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Noah & Liv: Für ihn ist ihr gemeinsames Kapitel beendet. Doch sie ist fest entschlossen, ihre Geschichte neu zu schreiben.
Journalismus-Studentin Liv steht vor den Scherben ihrer Beziehung und kann dem Schicksal nicht genug danken, als sie im teuren London überraschend eine WG findet. Doch dann begegnet sie dem einzigen männlichen Mitbewohner und ihr Herz setzt einen Schlag aus: Noah ist kein Fremder, sondern ihr ehemaliger bester Freund. Der sie im Stich ließ, als sie ihn am dringendsten brauchte. Und den sie nach drei Jahren Funkstille kaum wiedererkennt. Aus ihrem Seelenverwandten ist ein unverschämt attraktiver Aufreißer geworden. Als Liv die Chance bekommt, sich für all den Schmerz an Noah zu rächen, zögert sie nicht: Sie schreibt einen Artikel für die Collegezeitung, wie man einen Herzensbrecher bekehrt – und Noah ist ihr Testobjekt. Allerdings hat sie diese Rechnung ohne ihre sorgfältig verdrängten Gefühle gemacht …
Das Paperback ist aufwendig ausgestattet und hochwertig veredelt: Die Soho-Love-Reihe zieht alle Blicke auf sich!
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Seitenzahl: 496
Nena Tramountani, geboren 1995, liebt Musik, Koffein und das Schreiben. Am liebsten feilt sie in gemütlichen Cafés an ihren gefühlvollen Romanen und hat dabei ihre Lieblingsplaylist im Ohr. Nach ihrem Studium der Sprachwissenschaften arbeitete sie als freie Journalistin und zog anschließend nach Wien. Inzwischen lebt sie wieder in ihrer Heimat Stuttgart, wenn sie nicht gerade auf Inspirationsreisen ist.
Mehr Infos über die Autorin und die Soho-Love-Reihe gibt es auf Instagram (@nenatramountani) oder unter www.nenatramountani.com.
Nena Tramountani
Fly & Forget
Roman
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Copyright © 2020 by Penguin Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München,Neumarkter Straße 28, 81673 München
Dieses Buch wurde vermittelt von der Literaturagenturerzähl:perspektive, München (www.erzaehlperspektive.de).
Umschlag: bürosüd GmbH
Umschlagmotiv: www.buerosued.de
Redaktion: Melike Karamustafa
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-25911-2V004
www.penguin-verlag.de
Für alle, die ihre Zwanziger nie erleben werden.
Und für die, die es ohne sie tun müssen.
Eines Tages wird es erträglicher.
»Bleib stehen.«
»Sorry, Josh, ich muss wirklich los, die letzten beiden Male haben sie mich angesehen, als hätte ich eine Todsünde begangen, nur weil ich zwei Kommata vergessen habe. Sie konnten mich von Anfang an nicht leiden und jetzt …«
Noch ein Meter bis zur Tür, dann war ich in Sicherheit. Ich musste nur ins Treppenhaus gelangen, dorthin würde er mir nicht folgen, nicht wenn er dadurch Gefahr lief, von sämtlichen unserer Nachbarn gehört zu werden.
»Dreh dich um und schau mich an.«
»Später, ja?« Ich hörte selbst, wie hysterisch ich klang.
Die kalte Klinke unter meinen Fingern war die reinste Erlösung. Fast geschafft.
»Nein«, rief er, und ich fuhr zusammen. Wann hatte er das letzte Mal die Stimme erhoben?
»Später wirst du dir eine andere Ausrede einfallen lassen. So wie die letzten gottverdammten Wochen.«
Ich erstarrte. Was sich als großer Fehler erwies.
Im nächsten Moment quetschte er sich zwischen die Tür und mich. Sein Blick brannte sich in meine Haut.
Schnell sah ich weg. Zu den herumliegenden Schuhpaaren, dem Garderobenständer, meinen Stiefelspitzen. Irgendwohin schauen, Hauptsache nicht in sein Gesicht.
»Mir reicht’s.« Plötzlich flüsterte er. »Und ich glaube, dir reicht es auch. Sonst würdest du nicht ständig vor mir flüchten.«
Meine Unterlippe bebte. »Ich flüchte nicht. Ich muss zum Teammeeting. Heute ist die Redaktionssitzung für die nächste Ausgabe. Ich kann nicht zu …«
»Liv.«
Stille.
Ich straffte die Schultern, dann hob ich den Kopf. »Was willst du?« Es sollte trotzig klingen, doch leider brach meine Stimme, als würde ich gleich anfangen zu heulen.
Er tastete nach meinem Arm. Seine Bernsteinaugen schimmerten verdächtig, aber als er sprach, klang er entschlossen. »Ich will das tun, was ich schon vor Ewigkeiten hätte tun sollen.«
Mir wurde kotzübel. Hätte ich es vorhin doch lieber beim Kaffee belassen und nicht auch noch das Porridge runtergewürgt.
»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.«
»Oh doch, die hast du. Komm, lass uns ins Wohnzimmer gehen.«
Ich schüttelte seine Hand ab. Mein Rucksack glitt mir von der Schulter und polterte auf den Boden. »Nein.«
Mit einem tiefen Seufzer lehnte er sich gegen die Tür. »Gut, dann auf die harte Tour. Wir sollten uns trennen.«
Das durfte nicht wahr sein. Oh Gott, das durfte einfach nicht sein Ernst sein.
»Sollten wir nicht.« Etwas anderes fiel mir nicht ein. Dafür war ich viel zu schockiert.
»Jesus, Liv! Möchtest du etwa so weitermachen? Willst du mir allen Ernstes erzählen, du bist glücklich mit mir?«
»Wir … Wir …« Ich gestikulierte in Richtung Wohnzimmer. »Ich bin vor drei Monaten hier einzogen. Das war dein Vorschlag! Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn.«
Ein ungläubiger Ausdruck legte sich über seine vertrauten Gesichtszüge. In einer resignierten Geste fuhr er sich über die dunklen Bartstoppeln. »Das beantwortet meine Frage nicht.«
»Ja, natürlich bin ich glücklich«, sagte ich, während sich die Übelkeit verstärkte. »Wir gehören zusammen.«
Er lachte freudlos auf. »Oder du erträgst es nicht, alleine zu sein.«
Nein, nein, nein! In diese Richtung durfte das Gespräch nicht laufen, sonst würde ich einen Schreikrampf bekommen.
»Du bist also nicht glücklich mit mir, ja? Wie wäre es, wenn du das sagst, anstatt die Schuld bei mir zu suchen?«
»Du bist nie richtig anwesend. Wie eine leere Hülle. Ich habe Verständnis, jeder hätte das, aber darum geht es nicht. Es geht nicht um deinen Bruder, wenn wir ehrlich sind. Ich wollte dich immer. Mit allem, was dazugehört. Mir hat es gereicht, mit dir zusammen zu sein, weil du die Liebe meines Lebens bist.«
Hoffnung flammte in mir auf und überlagerte die grausame Realität. »Du bist doch auch …«
»Wag es nicht, diesen Satz zu beenden«, fuhr er mich an, »wenn du noch ansatzweise so etwas wie Respekt für mich übrig hast.«
Fuck.Denk nach, Liv. Denk nach!
»Ich weiß, es ist nicht immer leicht mit mir«, schlug ich einen versöhnlicheren Ton an. »Das Studium macht mir gerade echt zu schaffen, und in der Redaktion herrscht der schlimmste Konkurrenzkampf. Wie wär’s, wenn wir mal wieder einen Ausflug machen? Übers Wochenende nach Brighton oder so?«
Er schüttelte den Kopf. »Hör auf, dich selbst zu belügen. Es ist Monate her, dass wir ein richtiges Gespräch miteinander geführt haben. Und ich bin selbst schuld, weil ich die Augen davor verschlossen habe. Ich wollte die Realität nicht wahrhaben. Aber ich ertrag es nicht mehr. Ich bin nicht dein Lückenfüller, Liv.«
Ich zitterte inzwischen am ganzen Körper. »Du warst nie mein Lückenfüller. Nach Riley … Das war eine harte Zeit. Und du warst für mich da, dafür bin ich dir unendlich dankbar. Aber das ist Jahre her, Josh.«
»Um Riley geht’s auch nicht. Ich bin der Letzte, der dir deshalb Vorwürfe macht. Es geht um …«
»Sei still!« Ich hatte die Worte gebrüllt, bevor ich überhaupt realisierte, was geschah. Gerade noch hielt ich mich davon ab, mir beide Ohren zuzuhalten. Ich konnte alles ertragen. Alles außer das.
»Hör dich doch mal an!« Josh, der immer ruhig blieb. Josh, mit dem man überhaupt nicht richtig streiten konnte, schrie zurück. »Ich darf nicht mal seinen Namen in den Mund nehmen, das ist doch krank. Riley ist gestorben, verdammt. Riley, nicht Noah!«
Glühend heiße Tränen quollen aus meinen Augen und strömten in Bächen über meine Wangen. Nur ein Wort. Vier Buchstaben. Mehr brauchte es nicht, um mich entzweizureißen.
»Er war ein Feigling, der dich im Stich gelassen hat. Und trotzdem schafft nur er es, dich zum Heulen zu bringen, obwohl ich derjenige bin, der gerade mit dir Schluss macht.«
Blind tastete ich nach meinem Rucksack. »Ich muss los«, krächzte ich, ohne ihn anzusehen. Er hatte eine unsichtbare Grenze überschritten, und ich konnte keine weitere Sekunde mit ihm in einem Raum verbringen.
»Klar, hau ab. Wie immer. Ich habe sowieso alles gesagt.« Er trat von der Tür zurück. »Ich fahr später zu meinen Eltern. Kannst dir also Zeit lassen mit der Wohnungssuche, ich bin erst in zwei Wochen wieder in London.«
Seine Wohnung. Seine Regeln. Sah ganz danach aus, als hätte er alles durchdacht.
Ich würdigte ihn keines weiteren Blickes, bevor ich die Klinke herunterdrückte, über die Schwelle trat und die Tür hinter mir zuknallte.
Obwohl mein ganzer Körper noch vor wenigen Sekunden vor Anspannung gezittert hatte, breitete sich von jetzt auf gleich eine beinahe gespenstische Ruhe in mir aus. Doch die Tränen flossen nach wie vor, bis mir das graue Treppenhaus vor den Augen verschwamm.
Was nun?
Was nun, verflucht noch mal?
Es kostete mich den gesamten Weg zur U-Bahn-Station und gefühlte drei Liter Regenwasser auf meinem Gesicht, um wieder klar denken zu können. Immerhin konnte ich behaupten, dass das Gewitter an meinem verschmierten Make-up schuld war.
Als ich mich in die überfüllte Piccadilly-Line drängte, hatten sich meine Finger bereits verselbstständigt und klickten sich trotz schlechten Empfangs durch sämtliche WG-Portale, die meine Suchmaschine ausspuckte. Den immer wieder aufblinkenden Chat der Redaktionsgruppe ignorierte ich – um die würde ich mich gleich kümmern.
Keine Zeit für Selbstmitleid. Josh hatte das Gespräch seit Langem geplant, da war ich mir sicher. Das war keine Kurzschlussreaktion gewesen. Also musste ich handeln, bevor mein Gehirn überhaupt verstand, was gerade geschah. Niemals innehalten. Immer weiter.
»Du bist nie richtig anwesend …«
Mein Daumen schwebte über dem Pfeil zum Aktualisieren der Seite, als mir gleichzeitig eine Tasche und ein Ellenbogen in den Rücken gerammt wurden. Ich atmete tief durch und starrte mein eingefrorenes Display an, als könnte ich den Prozess dadurch beschleunigen. Einen Platz im Studentenheim zu kriegen, würde zu lang dauern. Das bedeutete, mir blieb die Wahl zwischen WG und Einzimmerwohnung. Eigentlich war es unvorstellbar für mich, auf engem Raum mit Fremden zusammenzuwohnen. Noch unvorstellbarer war es allerdings, in London ein bezahlbares Einzimmerapartment zu finden.
»Nächster Halt: Holloway Road. Bitte achten Sie auf die Lücke zwischen Zug und Bahnsteigkante.«
Niemand stieg aus, dafür schafften es drei Leute, sich ins Abteil zu quetschen.
Ich atmete durch den Mund und steckte meine Kopfhörer in die Ohren. Nachdem ich eine Billie-Eilish-Playlist ausgewählt hatte, drehte ich die Lautstärke auf die höchste Stufe und begann – trotz des heftigen Wackelns der Bahn – zu tippen. Meine Finger flogen über die Buchstaben, bis ich bei King’s Cross in die mindestens genauso volle Metropolitan-Line umstieg. Die Musik erstickte jedes »Sorry!« und jeden Fluch ausweichender Passanten.
Als mein Beschreibungstext fertig war, schaute ich vom Bildschirm auf.
Kommunikationsfreudig, offen, WG-erfahren.
Klang doch ganz nett. Und war in jedem einzelnen Punkt gelogen.
Doch bevor ich meine Selbstbeschreibung weiter anzweifeln konnte, fuhr die Bahn zum Glück in die Euston-Square-Station ein. Inmitten einer Menschentraube ließ ich mich auf die Plattform treiben und presste mich an zwei Architekturstudenten vorbei auf die Rolltreppe. Sie balancierten ein sperriges Gebäude-Modell zwischen sich, und ich musste höllisch aufpassen, keine Ecke davon ins Gesicht zu kriegen. Oben angekommen, inhalierte ich voller Erleichterung die frische Märzluft und wollte mich gerade in Richtung Bloomsbury Coffee House – unserem heutigen Treffpunkt für die Teamsitzung – bewegen, als Billies »bury a friend« jäh von einem eingehenden Anruf unterbrochen wurde. Mein Herz geriet ins Stolpern, und meine Gedanken überschlugen sich.
Josh.
Er bereute unseren Streit. Denn das war alles, was es gewesen war – ein Streit. Hatten wir uns nicht immer darüber lustig gemacht, dass wir nicht wie die anderen Paare waren, weil wir in knapp drei Jahren kein einziges Mal wirklich gestritten hatten? Ha, wir waren es doch! Völlig normal. Das war nur der nächste Schritt in unserer Beziehung. Ich würde ihm heute Abend bei Pizza und Wein auf der Couch mein WG-Anschreiben vorlesen, und wir würden uns gemeinsam totlachen …
Berauscht von Hoffnung, nahm ich das Gespräch an.
»Schatz?!«
Die Stimme zerfetzte mir beinahe das Trommelfell, um ein Haar hätte ich das Handy fallen lassen. Ich stellte die Lautstärke leiser und beschleunigte meine Schritte. Neben mir kam ein roter Doppeldeckerbus zum Stehen, und weiter vorne hupte ein Auto, weil ein Mädchen bei Rot über die Straße lief. Ich passierte den hässlichen Neubau des Unikrankenhauses und heftete meinen Blick auf das rote Backsteingebäude dahinter, das einen harten Kontrast dazu bildete und inzwischen die Forschung beherbergte. Seine architektonische Schönheit war heute kaum zu ertragen. Jetzt bloß nicht wieder heulen.
»Liv? Hörst du mich?«
Ich räusperte mich. »Hi Mum, ist gerade ein bisschen schlecht, ich bin auf dem Weg zum Redaktionsmeeting.«
Nicht dass sich meine Mutter in irgendeinem Universum mit einer solchen Aussage abspeisen ließe.
»Ich habe Isla im Sainsbury’s getroffen«, rückte sie sofort mit dem Grund ihres Anrufs heraus und zog mir damit den Boden unter den Füßen weg. Isla war die größte Tratschtante in ganz Großbritannien. Und leider Gottes auch Joshuas Mutter. »Sie hat mir erzählt, dass Josh für ein paar Tage nach Bath kommt. Warum begleitest du ihn nicht? Ist alles okay bei euch?«
Ich war so was von geliefert. Doch ohne einen Kampf würde ich nicht untergehen.
»Ist das dein Ernst, Mum? Nur weil Josh sein Studium auf die leichte Schulter nimmt und sich mitten im Semester eine Auszeit leistet, heißt das nicht, dass ich genauso drauf bin!«
Okay, das war echt dick aufgetragen, vor allem weil es kein Geheimnis war, dass der perfekte Josh sein Studium mit Bravour meisterte. Ganz im Gegensatz zu mir.
»Weißt du, wie vollgestopft mein Stundenplan ist?« Die Frage war rhetorisch – Mum und Dad waren über jeden meiner Kurse im Bilde.
»Du klingst seltsam.« Ich sah sie förmlich am anderen Ende der Leitung die Nase rümpfen. »Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?«
»Ich klinge gestresst! Und ich muss auflegen.«
»Liv!«
»Hab dich lieb, Mum«, rief ich und beendete das Telefonat, bevor sie noch etwas erwidern konnte.
Meine Eltern waren super. Sie unterstützten mich, wo sie nur konnten, doch ein falsches Wort von mir, und sie würden die ganze Nacht wach liegen und sich den Kopf darüber zerbrechen, ob ihre arme Tochter in der gefährlichen Millionenstadt in Schwierigkeiten steckte. Sie übertrieben maßlos, aber ihr Gefühl trog sie meist nicht, denn dummerweise rochen sie auf hundert Meilen Entfernung, wenn etwas im Busch war.
Also blieb mir keine andere Wahl. Ich klickte mich zu meinen Favoriten durch und wählte Joshs Nummer, während mein Herz wild in meiner Brust klopfte. Wie ferngesteuert lief ich den gewohnten Weg an der Bibliothek vorbei und stieß dabei mehrmals mit irgendwelchen Studenten zusammen.
Josh nahm erst nach dem achten Klingeln ab. Beim Klang seiner vertrauten Stimme zog sich alles in mir zusammen.
»Liv, es ist mein Ernst. Ich weiß, dass du dir gerade wahrscheinlich einredest, wir haben uns nur gestritten, wir kriegen das wieder hin, aber du musst damit aufhören. Ich brauche Abstand, okay?«
Ich hasste ihn. Ich hasste ihn so sehr dafür, dass er mich in- und auswendig kannte. Und gleichzeitig wollte ich mich schluchzend vor ihm auf die Knie werfen und ihn anbetteln, mich zurückzunehmen.
»Du hast keine Ahnung, wie hart es für mich ist. Keine verdammte Ahnung. Weil es immer nur um dich geht.«
»Mach dir keine Sorgen, ich wollte dich nicht belästigen«, fauchte ich. »Und ich lebe auch in keiner Illusionswelt. Ich wollte nur fragen, ob du eine Weile warten könntest, bis du deinen Eltern von uns erzählst.«
»Wie bitte?«
»Deine Mum wird es brühwarm meiner erzählen, und dann wird die Hölle los sein. Du weißt, wie meine Eltern sind. Die werden alles links liegen lassen und nach London kommen.«
Eine ganze Weile blieb er stumm, und ich hörte nichts als den Verkehr und das rauschende Blut in meinen Ohren.
»Deshalb hast du mich angerufen?«, wisperte er schließlich. »Du lebst also in keiner Illusionswelt?«
»Josh, bitte, du kennst sie! Wahrscheinlich zwingen sie mich, wieder bei ihnen einzuziehen und jeden Tag zur Uni zu pendeln. Sie sind der Meinung, dass ich ohne dich nicht überlebensfähig bin.«
»Und? Liegen sie denn so falsch damit?«
Ich schnappte nach Luft.
»Fahr zur Hölle, Liv.«
Es klang nicht feindselig. Monatelanger, ach was, jahrelanger Schmerz verbarg sich hinter diesem einen Satz. Schmerz, den ich immer ignoriert hatte, weil ich tatsächlich ein egoistisches Miststück war.
Keinen Augenblick später war die Leitung tot – und ich drauf und dran, es dem Mädchen von eben gleichzutun und ohne Rücksicht auf Verluste auf die Straße zu treten.
Schlimmer konnte es jetzt nicht mehr werden, oder?
Cassie: Seid ihr schon alle da?
James: Alle außer Liv …
Lauren: Überraschung, Überraschung.
Cassie: Ist die überhaupt noch im Team? Hat sie nicht das Studium abgebrochen?
Die Chat-Nachrichten waren schon eine halbe Stunde alt. Ich ließ das Handy sinken und stieß die Tür zum Café auf, obwohl alles in mir danach schrie, den Rückzug anzutreten, nach Hause zu fahren und mich heulend im Bett zu vergraben. Tja, nur dass ich leider kein Zuhause mehr hatte. Normalerweise hielten sich meine Redaktionskollegen im Gruppenchat zurück und beschränkten sich auf böse Blicke. Natürlich hatten sie sich ausgerechnet den heutigen Tag ausgesucht, um ihre falsche Höflichkeit fallen zu lassen.
Der Geruch von frischen Zitronen-Rosmarin-Scones und gemahlenem Kaffee kitzelte mich in der Nase, als ich ins Ladeninnere trat. Das Café befand sich etwas versteckt im Kellergeschoss des St. Athans Hotels, doch unter Studenten war es äußerst beliebt, weil es WLAN und Frühstück rund um die Uhr gab, weshalb es auch heute brechend voll war. Lauren bestand darauf, unsere wichtigen Teambesprechungen hier abzuhalten, auch wenn uns ein kleines Büro auf dem Campus zur Verfügung stand.
Lauren war die Chefredakteurin bei Newsflash, dem Studentenmagazin am UCL, für das ich seit Anfang meines Studiums arbeitete, und außerdem hatte sie Kontakte zu TheGentlewoman, der coolsten Londoner Zeitschrift für Kunst und Kultur, sprich: meinem absoluten Traumarbeitgeber. Schon ein Vorstellungsgespräch dort zu ergattern, war äußerst schwer gewesen, geschweige denn in die zweite Runde zu kommen. In den letzten Semesterferien war ich eingeladen worden und hatte dann vor Kurzem auch die Zusage für ein zweites Gespräch bekommen, das in ein paar Wochen stattfinden sollte. Allerdings hatte ich momentan keine Ahnung, ob ich den Anforderungen des Jobs gewachsen war, auch wenn es nur um ein Praktikum ging.
Ich entdeckte ihren roten Lockenkopf an einem runden Tisch in der hintersten Ecke neben der Bar. Ihr gegenüber saßen Cassie und James.
Kurz bevor ich an ihrem Tisch angekommen war, erhoben sich alle drei und griffen nach ihren Jacken. Mein Herz rutschte mir in die Hose.
»Hey, Leute.« Ich rang mir ein Lächeln ab. »Tut mir wirklich leid wegen der Verspätung, ich …«
»Ach, Liv, schön, dass du uns auch noch beehrst«, fiel mir Lauren spitz ins Wort, während Cassie und James ihre Sachen zusammenpackten und sich, ohne auch nur ein Wort mit mir zu wechseln, aus dem Staub machten.
»Was ist mit deinem Gesicht passiert?«
Reflexartig fuhr ich mit dem Handrücken über die eingetrockneten Tränenspuren auf meinen Wangen und nuschelte etwas von »Regen«.
»Du hättest dir den Weg sparen können«, erwiderte sie mit erhobenen Augenbrauen und kramte etwas aus ihrer Handtasche hervor. »Aber auch gut, dann kann ich dir das zurückgeben. Was auch immer das sein soll.« Ihre Stimme war lauter geworden, und an den umliegenden Tischen drehten ein paar Gäste die Köpfe in unsere Richtung.
Ich nahm das Blatt Papier entgegen, während mir die Hitze in die Wangen stieg. Es handelte sich um meinen ausgedruckten Artikel von letzter Woche: Acht Top-Secret-Lernorte in London. Er war über und über mit roter Korrekturschrift vollgekritzelt.
»Die Vorgabe waren dreitausendfünfhundert Zeichen, das hier sind nicht mal dreitausend. Außerdem wiederholst du dich ständig, und von der Stilblüte im letzten Satz will ich erst gar nicht anfangen.«
Ich öffnete den Mund und klappte ihn direkt wieder zu. Was sollte ich auch sagen? So unausstehlich sie war, sie hatte recht. Der Artikel war die reinste Katastrophe. Wie in Trance hatte ich ihn heruntergetippt, während ich von Café zu Café gewandert war, um erst nach Mitternacht nach Hause zu kommen und Josh schlafend vorzufinden.
»Und auf Platz drei nennst du die British Library? Sorry, Liv, aber soll das ein Scherz sein? Ist das deine Art von Humor?«
»Tut mir leid«, krächzte ich mit einem dicken Kloß im Hals und räusperte mich. »Ich war in letzter Zeit ziemlich abgelenkt.«
Ihre pink geschminkten Lippen verzogen sich zu einem abfälligen Lächeln. »Jetzt mal ehrlich, warum bist du überhaupt in der Redaktion? Das fragen wir uns schon seit einer ganzen Weile.«
Ich bin in der Redaktion, weil ich Journalistin werden will, du blöde Schnepfe.
Ich liebte es, Interviews zu führen, die unterschiedlichsten Menschen aus der Reserve zu locken und nachzuhaken, wenn eine Gesprächspause entstand, hinter der die nächste große Geschichte lauern konnte. Ich liebte es, Struktur und Klarheit in Informationsfluten zu bringen. Ich liebte die Macht der Sprache. Außerdem brauchte ich die Leistungspunkte für meinen Abschluss und um bei meinem Lieblingsmagazin jemals die Chance zu haben, in die engere Auswahl für einen Job zu kommen.
Mir war klar, dass ich in den vergangenen Wochen nicht in Topform gewesen war. Die Trauer kam in Wellen, genau wie die Einsamkeit. Monatelang war es okay, und mir gelang es, die quälenden Gedanken in den Hintergrund zu drängen, doch dann reichte wieder ein kleines Detail aus, um alles zurückzuholen und mich mitzureißen. Doch auch wenn mein letzter Artikel – und vielleicht auch der davor – beschissen gewesen war, schreiben konnte ich sehr wohl. Worte gehorchten mir wie sonst nichts auf der Welt. Ich hatte nur eine schlechte Phase, verdammt!
»Mein Freund hat sich von mir getrennt«, brachte ich hervor, und bei den Worten brannte meine Kehle, als hätte jemand ein Feuer darin gelegt. Wie erbärmlich war ich eigentlich? »Ich bin gerade nicht ich selbst, aber ich kann es besser machen.«
»Das Leben ist kein Wunschkonzert, Liv. Später im Beruf können wir unsere Privatprobleme auch nicht als Ausrede für Faulheit vorschieben.«
»Gibt es noch freie Themen für die nächste Ausgabe?« Es kostete mich das letzte bisschen Selbstbeherrschung, nicht in Tränen auszubrechen oder sie anzuschreien. »Ich nehme alles, was ich kriegen kann.«
Sie schulterte ihre Handtasche und zuckte mit den Schultern. »Nimm’s mir nicht übel, aber ich würde mir gerne noch mal grundsätzlich Gedanken darüber machen, wie sinnvoll deine Teilnahme an Newsflash ist. Gerade bereitest du uns nämlich lediglich zusätzliche Arbeit.«
Bevor ich dem noch etwas entgegensetzen konnte, strich sie mir in einer absolut entwürdigenden Geste im Vorbeigehen über die Schulter und verließ das Café.
Als ich mich vorsichtig umsah, wurde mir klar, dass inzwischen sämtliche Augenpaare auf mich gerichtet waren. Und jetzt kam auch noch die Kellnerin mit mitleidiger Miene auf mich zu.
»Willst du etwas bestellen? Falls nicht, würde ich den Tisch gerne an die Gruppe dort drüben vergeben.« Sie deutete zum Ausgang, wo fünf Leute mit neugierigen Mienen zu mir herüberschauten.
Anstelle einer Antwort wirbelte ich herum und stürzte aus dem Laden. Sah ganz danach aus, als hätte ich mich geirrt: Es konnte sehr wohl schlimmer werden.
Auf der Suche nach einem Zufluchtsort fiel mir spontan nur das Hauptgebäude der UCL-Bibliothek ein. Der nächste Zusammenbruch nahte, und ich wollte ungern der Öffentlichkeit ausgesetzt sein, wenn er mich mit sich riss. Also rannte ich durch den Regen zurück zu dem pompösen Gebäude mit den hohen Säulen und der kunstvollen Kuppel im griechisch-neoklassischen Stil, ließ meinen Studentenausweis scannen und suchte die Toiletten im ersten Stock auf.
Normalerweise versetzten mich die stuckverzierte Decke und der eindrucksvolle Lesesaal regelmäßig in einen Zustand ehrfürchtigen Staunens. Selbst nach zweieinhalb Jahren Studium hatte ich mich noch nicht an den Luxus gewöhnt. Heute fühlte es sich allerdings nicht wie ein Privileg an, sondern wie eine Zumutung. Als sei ich ganz und gar fehl am Platz.
Immerhin schienen die Toiletten verlassen zu sein. Ein kleiner Hoffnungsschimmer an diesem Desaster-Tag.
Ich beugte mich über das erste Waschbecken und schrak vor meinem Spiegelbild zurück. Zwar trug ich unter meinem schwarzen Trenchcoat eins meiner geliebten Vintage-Teile – ein Latzhosenkleid aus rotem Cord, kombiniert mit einem schwarz-weiß gestreiften Shirt –, doch mein hübsches Outfit konnte nicht vom Rest ablenken: Mein haselnussbrauner Pony klebte unansehnlich an meiner aschfahlen Haut, meine dunkelbraunen Augen waren von verlaufener Mascara umrandet, und mein roter Lippenstift war verschmiert, was mich unwillkürlich an mein letztes Halloweenkostüm denken ließ. Josh und ich waren auf eine Hausparty in Shoreditch gegangen und hatten uns von der fünften American-Horror-Story-Staffel inspirieren lassen. Jetzt lebte ich in meiner ganz persönlichen Horrorstory – und sie hatte gerade erst begonnen.
Wie konnte man drei Jahre einfach so aufgeben?
Das Schlimme war, ich kannte die Antwort auf meine Frage nur zu gut. Es war nicht von heute auf morgen geschehen. Und nichts daran war einfach für ihn gewesen. Ich kannte Josh. Er sagte die Wahrheit, das wusste ich. Es hatte ihn sämtliche Kraft gekostet, diese alles zerstörenden Sätze zu mir zu sagen. Drei Jahre hatte er die Zweifel in sich reingefressen. Die Eifersucht. Die Wut. Genau wie er die Augen vor meinen Abgründen verschlossen hatte, hatte ich seine Blicke ignoriert, die sich in den letzten Wochen gehäuft hatten. Einsamkeit war kein Fremdwort für mich, aber noch nie hatte ich diese Art erlebt. Nacht für Nacht ein Bett teilen, jeden Tag Gespräche führen, aber nie über die wirklich wichtigen Dinge. Zusammen und doch immer allein. Wir waren Meister darin geworden, umeinander herumzutanzen. Josh konfrontierte mich nie mit Riley. Das Thema war tabu, und er war immer sehr bedacht darauf gewesen, meine Grenzen zu respektieren. Aber wenn Riley tabu war, was war dann mit ihm?
Mein armseliges Spiegelbild zerfloss vor meinen Augen.
Ich hatte ihn in den hintersten Winkel meines Gedächtnisses gesperrt. Dorthin, wo der Ursprung meines Schmerzes lauerte und die Erinnerung mich in die Knie zwang. Es war ein Ort, den ich nie wieder betreten wollte.
Wenn Riles mich so sehen könnte … Manchmal hatte ich Angst, eines Tages aufzuwachen und sein höhnisches Lachen vergessen zu haben, doch in Momenten wie diesen hörte ich es glasklar. Genau wie seine Stimme.
»Gott, Liv«, würde er sagen. »Immer musst du die perfekte Tochter sein. Das brave Mädchen, das sich an die Regeln hält. Das hast du jetzt von deinem Strebergetue und deinem perfekt durchgeplanten Märchenleben. Hast dich schön abhängig von Josh gemacht, was? Mit zwanzig mit seinem Freund zusammenziehen, wer macht so was bitte? Und dann auch noch in eine Wohnung, die auf seinen Namen läuft … Was für ein Anfängerfehler! Weißt du, was andere Leute in deinem Alter tun? Was ich tun würde? Du bist in deinen besten Jahren, verflucht noch mal! Geh feiern, hab Spaß, nimm nicht alles so scheißernst. Und wie wär’s eigentlich mit ein paar neuen Freunden außerhalb deiner Beziehung?«
Mit einem lang gezogenen Quietschen flog die Tür zu den Toiletten auf, und ich beugte mich rasch über das Waschbecken, um mir Wasser ins Gesicht zu spritzen. Das Glucksen des rostigen Hahns übertönte erfreulicherweise mein Schluchzen.
Ich richtete mich erst wieder auf, als ich kein Geräusch mehr vernehmen konnte – und zuckte prompt zusammen.
Eine junge Frau stand nur einen Meter von mir entfernt und rührte sich nicht von der Stelle. Trotz meiner Vagabonds mit Absatz war sie ein kleines Stück größer als ich, um die eins siebzig, schätzte ich. Sie trug einen senfgelben Pullover mit der Aufschrift Ask me about my feminist agenda, den sie in helle Mom-Jeans gesteckt hatte und der den perfekten Kontrast zu ihrem dunklen Teint und den schwarz schimmernden Locken bildete. In den Händen hielt sie einige goldfarbene Flyer. Offenbar hatte sie nicht vor, in absehbarer Zeit den Blick von mir abzuwenden.
Ich drehte mich wieder zum Spiegel.
Klasse. Das Wasser hatte die Schminke noch mehr verschmiert. Jetzt sah ich wirklich untot aus.
Das Mädchen beugte sich vor, zog ein paar Papiertücher aus dem Spender neben der Tür und hielt sie mir hin.
»Wieso heulst du?«, wollte sie wissen, während ich mir das Gesicht abwischte.
»Ich heule nicht, ich bin nur ins Gewitter gekommen«, erklärte ich mit einem Schniefen.
»Ja nee, ist klar.« Sie trat auf mich zu und lehnte sich gegen das Waschbecken. Ihr Gesichtsausdruck war unergründlich.
»Also?«
»Schon mal was von Privatsphäre gehört?«, zischte ich und biss mir sofort auf die Unterlippe, als könnte ich die Worte dadurch ungesagt machen. Toll, jetzt war ich auch noch unfreundlich zu einer völlig Fremden, die wahrscheinlich nur nett sein wollte.
Sie grinste, was ihre moosgrünen Augen zum Strahlen brachte. »Ist was für Langweiler.«
Ich pfefferte das letzte Papier in den Abfalleimer und deutete auf die Kabinen hinter uns. »Musst du nicht aufs Klo?«
»Eigentlich schon, aber du bist spannender.« Sie hielt mir eine Hand hin. »Matilda.«
Ich starrte auf ihre Hand. Sie war immer noch so freundlich, obwohl ich ihr zwei Gelegenheiten gegeben hatte, sich aus der Affäre zu ziehen. Und sie schaffte es dabei sogar, nicht mal mitleidig auszusehen. Lediglich aufrichtiges Interesse schlug mir entgegen.
»Liv«, erwiderte ich, und dann, bevor ich irgendetwas dagegen unternehmen konnte, brach ich zum dritten Mal an diesem Tag in Tränen aus.
Matilda verzog keine Miene. »Wie stehst du zu Körperkontakt mit Fremden?«
»W-Was?«
»Oh, wow, das klang sehr falsch.« Sie schüttelte den Kopf, anscheinend über sich selbst. »Keine Sorge, ich will dich nicht abschleppen. Ich wollte nur fragen, ob ich dich umarmen darf oder ob du dann noch mehr die Krise kriegst.«
Völlig hilflos hob ich die Schultern. Ein irres Lachen stieg in meiner Kehle hoch und entwich mir genau in dem Moment, in dem sie einen Schritt auf mich zutrat und ihre Arme um mich schlang. Eigentlich weinte ich nicht vor anderen, das war meine goldene Regel, und schon gar nicht vor Unbekannten, aber die Tränen rannen mir trotz der absurden Situation über die Wangen, als gäbe es kein Morgen mehr. Es war alles zu viel gewesen.
»Du riechst gut«, schniefte ich in ihre krausen Locken, während ich ihre Umarmung erwiderte. So seltsam es sich anfühlte, mich von einer Wildfremden trösten zu lassen, so beruhigend waren ihr süßlicher Geruch und die sanften Bewegungen, mit denen sie mir über den Rücken strich.
»Sì all’emozione, sì alla follia, sì all’amore«, rief sie theatralisch und schob mich eine Armlänge von sich. »Sì von Armani. Deshalb rieche ich so gut.«
Erneut musste ich lachen, und dieses Mal reichte es, um den Tränenfluss zu stoppen.
»So, Liv. Besser raus als rein. Her mit den schmutzigen Details. Bist du durch ’ne Prüfung gerasselt? Hat dir jemand das Herz gebrochen? Es gibt für alles eine Lösung. Und wenn nichts mehr hilft: Auftragskiller.«
Keinen Schimmer, wie sie das schaffte, aber schon wieder musste ich kichern. »Warum bist du so nett zu mir? Wir kennen uns doch gar nicht.«
»Bist du nur nett zu Leuten, die du kennst?«
»Nicht mal zu denen. Deshalb verscherze ich es mir immer mit allen.«
»Siehst du, mit mir kannst du es dir gar nicht verscherzen. Ich bin bloß eine Psycho-Studentin auf der Unibib-Toilette. Und richtig hart im Nehmen. Mich erschüttert so schnell nichts.«
Erneut hielt sie mir eine Ladung Papiertücher hin, damit ich mir die Tränen von den Wangen wischen konnte.
»Du studierst Psychologie?«
»Yep, und die Antwort auf deine nächste Frage lautet ebenfalls Ja. Wir haben alle ’nen Schaden. Das ist definitiv ein Klischee, das sich bewahrheitet.«
Mein Gesicht fühlte sich ganz geschwollen an, doch mit einem Mal schien alles ein bisschen leichter.
Matilda hievte sich mit beiden Händen rücklings aufs Waschbecken und schlug die Beine übereinander. »Das hier ist eine einmalige Chance auf eine kostenlose Therapiesitzung mit mir. Du kannst dir nicht vorstellen, wie exorbitant hoch mein Honorar sonst ist.«
»Dann wäre es ziemlich dumm, mir das entgehen zu lassen«, murmelte ich.
»Wäre es.«
Etwas an ihrem Blick gab mir Mut. Und erstaunlicherweise auch Hoffnung.
»Mein Freund hat mit mir Schluss gemacht«, rückte ich raus. »Ich weiß, es klingt absolut trivial. Und naiv und bescheuert und …«
»Stopp, stopp, stopp«, unterbrach sie mich und runzelte die Stirn. »Dr. Wakefield hat immer ein offenes Ohr für dich, aber nur unter einer Voraussetzung. Du hörst auf, so scheiße zu dir zu sein.«
»Dr. Wakefield?«
»Meine Wenigkeit.«
»Trotzdem ist es meine Schuld«, beharrte ich. »Ich hätte es schon länger kommen sehen müssen. Aber stattdessen bin ich auch noch bei ihm eingezogen. Keine Ahnung, wie ich auf die Schnelle etwas Bezahlbares finden soll. Oder meinen Eltern beibringen, dass ich’s vermasselt hab.«
Ihr Gesicht leuchtete auf, ohne dass ich mir einen Reim darauf machen konnte. Sie sah aus, als müsste sie sich auf die Zunge beißen, um mich nicht zu unterbrechen.
»Weißt du, ich komme mir so dämlich vor. Ich wollte nie diese Art Mensch sein. Der sich blind in Dinge stürzt und von anderen abhängig macht …«
»Wie lang wart ihr zusammen?«, fragte sie, als ich nicht weitersprach.
»Fast drei Jahre.«
»Okay. Und warum genau ist es deine Schuld, dass er mit dir Schluss gemacht hat? Hast du Mist gebaut?«
Ich zuckte mit den Schultern und war froh, dass sie vor dem Spiegel saß. So blieb mir wenigstens mein Anblick erspart.
»Nicht so, wie du denkst. Ich bin nicht fremdgegangen oder so.«
»Aber du liebst ihn nicht?«
»Wie bitte?«
Sie hob beide Hände. »Sorry.«
Ich schüttelte den Kopf. »Josh und ich gehören zusammen, verstehst du?«
»Also liebst du ihn doch?«
»Klar liebe ich ihn!«
»Aber das ist nicht der Grund, aus dem du heulst.«
»Woher willst du das wissen?« Plötzlich war ich neugierig. Es tat gut, mit jemandem absolut Unbeteiligten zu sprechen. Mit jemandem, der nicht zum Joshua-Fanclub gehörte und der Meinung war, die Beziehung zu ihm wäre die einzig vernünftige Option in meinem Leben.
»Würde mich mein langjähriger Freund verlassen und aus der gemeinsamen Wohnung schmeißen, würd’s mir auch beschissen gehen. Aber du hast gesagt, du musst deinen Eltern beibringen, dass du es vermasselt hast. Klingt irgendwie nicht, als wäre das Ende der Beziehung dein größtes Problem.«
Zischend sog ich die Luft ein.
Augenblicklich verzog sie das Gesicht. »Oh Mann, sorry, ich tu’s immer wieder. Ich sollte dich ausreden lassen und nicht so dumme Theorien aufstellen, obwohl ich dich nicht mal kenne. Ganz unprofessionell.«
»Schon gut.« Ich winkte ab. »Du liegst nicht mal so falsch. Ich habe gerade auch noch erfahren, dass ich eventuell aus der Newsflash-Redaktion fliege. Also beschränkt sich die Katastrophe nicht nur auf mein Liebesleben.«
»Newsflash? Dieses Studentenmagazin, das keine Sau liest?«
Stöhnend vergrub ich das Gesicht in den Händen. »Genau das.«
Sie schien einen Augenblick nachzudenken, dann sah ich durch meine gespreizten Finger, wie sie leichtfüßig vom Waschbecken sprang. Im nächsten Moment zog sie mir die Hände vom Gesicht.
»Liv?«
»Matilda?«
»Weißt du, was wir jetzt machen?«
»Aus dem Fenster springen?«, schlug ich hoffnungsvoll vor.
Lächelnd schüttelte sie den Kopf. »Besser.«
»Alkohol?«
Sie zwinkerte mir zu. »Können wir damit verbinden, ja.«
Bevor ich weiterfragen konnte, hielt sie mir einen ihrer goldenen Flyer vor die Nase.
Mitbewohner*in gesucht, stand da in fetten schwarzen Lettern. Soho. 4er-WG. Erschwinglich. Weiter kam ich nicht.
Entgeistert schaute ich sie an. »Soll das ein Scherz sein?«
»Wieso? Bist du nicht auf Wohnungssuche?«
»Ich … Also …«
»Pass auf. Du hast die Nase voll von Männern, richtig? Die Trennung liegt noch nicht so lang zurück, oder?«
Ich kniff die Augen zusammen und warf einen Blick auf meine Armbanduhr. »Circa ’ne Stunde.«
»Hervorragend.«
»Was hat das eine mit dem anderen zu tun?«
»Äh, nichts. Kommst du?«
»Wohin?«
»Zu mir nach Hause, Baby. Was sagst du zu einem WG-Casting mit freundlicher Unterstützung von Johnnie Walker?«
Gar nichts sagte ich. Ich war nämlich viel zu verdattert. Aber Matilda schien das nicht zu stören. Sie griff nach meiner Hand und zog mich zielstrebig hinter sich her aus dem Waschraum – während ich mich fragte, wie viele einschneidende Ereignisse noch in diesen Tag passten.
Matilda füllte die ganze Fahrt zu ihrer Wohnung mit fröhlichem Geplapper, als spürte sie, dass ich nicht in der Lage war, über mich zu reden. Ein besonders graues London flog hinter den verregneten Scheiben des Doppeldeckerbusses an uns vorbei, während sie mir alles über ihre WG erzählte.
Als wir nach ungefähr fünfzehn Minuten an der Kreuzung zwischen Oxford und Soho Street ausstiegen, beschlich mich allerdings die Vermutung, dass meine neue Bekanntschaft mir irgendetwas verschwieg. Die Wohnung war ihr zufolge geräumig, hatte neben den vier Schlafzimmern auch einen gemeinsamen Wohnbereich mit offener Küche und befand sich in einem hübschen Altbau über einer Bar. Sie wohnte wohl mit einem Kerl und einem anderen Mädchen in unserem Alter zusammen, und die vierte Mitbewohnerin hatte aus unerfindlichen Gründen in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ihr Zeug gepackt und war abgehauen. Trotz moderater Miete mitten in Soho. Nie im Leben war das die ganze Wahrheit.
»Das Zimmer scheint so verflucht zu sein wie der Lehrerposten für Verteidigung gegen die dunklen Künste, nachdem Voldemort ihn verhext hat«, schloss Matilda dann schließlich auch geheimnisvoll und griff nach meinem Ellenbogen, um mich in die richtige Straße zu lotsen. Geschäftiges Treiben herrschte hier. Ein Starbucks, ein mexikanischer Schnellimbiss und ein Pianogeschäft reihten sich aneinander. Sie führte mich weiter bis vor einen urig aussehenden Pub mit dem Namen Ginger Cat Bar. Eine rot gescheckte Katze war neben die verschnörkelten Buchstaben gepinselt, und hinter den Erkerfenstern waren schemenhaft dunkle Möbel und Tropfkerzen in leeren Spirituosenflaschen zu erkennen.
Ich beschloss, trotz Matildas kryptischer Andeutung vorerst die Klappe zu halten. Erstens hatte ich wenig Lust, in Joshs Wohnung zurückzukehren, wo mich jeder Quadratmeter an die Vergangenheit und mein Versagen erinnerte, und zweitens konnte ich mir nicht leisten, mir diese Gelegenheit entgehen zu lassen. Selbst wenn es sich bei dem Zimmer um ein absolut trashiges Loch handelte, es war besser als nichts. Mir graute es, wenn ich an die Online-Anzeigen und meinen aufgesetzten Text dachte … Matilda hatte mich wenigstens authentisch erlebt – auch wenn ich keine Ahnung hatte, wie mir dieses Verhalten eine solche Chance bescheren konnte.
Wir liefen an der Bar vorbei zu einem versteckten Hauseingang. Die Tür war dunkelblau lackiert und gab erst nach, nachdem Matilda den Schlüssel umgedreht und sich zweimal mit ihrem ganzen Körpergewicht dagegengeworfen hatte.
»Wie viele Bewerber habt ihr eigentlich?«, wollte ich wissen, als wir eine breite Wendeltreppe hochstiegen, deren Geländer schmiedeeiserne Blumen zierten, die vom häufigen Anfassen blank gerieben waren. Der Putz an den Wänden blätterte ab. Heruntergekommen, aber mit Charme. Ich mochte alte Gebäude, sie hatten eine Geschichte zu erzählen und waren viel gemütlicher als diese schicken, sterilen Neubauten.
»So um die hundert.« Matilda schnitt eine Grimasse. »Langsam nervt die Suche. Wir können ja auch nicht einfach irgendjemanden nehmen. Die Person muss zu uns passen und …« Sie ließ den Satz unvollendet und täuschte ein Husten vor.
»Und die Vermieter überlassen euch die Suche?«, hakte ich nach. Hundert Bewerber klang durchaus realistisch, wenn man die perfekte Lage der Wohnung bedachte.
»Mhm.« Matilda nestelte an ihrem Schlüsselbund. Wir waren im zweiten Stock angelangt, und sie steuerte das Ende des Ganges an. »Sie sind die Eltern unseres Mitbewohners und vertrauen uns.« Vor einer zweieinhalb Meter hohen Holztür blieb sie stehen und schloss auf. »Rein mit dir!«
Mit einem leisen Klick öffnete sich die Tür.
Bei meinem ersten Schritt ins Innere ächzten die Holzdielen unter meinen Stiefeln, und ich musste unwillkürlich lächeln, als ich das Call-Me-By-Your-Name-Filmposter hinter einer altmodischen Kommode entdeckte. Daneben thronte eine gigantische Monstera-Pflanze in einem Topf in Form eines antiken Frauenkopfs. Ich atmete tief durch die Nase ein. Jede fremde Wohnung verströmte ihren ganz speziellen Eigenduft, doch diese hier roch lediglich nach Vanille.
Matilda fing meinen Blick auf und grinste. »Briony hat eine sehr ausgeprägte Yankee-Candle-Obsession. Diese Woche ist der Favorit Vanilla-Cupcake. Hoffe, das stört dich nicht.«
Ich schüttelte den Kopf, zog meine Schuhe aus und stellte sie neben zwei spitz zulaufende weiße Lederboots.
Unzählige Schuhpaare zogen sich bis zum Ende des schmalen Flurs. Gigantische Männer-Sneaker neben winzigen Dr. Martens, Schwarz neben Quietschgelb, Verspielt neben Sportlich neben Elegant.
»Und wir alle haben eine Schuhobsession …«, fügte Matilda hinzu, nahm mir meinen schwarzen Mantel ab und hängte ihn zusammen mit ihrer puderfarbenen Daunenjacke an zwei goldene Garderobenhaken. »Bryyyy«, brüllte sie anschließend über den Flur. »Hast du das letzte Pärchen erfolgreich vertrieben?«
Der Flur mündete in ein lichtdurchflutetes Wohnzimmer mit hoher Decke, Kronleuchter und einem dunkelroten Perserteppich, der fast den kompletten Boden bedeckte.
Meine Kinnlade klappte herunter. Von wegen trashiges Loch. Überall hingen Pflanzen in Netzkörben von der Decke, eine Lichterkette mit kleinen Glühbirnen zierte die silberne Tapetenwand, und ein paar bunt zusammengewürfelte Sessel, Sofas und Hocker standen um einen dem Anschein nach selbst zusammengezimmerten Paletten-Tisch herum.
»Ihr habt sogar einen Balkon?«, entwich es mir fassungslos, als ich die Fensterfront und die Glastür hinter einem geblümten Zweisitzer erspähte.
»Willkommen in der schönsten WG der Stadt«, antwortete Matilda mit einem Lachen.
Das Wohnzimmer führte rechts in eine Küchennische und links in einen weiteren Flur, aus dem in diesem Augenblick eine junge Frau kam. Sie trug einen bodenlangen bunten Kimono und hatte hellblondes Haar, das ihr in feuchten Strähnen auf die Schultern fiel. Ihre Haut war noch blasser als meine, und ihre Gesichtszüge hatten genau wie ihr Gang etwas Elfenhaftes an sich.
»Ich musste erst mal ein heißes Bad nehmen, nachdem sie abgehauen sind«, sagte sie mit glockenheller Stimme. »Die Wohnungssituation in London ist ätzend, darüber müssen wir gar nicht diskutieren, aber wer will freiwillig mit seinem Neugeborenen in eine Studenten-WG ziehen?«
Matilda musste wieder lachen. Diesmal noch lauter. »Ach du Scheiße, die hatten ein Baby? Das haben sie mir bei unserem Videotelefonat vorab verschwiegen.«
»Ich habe den Bildschirmschoner auf dem Handy der Frau gesehen, und da haben sie dann endlich Klartext geredet. Als ich ihnen klarmachen musste, dass sie für uns nicht infrage kommen, haben sie mir einen Job als Babysitterin angeboten. Die wollten sicher nur hier einziehen, damit wir auf ihr Kind aufpassen, während sie sich die Kante geben. Der Typ sah superbetrunken aus.« Erst bei ihren letzten Worten schien sie mich zu registrieren und hob eine helle Augenbraue.
Matilda trat zwischen uns und machte eine ausladende Armbewegung in meine Richtung. »Apropos betrunken! Ich habe uns jemanden mitgebracht. Wie steht’s um unseren Vorrat?«
Das blonde Mädchen lächelte mich zaghaft an, während eine Spur Argwohn in ihren hellblauen Augen aufblitzte. »Du weißt genau, dass ich das Zeug nicht anrühre.« Dann schaute sie fragend zu mir.
»Briony, Liv. Liv, Briony.«
Wir schüttelten uns die Hände, und ich versuchte, sie so überzeugend wie möglich anzulächeln – als hätte ich mein Leben unter Kontrolle. Selbst wenn das hier nichts wurde, ich würde selbstbewusstes Auftreten üben müssen, wenn ich irgendjemanden davon überzeugen wollte, dass ich eine passable Mitbewohnerin abgab. Na ja, vielleicht musste ich erst mich selbst davon überzeugen …
»Liv hier ist auf der Suche nach einem WG-Zimmer. Ihr Freund hat Schluss gemacht und sie vor die Tür gesetzt.«
Die Zweifel in Brionys Miene waren auf einen Schlag wie weggewischt. »Ich schau nach dem Whisky«, verkündigte sie und schwebte förmlich an mir vorbei in die Küche.
Mein angestrengtes Lächeln verbreiterte sich zu einem aufrichtigen. »Ganz so schlimm ist es auch nicht«, beeilte ich mich zu sagen.
»Pscht«, zischte Matilda mir zu. »Mitleid wirkt bei ihr am besten.« Dann flitzte sie mit den Worten »Ich hätte vorhin echt aufs Klo gehen sollen!« in den Flur, aus dem ihre Mitbewohnerin gekommen war.
Fünf Minuten später saßen wir alle drei mit einem Drink um den Couchtisch herum. Matilda und ich tranken Whisky auf Eis, auch wenn das ihr zufolge eine Todsünde war, Briony hatte einen guten Schuss in ihren Earl Grey gegeben. Anscheinend aus Solidarität, obwohl sie das Zeug verabscheute, wie ich ihrem Gesicht bei jedem Schluck ansehen konnte. Die Mitleidsschiene wirkte wohl wirklich.
»Was studierst du, Liv? Du studierst doch, oder?«, fragte sie und warf Matilda einen prüfenden Blick zu. »Wo habt ihr euch eigentlich kennengelernt?«
»Auf den Toiletten in der Bib«, sagte Matilda und prostete mir zu. »Sie hat sich die Augen aus dem Kopf geheult, und ich habe sie so lange genervt, bis sie mir von ihren Sorgen erzählt hat. Eigentlich wollte ich noch ein paar Flyer am schwarzen Brett aufhängen, aber dann hab ich die Gelegenheit beim Schopf gepackt.«
Briony warf mir einen entschuldigenden Blick zu. »Typisch. Sie hat echt keinen Sinn für Anstand. Oder Grenzen.«
»Hey!«, rief Matilda, und die beiden grinsten sich an.
Ich spürte einen Stich in der Magengegend und nahm schnell einen großen Schluck von meinem Whisky. Sofort brannte meine Kehle, doch das warme Gefühl im Bauch ließ nicht lange auf sich warten. Die Vertrautheit zwischen den beiden war so allgegenwärtig, dass es wehtat.
Nach Rileys Tod hatte sich alles verändert. Es war mir immer schwerer gefallen, Beziehungen zu meinen Mitmenschen aufzubauen, die nicht nur an der Oberfläche kratzten. Es war Jahre her, dass ich so etwas Tiefes mit jemandem auf rein freundschaftlicher Ebene geteilt hatte. Drei Jahre, um genau zu sein, aber daran durfte ich jetzt nicht denken. Für heute hatte ich genug geweint.
»Ich studiere Journalismus im Bachelor«, klärte ich sie auf, nachdem sich die beiden wieder mir zugewandt hatten. »Und du?«
»Schauspiel.«
»An der Royal Academy of Dramatic Art«, ergänzte Matilda stolz. »Sie ist ’ne kleine Überfliegerin. Lass dich nicht von ihrer unschuldigen Erscheinung täuschen, sie kann die reinste Rampensau sein, wenn sie will.«
»Jetzt halt mal die Luft an«, sagte Briony mit hochrotem Kopf, musste aber trotzdem kichern. »Willst du mal das Zimmer sehen?«
Wir erhoben uns mit den Getränken in den Händen und liefen den Flur hinunter bis zur ersten Tür auf der rechten Seite.
»Ta-da!«
Sie ließen mir den Vortritt, während sie mich abwechselnd mit Informationen zuschütteten.
»Es sind nur zehn Quadratmeter, also echt winzig, aber du kannst jederzeit im Wohnzimmer oder bei uns rumhängen. Wir sind selbst immer nur zum Schlafen in unseren Zimmern.«
»Bett und Schrank kannst du behalten. Oder wir verhökern die Sachen auf Gumtree. Unsere Ex-Mitbewohnerin meldet sich nämlich nicht mehr und hat uns auf Instagram und Co. blockiert, ist also recht unwahrscheinlich, dass sie das Zeug noch abholt.«
»Einen Waschraum gibt’s im Keller, und Geschirr und so was kannst du natürlich von uns mitbenutzen.«
Ich konnte ihren Worten kaum folgen, zu sehr lenkte mich der Anblick des Zimmers ab. Ja, es war klein, aber vorteilhaft quadratisch geschnitten. Außerdem besaß es ein Erkerfenster mit wunderschöner Aussicht auf die umliegenden Dächer. Ein großes Futonbett aus dunklem Holz stand links von mir, daneben ein Schrank aus demselben Material. Perplex trat ich in die Mitte des Raumes und hob den Blick zur Decke. Auch hier hing ein Kronleuchter.
»Findest du’s scheiße?«, hörte ich Matilda hinter mir.
Langsam drehte ich mich um und räusperte mich. »Wo ist der Haken?«
Die beiden wechselten einen schnellen Blick, und kurz sah ich einen Ausdruck über ihre Gesichter huschen, der mich an Panik erinnerte, bevor sie ihre Mimik wieder unter Kontrolle hatten.
»Was meinst du?«, fragte Briony mit Unschuldsmiene, während sie den Kimono enger um ihren Körper schlang.
»Es ist absolut perfekt«, hauchte ich. »Aber ihr habt doch unzählige Bewerber, oder?«
»Bisher war niemand dabei, der zu uns passt.«
»Wieso ist eure letzte Mitbewohnerin ausgezogen?« Ich verschränkte die Arme und musterte sie beide eindringlich. Das klang alles viel zu gut, um wahr zu sein.
Matilda zuckte mit den Schultern. »Keinen blassen Schimmer.«
Doch Briony biss sich beinahe schuldbewusst auf die Unterlippe. »Komm schon, früher oder später müssen wir sie eh einweihen …«
Mit einem Stöhnen ergab sich Matilda. »Unser Mitbewohner ist ein Arschloch«, platzte sie heraus, bevor sie ihren Whisky auf ex runterkippte. »Er ist absolut unausstehlich, und meistens sind wir gezwungen, mit Ohropax zu schlafen, weil er quasi jede Nacht ’ne andere mit nach Hause bringt und der Meinung ist, wir müssten alle an seinem tollen Sexleben teilhaben.«
»Na ja, manchmal muss ich auch mit Ohropax schlafen, weil du jemanden mit nach Hause bringst«, wisperte Briony, worauf Matilda ihr einen bösen Blick zuwarf, bevor sie sich wieder mir zuwandte.
»Aber ich schwöre, das ist der einzige Haken. Seine Eltern sind megalieb und vertrauen uns mehr als ihrem eigenen Versagersohn, weswegen wir uns auch um neue Mieter kümmern. Schon bei den vorherigen Bewohnerinnen des Zimmers war er nicht ganz unschuldig am Auszug, weil er tagsüber schlechte Stimmung verbreitet und nachts alles anbaggert, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Und die letzte … Tja, bei der hat er sich selbst übertroffen. Die ist nämlich ausgezogen, weil unser herzallerliebster Mitbewohner nicht nur mit ihr, sondern auch gleich noch mit ihrer besten Freundin geschlafen hat.«
»Er klingt reizend«, sagte ich mit einem Schnauben.
Matilda feixte. »Die Miete ist stemmbar, und die Lage ein Traum, wie du siehst. Außerdem sind Bry und ich der Wahnsinn.« Sie legte ihrer Freundin einen Arm um die Schultern.
»Und warum genau wollt ihr mich haben?«
»Ich hab direkt deine positive Aura gespürt«, erwiderte Matilda völlig ernsthaft, musste dann aber etwas zerknirscht grinsen. »Und ich dachte mir, wenn du grad ’ne Trennung hinter dir hast, ist es eher unwahrscheinlich, dass du dich gleich in den nächsten Mistkerl verknallst.«
Etwas hilflos lachte ich auf. »Ich hab noch nie in einer WG gelebt. Ist das ein Problem?«
Gleichzeitig schüttelten sie die Köpfe. »Umso besser, dann bist du noch leicht zu begeistern«, sagte Matilda beschwingt.
Ich runzelte die Stirn. Inzwischen war der Alkohol in meinen Blutbahnen angelangt, und eine seltsame Euphorie ergriff Besitz von mir. »Was, wenn ich eine Psychopathin bin?«
»Keine Psychopathin würde das von sich selbst behaupten«, antwortete Matilda.
Briony trat auf mich zu, sah mir ernst ins Gesicht und legte beide Hände auf meine Schultern. »Du bist übergeschnappt, hast eine Meise, bist nicht ganz bei Sinnen. Aber weißt du was?« Ihre Stimme war mit jedem Wort lauter geworden, und ich konnte nichts anderes tun, als sie verdattert anzustarren. »Das macht die Besten aus!«
»Sie proben grade Alice im Wunderland«, warf Matilda nach einer dramatischen Pause ein.
Wir prusteten alle drei los.
Als wir immer noch lachend ins Wohnzimmer zurückkehrten, uns Whisky nachschenkten und Matilda eine Arctic-Monkeys-Platte auflegte, kam mir der ziemlich verrückte Gedanke, dass dieser Tag vielleicht gar nicht so übel war.
Genau in diesem Moment ertönte das Geräusch der zufallenden Wohnungstür, dicht gefolgt von polternden Schritten, und aus unerklärlichen Gründen schoss mein Puls in die Höhe.
Später würde ich in Gedanken immer wieder zu dieser Sekunde zurückkehren und mich fragen, wie mein Körper hatte reagieren können, noch bevor ich die Gefahr benennen konnte. Später würde ich das Leben in ein Vorher und ein Nachher teilen. So wie an jenem Tag, an dem meine Welt in sich zusammengebrochen war und mich der Mensch, dem ich am allermeisten vertraute, im Stich gelassen hatte.
»Hi, Sonnenschein«, flötete Matilda über die Musik hinweg, und Briony warf sie kichernd mit einem Kissen ab, das sie haarscharf verfehlte und hinters Sofa plumpste.
»Provozier ihn doch nicht immer so«, zischte sie, aber Matilda lachte nur.
»Ich hol mal meinen Laptop, dann können wir gleich mit seinen Eltern skypen und ihnen unsere neue Top-Kandidatin vorstellen.« Sie stellte ihr Kristallglas auf dem Tisch ab und erhob sich. »Lass dich nicht von ihm einschüchtern«, fügte sie an mich gewandt hinzu, bevor sie im Flur verschwand.
Anstelle einer Antwort nahm ich einen weiteren großen Schluck und verkniff mir ein hysterisches Lachen. Machte sie Witze? Sie wollten mit den Vermietern skypen, während wir uns mit Whisky zuschütteten? Und das sollte einen guten Eindruck hinterlassen?
Das letzte Lied verklang, und schon waren die ersten Töne von »I Wanna Be Yours« zu hören. Die sanfte Musik drang bis in mein Innerstes, doch mein heftig pulsierendes Herz konnte sie nicht beruhigen.
Bevor ich Briony fragen konnte, wie ernst ich ihre Freundin nehmen sollte, knarzten die Holzdielen hinter mir.
»Was wird das hier?«
Ich saß auf einem Sessel mit dem Rücken zum Flur, trotzdem erstarrte ich augenblicklich zu Eis. Das Glas zwischen meinen Fingern begann zu beben, sodass ich es hastig auf dem Tisch abstellte.
Mach dich nicht lächerlich, Liv. Mach dich nicht lächerlich. Du bist bloß angetrunken.
Briony strahlte die Person hinter mir an. »Hallo, Noah. Willst du auch was trinken?«
Heute war einer dieser Tage, an denen ich das Bett nie hätte verlassen sollen. Es hatte schon morgens vor der Uni begonnen, als ich schlaftrunken in die Küche gestolpert war und die Kaffeedose leer vorgefunden hatte. Matilda hatte genüsslich an ihrer Tasse genippt, die todsicher den letzten Rest enthielt, und mich angesehen, als sei es meine wohlverdiente Strafe.
Normalerweise war Brionys und ihr Verhalten mir gegenüber wenigstens halbwegs gerechtfertigt. Ich gab mir keine Mühe, nett zu ihnen zu sein, und sie hielten mich für das größte Arschloch. Aber verflucht noch mal, woher hätte ich wissen sollen, dass Poppy die beste Freundin von Charlotte war?
Okay, es war absolut hirnverbrannt gewesen, mit unserer Mitbewohnerin in die Kiste zu steigen. Charlotte war mir unkompliziert vorgekommen, und außerdem hatte ich nach meiner Spätschicht vor ein paar Wochen zu viel Gin intus gehabt, als sie mich in meinem Zimmer überfiel. Nicht dass ich mich nüchtern großartig gewehrt hätte. Sie war sehr … überzeugend gewesen, und Sex war meine Lieblingsablenkung, wenn die Gedanken mal wieder rasten und mich in den Abgrund zu ziehen drohten. Also hatte ich mich darauf eingelassen – nach meiner üblichen Rede, die drei wichtige Punkte enthielt: keine Verpflichtungen, keine Gefühle, keine seltsame Stimmung.
Ein paar Tage war es gut gegangen. Nicht mal Matilda und Briony hatten etwas spitzgekriegt. Aber dann war Charlotte auf einmal überall dort aufgetaucht, wo ich mich befand. Scheinbar aus purem Zufall. Auf dem Campus, in der Cafeteria, in der Bar, in der ich immer wieder jobbte und in der sie zuvor nie unterwegs gewesen war. Also hatte ich den Nothebel gezogen. Ich hatte mein bestes Verhalten an den Tag gelegt, ein sehr einfühlsames Gespräch mit ihr geführt und ihr erklärt, dass wir das Vögeln besser sein ließen. Sie war geknickt gewesen, hatte aber Verständnis gezeigt und war mir größtenteils aus dem Weg gegangen. Zwei Tage später fand ich eine junge Frau namens Poppy alleine in unserem Wohnzimmer vor und nahm an, sie wäre eine Freundin von Matilda oder Briony. Eventuell war schon wieder zu viel Alkohol im Spiel gewesen, und eins hatte zum anderen geführt. Wir hatten es nicht mal in mein Zimmer geschafft, die WG war ohnehin leer gewesen, und mein Gehirn arbeitete in unmittelbarer Nähe eines nackten Frauenkörpers nur relativ eingeschränkt. Als ich mir gerade wieder meine Jeans übergezogen und ihr vom Fußboden aufgeholfen hatte, war Charlotte nach Hause gekommen und hatte einen Riesenaufstand gemacht. Verständlich. Poppy war ihre Freundin und hatte mit dem Kerl geschlafen, in den sie sich gerade aus Versehen verguckt hatte.
Ich verstand Charlotte wirklich. Die Situation war beschissen, und ich wünschte niemandem solche Freunde. Was ich allerdings nicht begriff: wieso meine WG und zu allem Übel auch noch Mum und Dad mich zum Sündenbock machten. Charlotte hatte ihr Zeug gepackt und war abgehauen. Schuld war natürlich ich, nicht ihre treulose Freundin. Meine Eltern hatten mich ohnehin schon längst als unfähig abgestempelt, und meine ach-so-perfekten Mitbewohnerinnen waren gleich zur Stelle und hielten WG-Castings ab. Mum und Dad hatten einen Narren an ihnen gefressen. Mich behandelten sie dagegen wie ein kleines Kind, und anstatt sie vom Gegenteil zu überzeugen, schlüpfte ich bei jedem Streit in genau diese Rolle. Ich hasste mich dafür. Selbstverständlich war ich ihnen dankbar, dass ich mir im Vergleich zu anderen Studenten keine Sorgen um Mietkosten machen musste, aber liebend gern hätte ich meine Schichten im Philosopher’s verdoppelt und stattdessen meinen Frieden vor ihnen gehabt. Die Idee mit der WG war auch nicht meine gewesen. Meine Eltern hatten Matilda und Briony ausgesucht, weil sie »so vernünftige, bodenständige junge Frauen« waren. Es war ihr verzweifelter Versuch, Kontrolle über mich auszuüben.
In den letzten drei Jahren hatte ich ihnen unendlich viele Sorgen bereitet. Von klein an hatte ich Sprache und Literatur vergöttert, ich verschlang jedes Buch und fing schon bald an, meine eigenen Geschichten zu schreiben. Auch wenn meine Eltern immer der Meinung gewesen waren, ich sollte mir etwas Vernünftigeres suchen, waren sie erleichtert, dass ich mich überhaupt fürs Studium entschied. Seitdem ritt ich mich allerdings von einer Scheiße in die nächste und hielt mich in besagtem Studium, das mir ohnehin keine sichere Zukunftsperspektive bot, nur mit Ach und Krach über Wasser. Das Schreiben verschaffte mir keinen Seelenfrieden wie früher, und es versetzte mich auch nicht mehr in Euphorie. Vielleicht weil der einzige Mensch, der mich wirklich darin unterstützt, jeden Schnipsel von mir gelesen und sich jede meiner Ideen mit Begeisterung angehört hatte, nicht mehr bei mir war … Und vielleicht auch, weil ich mich beim Schreiben nicht verstecken konnte, mein Leben aber inzwischen ein einziges Versteckspiel vor mir selbst geworden war.
Ich kickte meine Schuhe von den Füßen und lief seufzend durch den Flur. Aus dem Wohnzimmer waren Musik und Gelächter zu hören.
»Hi, Sonnenschein«, ertönte Matildas Stimme, als die Tür hinter mir ins Schloss fiel.
Ich verdrehte die Augen. Wäre sie nicht so ein Biest und ich kein emotionaler Krüppel, wären wir sicher befreundet. Vor meinen Eltern mimte sie immer die brave Psychologiestudentin, aber sie war mindestens so durchtrieben wie ich. Da ich jedoch genau das Arschloch war, für das sie mich hielten, versuchte ich nicht einmal, mich mit Briony und ihr anzufreunden. Zu viele Komplikationen.
Briony saß mit irgendeiner Brünetten im Wohnzimmer und zwang sich zu einem freundlichen Lächeln, als ich in ihr Sichtfeld trat. Sehr untypisch. Sie verurteilte mich mindestens so sehr wie ihre beste Freundin, wenn auch deutlich weniger offensichtlich.
»Was wird das hier?«, fragte ich barsch. Wieso wirkte sie so glücklich? Das dumme Casting konnte doch unmöglich Spaß machen.
»Hallo, Noah. Willst du auch was trinken?«
Erst jetzt fiel mir die fast leere Johnnie-Walker-Flasche auf dem Tisch ins Auge.
»Ob ich was von meinem Whisky trinken will? Danke der Nachfrage, natürlich dürft ihr euch bedienen«, erwiderte ich mit triefendem Sarkasmus.
Sie setzte zu einer Antwort an, doch in diesem Moment wurde meine Aufmerksamkeit auf die Frau ihr gegenüber gelenkt, die mit dem Rücken zu mir saß. Ihre Haltung wirkte verkrampft, was so gar nicht zu Brionys Gesichtsausdruck passte.
Bevor ich mir einen Reim darauf machen konnte, kam Matilda aus ihrem Zimmer geschlittert. In einer Hand balancierte sie ihren Laptop, aus dessen Lautsprecher eine viel zu vertraute Stimme tönte. »Ach, wie schön, natürlich haben wir Zeit für euch, Liebes! Lass mich nur schnell nach Richard schauen …«
Heute blieb mir wirklich nichts erspart. Sofort hatte ich meine Mum vor Augen, wie sie sich vom dunkelgrünen Kanapee erhob und in ihre Samtpantoffeln schlüpfte, um sich auf die Suche nach Dad zu machen, der trotz Märzkälte und Rückenproblemen garantiert im Garten zugange war.
»Gar kein Problem, Mrs. Seymour«, säuselte Matilda, während sie Briony hinter dem Laptop wild gestikulierend bedeutete, den Whisky vom Tisch zu räumen.
Wäre ich nicht so angepisst gewesen, hätte ich laut gelacht.
»Sagt mal, habt ihr nichts Besseres zu tun, als euch an einem Freitagabend zu betrinken und mit meinen Eltern zu skypen?«
»Wir betrinken uns nicht, wir halten ein sehr erfolgreiches Casting ab«, erwiderte Matilda mit zuckersüßem Lächeln, achtete jedoch drauf, dass sie den Lautsprecher dabei zuhielt. »Darf ich dir unsere neue Mitbewohnerin vorstellen?«
Na immerhin. Mit ein bisschen Glück war das Affentheater damit vorbei, und wir konnten das Charlotte-Debakel hinter uns lassen.
Ich beäugte die Frau auf dem Sofa, die nicht nur verkrampft dasaß, sondern auch zu zittern schien, allerdings keine Anstalten machte, sich zu erheben oder nach mir umzudrehen. Verlockende Aussichten. Vielleicht war sie genauso unfreundlich wie ich, dann würden wir wenigstens keine Probleme haben, uns aus dem Weg zu gehen. Oder absolut sozialscheu – was aufs Gleiche rauslief.
Matilda und Briony sahen sie beide an, und von einer Sekunde auf die andere verschwanden ihre vergnügten Mienen. Und dann öffnete Briony den Mund und sagte etwas, das mein gottverdammtes Herz aussetzen ließ.
»Liv?«
Es war nur ein Name. Dem Gefühls-Tsunami in meinem Inneren war das egal. Er hatte mich oft genug in meinen Albträumen heimgesucht, wenn ich keinerlei Kontrolle über meine Gedanken hatte und meinem Unterbewusstsein hilflos ausgeliefert war. Jetzt, als ich für eine Sekunde nicht auf der Hut gewesen war, ergriff er seine Chance, riss mich mit sich, drang mir in Mund und Nasenlöcher, kappte meine Verbindung zum Sauerstoff.
Ich hatte alles versucht, um ihr zu entkommen. War mit neunzig Meilen über die Schnellstraße gerast, hatte mich bis zur Besinnungslosigkeit betrunken, mich in etlichen Frauenkörpern verloren und chemisches Glück geschluckt. Es half. Doch wenn ich ihren Namen hörte, war alles zwecklos.
Ich spähte nach der Whiskyflasche, die Briony gerade unter dem Tisch versteckte. Mein Gott, ich musste mich zusammenreißen. Das war nichts als ein dummer Zufall.
»Ist alles okay?«, fragte Matilda.
Für einen Moment dachte ich, sie meinte mich. Dann fiel mein Blick auf das Handgelenk der Frau, die sich immer noch nicht rührte, und ich fragte mich überhaupt nichts mehr. Der Ärmel ihres gestreiften Oberteils war hochgekrempelt, und die schwarzen Buchstaben hoben sich deutlich von der Elfenbeinhaut ab. Cold and heat. Die ersten drei Worte reichten aus. Ich musste den Rest nicht sehen, um zu wissen, was dort geschrieben stand: Cold and heat, summer and winter, day and night.
Genesis 8:22.
Sie war nicht gläubig. Nein, Religion war nicht der Grund für ihr Tattoo …
Meine Beine verselbstständigten sich.
Als mich nur noch ein halber Meter vom Sofa trennte, erhob sie sich und wandte sich mir zu. Die zitternden Hände fest in die Lehne gekrallt, als fürchtete sie, andernfalls das Gleichgewicht zu verlieren.