemand mehr über Streuner. Fertige Flughäfen hätten Gelegenheit, ihre Abwehrsysteme auszubauen, Barrieren zu errichten, Wachtürme, Stacheldraht und Selbstschussanlagen. Sie würden ihre Schwachstellen tarnen und den Besucher zwingen, sich ihrem Willen unterzuordnen. Nichts dergleichen kann man dem Flughafen von Los Angeles vorwerfen. LAX ist nicht nur unfertig, sondern auch entspannt. Hin und wieder findet man Menschen, die so wirken, als hätten sie nichts zu tun, und es fällt schwer zu entscheiden, ob es sich um Reisende oder Angestellte handelt. Es scheint hier Leute zu geben, die einfach nur herumhängen, ohne klaren Lebenszweck. LAX ist das ideale Terrain für Flughafenwanderer.

LAX ist ein klassischer Hufeisenflughafen. Die Hauptstraße mit dem Namen »World Way« beschreibt ein großes U, an dessen Außenseite entlang die neun Terminals angeordnet sind. An der offenen Seite ist das Hufeisen über ein paar Straßenschleifen lose mit dem legendären Highway No. 1 verbunden, der einen von hier geradewegs an die Pazifikküste und auf den Standard-Roadtrip nach San Francisco katapultiert. Das Hufeisen ist eine Standardlösung für die Flughafenstruktur. Es wirkt wie ein Salzstreuer, der seinen Inhalt, Körner in Form von Passagieren, in alle Richtungen verteilt, zunächst in die Terminals, dann auf die Rollfelder, dann in die Welt.

Normalerweise gehört zum Standardzubehör von Hufeisenflughäfen der Skytrain, ein Zug, der entlang des großen U die Touristen und Geschäftsreisenden in Paketen von einem Terminal zum nächsten verschickt. In Los Angeles fehlt der Skytrain, bisher jedenfalls, denn auch Los Angeles macht Pläne für seinen eigenen Flughafenzug, ein vollautomatisches Personenverschickungssystem, das »LAX Automated People Mover« heißen wird. Bis es so weit ist, muss man mit den Fahrern von klappernde Flughafenbussen über seine Zukunft verhandeln oder aber die breiten Bürgersteige verwenden, die den gesamten World Way begleiten. LAX steht noch mit einem Bein in der dritten Welt. Dies führt dazu, dass die Gegenden zwischen den Terminals nicht etwa einer Todeszone ähneln wie in New York JFK oder London-Heathrow, sondern bevölkert sind. Es bleibt auch nichts anderes übrig, als zu Fuß zu gehen.

Genau hier, zwischen den Terminals, befinden sich die interessanten Stellen, die kleinen, unbeachteten Schmutzzonen, um die sich niemand kümmert. Zonen, die darauf warten, dass jemand von ihnen Besitz begreift. Außerdem Zonen, die sich so schnell verändern, dass es unmöglich ist, dasselbe zu sehen wie der Besucher davor. Zwischen Terminal 2 und 3 fand ich im Jahr 2011 einen eilig angelegten Hundepark, ein von hohen Mauern umgebenes Areal mit dem Charme eines Gefängnishofes. Benutzt wurde das Geviert vor allem von Krähen. Von ähnlichem Charakter waren die heimlichen Ecken vor der untersten Etage des Tom-Bradley-Terminals, deren kümmerliche Bepflanzung Probleme hatte, sich in der dunklen, von Autoabgasen gesättigten Umgebung am Leben zu halten. Von den Automassen des World Way sanken Trillionen von Kohlenmonoxidmolekülen hinab, besessen von dem Wunsch, mich erst einzuschläfern und dann umzubringen. Dieselben Autos, die das tödliche Gas absondern, sind jedoch laut genug, um mich zuverlässig am Einschlafen zu hindern. Lärm und Gift streiten um meine Seele.

Das wesentliche Ziel eines Aufenthalts in LAX ist das Innere des Hufeisens, die Gebiete, die der World Way umfährt. Wer will, kann sich das Hufeisen von LAX wie den Grand Canyon vorstellen. Der World Way ist der Rand, von dem aus man in das Innere eines Beckens hineinsehen kann, wo wiederum hohe Tafelberge, auch Parkhäuser genannt, herumstehen. Wer geologisch interessiert ist, kann an der Schichtenfolge der Parkgaragen die Erdgeschichte über mehr als eine Milliarde Jahre oder wenigstens über ein paar Tage zurückverfolgen.

Die Durchquerung des Grand Canyons: Was auf vielen ähnlich strukturierten Flughäfen ein Abenteuer darstellt, ist in Los Angeles erstaunlich einfach. Ich war oft dort unten, in den tiefen Schluchten zwischen den Tafelbergen, die nur von Indianern und Pumas bevölkert sind. Niemand beachtete mich. Anfangs zögernd und in ständiger Furcht vor unbekannten Gefahren, wurde ich im Laufe der Zeit leichtsinnig. Der Grand Canyon von LAX war für mehrere Tage mein Zuhause. Verschlungene Pfade führen von einer Seite zur anderen, von einem Terminal zum anderen, und rings um den mitten im Canyon angeordneten Kontrollturm. Der Grand Canyon verändert sich ständig. Ein zeitlich verschlungener Pfad führt von einem gewaltigen, qualmenden Gebäude im Jahr 2006 zu einer gewaltigen Grube an derselben Stelle im Jahr 2011.

Ein paar Dutzend Treppen und Aufzüge bringen den Wanderer von dem Erdgeschoss des Canyons auf seine Dachterrassen, die obersten Parkdecks. Große, leere Flächen, vergleichbar mit der Mojave-Wüste, dem Altiplano und der sibirischen Tundra. Hier oben scheint immer die Sonne, und niemand, kein Mensch, hält einen davon ab, den ganzen Tag in seltsamen geometrischen Figuren auf und ab zu gehen. Dabei bieten sich bemerkenswerte Ausblicke, auf metallene Supervögel, auf die steilen Berge der San Gabriel Mountains und auf die große Ebene, die zwischen den Bergen und dem Pazifik liegt, eine Ebene, die zu sonnig, zu warm und zu attraktiv war, um die Menschen davon abzuhalten, sie vor mehreren Tausend Jahren zu besiedeln. Menschen, die keine Seismographen hatten und noch nichts von Plattentektonik wussten.

Das Kraftzentrum des Flughafens von Los Angeles steht am Ostende des Grand Canyons. Es ist von allen Parkdecks und Terminals aus gut zu erkennen: Das »Theme Building«, ein Gebäude, das für Leute mit wenig Fantasie aussehen muss wie eine Riesenspinne, der man vier Beine abgehackt hat, und für alle anderen wie eine Riesen-UFO-Spinne, die aus einer anderen Galaxie gelandet ist. Vor Jahren wurde die Spinne generalüberholt, ich sah mehrere Beine, die aufgeschnitten und mit Baugerüsten bedeckt waren. Für erdgeschichtlich extrem kurze Zeit konnte ich in das Innere der Spinnenbeine sehen.

Das Theme Building, die Techno-Spinne aus den optimistischen 1950er Jahren ist die Vision einer fantastischen Zeit, die nie gekommen ist, eine Zeit vor Tschernobyl und Challenger-Absturz. Es saugt den Besucher und Flughafenwanderer sofort hinein in einen Strudel aus Illusionen, der festlegt, wie die Stadt Los Angeles zu lesen ist. Es führt einen sofort in eine andere, ausgedachte Welt, in die Fantasie von Designern, Künstlern und Regisseuren. Es ist ein Symbol für die Sorte Spinnerei, die wie Mehltau über der Stadt liegt.

»Los Angeles plays itself« ist ein Dokumentarfilm von Thom Anderson, der fast drei Stunden lang diese Art Spinnerei analysiert. Der Film lief nie im regulären Kino. Er besteht nur aus Filmszenen, die in Los Angeles spielen. Er zeigt die tausendfachen Deutungen, Bilder und Fiktionen, die sich die Stadt zugelegt hat. Den Kontrast zwischen Realität und Wahrnehmung. Unser Bild von Los Angeles, so Anderson, wird vollständig durch Touristen bestimmt, Touristen, die nach Los Angeles kommen, um Filme zu drehen. Los Angeles – oder was wir dafür halten – ist eine Illusion.

Wenn das für die Stadt als Ganzes stimmt, dann umso mehr für ihren Flughafen, der mit seinem UFO-Gebäude am Eingang als Komparse in zahlreichen Hollywoodfilmen und Fernsehproduktionen auftaucht. In der Fernsehserie »LOST« ist LAX das Ziel des Flugs Oceanic 815, der dort allerdings nicht ankommt, sondern auf einer rätselhaften Insel abstürzt. Beziehungsweise kommt er viele Fernsehstunden später in einem Paralleluniversum doch an, oder vielleicht auch nicht, die Meinungen gehen auseinander. LAX ist außerdem ein Schauplatz in der Stephen-King-Verfilmung »Langoliers«. Hier kommen die Protagonisten nach dem Flug durch ein Zeitloch in einer leeren, zukünftigen Version des Flughafens an und warten »dort« auf die Gegenwart.

Es ist schwer, als Flughafenwanderer gegen diese Ideen anzukommen. Der Flughafen umgibt sich mutwillig mit einem Kraftfeld aus Illusionen, die es erschweren, etwas Objektives über ihn auszusagen. Oder aber genau diese Erkenntnis ist die Illusion. Erzeugen Filme Meinungen über einen bestimmten Ort in den Köpfen der Zuschauer, oder speisen sie sich aus den Meinungen, die schon vorhanden sind? Thom Anderson: »Filme arbeiten nicht nur mit den Haltungen der Zuschauer, die bereits vorhanden sind. Das ergibt keinen Sinn, denn sonst würde sich nichts verändern, und Filme wären bedeutungslos. Sind sie aber nicht.«

Sind sie wirklich nicht. Wer sich allein auf dem obersten Parkdeck von LAX befindet, bedient sich automatisch bei Stephen King. Weggeworfene Tickets fliegen im Wind. Der Teer in den Ritzen zwischen den Betonplatten halbflüssig. Eine Ecke mit grünen Glasscherben, die in der Sonne glitzern. Man fängt an, nach Rissen in der Zeit zu suchen, nach Anzeichen dafür, dass es die Gegenwart mit den anderen Menschen noch gibt. Nach einem Weg zurück.