Cards of Love. Band 1-2 - Nena Tramountani - E-Book

Cards of Love. Band 1-2 E-Book

Nena Tramountani

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Beschreibung

Giulietta ist gerade mit der Schule fertig und weiß nicht, was sie mit ihrem Leben anstellen soll. Einzig das Legen von Tarotkarten bereitet ihr Freude. Sie ist am Boden zerstört, als ihr Vater, den sie über alles liebt, angeblich bei einem Unfall in Venedig ums Leben kommt. Ausgerechnet in der Stadt, von der ihr Vater sie immer fernhalten wollte. Giulietta zieht trotz seiner Warnungen nach Venedig. Sie kommt im Grand Hotel ihres Onkels Vincenzo unter und merkt schnell, dass dort nicht alles mit rechten Dingen zugeht… Die Gesamtausgabe von Cards of Love von Nena Tramountani. Der Sammelband umfasst die beiden Einzelbände: Cards of Love 1. Die Magie des Todes Cards of Love 2. Der Zauber der Welt

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Über dieses Buch

Giulietta ist gerade mit der Schule fertig und weiß nicht, was sie mit ihrem Leben anstellen soll. Einzig das Legen von Tarotkarten bereitet ihr Freude. Sie ist am Boden zerstört, als ihr Vater, den sie über alles liebt, angeblich bei einem Unfall in Venedig ums Leben kommt. Ausgerechnet in der Stadt, von der ihr Vater sie immer fernhalten wollte. Giulietta zieht trotz seiner Warnungen nach Venedig. Sie kommt im Grand Hotel ihres Onkels Vincenzo unter und merkt schnell, dass dort nicht alles mit rechten Dingen zugeht …

Die Gesamtausgabe von »Cards of Love« von Nena Tramountani.

Der Sammelband umfasst die beiden Einzelbände:

Cards of Love 1. Die Magie des Todes

Cards of Love 2. Der Zauber der Welt

 

 

 

Liebe*r Leser*in,

wenn du traumatisierende Erfahrungen gemacht hast, können einige Passagen in diesem Buch triggernd wirken. Sollte es dir damit nicht gut gehen, sprich mit einer Person deines Vertrauens. Auch hier kannst du Hilfe finden: www.nummergegenkummer.de

Schau gern in der Triggerwarnung, dort findest du eine Auflistung der potenziell triggernden Themen in diesem Buch. (Um keinem*r Leser*in etwas zu spoilern, steht der Hinweis hinten im Buch.)

 

 

 

Für alle, die an Magie glauben.

Playlist

Ludovico Einaudi – Primavera

Abel Korzeniowski – Juliet’s Dream

Katie Garfield – All Is Lost

BANKS – Godless

Cat Pierce – The Beginning of the End

Bishop Briggs – Dark Side

Jacob Lee – Demons

Sam Smith – Fire On Fire

Birdy – Strange Birds

Calum Scott – If Our Love Is Wrong

Hailee Steinfeld – Afterlife

Elley Duhé – MIDDLE OF THE NIGHT

MILCK – Devil Devil

Lykke Li – deep end - alt version

vōx – I Hid In Him

Glass Animals – It’s All So Incredibly Loud

Maroon 5 – Lips On You

Antonio Vivaldi – The Four Seasons, „Summer“, Concerto No. 2 for violin in G Minor

Cat Pierce – Live Forever

Donna Missal – Keep Lying

Prolog

A tutto c’è rimedio fuorché alla morte.

(Gegen alles gibt es ein Mittel, außer gegen den Tod.)

Mein erster Atemzug nach siebzehn Jahren, und schon starb ich. Die Luft roch nach Verrat und abgestandenem Kanalwasser, während sich ein metallischer Geschmack in meinem Mund ausbreitete. Ich spürte die Messerklinge. Sie grub sich in mein Herz, und doch war es kein Schmerz, der durch meine Adern peitschte. Seltsam. Schmerz war für gewöhnlich die lauteste Empfindung. Man konnte den Moment noch so sehr erwarten, wenn er dann kam, traf er sie alle unvorbereitet.

Jetzt gab es nichts als Angst.

Ich sank in die Knie. Der Mann folgte mir, ging vor mir in die Hocke, rammte das Messer tiefer.

Rote Farbe blätterte von der Fassade hinter ihm, darunter kamen die Ziegelsteine im schwachen Mondschein hervor. Genau wie das Haus ließ mein Angreifer seine Maske sinken und offenbarte mir seine Substanz.

Er war mir vertraut, obwohl ich sein Gesicht nicht einordnen konnte. Kannte ich ihn aus der Vergangenheit? Oder aus einer fremden Erinnerung?

Der Bart war von grauen Fäden durchzogen, und unmenschlicher Zorn glühte in seinen Augen. Es war ein spontaner Einfall. Er handelte im Affekt. Womit hatte ich ihn provoziert?

Aber nicht seine Mordlust jagte mir Angst ein. Und auch nicht die Gewissheit, dass mir kaum mehr eine Minute blieb.

Wie schon so oft wünschte ich mir, bereits ein paar Sekunden vorher dabei gewesen zu sein. Welch törichter Gedanke. Als würde es mir oder irgendwem etwas nützen, wenn meine Neugier gestillt wurde.

Da war nur ein einziges Wort in meinem Kopf. Ein Name. Und ein von wilden Locken umrahmtes Gesicht. Ihre Züge waren weich, ihre Augen wärmer als die Kälte dieser ganzen gottverfluchten Stadt.

Giulietta.

Ich röchelte. Je mehr das Leben aus mir wich, desto größer wurde die Panik. Als sie nicht mehr auszuhalten war, kämpfte ich mich hoch und ließ den zusammengebrochenen Körper an der Hauswand zurück. Diesmal war es mein eigenes armseliges Herz, das weiterklopfte. Mein eigener Mund, der verzweifelt nach Luft schnappte. Ich wurde wahnsinnig bei ihrem Anblick. Bebte am ganzen Körper.

Giulietta.

Nur ein Name.

Nur ein Mädchen.

Nur ein Grund, um leben zu wollen.

Und von allen Gedanken, die ich je gehabt hatte, war dieser am törichtesten.

KAPITEL1Der Tod und seine Begleiter

»Stell deine Frage, tesoro.«

Noemi und Speranza saßen mir gegenüber auf dem Sofa und sahen mich erwartungsvoll an. Die Räucherstäbchen verströmten den Duft von Sandelholz, und die Karten blitzten unter dem Seidenschal in der Holzschatulle auf.

Es war kurz nach einundzwanzig Uhr, wir hatten ein spätes Abendessen zu uns genommen und uns dann wie schon so oft mit einem Tee ins Wohnzimmer gesetzt. Unzählige Kerzen erhellten den Raum, das Licht hatten wir ausgeschaltet.

»Was erwartet mich in den nächsten Monaten?«

Unter Noemis Auge zuckte es, aber Speranza griff, ohne zu zögern, nach den Karten, um sie zu mischen. Ihre bunten Armreife klapperten bei jeder Bewegung, rutschten auf ihren gebräunten Armen vor und wieder zurück.

Die Frage war zu allgemein gestellt, und außerdem verschleierte sie meine eigentlichen Probleme: Hätte ich heute vielleicht doch auf die Party gehen sollen? Musste ich mir so langsam Sorgen darüber machen, dass ich den Abend lieber mit den beiden verbrachte als mit meinen ehemaligen Klassenkameraden?

Speranza legte den Stapel verdeckt auf den Tisch, bevor sie ihn fächerartig vor mir ausbreitete. Sie nickte mir mit einem Lächeln zu, also schob ich mein schlechtes Gewissen beiseite und zog die erste Karte.

Eine welkende Rose vor rabenschwarzem Hintergrund. Die Blüte senkte den Kopf, und ein einzelnes Blatt fiel in die Tiefe. Darüber ein heller Lichtstreifen in Halbmondform. Zwischen schwarz und weiß prangten fünf Pentagramme.

»Fünf Münzen«, flüsterte ich und schob sie in die Mitte des Tisches, bevor ich mich nach hinten sinken ließ und in den weichen Ohrensessel schmiegte. Das offensichtlich dunkle Omen bereitete mir im Moment wenig Sorgen – ich war viel zu konzentriert, um mich an die Bedeutung der Karte zu erinnern.

Wir hatten uns für heute Abend das keltische Kreuz ausgesucht. Ein beliebtes Legesystem, um einen umfassenden Einblick in die Vergangenheit und die Zukunft eines Menschen zu bekommen. Und außerdem die perfekte Übung für mich. Auch wenn mein Vater mir die Hölle heiß machen würde, wenn er wüsste, dass ich nicht bei meiner ehemaligen Klassenkameradin Chiara war.

»Was symbolisiert die erste Karte?«, fragte Noemi mit bewegungsloser Miene und schlang ihren Fransenschal enger um ihren schmalen Körper.

Ich lächelte. »Die Ausgangssituation. Das grundlegende Thema meiner Frage.« Sie ahnte, dass meine Frage nicht aufrichtig gewesen war. Und ich ahnte, was das bedeutete: Die Karten mochten es gar nicht, wenn man seine wahren Absichten verschleierte.

»Also?« Speranza rückte ihre Hornbrille mit dem Zeigefinger zurecht.

»Trauer, Sorgen und Erkrankung«, sagte ich, nun doch etwas zerknirscht. Die Karte stand für harte Zeiten. Eigentlich hatte ich mir erst neulich im Schein des Feuerwerks geschworen, mich nicht unterkriegen zu lassen. Neues Jahr, neues Glück. Dann wusste ich eben nicht, was ich mit meinem Leben anstellen wollte, während so ziemlich jeder in meiner Umgebung schon Pläne für die Zukunft schmiedete oder bereits in die Tat umsetzte. Dann bereitete mir Small Talk mit Gleichaltrigen halt Kopfschmerzen. Ich war erst achtzehn. Kein Grund zur Panik. Ich würde meinen Platz auf dieser Welt schon noch finden, es dauerte nur etwas länger bei mir.

Doch die Karte sah durch meine fadenscheinigen Beteuerungen hindurch. Bis auf den Grund meiner Seele, wo all die Zweifel wucherten und die Einsamkeit Wurzeln schlug.

»Ich mache mir Sorgen«, fuhr ich fort und richtete meinen Blick zuerst auf den üppigen Trockenblumenstrauß links von ihnen auf der alten Kommode, fixierte ihn angestrengt, dann auf meine dunkelblau lackierten Nägel. »Ich werde noch tiefer in die Sorgenspirale geraten. Ausgelöst von Zurückweisung oder Gedanken, die ich mir über meine Berufs- oder Studienwahl mache. Eine plötzliche Krankheit könnte auch dazukommen.«

Die beiden blieben still. Als ich aufsah, lächelte sogar Noemi mich aufmunternd an und wies auf die Karten. Nummer zwei war dran.

Ich griff nach einer Karte auf der linken Seite, die etwas herausragte, und legte sie aufgedeckt orthogonal über die erste. Diese stand für einen Menschen oder ein Ereignis, das für die Ausgangssituation hinderlich war. Mein Herz schlug jetzt deutlich schneller. Maden. Widerliche Augäpfel. Und ein von neun Schwertern durchbohrter Tierschwanz.

»Neun Schwerter«, sagte ich, ohne zu zögern. Kleine Arkana, Gruppe drei. Die Gruseligsten konnte ich mir problemlos merken. »Eine extrem dunkle Karte. Sie symbolisiert die Schattenseiten. Meine eigenen, tief in mir vergraben, und die des Lebens. Schlaflosigkeit, Albträume und Verzweiflung. Oft in Begleitung von Schuldgefühlen und Selbsthass.«

»Im Kampf gegen das eigene Innenleben ist man immer gut damit beraten, Hilfe bei Außenstehenden zu suchen«, fügte Noemi in einer Tonlage hinzu, die wohl hoffnungsspendend sein sollte.

Ich nickte und nahm einen Schluck von meinem Johanniskrauttee, bevor ich nach der dritten Karte griff. Diese platzierte ich aufrecht unter den beiden ersten. Sie stand für den Ursprung meines Problems und dafür, was mein eigentliches Ziel war. Eine Karte, die Klarheit schaffen sollte.

Sobald ich die Illustration erfasste, ließ ich das Papier allerdings los, als hätte mich der Blitz getroffen. Speranza hielt abrupt den Atem an und räusperte sich schnell, um ihren Schrecken zu überspielen.

Noemi strafte sie mit einem strengen Blick und wandte sich dann mir zu. »Na komm, beschreib, was du siehst.«

»Die dreizehnte der Trumpfkarten. Eine Karte der großen Arkana.«

Einer der ersten Grundsätze, den mir die beiden beigebracht hatten: Karten der großen Arkana durften auf keinen Fall auf die leichte Schulter genommen werden, sollten sie in einer Legung auftauchen.

Die Karte zeigte einen Vogelkopf, dessen Körper ein Geflecht aus Knochen und übrig gebliebenen Federn war.

»Der Tod.« Meine Stimme klang belegt. »Das ist der Tod.«

Noemi hob eine helle Braue. »Kein Grund, so ein Gesicht zu ziehen. Wofür steht der Tod?«

»Für Transformation. Veränderung. Umbruchstimmung. Etwas im Leben, das enden muss, damit etwas Neues beginnen kann.«

»Sehr richtig. Was noch?«

Ich hob die Schultern. Der Tod konnte auch einfach ganz ohne Metapher für den Tod stehen, soweit ich wusste.

Speranza schien sich einen Ruck zu geben. »Seelenfrieden«, half sie mir auf die Sprünge. »Nachdem die Zeit des Leidens vorbei ist, wird man eine positive Veränderung in sich selbst feststellen.«

Wie sehr ich mir manchmal wünschte, wie Papa zu sein … die Bilder und die Bedeutungen dahinter als Humbug anzusehen.

Schaudernd schnappte ich mir die vierte Karte. Nun ging es um meine Vergangenheit. Schlimmer konnte es nicht mehr werden, oder?

Geräuschvoll atmete ich aus, als ich die Tanne sah, die die obere Hälfte der Karte einnahm. Unter der Erde wuchsen tiefe Wurzeln, noch größer als der Baum selbst. Rechts und links rahmten ihn insgesamt sechs Becher ein. »Sechs Kelche. Sie verkörpern glückliche Erinnerungen. Eine magische Kindheit.« Mein Lächeln ließ sich jetzt nicht zurückhalten. Die Karte traf den Nagel auf den Kopf: Papa und ich, wir waren ein Team. Es hatte mir nie an etwas gefehlt. Jeder Zentimeter dieses alten Hauses war mit Liebe gefüllt. Bücher, die sich bis zur Decke stapelten. Knarzende Holzdielen. Wuchernde Pflanzen. Vollgeschriebene Notizzettel. Warmes Licht. Der Geruch von selbst gemachten Cannelloni.

Von außen betrachtet war es vielleicht seltsam, dass ich außer ihm keine Verwandten kannte, auch keine weiter entfernten. Er sprach nicht gern über seine Vergangenheit, und mit den Jahren hatte ich gelernt, ihn nicht mehr mit Fragen zu bombardieren, auch wenn ich vor Neugier manchmal zu platzen drohte.

»Lorenzo hat zweifellos gute Arbeit geleistet«, sagte Speranza mit einem Schmunzeln und strich sich eine widerspenstige Locke hinters Ohr. »Wofür steht sie noch?«

Ich überlegte kurz. »Alte Freundschaften?«

»Möglich.« Noemi nickte. »Du könntest alte Beziehungen oder Gewohnheiten wiederaufleben lassen. Und Antworten in deiner Vergangenheit finden.«

»Okay.« Das klang ja ganz gut. Leider bezweifelte ich, dass meine Kindheit mir bei meiner Frage weiterhelfen konnte. Und meine Freundschaften in jüngeren Jahren waren ähnlich verlaufen wie die jetzigen – an der Oberfläche. Vielleicht war das der Preis, weil ich mich zu gut mit Papa verstand. Weil der Maßstab zu hoch angesetzt war. Wieso sollte man sich mit mittelmäßig zufriedengeben, wenn man wusste, wie sich Seelenverwandtschaft anfühlte?

»Weiter geht’s«, sagte Speranza sanft. »Was symbolisiert die nächste Karte?«

Ich blinzelte und fixierte die Karten, bevor ich eine Hand ausstreckte. »Mein Ziel.« Mein Ziel klang eigentlich ganz simpel: meine Berufung finden. Erwachsen werden. Ha. Nichts leichter als das.

Ich schnappte mir eine der unteren Karten in der Mitte und deckte sie auf, bevor ich sie direkt über die beiden ersten überkreuzten schob. Ein paar schwarze Schwerter in der Finsternis. Der Großteil der Karte war dunkel. Nur oben schillerte ein Regenbogen. Römisch sechs war mit schwarzer Farbe darübergepinselt.

»Sechs Schwerter?«

»Warum so zögerlich?«, fragte Noemi.

Ich hob eine Braue. »Das soll mein Ziel sein?«

Die Karte stand für Hoffnung am Ende einer dunklen Zeit. Was an sich super klang. Aber sie stand auch für einen Ortswechsel. Ich sprach meine Gedanken laut aus und beobachtete die beiden abwechselnd. Noemis Miene war unleserlich, Speranza runzelte die Stirn.

»Hast du dir noch mal Gedanken über ein Studium gemacht?«

Ich versteifte mich. Mein Lieblingsthema. »Nicht wirklich.«

»Na, du wirst ja wohl nicht immer in diesem Loch bleiben«, kam es nun wieder von Noemi. »Du bist ein junges Mädchen, die ganze Welt steht dir offen. So viele Möglichkeiten.«

Mit einem langen Finger deutete sie auf den bunten Streifen der Karte. »Dein Ziel ist es, glücklich zu sein. Zu heilen. Und das wird womöglich nur durch eine Reise funktionieren.«

Heilen wovon? Ich schluckte mein Unbehagen herunter und nickte hastig. »Alles klar. Können wir jetzt mit meiner Zukunft weitermachen?«

Sie sollten die Sorge in meinen Augen nicht entdecken. Also sah ich zu den flackernden Kerzen auf der Fensterbank hinter dem Sofa. Das Wachs tropfte bereits auf den Boden. Unaufhörlich. Unausweichlich. Wie die Karten.

Mit zusammengepressten Lippen griff ich nach der nächsten. Deckte sie neben den ersten beiden auf, sodass die sechs Karten nun ein Kreuz bildeten.

Ich stieß die angehaltene Luft aus. Ein Pentagramm in Form eines Baumstamms, aus dem Rosenblätter wuchsen. Die Karte war bis auf einen roten runden Kreis in der Mitte ganz in Schwarz-Weiß gehalten. »Das Ass der Münzen.« Familie vier, Karte Nummer eins. Puh. »Steht das nicht für Wohlstand?«

Speranza kicherte, Noemi schnaubte und beugte sich zu mir vor. »Dieser rote Kreis ist der Samen der Energie in dir, die dich für deine Zukunft festigt. Dies ist der Anfang. Es liegt eine verheißungsvolle Zeit vor dir. Und ja, Reichtum könnte dir in den Schoß fallen, aber vor allen Dingen solltest du dich auf dein Inneres konzentrieren. Dich erden. Und die Bedeutungen der Karten nicht immer so wörtlich nehmen.«

Ich ließ mich nicht beirren und grinste sie an. »Ach, komm schon, lass mir den Spaß, das sieht doch zur Abwechslung mal gut aus, oder?«

Sie besah mich streng, doch ihre Mundwinkel zuckten. »Welche Karte kommt als Nächstes?«

»Die, in der es um mich geht. Wer ich bin. Wie ich zu meiner Frage stehe. Was mich ausmacht.« Ebenfalls eines meiner absoluten Lieblingsthemen …

Diesmal ließ ich mir Zeit bei der Auswahl der Karte. Beim Tarot ging es um Intuition. Man musste seinem Bauchgefühl folgen, um Klarheit zu erlangen. Und sosehr ich es liebte, die Bedeutungen der Karten zu lernen und anderen Leuten ihre Zukunft zu zeigen, so sehr graute es mir vor meiner eigenen.

Ich schloss die Augen, fuhr mit den Fingerspitzen über die ausgebreiteten Karten und griff nach einer am rechten Rand. Meine Lider flatterten auf. »Die Welt«, flüsterte ich. Große Arkana. Schon wieder. Und auch noch die allerletzte Tarotkarte. Ohne Vorwarnung schossen mir Tränen in die Augen. Lächerlich. Ich schluckte hart, um den Kloß in meinem Hals loszuwerden. Lächerlich, und doch klammerte ich mich an diese kleine Hoffnung, dass ich stärker als die Versagerin war, die ich morgens im Spiegel sah. Mutiger. Interessanter. Für mehr bestimmt.

Die Welt stand für Vollkommenheit. Sich ganz fühlen.

»Im Alltag sind unsere Gedanken vergiftet«, sagte Speranza nach einem Augenblick Stille. Sie wusste, dass ich die Bedeutung der Karte kannte. Und genauso wusste sie, was es mit mir anrichtete, sie gerade dann aufzudecken, wenn es um mein wahres Ich ging. Speranza und Noemi waren neben meinem Vater die einzigen beiden Menschen, die den brodelnden Gefühlscocktail hinter meiner Fassade kannten.

»Wünsche. Bedürfnisse. Ziele. Immer mehr, immer größer. Nichts ist uns genug. Das hier, tesoro, das ist die Wahrheit. Du bist genug. Genau so, wie du bist. Alles, was du brauchst, hast du bereits in dir. Dafür steht die Welt. Harmonie und Zufriedenheit im Jetzt.«

Ihre Worte erleichterten mir den Kampf mit den Tränen nicht. Mehrere Minuten vergingen, bis ich wieder aufblicken konnte. Ich fand kein Mitleid in ihren Gesichtern. Nur Zuneigung. Noemi faltete die Hände im Schoß und blinzelte, als müsste sie sich selbst von einem Anflug der Sentimentalität befreien.

Ich räusperte mich und schnappte mir die erstbeste Karte. »Bei der achten Karte geht es um äußere Einflüsse.«

»Richtig.« Speranza nahm einen Schluck von ihrem Tee und lächelte mir über den Tassenrand hinweg zu.

Na toll. Ein dunkler Fels. Zu seinen Füßen acht zerbrochene Gefäße. »Vielleicht war das eine schlechte Idee«, murmelte ich und starrte auf die Zeichnung.

»Du musst keine Angst haben«, meldete sich Noemi sofort zu Wort. »Und nur so lernst du, richtig mit den verschiedenen Deutungen umzugehen. Wenn du es an dir selbst probierst. Also?«

Ich stöhnte auf. »Acht Kelche. Stagnation, Trennung, Abschied.« Nur zu gut erinnerte ich mich an Noemis Worte, als sie mir die Karte vor Jahren zum ersten Mal gezeigt hatte. Wieso ich mir die düsteren Bedeutungen wohl so gut merken konnte? »Es gibt hier nichts Gutes mehr für mich«, wisperte ich. »Ich sollte meine Augen auf den Horizont richten und fliehen.«

So schlimm war mein Leben nun auch wieder nicht, oder? Hatte nicht jeder in meinem Alter solche Zukunftsängste? Außerdem hatte ich die beiden. Und Papa. Mir ging es gut, verdammt.

»Die acht Kelche verheißen aber auch neue Ufer«, warf Speranza ein. »Eine Besserung in der Zukunft.«

Ich nickte. Schnell weiter. »Nächste Karte – meine Ängste und Hoffnungen.« Nächstes Mal würde ich ein anderes Legesystem wählen. Oder an den Idioten aus meiner alten Schule üben, wenn die auf der nächsten Party völlig dicht waren. Das keltische Kreuz grub zu tief. Es war viel zu intensiv.

Um ein Haar hätte ich aufgelacht, als ich die Karte aufdeckte. Zwei Gänse flogen Seite an Seite vor einem strahlend bunten Hintergrund. Nicht nur, dass dies meine dritte Karte aus den großen Arkana in dieser Legung war, nein, ich hatte ausgerechnet die Liebenden gezogen.

Speranza klatschte in die Hände. Noemis dünne Brauen wanderten in die Höhe.

»Was für ein Quatsch«, entfuhr es mir. Die Karte stand für Verlangen, Romantik – für eine schicksalhafte Verbindung, die mich erwartete. Als hätte ich nicht genug Probleme.

»Was bedeutet die Karte?«, fragte Noemi nüchtern.

»Das ist ja wohl offensichtlich. Ich frage mich nur, wieso sie gerade an dieser Stelle erscheint. Die Typen hier sind zu nichts zu gebrauchen, wirklich, ich habe es versucht. Und außerdem wird Liebe mich nicht davor bewahren, herausfinden zu müssen, was ich mit meinem Leben anstellen will.«

»Offenbar sehnst du dich danach«, kam es träumerisch von Speranza. »Das ist ganz normal. Ich habe mich ohnehin schon gefragt, wann es bei dir so weit ist …«

Ich verdrehte die Augen. Sie war eine hoffnungslose Romantikerin. Und war zutiefst enttäuscht, dass ich zwar Spaß am Rummachen hatte, aber mich bisher nie ernsthaft in jemanden verguckt hatte.

Noemi schnalzte mit der Zunge. »Du wirst die Aufregung erfahren, die Nervosität und die Spannung der ersten großen Liebe. Aber du wirst auch etwas Echtes aufbauen und feststellen, dass ein Fremder zu einem zweiten Zuhause werden kann.«

Wer’s glaubt, wird selig. Ich musste ein wenig grinsen, als meine Gedanken wieder zu Papa wanderten. Er war im Vergleich zu anderen Eltern ziemlich offen für meine Techtelmechtel-Geschichten. Ich hatte ihn nie anlügen müssen, wenn ich mich mit jemandem traf. Aber einen Satz wiederholte er jedes Mal, nachdem er mir viel Spaß wünschte: »Der einzige Mensch, der dich wirklich verdient, cara mia, ist der, der davon überzeugt ist, dass er es nicht tut.«

Trotzdem – dieses Thema befand sich nicht einmal in den Top Five meiner größten Sorgen. Also wieso tauchte diese Karte hier auf?

Ich holte tief Luft und straffte die Schultern. »Wie auch immer. Kommen wir lieber zum Endergebnis.«

Karte Nummer zehn bildete den Abschluss. Ich hatte keine Nerven mehr, den Prozess in die Länge zu ziehen. Also tastete ich nach der nächstliegenden Karte und legte sie über die letzten drei. Der krönende Abschluss. Damit sollte meine Frage endgültig beantwortet werden.

Ein Zauberstab, aus dem mehrere rote Blüten wuchsen. Umzingelt von einer majestätischen Schlange, deren geringelter Körper das Unendlichkeitszeichen bildete.

»Die Prinzessin der Stäbe. Sie ist ein Freigeist. Kann von Zeit zu Zeit stur sein, aber ist im Grunde viel stärker, als man auf den ersten Blick annehmen könnte. Und sie ist vollkommen beschäftigt mit ihrer Karriere.« Die Erleichterung schmeckte bittersüß. Vielleicht hatte ich jetzt noch keinen Schimmer, was ich in den nächsten Jahren tun würde, aber die Karte war ein eindeutiges Zeichen von Hoffnung.

Noemi legte den Kopf schief. »Sie kann außerdem eine junge Frau repräsentieren, die eine Verwandlung durchmacht. Einen Durchbruch erlangt.«

Breit grinsend lehnte ich mich zurück. »Gerade noch mal Glück gehabt, was?«

Speranza zwinkerte mir zu. »Du machst dich. Die meisten Bedeutungen kommen wie aus der Pistole geschossen.«

»Lasst uns zusammenpacken«, sagte Noemi und griff nach der Schatulle. »Wir sollten langsam zu Abend essen. Wenn dein Vater nach Hause kommt und uns hier so sitzen sieht …«

Sie musste den Satz nicht vervollständigen. Wir wussten alle, was uns in diesem Fall erwartete – mindestens der dritte Weltkrieg.

Ich wollte ihr gerade zustimmen, als ein durchdringendes Klopfen ertönte. Einmal. Zweimal. Unsere Klingel war seit Wochen kaputt, aber wir liebten den alten Türklopfer in Löwenkopfform, weswegen sich weder Papa noch ich um die Reparatur gekümmert hatten.

»Hat Lorenzo seinen Schlüssel vergessen?«, murmelte Speranza zerstreut, während sie Noemi beim Einpacken half.

»Papa wollte erst morgen früh wiederkommen«, erwiderte ich und erhob mich. Und außerdem vergaß er nie seinen Schlüssel. Das war eher meine Spezialität.

In drei großen Schritten war ich bei der Glastür. Sie bestand aus winzigen zusammengesetzten Scherben. Ein farbenfrohes Mosaik, durch das jetzt blaues Licht fiel. Meine Hand verharrte an der Klinke. Das war kein normales Licht.

»Stroboskop«, flüsterte ich, während mein Puls in die Höhe schoss. Die Umrisse der Gestalt waren unverkennbar. Ich starrte so lange auf das bunte Glas zwischen uns, bis ein weiteres Klopfen mich aus meiner Trance riss.

»Hast du was gesagt?«, erklang es hinter mir, doch ich machte mir nicht die Mühe, mich umzudrehen. »Willst du nicht aufmachen?«

Nein. Nein, ich wollte nicht aufmachen. Und trotzdem drückten meine Finger die Klinke nach unten. Ließen es zu, dass die Tür aufschwang und einen Stoß eisige Januarluft mit sich brachte.

Eine Frau mittleren Alters. Sie stand auf der roten Fußmatte, kaum einen halben Meter von mir entfernt. Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich ihre dunklen Augen und die Uniform. Dann schob sich ein anderes Bild in den Vordergrund.

»Giulietta Visconti?«

Das Skelett eines Vogels.

Ich schüttelte den Kopf, um das Bild zu vertreiben. Zwecklos.

»Du bist nicht Giulietta Visconti?«

»Doch«, krächzte ich. »Doch, die bin ich.«

»Du bist die Tochter von Lorenzo Visconti?«

Knarzende Schritte erklangen, bevor sich ein Arm um meine Schulter legte und der Geruch von Lavendel mir in die Nase stieg.

»Guten Abend«, sagte Speranza neben mir. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Sind Sie auch eine Verwandte?«

»Nachbarin. Wir wohnen gleich nebenan.«

Durch das schwarze Skelettfedergemisch sah ich die Polizistin nicken. »Darf ich einen Moment hereinkommen?«

Speranza bejahte, wenn auch zögerlich.

Mit sanfter Gewalt wurde ich beiseitegeschoben.

»Was ist mit ihm?« Ich zuckte vor der Kälte in meiner eigenen Stimme zurück. Schüttelte Speranzas Arm ab und trat nach vorn.

»Vielleicht setzen wir uns für einen Moment.«

»Ich will mich nicht setzen.« Woher nahm ich die Kraft zu sprechen?

Ein Seufzen. Zusammengezogene Augenbrauen. »Wie alt bist du, Giulietta?«

»Volljährig. Was ist mit meinem Vater?«

Ihre Augen glänzten. »Wo ist deine Mutter?«

Unter der Erde. »Papa und ich leben allein«, presste ich hervor.

Ein weiteres Nicken. »Es tut mir wirklich leid, Giulietta. Es tut mir leid, aber dein Vater …«

Ihre Stimme verlor sich in rauschendem Nichts. Ich musste die Worte nicht hören, um zu wissen, was sie mir mitteilen wollte. Das Skelett vor meinen Augen leistete ganze Arbeit.

»Was ist passiert?«, hörte ich mich irgendwann wie durch eine dicke Watteschicht sagen. Ich klang teilnahmslos, als würde ich mich nach der Wetterlage erkundigen.

Noch immer wurde mir die Sicht genommen.

Ich schnappte Fetzen auf: Venedig, Raubüberfall, Blutverlust, Beileid.

Wieso Venedig? Papa war für das Interview nach Ferrara gefahren …

Meine Zähne schlugen aufeinander, und der Boden vibrierte. Das Skelett verschwamm. Schwarz und weiß flimmerte es vor mir auf. Lichterchaos.

»Gibt es Familienangehörige in der Nähe?«

»Wir sind praktisch Familie.« Das war Noemi. Irgendwie hatten sie es geschafft, mich zurück ins Wohnzimmer zu ziehen und auf die Couch zu drücken. Die Zeit folgte nicht mehr den üblichen Regeln. Sie blieb stehen, nur um im nächsten Herzschlag an mir vorbeizurasen.

Ich zwang mich, die Augen aufzukriegen. Ihre Stimmen vermischten sich. Sie diskutierten, ohne dass ich auch nur ein Wort verstehen konnte. Jemand hatte mir eine Strickdecke umgelegt. Mein Blick traf auf die übrig gebliebenen Karten auf dem Tisch. Mit einem Mal war mir kotzübel. Sie hatten es in der Hektik nicht geschafft, alle wegzuräumen. Ich streckte eine Hand aus und griff nach der dritten Karte in meiner Legung. Nach dem Ursprung. Hielt mir das Bild so nah vor die Augen, bis ich es trotz meines Zitterns erkennen konnte.

Und dann übergab ich mich der Dunkelheit.

Sekunden wurden zu Minuten wurden zu Stunden wurden zu Tagen. Ich wachte morgens auf und ging abends ins Bett. Antwortete auf Fragen. Putzte meine Zähne. Wusch mich. Starrte ins Nichts. Aß, wenn mir jemand Essen brachte. Ich schlief sogar. Nur weinen, weinen konnte ich nicht. Das letzte Mal, an das ich mich erinnern konnte, hatte ich bei Chiamami col tuo nome in der Mitternachtsvorstellung Tränen vergossen. Davor, weil ich mitbekam, wie sich jemand in der Schule hinter meinem Rücken das Maul darüber zerriss, was für ein Flittchen ich war. Das waren gute Gründe für Tränen. Nicht das, was auch immer zur Hölle das sein sollte.

»Hier bist du!«

Ich fuhr zusammen.

»Sag mal, weißt du, ob Pistazien in der Cannoli-Füllung sind?«

In Zeitlupe drehte ich mich um. Tiefe Atemzüge.

»Was?« Meine Stimme klang beinahe gelassen.

»Ob du weißt, ob –«

»Ich habe dich schon verstanden, Chiara.«

Ihre Lippen formten sich zu einem perfekten O.

Wir starrten uns ein paar Sekunden in die Augen. Kurz zuckte Angst über ihr hübsches Gesicht, dann setzte sie eine ernste Miene auf. »Ich bin allergisch gegen Pistazien. Eine einzige reicht aus, um mich direkt in die Notaufnahme zu befördern, weißt du? Seit Jahren muss ich …«

Ein durchdringendes Klingeln in meinen Ohren ließ ihre Stimme verebben. Mein Blick schweifte ab. Menschen, so viele Menschen in unserem winzigen Wohnzimmer. In meinem Wohnzimmer. Ich war die Einzige, die noch hier lebte.

Die Tische waren voller Essen, aber Chiara sorgte sich um die Cremerollen.

In einem anderen Universum hätte ich ausrasten können. Sie anbrüllen, was ihr einfiel. Ob sie wirklich keinen einzigen Funken Taktgefühl besaß.

In diesem lächelte ich. »Frag am besten Speranza, ich glaube, die hat sie besorgt.«

Bis zur Beerdigung würde es noch dauern. Die Obduktion nahm viel Zeit in Anspruch, und man konnte nicht genau sagen, wann sie den Körper herschickten. Ich hatte nicht mehr direkt mit der Polizei gesprochen. Noemi hatte alles Organisatorische übernommen, während Speranza zu jeder Tages- und Nachtzeit in meiner Nähe blieb. Und das ganze Dorf sich aus irgendeinem Grund in den Kopf gesetzt hatte, mir stündlich Essen vorbeizubringen.

»Sag mal, hast du die Frau in eurem Garten schon gesehen? Sie sieht aus, als würde sie darauf warten, dass sie jemand hineinbittet. Ist das eine Verwandte von dir?«

Ich blinzelte. Es war eine Herausforderung, mich auf Chiaras Worte zu konzentrieren. »Was für eine Frau?«

Chiara wusste so wie jeder in unserem Dorf alles über meine Familie, genau wie ich über ihre, auch wenn man uns nicht wirklich als Freundinnen bezeichnen konnte. Gäbe es irgendwelche Verwandte, wäre sie darüber im Bilde. Die Leute hier fanden es seltsam, dass ich alleine von meinem Vater großgezogen worden war. Über die Jahre hatten sie sich wieder und wieder nach meiner näheren Verwandtschaft erkundigt, vor allem, wenn ich während einer von Papas Recherchereisen bei Speranza und Noemi übernachtete.

»Sie trägt irgendein seltsames Kostüm und sieht völlig fertig aus«, riss mich Chiaras Stimme aus meinen Gedanken. Eine kleine Pause entstand, in der sie mich eingehend musterte. »Noch fertiger als du.« Es klang wie ein Vorwurf.

Da war plötzlich ein Stechen in meinem Kopf. Ich brauchte schleunigst eine Pause. Dieses Gespräch war das letzte, was ich gerade führen wollte. Bevor ich mich entschuldigen konnte, hatte sie mich allerdings schon am Arm gepackt und führte mich zum Wohnzimmerfenster, wo sie die Gardine zur Seite schob.

»Schau!«

Gegen meinen Willen ließ ich mich ablenken. Tatsächlich. Nur wenige Meter vom Haus entfernt ging eine Frau auf und ab. Als könnte sie sich nicht entscheiden, ob sie hineinkommen oder kehrtmachen sollte. Sie trug ein ziemlich eindrucksvolles Ballkleid aus altrosafarbenem Satin, mit ordentlich Rüschen, Spitze und Federn, darüber eine Art kurzer Umhang aus goldenem Samt. Doch so krass ihr Outfit auch war – es lenkte nicht lange von ihrem Gesicht ab, das trotz der Nebelschwaden gut zu erkennen war. Sie war jung, nicht so jung wie ich, aber höchstens Mitte zwanzig, und um einiges größer. Ihre Wangen waren tränenüberströmt, ihre Haut aschfahl, und die Augen wirkten viel zu groß für das Gesicht. Dunkle, wirre Locken lugten unter ihrer übergestülpten Umhangskapuze heraus. Der Wind zerrte daran. Sie bebte am ganzen Körper. Obwohl es draußen bitterkalt war, beschlich mich die Vermutung, dass ihr Zittern nichts mit dem Wetter zu tun hatte. Außerdem war da noch etwas. Ein Ziehen am Rande meiner Wahrnehmung. Das große Kitzeln, wie Speranza es nannte, wenn einen im Alltag das Gefühl überkam, etwas übersehen zu haben. Wenn man sich nicht recht erinnern wollte, was genau es war, die Gewissheit, dass da etwas war, was aber ein unangenehmes Prickeln hinterließ.

Irgendwoher kam die Frau mir bekannt vor. Aus dem Dorf?

Nein. Das wüsste ich. Es war etwas anderes. Eine Erinnerung?

Da hob sie den Kopf. Unsere Blicke trafen sich für den kürzesten aller Momente. Auf einen Schlag gab es nichts mehr außer ihr und mir. Meine Umgebung verschwand und nahm meine Überlegungen mit sich. Ich bestand nur noch aus Pulsieren und Beben.

Wut. Da war keine Verzweiflung in ihren Augen, keine Trauer, sondern Wut. Kälter als der Winterwind. Kälter als mein Herz, das sich seit Tagen mit Eisschichten umhüllte, die jetzt ein kleines bisschen zu schmelzen begannen.

Chiara sagte etwas neben mir, aber ihre Worte verloren sich in dem Geräusch des rauschenden Bluts in meinen Ohren. Das Gefühl von Neugierde, von Aufregung, von irgendetwas anderem als trüber Taubheit, traf mich so unerwartet, dass mir ganz schwindelig wurde. Ein Rätsel. Eine willkommene Ablenkung.

Ich ließ die Gardine zurück vors Fenster gleiten und setzte mich in Bewegung. In ein paar großen Schritten war ich bei der Haustür angelangt. Ich ignorierte die Blicke der Anwesenden. Hatte niemand außer Chiara die Frau bemerkt?

Meine Finger schlossen sich um die Klinke. Die Welt blies mir ihren Eisatem ins Gesicht, sobald ich die Tür öffnete. Mir war nicht kalt. Ohne mich um Schuhe zu kümmern, trat ich nach draußen und ließ meinen Blick über den kleinen Garten vorm Haus wandern.

Der Wind heulte, das vereiste Gras unter meinen Füßen knirschte. Nichts.

Ich kniff die Augen ein Stück zusammen. Keine Spur von der Frau. Als wäre sie meiner Fantasie entsprungen. Nur dass das nicht sein konnte. Chiara hatte mich auf sie aufmerksam gemacht. Konnten sich zwei Menschen dieselbe Person einbilden?

Mein Name ertönte, und ich trat den Rückzug an, nachdem ich mich noch einmal vergewissert hatte, dass nirgendwo ein Stück rosa oder goldener Stoff aufblitzte.

Chiara war in ein Gespräch mit Speranza vertieft. Sollte ich zu ihr gehen und sie befragen, bis sie mir jedes Detail verriet, das mit der Frau zu tun hatte? Vielleicht könnten wir uns gemeinsam auf die Suche begeben.

Chiara und ich. Ein Abenteuer fürs Leben.

Um ein Haar hätte ich gelacht.

Ich schloss die Tür leise hinter mir und beging den Fehler, den Kopf zu heben. Von allen Seiten kam mir Mitleid entgegen. Dunkles, zähflüssiges, stinkendes Mitleid. Eine wabernde Masse, die kein Erbarmen kannte. Viel zu schnell war sie bei mir angelangt. Sie zog mich in ihre Tiefen, bis jedes bisschen Tatendrang darin ertrank und die gewohnte Leere sich wieder in mir breitmachte.

Wen interessierte schon die Frau da draußen? Wen interessierte es, ob Chiara und ich sie uns eingebildet hatten?

Ich schlängelte mich an zwei Mädchen vorbei, die ich flüchtig aus der Nachbarschaft kannte und die sich ein Mal die Karten von mir legen lassen hatten, nur um sich im Anschluss darüber lustig zu machen, wie ernst ich Tarot nahm. Wieso befanden sie sich in meinem Wohnzimmer? Wer hatte sie überhaupt reingelassen? Wahrscheinlich hatten ihre Mütter sie gezwungen, vorbeizukommen und ihr Essen abzuliefern. Vielleicht fühlten sie sich damit besser.

Die alte Wendeltreppe knarzte bei jedem Schritt, während die Blicke der Leute sich wie spitze kleine Pfeile in meinen Rücken bohrten, als ich nach oben lief. Sie fragten sich bestimmt, ob ich jetzt endlich den Zusammenbruch erleiden würde. Den großen ausgebliebenen Zusammenbruch. Ich hatte Noemi und Speranza belauscht, wie sie sich darüber unterhielten, dass ich viel zu gefasst reagierte. In der ersten Nacht war ich in einen tiefen Schlaf gefallen. Über zwölf Stunden. Am nächsten Tag hatte die Taubheit Besitz von mir ergriffen. Es war, als hätte ich meinen Körper verlassen und würde als Außenstehende auf mich hinabblicken. Vielleicht war das der Teil meiner Seele, der bei Papa war und meine gesamte Lebensfreude beinhaltete. Zurückgeblieben war eine leere Hülle – funktionsfähig, aber leider nicht wirklich anwesend.

Ich stieß die Tür zum Badezimmer auf und setzte mich auf den Wannenrand, nachdem ich hinter mir abgeschlossen hatte. Den Blick in den Spiegel ersparte ich mir, stattdessen fuhr ich mir durch die widerspenstigen Locken und kniff die Augen zusammen.

»Ich habe ein Geheimnis«, murmelte ich in meinen Pulloverkragen. »Ich habe ein Geheimnis, Papa.«

Ja, ich wusste, dass er weg war. Ich musste seine Leiche nicht sehen. Die Illustration des Todes war Beweis genug gewesen, als sie in meiner Legung aufgetaucht war. Ich war ein einigermaßen schlaues Mädchen, auch wenn mein Abschlusszeugnis etwas anderes behauptete. Und trotzdem … trotzdem gab es einen Grund, warum meine Welt noch nicht auseinandergebrochen war und ich mit ihr.

»Das ist alles nicht real, weißt du? Es kann nicht real sein, weil sonst nichts mehr Sinn ergeben würde. Es ist fast schon lächerlich, Papa. Deshalb bin ich zu dem einzig logischen Schluss gekommen. Mir ist schon klar, dass ich das niemandem da unten erzählen kann. Aber wenn ich hier sitzen und mit dir reden kann, dann bist du nicht weg, verstehst du?«

Stille. Ein kleines Lächeln zuckte über meine Lippen. Stille machte nichts. Mein Vater war noch nie ein Freund großer Worte gewesen.

In den letzten Tagen hatte ich seine Anwesenheit so eindringlich gespürt. Besonders nachts fühlte es sich an, als würde er mich durch die Fenster beobachten. Das Gefühl nahm mir die Taubheit nicht, doch es ließ mich beruhigt schlafen. Und es ließ mich tagsüber funktionieren.

An der Tür ertönte ein behutsames Klopfen.

»Ist alles in Ordnung?«

»Ja, ja, alles gut!«

»Magst du kurz aufschließen?«

Ich seufzte. Speranza ließ mich wirklich keine Sekunde aus den Augen. Zweifellos machte sie sich Sorgen, dass ich mir irgendetwas antat, während ich vermeintlich pinkeln war.

Mechanisch erhob ich mich und entriegelte die Tür.

Sie legte den Kopf schief und musterte mich prüfend. »Es tut mir leid, ich wollte dich nicht stören. Ich …« Sie verstummte und wirkte, als würde sie jeden Augenblick in Tränen ausbrechen. Speranza weinte am meisten. Ich betrat nur den Raum, das war Anlass genug. Und jedes Mal musste ich den Impuls unterdrücken, sie an den Schultern zu packen und zu schütteln.

»Was?«, erwiderte ich schroff. »Haben sie seinen Körper endlich gebracht?«

Bestürzung sprang mir aus ihrem Gesicht entgegen, bevor sie sich wieder im Griff hatte. »Nein, also. Da ist jemand, der mit dir sprechen möchte. Wegen …«

»Wegen was denn, bitte? Wieso kannst du nicht einfach in ganzen Sätzen mit mir reden, verflucht noch mal?«

Die Worte trafen sie wie Schläge in die Magengrube, ich sah es genau. Schnürten ihr die Luft ab, während sich glühender Selbsthass durch meine Gliedmaßen fraß.

Ihr rundes Gesicht errötete im dämmrigen Flurlicht. Papa hasste mich auch, da war ich mir sicher. Ich sah seine buschigen Augenbrauen. Sie zogen sich zusammen und erzeugten eine schräge Falte dazwischen, die mit den Jahren immer deutlicher geworden war. Ich hörte sein Schweigen. Niemand konnte so viele Nuancen in die Stille bringen wie er. Mal war sie tröstend, mal wütend, mal laut, mal leise. Jetzt definitiv enttäuscht.

Es tut mir leid, Papa. Aber ich ertrage ihren Schmerz nicht.

»Wegen des Testaments, tesoro«, hauchte Speranza, streckte aus Reflex einen Arm nach mir aus und ließ ihn sofort wieder sinken.

Nun war es mein Atem, der stockte. Trotzdem nickte ich und setzte eine teilnahmslose Miene auf, ehe ich mich an ihr vorbeischob. »Alles klar.«

Die Flurwände waren über und über mit Bildern bedeckt, kaum ein Fleck Weiß dazwischen. Mein Gesicht kam mir in allen Altersstufen entgegen: zu große Augen mit zu kurzen Wimpern. Unzähmbares Haar. Weiße Haut. Mondgesicht. Genervt, glücksstrahlend und dann wieder gelangweilt. Aber alle hatten sie eines gemeinsam: Der Mensch, den mein Vater da abgelichtet hatte, war lebendig.

Den Weg nach unten legte ich wie in Trance zurück. Es konnten nur wenige Minuten gewesen sein, die ich im Bad verbracht hatte, aber in dieser Zeit hatte jemand die Leute rausgeschmissen und es irgendwie geschafft, das Essen aus dem Wohnzimmer zu räumen.

Am Fuß der Treppe stand ein Kerl mittleren Alters. Sein hagerer Körper steckte in einem altmodischen Nadelstreifenanzug, und seine schmalen Lippen verzogen sich zu einem verbindlichen Lächeln, als ich in sein Blickfeld trat.

»Giulietta Visconti.« Eine Feststellung. Immerhin kein Bedauern. »Ich heiße Alfonso Rossi.«

Ich schüttelte seine behaarte Hand für eine halbe Sekunde.

»Mein herzliches Beileid.« Sein Ton war kühl. Freundlich, aber voller Distanz.

Ich nickte. Mit Kälte konnte ich umgehen, denn sie war berechenbar.

»Wollen wir uns für einen Moment setzen?«

»Ich werde nicht zusammenbrechen, falls Ihnen das Sorgen bereitet.«

Seine Augen blitzten. War das Anerkennung? »Darum sorge ich mich nicht. Ich hatte lediglich einen langen Tag.«

»Mein herzliches Beileid.«

Als er diesmal lächelte, war es aufrichtig. Er wollte etwas entgegnen, doch da gesellte sich Noemi mit einer dampfenden Kaffeetasse zu uns. »Bitte schön. Wollen Sie sich nicht setzen?«

»Vielen Dank.« Er nahm ihr die Tasse aus der Hand. »Aber wir stehen lieber.«

Noemi verkniff sich einen Kommentar und verschränkte die Arme, ohne sich vom Fleck zu bewegen. Ihr konnte ich in die Augen schauen, ohne Angst zu haben, dass sie sich verflüssigten. Sie hatte ihre Emotionen fest im Griff. Was nicht bedeutete, dass sie mich in einem solchen Moment einem Fremden überlassen würde.

Der Kerl wandte sich wieder mir zu. »Ich bin der Notar deines Vaters. Er hat mir die Aufgabe übertragen, dich mit deinem Erbe vertraut zu machen.«

Papa, ich gebe mir Mühe. Bitte mach’s mir nicht so schwer, okay?

»Die Sache ist schnell geklärt. Lorenzo Visconti vererbt dir seinen gesamten Besitz. Das Haus ist seit vergangenem Jahr abbezahlt, und es existieren zwei Konten auf deinen Namen. Außerdem …«

Ich schaltete ab. Nickte immer mal wieder zwischendurch, während sein Gesicht aus dem Fokus verschwand. Es passierte in letzter Zeit oft, dass im Anschluss mehrere Gesprächsfetzen in meinem Gedächtnis fehlten, wenn jemand mit mir sprach. Speranza hatte wohl einen triftigen Grund, nur in abgehackten Sätzen mit mir zu kommunizieren …

»Giulietta?«

»Mhm?«

»Hast du mich verstanden?«

Erneut wollte ich nicken. Aber Papas Stille war jetzt warnend. Ich musste mich zusammenreißen. »Können Sie das noch mal wiederholen, bitte?«

Mein Blick zuckte zu Noemi, die mir beruhigend zulächelte. Mach dir keine Sorgen, sagte ihr Lächeln, wir haben uns um alles gekümmert.

»Dein Onkel hat sich mit mir in Verbindung gesetzt.« Er stellte die Tasse auf dem kleinen Wohnzimmertisch hinter sich ab und griff nach der Mappe, die mir erst jetzt auffiel.

Welcher Onkel? Im letzten Moment hielt ich mich davon ab, die Worte laut auszusprechen.

»Signor Vincenzo Visconti lässt ausrichten, dass er leider mit den Formalitäten beschäftigt ist, dich aber nach Venedig einlädt«, fuhr der Kerl fort, während er mir das Blatt reichte. »Dort soll auch die Beerdigung deines Vaters stattfinden, sobald die Polizei alles geklärt hat. Er wird sich um die Kosten kümmern.«

»Wie bitte?« Noemis Stimme klang unnatürlich hoch. Sie riss mir das Blatt aus der Hand, bevor ich auch nur eine Chance hatte, die Worte darauf zu entziffern.

Ich protestierte nicht. Hob lediglich eine Braue. »Entschuldigen Sie bitte, aber das muss ein Missverständnis sein. Ich habe Papas Adoptivbruder noch nie in meinem Leben getroffen. Sie haben sich wohl noch vor meiner Geburt zerstritten oder so, jedenfalls kenne ich ihn nicht. Und Papa hasst Venedig.«

Zum ersten Mal seit seiner Ankunft verdunkelte das Mitleid Alfonso Rossis Gesicht.

»Hasste Venedig«, korrigierte ich mich.

Die Stadt war ein absolutes Tabu für meinen Vater, und wir hatten bei jedem unserer gemeinsamen Urlaube einen großen Bogen um sie gemacht, obwohl ich mir oft gewünscht hatte, sie mit eigenen Augen und nicht nur durch die Erzählungen meiner ehemaligen Mitschüler oder durch Bilder zu erleben. Papa war dort aufgewachsen, aber hatte kurz nach meiner Geburt den Kontakt zu seiner Familie abgebrochen. Keinen blassen Schimmer, wieso. Ich wusste aber, dass nicht bloß seine Familie verantwortlich für seine Abneigung war. Meine Mutter war dort bei einem Unfall ums Leben gekommen, als ich erst ein Jahr alt gewesen war. Diese Information hatte ich mühsam aus ihm herausgepresst.

»Es tut mir leid, Giulietta, aber die Anweisungen deines Vaters sind klar. Ich habe es schwarz auf weiß, in seinem Testament steht ausdrücklich, dass er im Familiengrab auf der Insel San Michele bei Venedig begraben werden möchte.«

Schnaubend drückte Noemi mir das Papier in die Hand und baute sich dann vor ihm auf. »Jetzt hören Sie mal, das Mädchen hat genug durchgemacht. Wir haben noch nicht einmal den offiziellen Obduktionsbericht erhalten, der Schock sitzt ihr noch in den Knochen, und Sie wollen mir erzählen, Lorenzo soll in einer fremden Stadt von einem Wildfremden –«

»Er ist sein Bruder«, fiel ihr der Notar ins Wort. »Und Venedig der Ort, an dem er aufwuchs, nicht wahr?«

Keine Ahnung, woher er den Mut nahm, Noemi zu unterbrechen und ihr dann auch noch zu widersprechen.

»Was soll das für ein Bruder sein, hm? Wo war er die letzten achtzehn Jahre?«

»Noemi und Speranza sind meine Familie«, wisperte ich. »Und sie sind auch Papas Familie.«

Beide starrten mich jetzt an. Noemi schlug die Augen nieder und wandte sich ab. Ihre Schultern bebten. Nein. Nicht sie auch noch.

Ich will doch stark sein, Papa. Warum tun sie mir das an?

»Signor Visconti hat ein Zugticket für dich gekauft.« Rossis Professionalität fiel in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Gehetzt blickte er zwischen uns hin und her, blieb an Noemis gekrümmtem Rücken hängen. »Ich kann Ihnen nichts anderes sagen als das, was in diesem Dokument steht. Es tut mir wirklich außerordentlich leid.«

Noemi fuhr herum und legte wieder los, zeitgleich polterte auch Speranza die Treppe herunter. Ich konnte mich nicht auf ihre Worte konzentrieren oder mich in ihrem Entsetzen verlieren.

Der Raum begann zu rotieren.

Venedig, Papa? Der Ort, den du so gehasst hast? Dort willst du begraben werden? Soll das ein Scherz sein?

Aber Papa tat das, was er schon die ganze Zeit über getan hatte. Er schwieg.

Es war keine große Sache. Es sollte keine große Sache sein. Und doch war es das erste Mal seit Tagen, dass ich nachts nicht schlafen konnte. Zum gefühlt hundertsten Mal wälzte ich mich in meinem Bett herum und betrachtete die gewohnten Silhouetten meiner Zimmermöbel. Mein Kopf brummte, meine Augen brannten, an Schlaf war jedoch nicht zu denken. Die Taubheit erfüllte mich noch immer, aber etwas hatte sich verändert. Eine gewisse Schärfe war dazugekommen. Mein Gefühl beim Anblick der seltsamen Frau vor unserem Haus – dieses Gefühl, etwas zu übersehen, war wieder hervorgekommen, stärker als vorhin. Meine Gedanken rasten. Venedig. Onkel. Beerdigung. Venedig. Venedig. Venedig.

Aus welchem Grund sollte Papa seinen Adoptivbruder als Verantwortlichen für die Beerdigung bestimmen, wenn der Kontakt zu ihm lange abgebrochen war? Wenn er ihn mir gegenüber etwa so oft erwähnt hatte wie meine Mutter? Ich konnte die Momente an einer Hand abzählen, und dennoch hatte ich seine Grenzen immer akzeptiert. Der Schmerz, der seine Züge entstellte, wenn ich mich nach einem der beiden erkundigte, war Anlass genug, um meinen Fragen ein Ende zu bereiten.

Ich hatte nicht einmal gewusst, dass Papas Bruder in Venedig lebte. Irgendetwas war faul. Nichts ergab einen Sinn. Die Tatsache, dass sein Körper in Venedig gefunden worden war, obwohl mein Vater mir erzählt hatte, er hätte Arbeit in Ferrara zu erledigen. Er hatte eindeutig Ferrara gesagt. Papa log mich nie an. Er blieb still, wenn er über eine Sache nicht reden wollte oder konnte, wenn er der Meinung war, ich könne die Wahrheit nicht verkraften. Schweigen ja. Lügen niemals. Das war unsere unausgesprochene Abmachung.

Dann das mit der Obduktion. Wie lange konnte es dauern, einen Körper auseinanderzunehmen und die Todesursache festzustellen? Die Polizistin hatte etwas von Raubüberfall gesagt, nicht wahr? Diebe gab es in Venedig vermutlich viele, aber wie viele gab es, die töten würden? Und dann ausgerechnet meinen Vater, der nun wirklich nicht herumlief wie jemand, der Kohle besaß.

Ich war nicht die Einzige, die an eine Verschwörung glaubte. Noemi und Speranza war das alles auch nicht geheuer, ich sah es in ihren Gesichtsausdrücken und hörte es in ihren geflüsterten Gesprächen, die verstummten, sobald ich den Raum betrat. Sie wollten mich nur nicht beunruhigen, indem sie ihre Zweifel vor mir äußerten.

Und dann die Karten. Als wäre meine letzte Legung nicht schon Beweis genug, dass etwas gehörig schieflief.

»Ich werde nicht aufhören«, flüsterte ich in die Dunkelheit. »Ich werde nicht aufhören, bis ich die Wahrheit kenne, Papa. Du hast es mir nicht einfach gemacht.«

Draußen zerriss ein gewaltiges Donnern die Luft, und schon bald schlugen erbarmungslose Regentropfen auf meine Fenster ein. Der Himmel verstand. Vielleicht war es auch mein Vater.

Es war mein Versprechen. Es war eine Drohung. Aber vor allen Dingen war es der letzte Strang, an dem ich mich festklammerte, weil ich wusste, wenn ich einmal losließ und fiel, würde ich nie wieder hochkommen.

Unwillkürlich wanderten meine Gedanken zu dem Davor. Wie ich mich morgens von Papa verabschiedet hatte, mit vom Schlaf verklebten Augen und einer heißen Kaffeetasse in der Hand. Wie er mir einen Kuss auf die Schläfe gedrückt hatte. Was waren seine letzten Worte an mich gewesen?

Ich presste meine Augen fest zu, als könnte ich damit die Erinnerung beschwören, klarer zu werden. Hatte er anders als sonst gewirkt? Beunruhigt vielleicht?

Es war zwecklos. Dieser Morgen hatte sich zu wenig von den tausend anderen unterschieden, um besonders hervorzustechen. Papa, der für ein Interview oder eine Reportage wegfuhr – diese Szene war mir genauso vertraut wie seine darauffolgende Rückkehr. An seinem Blick konnte ich jedes Mal schon abschätzen, ob die Reise erfolgreich gewesen war oder nicht, noch bevor er etwas sagte. Ob er die spannenden Geschichten aus den Menschen herausgekitzelt oder nur langweiligen Mist erfahren hatte und daraus nun mühsam etwas Lesbares formen musste. Seine Augen hatten diesen ganz besonderen Schimmer, wenn er etwas Gutes herausgefunden hatte. Ich nahm an, meine hatten den gleichen, wenn ich über Tarot sprach – was in seiner Gegenwart ein absolutes Tabu war.

Venedig. Tarot. Abschied. Rückkehr. Nein, nein, nein. Irgendetwas stimmte nicht. An seinem Abschied war nichts anders als sonst gewesen, oder ich war zu abgelenkt gewesen, um es zu bemerken. Ein anderer Hinweis musste her. Die Karten hatten mich gewarnt, doch es war zu spät gewesen. Hatte ich zuvor eine Warnung übersehen?

Eine Weile lag ich völlig verkrampft auf der Matratze und versuchte jedes Detail vor Papas Abfahrt heraufzubeschwören. Es war ein Rätsel. Genau wie die Frau vor unserem Haus. Ich musste es wie ein Rätsel betrachten. So wie Papa die Menschen betrachtete, die er für seine Artikel interviewte. Ein Rätsel, das darauf wartete, gelöst zu werden. Noemi und Speranza würden sich nicht darum kümmern, auch wenn sie etwas Böses ahnten. Sie würden sich nicht einmischen. Ich musste es allein in die Hand nehmen.

Ich öffnete die Augen und schwang mich vom Bett, dann schnappte ich mir mein Handy und schaltete die Taschenlampe ein. Auf Zehenspitzen verließ ich mein Zimmer und schlich über den Flur, wobei ich darauf achtete, dass ich den besonders laut knarzenden Stellen auswich. Noemi und Speranza schliefen unten im Wohnzimmer und sollten nichts von meiner Erkundungstour mitbekommen. Mit angehaltenem Atem schlüpfte ich in Papas Arbeitszimmer und zog die Tür hinter mir zu, ehe ich den Lichtschalter betätigte.

Der vertraute Geruch ließ mich für einen Augenblick schwanken. Ich war weder hier noch in Papas Schlafzimmer gewesen, seit er weg war. Ein paar Mal atmete ich tief ein und wieder aus, bis die Taubheit vollständig übernahm und mich in köstliche Kälte hüllte.

Es sah aus wie immer. Bücher über Bücher. Zerfledderte Ordner, einzelne Blätter, die kreuz und quer herumlagen. Ordnung war hier ein Fremdwort.

Ich legte mein Handy beiseite und machte mich an die Arbeit. Der Regen prasselte unaufhörlich gegen die Scheiben. Irgendwann spürte ich ein Prickeln in meinem Nacken, und die feinen Härchen dort stellten sich auf. Das ungute Gefühl, beobachtet zu werden, lähmte mich für einen Moment. Ich sprang auf, ließ dabei den Ordner voller wirrer Notizen, den ich gerade durchforstet hatte, fallen, lief zu den Fenstern und zog die dicken Gardinen vor. Draußen war nichts als Finsternis zu erkennen.

»Wenn du mich unbedingt beobachten wolltest, Papa, hättest du dir das mit Venedig zweimal überlegen sollen«, zischte ich. Die Wut auf ihn, auf die Lüge mit Ferrara und sein bescheuertes Testament, half mir dabei, einen kühlen Kopf zu bewahren. Das war schon immer so gewesen. Wenn ich wütend war, fiel es mir nicht schwer, Entscheidungen zu treffen. Wut war so viel einfacher als Schmerz.

Doch als mein Blick auf den verstaubten schwarz-goldenen Globus im Bücherregal traf, war meine Wut plötzlich wie weggefegt. Ich hörte die Stimme meines Vaters in meinem Ohr, als stünde er direkt neben mir.

Das ist unser Geheimversteck, ja? Aber du darfst erst darin nachsehen, wenn du mich wirklich, wirklich schlimm vermisst und es dir unerträglich vorkommt. Nicht einfach so aus Langeweile, ja? Versprich es mir.

Natürlich hatte ich es versprochen. Ich las ihm ja jeden Wunsch von den Augen ab. Und ich hatte mich daran gehalten – Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Ich hatte erst im Inneren des Globus nachgesehen, wenn es wirklich nicht anders ging.

Wann hatten die Botschaften aufgehört? Als ich vierzehn geworden war? Fünfzehn? Mit großer Sicherheit war ich schuld daran gewesen, weil ich mich über ihn lustig gemacht hatte. Ich bin kein Baby mehr, Papa, hatte ich gesagt. Ich halt’s schon ein paar Tage ohne dich aus, auch ohne einen Brief.

Vermisst hatte ich ihn trotzdem jedes Mal aufs Neue. Genau wie seine kleinen Nachrichten, doch das hatte ich ihm nie erzählt.

Wie in Zeitlupe bewegte ich mich aufs Regal zu.

Beruhig dich. Es ist Jahre her, dass er dir etwas hinterlassen hat. Wieso sollte er es ausgerechnet jetzt tun?

Vielleicht, weil nichts mehr in meinem Leben Sinn ergab. Vielleicht, weil er einen Grund für das alles hatte. Vielleicht, weil er wollte, dass ich ihn herausfand.

Ich umfasste den Globus. Meine Finger zitterten, ich wusste nicht, ob vor Angst oder vor Aufregung. Ganz vorsichtig tastete ich auf der Unterseite nach der großen Scherbe, die herausgebrochen war, als ich das Teil mal versehentlich beim Abstauben fallen gelassen hatte. Sie war nur lose mit zwei Klebestreifen befestigt, damit wir sie rausnehmen und wieder reindrücken konnten. Meine Hand war nicht mehr so klein wie damals, aber sie würde gerade so durch die Öffnung passen.

Behutsam entfernte ich die Klebestreifen, und die Scherbe fiel in meine Handfläche.

Nicht nur die Scherbe.

Für eine halbe Ewigkeit starrte ich auf meine Hand, ohne mich zu bewegen oder zu atmen. Dort lag ein Zettel. Ein kleiner, gelber, zusammengefalteter Zettel. Wie in alten Zeiten. Es war eines der großen Post-its, die er immer für seine Notizen verwendete.

Ich war mir sicher, hätte mich die Taubheit nicht fest im Griff, wären mir spätestens jetzt die Tränen in die Augen gestiegen.

Es dauerte etliche Sekunden, bis ich es schaffte, das Papier auseinanderzufalten. Und das, obwohl meine Finger nicht mehr zitterten. Ich war komplett ruhig. Ich wollte nur nichts überstürzen. Das hier war alles, was mir blieb. Es war mein erster und gleichzeitig letzter Hinweis von Papa, den ich für die Lösung des Rätsels benötigte.

Reiß dich zusammen. Es sind nur Worte.

Nur seine letzten Worte an mich.

Giulietta –

komme, was wolle, halte dich von Venedig und Tarotkarten fern. Versprich es mir. Wir sehen uns in zwei Tagen.

In Liebe,

Papa

Seine Schrift wirkte unordentlicher als sonst, so als hätte er die Botschaft geistesabwesend geschrieben, während er mit jemandem gesprochen hatte, oder als hätte er es eilig gehabt.

Mein Herz raste so schnell, dass mir übel wurde.

Versprich es mir.

Ich sank in die Knie und hielt mir das Papier so nah vors Gesicht, dass die Buchstaben verschwammen.

Wir sehen uns in zwei Tagen.

»Du willst ein Versprechen, Papa?«, wisperte ich, sobald ich meine Stimme wiederfand. »Nachdem du deines gebrochen hast?«

Im Haus war es so still, dass ich nichts als meinen eigenen, viel zu schnellen Herzschlag hörte.

Keine Ahnung, wie lange ich so dasaß. Auf dem Fußboden zwischen Ordnern und Büchern und Notizzetteln und mit Papas Worten zwischen meinen Fingern. Die Zeit flog an mir vorbei.

Doch als ein goldroter Lichtstreifen an der Gardine vorbei ins Zimmer fiel und ein neuer Tag anbrach, wusste ich, was ich zu tun hatte.

Zum ersten Mal, seit Papa sich von mir verabschiedet hatte, wusste ich es ganz genau.

KAPITEL2Die schönste Stadt der Welt

»Du kannst es dir immer noch anders überlegen, Giulietta. Es ist nicht zu spät.«

Ich ließ mich in eine feste Umarmung ziehen und legte mein Kinn für einen Augenblick auf Noemis knochiger Schulter ab. Rovigos Bahnhof war wie ausgestorben. Nur zwei Backpacker standen neben uns am Gleis und machten den Eindruck, als bereuten sie bereits ihren Entschluss, mitten im Januar ausgerechnet in dieses jämmerliche Abbild einer norditalienischen Stadt gekommen zu sein. Aus den Lautsprechern tönte eine knarzende Ansagestimme, die es einem unmöglich machte, mehr als ein paar Fetzen zu verstehen.

»Es ist alles in Ordnung«, versicherte ich Noemi. »Ich werde es mir nicht anders überlegen.«

Speranza strich mir über den Rücken. Ich drehte das Gesicht in ihre Richtung und versuchte ein Lächeln, versuchte, nicht vor ihrer Berührung zurückzuzucken.

»Sobald es einen Termin für die Beerdigung gibt, rufst du uns an und wir setzen uns in den nächsten Zug, ja?«

Ich rang mir ein Nicken ab.

»Und danach nehmen wir dich wieder mit nach Hause«, fügte Noemi mit zitternder Stimme hinzu.

Sosehr sie mir immer eingebläut hatte, ich dürfte nicht auf ewig in unserem Dorf vor mich hin vegetieren, so sehr sträubte sie sich jetzt gegen meine Abreise.

Ich erwiderte nichts, sondern löste mich aus ihrer Umarmung und umfasste den Griff meines Koffers. Wir führten diese Diskussion nicht zum ersten Mal. Eigentlich waren es nur die beiden, die diskutierten. Natürlich hatte auch ich einiges zu dem Thema zu sagen und das tat ich auch – zu Papa. In meinen Gedanken schrie ich ihn mehrmals täglich an. Von der Nachricht wussten Noemi und Speranza nichts. Sie hätte sie nur unnötig beunruhigt.

Drei Tage waren seitdem vergangen. Drei Tage, in denen mein Plan sich verfestigt hatte.

Aus irgendeinem Grund gab es immer noch keine Neuigkeiten zu Papas Leichnam. Ich schämte mich für die Erleichterung, die mich jeden Abend durchflutete, wenn weitere vierundzwanzig Stunden vergangen waren. Papa und ich standen gerade auf Kriegsfuß, aber das bedeutete nicht, dass ich bereit war, mich zu verabschieden.

»Es tut mir leid«, flüsterte ich in Speranzas weiches Haar. Wenn ich eines von meinem Vater gelernt hatte, dann das. Niemals, unter keinen Umständen, durfte man mit einem geliebten Menschen im Streit auseinandergehen. »Dass ich so unausstehlich war. Ich wollte nicht … also, es hatte nichts mit dir zu tun.«

Speranza schob mich ein Stück von sich weg. Ich wich ihrem Blick aus. »Hey. Schau mich an.«

Widerstrebend gehorchte ich. Zu meiner Überraschung glänzten ihre Augen hinter der Hornbrille nicht. Ihr Blick war klar und fest. »Du musst dich für überhaupt nichts entschuldigen, ist das klar?«

Ich nickte, auch wenn ich anderer Meinung war.

Sie kramte etwas aus ihrer Jackentasche hervor und hielt es mir hin. »Ich weiß nicht, ob du noch etwas damit zu tun haben möchtest. Wir verstehen, wenn du sie verbrennen oder wegschmeißen willst. Das ist dein gutes Recht, vor allem, weil Lorenzo …« Ihre Stimme verlor sich im Donnern des näher kommenden Zuges.

Noemi räusperte sich. »Wir haben gedacht, sie könnten dir eines Tages Trost spenden. Falls das nicht der Fall sein sollte, steht es dir selbstverständlich frei, sie zu entsorgen.«

Halte dich von Venedig und Tarotkarten fern.

Meine Finger fuhren über die pastellblaue Seide. Ein paar Sekunden lang hatte ich Angst, meine Beine würden nachgeben. Hastig wandte ich den Blick ab, bevor ich die Illustrationen unter dem Stoff erkennen konnte.

Seit jener Nacht hatten wir kein Wort mehr über die Karten verloren. Es reichte, dass sie mich in meinen Träumen heimsuchten.

Wenn ich schon gegen Papas ersten Wunsch verstieß, würde der zweite Verstoß auch keinen großen Unterschied mehr machen, nicht wahr?

Ich nickte und beugte mich hinunter, um das Bündel in meinem Lederrucksack zu verstauen. Als ich mich wieder aufrichtete, hatte ich meine Mimik unter Kontrolle und brachte ein Nicken zustande. »Danke.« In dem Wort lag alles, was ich niemals ausdrücken konnte. Es war nicht annähernd genug. »Ich weiß nicht, was ich ohne euch tun würde. Ich …«

»Du kannst uns jederzeit anrufen«, unterbrach mich Noemi. Ihre Finger strichen fahrig über den Reißverschluss ihrer Jacke, und sie konnte mir nicht richtig in die Augen sehen. »Ich versuche diesen Vincenzo seit Tagen zu erreichen, aber er ist wohl schwer beschäftigt. Wir werden nie zu beschäftigt für dich sein, merk dir das. Auch wenn du mitten in der Nacht das Bedürfnis hast, mit jemandem zu sprechen – ruf einfach an.«

»Okay.«

»Versprochen?«

»Versprochen.«

Ratternd kam der Zug vor uns zum Stehen. Mit einem lang gezogenen Quietschen öffneten sich die Türen im vorderen Abteil, heraus traten nur fünf Leute.

Ein letztes Mal die Wärme ihrer Umarmungen, ein letztes Mal der vertraute Geruch von Lavendel, Jasmin und Orangenblüten. Ich blinzelte, aber keine Chance: Meine Augen blieben trocken. Selbst als ich mit ihrer Hilfe den großen Koffer in den Zug hievte und mir einen Fensterplatz suchte, nachdem mir ein schlaksiger Kerl Mitte zwanzig geholfen hatte, ihn über den Sitzen zu verstauen. Oder als ich meine Nase an das angelaufene Fensterglas presste und jedes Detail aufsaugte. Speranza, klein und rundlich, mit Sorgenfalten auf der Stirn und nichts als Liebe im Blick. Noemi, schlank und zwei Köpfe größer, das sonst so ernste Gesicht von Wehmut weichgezeichnet. Ohne sich anzusehen, tasteten sie nach der Hand der anderen, während der Zug sich nach einer kurzen Durchsage in Bewegung setzte. Ihre ineinander verschlungenen Finger waren das Letzte, was ich sah, bevor das Grau des Bahnsteigs und die Farbtupfer ihrer bunten Winterjacken vor meinen Augen verwischten.

Ich lehnte mich im Sitz zurück und schlang die Arme um mich selbst. In meiner Tasche befand sich das Zugticket, das mein Onkel mir zukommen lassen hatte.

Mein Onkel, bei dem ich mir selbst jetzt noch nicht ganz sicher war, ob er wirklich existierte. Ich hatte bisher kein einziges Wort mit ihm gewechselt, obwohl sowohl ich als auch Noemi versucht hatten, ihn unter der Nummer zu erreichen, die der Notar uns hinterlassen hatte. Einmal hatten wir seine Sekretärin erwischt, die mir ihr herzliches Beileid aussprach und versicherte, dass mein Onkel sich sehr auf meine Ankunft in Venedig freute und mich am Bahnhof abholen würde.

Speranza und Noemi waren beide überrascht gewesen, dass ich mich widerstandslos dazu bereit erklärte, meinen Vater in Venedig zu beerdigen, doch sie hüteten sich, mir Zweifel einzureden. Die beiden wollten nur mein Bestes. Sie ahnten nicht, dass die Beerdigung die kleinste meiner Sorgen war. Ich hatte einen Plan. Er war nicht besonders durchdacht, doch er war meine einzige Chance.

Schritt eins: meinen Onkel zur Rede stellen und so viele Informationen wie möglich aus ihm herauspressen.