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Virginia Woolf erzählt vom Spaniel des Dichterpaares Elizabeth Barrett und Robert Browning, und nie ist die uralte Beziehung zwischen Mensch und Hund, die Gemeinsamkeit und Getrenntheit der Kreatur, sensibler geschildert worden als in dieser graziös unterhaltsamen, das Gegenständliche, das Sinnhafte, das Bewusste und das Unbewusste zart und fest greifenden Prosa.
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Seitenzahl: 190
Virginia Woolf
Flush
Eine Biographie
Herausgegeben von Klaus Reichert
Übersetzt von Karin Kersten
FISCHER E-Books
Es herrscht allgemeines Einverständnis darüber, daß die Familie, von der der Gegenstand dieser Erinnerungen abzustammen beansprucht, bis in uralte Zeiten zurückreicht. So ist es denn auch nicht weiter seltsam, daß der Ursprung des Namens selbst sich in dunkle Fernen verliert. Vor vielen Millionen Jahren gärte das Land, das heute Spanien genannt wird, im ungemütlichen Prozeß seiner Schöpfung. Unendliche Zeiten vergingen; Vegetation stellte sich ein; wo es Vegetation gibt, so dekretiert das Naturgesetz, da sollen Kaninchen sein; wo es Kaninchen gibt, so bestimmt es die Vorsehung, da sollen Hunde sein. Daran ist nichts Fragliches oder Bemerkenswertes. Wenn wir jedoch fragen, weshalb denn der Hund, der das Kaninchen fing, Spaniel genannt wurde, dann fangen Zweifel und Schwierigkeiten an. Manche Historiker behaupten, als die Karthager in Spanien landeten, hätten die Soldaten wie aus einem Munde »Span! Span!« gerufen – denn Kaninchen seien aus jedem Strunk und Strauch hervorgeschossen. Das Land wimmele von Kaninchen. Und Span bedeute in der karthagenischen Sprache Kaninchen. So sei das Land denn Hispania oder Kaninchenland genannt worden, und die Hunde, die man fast augenblicklich dabei erblickte, wie sie aus Leibeskräften Jagd auf die Kaninchen machten, habe man Spaniels oder Kaninchenhunde genannt.
Viele von uns wären es nun zufrieden, die Sache auf sich beruhen zu lassen; wir sehen uns um der Wahrheit willen jedoch genötigt hinzuzusetzen, daß es noch eine andere Schule des Denkens gibt, die eine andere Meinung vertritt. Das Wort Hispania, behaupten diese Gelehrten, habe nicht das allermindeste mit dem karthagenischen Wort span zu tun. Hispania komme von dem baskischen Wort españa, das Saum oder Grenze bedeutet. Wenn das der Fall ist, müssen Kaninchen, Gesträuch, Hunde, Soldaten – überhaupt das ganze romantische, ergötzliche Bild aus der Vorstellung gestrichen werden; und wir müssen einfach annehmen, daß der Spaniel Spaniel genannt wird, weil Spanien España heißt. Was nun die dritte Schule der Altertumsforscher angeht, die behauptet, gerade wie ein Liebhaber seine Geliebte Ungeheuer oder Äffchen nenne, so würden die Spanier ihre Lieblingshunde abgefeimt oder auch ruppig nennen (das Wort españa läßt sich dazu bewegen, diese Bedeutungen anzunehmen), weil der Spaniel notorisch das Gegenteil davon sei – so ist das denn doch eine allzu phantastische Mutmaßung, als daß man sie im Ernst zu vertreten vermöchte.
Wenn wir diese Theorien, und noch viele andere, die uns hier nicht aufzuhalten brauchen, beiseite lassen, gelangen wir in das Wales um die Mitte des zehnten Jahrhunderts. Der Spaniel ist bereits dort, ist schon vor vielen Jahrhunderten, so heißt es jedenfalls, von dem spanischen Klan der Ebhor oder Ivor dorthin gebracht worden; und mit Sicherheit um die Mitte des zehnten Jahrhunderts ein Hund von hohem Wert und Ansehen. »Der Spaniel des Königs ist ein Pfund wert«, so legte Howel Dha den Preis in seinem Book of Laws fest. Und wenn wir uns ins Gedächtnis rufen, was man im Jahr des Herrn 948 mit einem Pfund alles kaufen konnte – wie viele Ehefrauen, Sklaven, Pferde, Ochsen, Truthähne und Gänse –, dann wird offenkundig, daß der Spaniel bereits ein Hund von Wert und Ansehen war. Er hatte seinen Platz bereits an der Seite des Königs. Früher als die Familien vieler berühmter Monarchen wurde die seine schon in Ehren gehalten. Er ließ es sich in Palästen wohl sein, während die Platagenets und die Tudors und die Stuarts hinter anderer Leute Pflügen durch anderer Leute Schlamm stapften. Lange bevor sich die Howards, die Cavendishs oder die Russells über das gemeine Volk der Smiths, Jones' und Tomkins erhoben hatten, war die Spanielfamilie bereits eine vornehme und besondere Familie. Und mit dem Verstreichen der Jahrhunderte brachen Seitentriebe aus dem Hauptstamm hervor. Nach und nach entstanden, während die englische Geschichte ihren Lauf nahm, wenigstens sieben berühmte Spanielfamilien – die Clumber, die Sussex, die Norfolk, die Black Field, die Cocker, die Irish Water und die English Water, die zwar alle von dem Urspaniel prähistorischer Zeiten abstammten, dabei jedoch unterschiedliche Eigenschaften aufwiesen und infolgedessen zweifellos ebenso unterschiedliche Privilegien beanspruchten. Daß es, während Königin Elizabeth den Thron innehatte, eine Hundearistokratie gab, bezeugt Sir Philip Sidney: »… Greyhounds, Spaniels und Hounds«, bemerkt er, »wobei erstere als Lords gelten können, die zweiten als Gentlemen und letztere als Freisassen«, schreibt er in seiner Arcadia.[1]
Doch wenn uns das auch vermuten läßt, daß die Spaniels dem menschlichen Beispiel folgten und zu den Greyhounds als über ihnen stehend aufblickten und die Hounds als tieferstehend betrachteten, so müssen wir doch zugeben, daß ihre Aristokratie besser begründet war als die unsere. Zu der Schlußfolgerung muß jedenfalls ein jeder gelangen, der die Satzung des Spaniel Clubs studiert. Durch jenes erlauchte Regelwerk wird klipp und klar festgelegt, was die Untugenden eines Spaniels ausmacht und was seine Tugenden. Helle Augen, beispielsweise, sind unerwünscht; gelockte Ohren sind noch schlimmer; gar mit einer hellen Nase oder einem Schopf geboren worden zu sein, ist nichts weniger als verhängnisvoll. Die Vorzüge des Spaniels sind gleichermaßen klar umrissen. Sein Kopf muß glatt sein und sich ohne allzu ausgeprägte Wölbung von der Schnauze erheben, der Schädel muß entsprechend gerundet sein und gut ausgebildet, so daß darin hinlänglich Platz für ein tüchtiges Gehirn ist; die Augen müssen rund, ohne jedoch vorzuspringen, seine Ausstrahlung muß insgesamt die einer sanftmütigen Intelligenz sein. Der Spaniel, der diese Merkmale an den Tag legt, wird gefördert und zur Zucht verwendet; der Spaniel hingegen, der darauf besteht, Haarschöpfe und helle Nasen fortzupflanzen, wird von den Privilegien und Erträgnissen seiner Rasse abgeschnitten. So legen die Richter das Gesetz fest und schreiben, indem sie das Gesetz festlegen, die Bestrafungen und Privilegien vor, die gewährleisten, daß dem Gesetz auch Folge geleistet werden wird.
Wenn wir uns jetzt jedoch der menschlichen Gesellschaft zuwenden, welchem Chaos und welchem Wirrwarr begegnen wir da! Kein Club hat eine vergleichbare Rechtsprechung im Hinblick auf die Zucht des Menschengeschlechts! Am nächsten kommt dem Spaniel Club noch das Wappenamt. Es unternimmt immerhin gewisse Anstrengungen zur Reinerhaltung der menschlichen Familie. Wenn wir jedoch fragen, was denn die adlige Abkunft ausmache – ob unsere Augen hell sein sollen oder dunkel, unser Ohrbehang gelockt oder glatt, ob ein Schopf verhängnisvoll ist, dann verweisen unsere Richter uns lediglich auf unsere Wappenzeichen. Vielleicht haben Sie keins. Dann sind Sie niemand. Doch erheben Sie einmal berechtigten Anspruch auf sechzehn Teilungsfelder, belegen Sie Ihr Anrecht auf eine Krone, dann heißt es, Sie seien nicht nur geboren, sondern obendrein noch hochwohlgeboren. Daher kommt es denn, daß in ganz Mayfair nicht ein einziger Muffinbäcker ohne seinen kauernden Löwen oder seine sich aufrichtende Meerjungfrau auskommt. Selbst noch unsere Weißzeughändler montieren sich das Königliche Wappen über die Türen, als beweise das, daß sich in ihrem Bettzeug sicher schlafen ließe. Allseits wird Rang beansprucht, und dessen Tugenden werden geltend gemacht. Doch wenn wir dann die Königshäuser derer von Bourbon, Habsburg und Hohenzollern einmal näher betrachten, die mit wer weiß wie vielen Kronen und Teilungsfeldern dekoriert sind, die von wer weiß wie vielen kauernden oder sich aufrichtenden Löwen und Leoparden strotzen, und wir sie sämtlich im Exil finden, ihrer Autorität entkleidet, jeglichen Respekts für unwürdig befunden, können wir nur kopfschüttelnd zugeben, daß die Richter des Spaniel Clubs besser gerichtet haben. So lautet die Lektion, die unmittelbare Bekräftigung findet, sowie wir von derlei hochgestochenen Themen zur Betrachtung der Anfänge Flushs in der Familie der Mitfords[2] übergehen.
Um das Ende des 18. Jahrhunderts herum lebte ein Zweig der berühmten Rasse der Spaniels bei Reading im Haus eines gewissen Dr. Midford oder Mitford. Jener Herr zog es, in Übereinstimmung mit den geheiligten Grundsätzen des Wappenamts, vor, seinen Namen mit t zu schreiben, und behauptete auf diese Weise seine Abstammung von der Familie der Mitfords von Bertram Castle in Northumberland. Seine Frau war eine Miss Russell und stammte, entfernt zwar, aber doch eindeutig, aus dem herzoglichen Haus Bedford. Nun war aber das Eheschließungsgebaren der Vorfahren Dr. Mitfords von einer derart zügellosen Mißachtung aller Grundsätze gekennzeichnet gewesen, daß keine Richterbank seinem Antrag, von guter Abstammung zu sein, hätte stattgeben oder ihm die Fortzucht seiner Sippschaft genehmigen können. Seine Augen waren hell; seine Ohren gelockt; sein Kopf wies den verhängnisvollen Schopf auf. Mit anderen Worten, er war äußerst eigensüchtig, von rücksichtsloser Extravaganz, weltlich, unaufrichtig und dem Glücksspiel verfallen. Er brachte sein eigenes Vermögen durch, das Vermögen seiner Frau und den Erwerb seiner Tochter. Er ließ sie im Stich, als es ihm gutging, und schmarotzte bei ihnen, als er schwach war. Zwei Gesichtspunkte sprachen allerdings zu seinen Gunsten: beträchtliche Schönheit – er war ein Apoll, bis Völlerei und Trunksucht Apoll in einen Bacchus verwandelten – und er war ein echter Hundeliebhaber. Es kann jedoch kein Zweifel daran bestehen, hätte es einen dem Spaniel Club entsprechenden Man Club gegeben, kein t in Mitford statt des d, keine Verschwägerung mit den Mitfords von Bertram Castle hätten ausgereicht, um ihn vor Schmach und Schande zu bewahren, vor all den Strafen der Vogelfreiheit und der Ächtung, davor, als Promenadenmischung abgestempelt zu werden, untauglich, seine Art fortzupflanzen. Er war jedoch ein Mensch. Nichts hinderte ihn folglich daran, eine Dame von Rang und Abstammung zu ehelichen, über achtzig Jahre lang zu leben, etliche Generationen von Greyhounds und Spaniels zu halten und eine Tochter zu zeugen.
Alle Recherchen, die dazu dienen sollten, mit einiger Sicherheit das exakte Geburtsjahr von Flush zu bestimmen, ganz zu schweigen von Monat oder Tag, sind fehlgeschlagen; es ist jedoch wahrscheinlich, daß er irgendwann zu Anfang des Jahres 1842 geboren wurde. Es ist außerdem wahrscheinlich, daß er direkt von Tray (c.1816) abstammt, dessen hervorstechende Merkmale, die leider nur im unzuverlässigen Medium der Poesie erhalten sind, ihn als roten Cocker Spaniel von Rang ausweisen. Alles spricht für die Annahme, Flush sei der Sohn jenes »echten alten Cocking Spaniels« gewesen, für den Dr. Mitford »im Hinblick auf seine hervorragenden Eigenschaften bei der Jagd auf dem Feld« zwanzig Guineen ausschlug. Leider, leider müssen wir uns, was die ausführlichste Beschreibung von Flush selbst als jungem Hund betrifft, an die Poesie halten. Er hatte jene spezielle dunkle Brauntönung, die bei Sonnenlicht »ganz und gar in funkelndem Gold« blitzt. Seine Augen waren »verblüffte Augen von haselnußbrauner Sanftmut«. Seine Ohren waren »quastenbehangen«; seine »schmalen Füße« »fransengesäumt wie Baldachine«, und sein Schwanz war breit. Wenn man einmal absieht von den Erfordernissen des Reims und der Ungenauigkeit der poetischen Diktion, finden wir hier nichts, das sich der Billigung des Spaniel Clubs nicht erfreuen würde. Wir können nicht bezweifeln, daß Flush ein reinrassiger Cocker der roten Variante und mit allen charakteristischen Vorzügen seiner Art ausgezeichnet war.
Die ersten Monate seines Lebens verbrachte er in Three Mile Cross, in einem Landarbeiter-Cottage bei Reading. Seit die Mitfords schlechte Zeiten kennengelernt hatten – Kerenhappock war der einzige Dienstbote –, wurden die Kissenbezüge von Miss Mitford selbst angefertigt und zwar aus billigstem Stoff; das wichtigste Möbelstück scheint ein großer Tisch gewesen zu sein; der wichtigste Raum ein großes Gewächshaus – es ist unwahrscheinlich, daß Flush von irgendwelchen Luxusgütern umgeben war wie regensicheren Zwingern, zementiertem Auslauf, einem Dienstmädchen oder Burschen, die seiner Person zugeteilt waren, wie man sie einem Hund seines Ranges heute zugestünde. Doch er gedieh; er erfreute sich mit der ganzen Lebhaftigkeit seines Temperaments der meisten Vergnügungen und einiger der Freizügigkeiten, wie sie seiner Jugend und seinem Geschlecht natürlich waren. Miss Mitford war zwar sehr ans Cottage gebunden. Sie mußte ihrem Vater Stunde um Stunde vorlesen; dann Cribbage spielen; dann, wenn er endlich schlummerte, am Tisch im Gewächshaus schreiben und schreiben und schreiben, im Zuge ihres Versuchs, ihre Rechnungen zu bezahlen und ihre Schulden zu begleichen. Doch dann kam endlich der langersehnte Augenblick. Sie schob ihre Papiere beiseite, setzte sich einen Hut auf den Kopf, nahm ihren Schirm und brach mit ihren Hunden zu einem Spaziergang über die Felder auf. Spaniels sind von Natur einfühlsam; Flush legte, wie seine Geschichte beweist, ein geradezu exzessives Verständnis für die menschlichen Gefühle an den Tag. Der Anblick seiner lieben Herrin, wenn sie endlich tief die frische Luft einatmete, die ihr das weiße Haar zerzauste und die von Natur aus frische Gesichtsfarbe rötete, während die Falten ihrer ungeheuer hohen Stirn sich glätteten, erregte ihn bis zu Luftsprüngen, deren Ungestüm zur Hälfte dem Mitempfinden ihrer eigenen Freude entsprang. Während sie durchs hohe Gras schritt, sprang er hin und her und teilte dessen grünen Vorhang. Die kühlen Tau- oder Regenkügelchen zerplatzten um seine Nase als schillernde Schauer von Wasserstaub; die Erde, hier hart, dort weich, hier heiß, dort kalt, stach, kitzelte und piekte die weichen Ballen seiner Pfoten. Und dann, welch eine Vielfalt von Gerüchen, die in vertracktesten Kombinationen miteinander verwoben waren, versetzte seine Nase in Aufregung; starke Erdgerüche, süße Blumendüfte; namenlose Düfte von Blättern und Dornensträuchern; saure Gerüche, als sie die Landstraße überquerten; stechende Gerüche, als sie Bohnenfelder betraten. Doch plötzlich drang durch den Wind ein Geruch, der schärfer war, stärker, durchdringender als alle anderen – ein Geruch, der ihm durchs Hirn schoß und tausend Instinkte aufstörte, eine Million Erinnerungen freisetzte – der Hasengeruch, Fuchsgeruch. Davon schoß er wie ein Fisch, der in rasender Geschwindigkeit weiter und weiter durchs Wasser gerissen wird. Er vergaß seine Herrin; er vergaß die ganze menschliche Rasse. Er hörte dunkelhäutige Männer »Span! Span!« schreien. Er hörte Peitschen knallen. Er hetzte; er raste dahin. Schließlich blieb er verwirrt stehen; der Zauber war verflogen; sehr langsam, einfältig mit dem Schwanz wedelnd, trottete er über die Felder dahin zurück, wo Miss Mitford stand und »Flush! Flush! Flush!« rief und ihren Schirm schwenkte. Und einmal wenigstens war der Ruf sogar noch gebieterischer; weckte das Jagdhorn tiefere Instinkte, rief es stärkere und wildere Empfindungen wach, die über das Erinnerungsvermögen hinausgingen und Gras, Bäume, Hasen, Kaninchen, Füchse auslöschten in einem einzigen wilden Schrei der Ekstase. Die Fackel der Liebe loderte ihm ins Auge; er hörte das Jagdhorn der Venus. Noch ehe er seiner Welpenzeit recht entwachsen war, war Flush bereits Vater.
Flushs Geburtshaus
Ein derartiges Betragen im Jahre 1842 hätte selbst dem Biographen eines Mannes einige entschuldigende Worte abgenötigt, bei einer Frau wäre es ganz und gar unentschuldbar gewesen; ihr Name hätte als schändlich von der Seite gelöscht werden müssen. Doch der Moralkodex der Hunde, sei er nun besser oder schlechter, ist mit Gewißheit anders als unserer, und an Flushs Betragen war in dieser Hinsicht nichts, das jetzt der Verschleierung bedürfte oder ihn als ungeeignet aus der Gesellschaft der Reinsten und Keuschesten im Lande ausgeschlossen hätte. Dafür gibt es Beweise, das heißt, der ältere Bruder Dr. Puseys[3] hätte ihn zu gern gekauft. Wenn man vom sattsam bekannten Charakter Dr. Puseys auf den wahrscheinlichen Charakter seines Bruders schließen will, dann muß etwas Ernsthaftes, Gesetztes, künftige Vortrefflichkeit Verheißendes an Flush gewesen sein, was immer es an Leichtfertigkeit im Leben des Welpen gegeben haben mag. Doch ein noch weit bedeutsameres Zeugnis für die Anziehungskraft seiner Talente ist darin zu sehen, daß Miss Mitford, obwohl Mr Pusey ihn zu kaufen wünschte, sich weigerte, ihn zu verkaufen. Als sie vor Geldsorgen nicht mehr ein noch aus wußte, in der Tat kaum mehr wußte, welche Tragödie sie denn noch ersinnen, welches Jahrbuch sie denn noch herausgeben sollte, und sich auf den garstigen Ausweg verwiesen sah, ihre Freunde um Hilfe bitten zu müssen, muß es sie hart angekommen sein, die Summe auszuschlagen, die Dr. Puseys älterer Bruder ihr bot. Zwanzig Pfund waren für Flushs Vater geboten worden. Miss Mitford hätte gut und gern zehn oder fünfzehn für Flush verlangen können. Zehn oder fünfzehn Pfund waren eine fürstliche Summe, eine prächtige Summe, die ihr damit zur Verfügung gestanden hätte. Mit zehn oder fünfzehn Pfund hätte sie ihre Stühle neu beziehen lassen können, hätte sie ihr Gewächshaus mit Nachschub versehen können, hätte sie ihre gesamte Garderobe erneuern können, und »ich habe mir seit vier Jahren keine Haube, kein Cape, kein Kleid, kaum einmal ein Paar Handschuh gekauft«, schrieb sie 1842.
Miss Mitford geht mit Flush spazieren
Doch Flush zu verkaufen, war unvorstellbar. Er gehörte zu der seltenen Kategorie von Objekten, die sich nicht mit Geld in Verbindung bringen lassen. Ja, gehörte er nicht zur noch selteneren Spezies derer, die, weil sie verkörpern, was geistiger Natur, was jenseits eines Kaufpreises ist, zu einem angemessenen Zeichen für die Selbstlosigkeit der Freundschaft werden; in ebendiesem Geiste einer Freundin angeboten werden mögen, falls man so glücklich ist, eine solche zu besitzen, die eher Tochter ist als Freundin; eine Freundin, die die ganzen Sommermonate hindurch in einem Hinterzimmer der Wimpole Street liegt, einer Freundin, die niemand anderes ist als Englands erste Dichterin, die glänzende, die vom Schicksal heimgesuchte, die angebetete Elizabeth Barrett[4] selbst? Derart waren die Gedanken, die Miss Mitford immer häufiger durch den Sinn gingen, während sie Flush dabei beobachtete, wie er sich im Sonnenschein wälzte und umhertollte; während sie auf der Couch bei Miss Barrett in deren dunklem, efeuschattigem Londoner Schlafzimmer saß. Ja; Flush war Miss Barretts wert; Miss Barrett war Flushs wert. Das Opfer war groß, doch es mußte gebracht werden. So mochte man eines Tages, wahrscheinlich im Frühsommer des Jahres 1842 gesehen haben, wie ein bemerkenswertes Paar die Wimpole Street hinabging – eine sehr kleine, füllige, schäbig gekleidete ältere Dame mit einem leuchtend roten Gesicht und leuchtend weißem Haar, die einen sehr lebhaften, sehr neugierigen, sehr hochgezüchteten goldenen jungen Cocker Spaniel an der Leine führte. Sie gingen fast die ganze Straße hinab, bis sie schließlich bei Nummer 50 stehenblieben. Nicht ohne Zaudern läutete Miss Mitford.
Vielleicht läutet noch heute niemand ohne Zaudern an einer Haustür der Wimpole Street. Es ist die erlauchteste der Londoner Straßen, die unpersönlichste. Tatsächlich muß man, wenn die Welt in Scherben zu gehen scheint und die Zivilisation in den Grundfesten wankt, nur zur Wimpole Straße gehen; diese Allee abschreiten; diese Häuser eingehend betrachten; über ihre Gleichförmigkeit nachdenken; über die Vorhänge vor den Fenstern und deren Schwere staunen; die Messingklopfer und ihre gleichförmige Gestalt bewundern; die Fleischer dabei beobachten, wie sie die Braten liefern, und die Köchinnen, wie sie sie in Empfang nehmen; die Einkünfte der Bewohner überschlagen und auf deren daraus folgende Unterwerfung unter die Gesetze Gottes und der Menschen schließen – man muß nur zur Wimpole Street gehen und tief den Frieden einsaugen, den Macht und Ansehen atmen, um einen Seufzer der Dankbarkeit auszustoßen, daß, während Korinth fiel und Messina strauchelte, während Kronen vom Winde verweht wurden und alte Reiche in Flammen aufgingen, die Wimpole Street unverrückbar dieselbe geblieben ist, und während man aus der Wimpole Street in die Oxford Street einbiegt, steigt einem ein Stoßgebet aus dem Herzen auf und bricht von den Lippen, daß nicht ein Ziegelstein der Wimpole Street verrückt, nicht ein Vorhang gewaschen werden, nicht ein Fleischer die Lieferung oder eine Köchin den Empfang des Sirloin Steaks versäumen möge, der Keule, der Brust, der Rippen von Hammel und Rind, auf ewig und immerdar, denn solange die Wimpole Street steht, ist die Zivilisation gesichert.
Die Butler der Wimpole Street bewegen sich selbst heute noch gewichtig; im Sommer 1842 waren sie noch bedachtsamer. Die Gesetze der Livrierung waren damals zwingender; das Ritual der grünen Boischürze zum Silberputzen; der gestreiften Weste und des schwarzen Schwalbenschwanzes beim Öffnen der Haustür wurde strenger befolgt. Es ist folglich wahrscheinlich, daß Miss Mitford und Flush wenigstens dreieinhalb Minuten auf der Schwelle stehengelassen wurden. Schließlich jedoch wurde die Haustür von Nummer fünfzig weit aufgerissen; Miss Mitford und Flush wurden hereingebeten. Miss Mitford war ein häufiger Gast; der Anblick des Barrettschen herrschaftlichen Hauses hatte für sie nichts Überraschendes, wenn auch etwas Dämpfendes. Für Flush hingegen muß es eine ganz überwältigende Wirkung gehabt haben. Bis zu diesem Augenblick hatte er noch in kein Haus den Fuß gesetzt, außer in das Landarbeiter-Cottage in Three Mile Cross. Dort waren die Dielen nackt; die Läufer waren ausgefranst; die Stühle waren billig. Hier gab es nichts Nacktes, nichts Ausgefranstes, nichts Billiges – das erkannte Flush auf einen Blick. Mr Barrett, der Besitzer, war ein reicher Kaufmann; er hatte eine große Familie von erwachsenen Söhnen und Töchtern und ein entsprechend großes Gefolge von Bediensteten. Sein Haus war im Stil der späten Dreißigerjahre möbliert, zweifellos mit einem Schuß jener östlichen Phantasie, die ihn, als er ein Haus in Shropshire baute, dazu verleitet hatte, es mit den Kuppeln und Halbmonden maurischer Architektur zu zieren. Hier in der Wimpole Street wäre derlei Extravaganz nicht zulässig gewesen; doch wir dürfen annehmen, daß die hohen dunklen Räume voller Ottomanen und geschnitztem Mahagoni waren; die Tische gedrechselte Beine hatten; filigraner Zierrat auf ihnen stand; Dolche und Schwerter an weindunklen Wänden hingen; in Nischen kuriose Gegenstände standen, die von seinem ostindischen Besitz[5] mitgebracht worden waren, und dicke üppige Teppiche die Böden bedeckten.
Doch während Flush hinter Miss Mitford nach oben trabte, die hinter dem Butler herging, erstaunte ihn mehr, was er roch, als was er sah. Das Treppengewölbe hinauf drangen warme Schwaden von brutzelndem Braten, von schmorendem Geflügel, von siedenden Suppen – hinreißend fast wie das Essen selbst für Nüstern, die an den kargen Duft von Kerenhappocks ärmlichen Bratkartoffeln und Haschees gewohnt waren. In diesen Essensduft mischten sich noch weitere Düfte – Düfte von Zedernholz und Sandelholz und Mahagoni; Düfte von männlichen Körpern und weiblichen Körpern; von männlichen und weiblichen Dienstboten; von Jacken und Hosen; von Krinolinen und Pelerinen; von Gobelinvorhängen, von Plüschvorhängen; von Kohlenstaub und Rauch; von Wein und Zigarren. Jeder Raum, den er durchquerte – Speisezimmer, Salon, Bibliothek, Schlafzimmer –, dünstete seinen speziellen Beitrag zum allgemeinen Gebräu aus; während seine Pfoten, wenn er eine vor die andere setzte, gestreichelt und von der Sinnlichkeit üppiger Brücken festgehalten wurden, deren Flor sich verliebt um sie schloß. Nach geraumer Weile erreichten sie eine geschlossene Tür im hinteren Teil des Hauses. Ein leichtes Klopfen erfolgte, sacht wurde die Tür geöffnet.
Miss Mitford
Miss Barretts Schlafzimmer – denn darum handelte es sich – muß, nach allem, was man weiß, dunkel gewesen sein. Das Licht, das gewöhnlich durch einen grünen Damastvorhang verdüstert war, wurde im Sommer darüber hinaus noch durch den Efeu gedämpft, die Feuerbohnen, die Trichterwinden und die Kapuzinerkresse, die im Blumenkasten am Fenster wuchsen. Anfangs konnte Flush in dem blaßgrünlichen Dämmer nichts erkennen als fünf weiße Kugeln, die geheimnisvoll mitten in der Luft schimmerten. Doch wieder war es der Geruch des Raumes, der ihn überwältigte. Nur ein Gelehrter, der Stufe um Stufe in ein Mausoleum hinabgestiegen ist und sich dort in einer Krypta wiederfindet, die von Schwamm überzogen, glitschig vom Schimmel ist und die sauren Gerüche des Verfalls und ehrwürdigen Alters ausströmt, während halb verwischte Marmorbüsten auf halber Höhe flimmern und alles nur schwach erkennbar ist im Licht der kleinen, hin und her schwingenden Lampe, die er in der Hand hält und niedertauchen und sich hier- und dorthin richten läßt, um sich umzuschauen – nur das Gemüt eines solchen Erforschers der begrabenen Gewölbe einer zerfallenen Stadt befindet sich in einem vergleichbaren Aufruhr der Gefühle, die Flushs Nerven überfluteten, als er zum erstenmal im Schlafzimmer einer Kranken, in der Wimpole Street, stand und Kölnisch Wasser roch.