City of Elements 2. Die Kraft der Erde - Nena Tramountani - E-Book + Hörbuch

City of Elements 2. Die Kraft der Erde E-Book und Hörbuch

Nena Tramountani

4,7

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Beschreibung

"Und du weißt ganz genau, dass ich jedes Mal einen halben Herzinfarkt bekomme, wenn du dich in Gefahr begibst." "Es tut mir leid, aber es geht hier nicht um dich", presste ich hervor. "Und ob. Unsere Leben sind miteinander verbunden, ob es dir passt oder nicht." Kias Gabe bringt sie an die Grenze zwischen Leben und Tod. Trotzdem übt sie sie heimlich immer wieder aus. Sie muss sie endlich vollständig verstehen – bevor es die Omilia tut, die alles daransetzt, Kia ihr Geheimnis zu entlocken. Um sie zu unterstützen, wie Nero sagt. Als Vertrauensbeweis bringt er sie zu ihren leiblichen Eltern, die ihr Dasein in einem Sanatorium fristen. Hat ihre verbotene Liebe sie wirklich wahnsinnig werden lassen? William und Kia wollen die Wahrheit herausfinden und bekommen dabei Hilfe von unerwarteter Seite. Ihre Suche führt sie tief unter die Erde – und in die Untiefen ihrer Herzen: Wie sicher kann Kia sich sein, dass Wills Gefühle für sie echt sind, wenn er als ihr Inventi doch immer ihre eigenen spiegelt? Band 2: mitreißend, temporeich, prickelnd. Romantasy at its best!

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Seitenzahl: 447

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Zeit:10 Std. 40 min

Sprecher:Marie Bierstedt
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Mabero

Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

Genauso spannend wie der erste Teil, ich kann es nur jedem empfehlen der Fantasy mag.
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Beliebtheit




Über dieses Buch

»Du weißt genau, dass ich einen Herzinfarkt bekomme, wenn du dich in Gefahr begibst.«

»Es tut mir leid, aber es geht hier nicht um dich«, presste ich hervor.

»Und ob. Unsere Leben sind miteinander verbunden, ob es dir passt oder nicht.«

 

Kias Gabe bringt sie an die Grenze zwischen Leben und Tod. Trotzdem übt sie sie heimlich immer wieder aus. Sie muss sie endlich vollständig verstehen – bevor es die Omilia tut, die alles daransetzt, Kia ihr Geheimnis zu entlocken. Um sie zu unterstützen, wie Nero sagt.

Als Vertrauensbeweis bringt er sie zu ihren leiblichen Eltern, die ihr Dasein in einem Sanatorium fristen. Hat ihre verbotene Liebe sie wirklich wahnsinnig werden lassen? William und Kia wollen die Wahrheit herausfinden und bekommen dabei Hilfe von unerwarteter Seite. Ihre Suche führt sie tief unter die Erde – und in die Untiefen ihrer Herzen: Wie sicher kann Kia sich sein, dass Wills Gefühle für sie echt sind, wenn er als ihr Inventi doch immer ihre eigenen spiegelt?

 

Band 2: mitreißend, temporeich, prickelnd.

Romantasy at its best!

 

 

 

Für Effi. Weil du mich in all meinen Parallelwelten begleitest.

EINSOrpiment

Damals

»Schönen Feierabend, Kia! Und jetzt beweg deinen Allerwertesten in den Park. Ich hab Neuigkeiten.«

Grinsend stieß ich die Glastür der Whitewall Galleries auf und streckte mein Gesicht in die Sonne, das Handy am Ohr. »Bin schon auf dem Sprung. Wehe, ihr fangt ohne mich an.«

Leos gackerndes Lachen im Hintergrund verriet mir, dass diese Drohung zu spät kam.

»Her mit dir!«, rief Sophia mit einem leichten Lallen in der Stimme, bevor sie den Anruf beendete.

Wir hatten Mitte August, und obwohl es nach acht war, flimmerte die Hitze des Tages noch in den Straßenecken. Jeder Tag war voller Möglichkeiten. Wir waren endlich nach Leeds gezogen, wir hatten es geschafft, wir waren unbesiegbar. Nicht mal der Gedanke an meine Eltern konnte diese Gewissheit trüben.

Obwohl meine Schicht todlangweilig gewesen war – wer ging bei den Temperaturen schon ins Kunstmuseum?! –, war ich den ganzen Tag über voller Energie gewesen. Es gab nichts Besseres, als mit meinen Freunden um die Häuser zu ziehen, jetzt, da wir alle mit der Schule fertig waren, aber noch nicht mit dem Studium begonnen hatten.

Ich trat auf die erste Stufe.

Irgendwo hatte ich mal gelesen, dass einem Menschen nur dann so viel Glück gegeben wird, wenn er auf ein großes Unheil vorbereitet werden soll.

Noch eine Stufe.

Wenn ihm anschließend etwas genommen wird.

Vor mir saß ein zusammengekauerter junger Mann auf der Steintreppe. Ich beschleunigte meine Schritte.

Mein Unheil besaß zwei Beine und ein Lächeln, das meiner besten Freundin von der ersten Sekunde an den Kopf verdrehte.

Hatte der Typ etwas eingeschmissen? Er sah nicht obdachlos aus, dafür war seine Kleidung zu hochwertig, doch seine Augen waren knallrot. Konnte ich einfach weitergehen? Ich war eh schon zu spät. Aber was, wenn ihm etwas fehlte?

Ich warf einen Blick hinter mich. Niemand zu sehen.

In dem Moment ertönte ein ersticktes Schluchzen, und aus einem Reflex heraus ließ ich mich neben ihn auf die letzte Stufe fallen. Je länger ich ihn betrachtete, desto mehr verflüchtigte sich die Vermutung mit den Drogen. Er war komplett nüchtern. Und am Boden zerstört. Ich redete auf ihn ein, fragte, ob ich Hilfe holen sollte. Was mit ihm los war.

»Sie ist tot«, brachte er hervor, während er am ganzen Leib zitterte und Tränen ihm über die Wangen liefen. »Meine Mum ist tot.«

Der Schock lähmte mich, aber ich zwang mich, weiterzusprechen. Ich konnte ihn doch jetzt nicht alleine lassen. Er war völlig durch den Wind.

Nachdem wir eine Weile miteinander gesprochen hatten und ich ihm meine Nummer aufschrieb, falls er jemanden zum Reden brauchte, hob er den Kopf und sah mich aus blutunterlaufenen Augen an – zum ersten Mal schien er mich richtig wahrzunehmen. Sie waren schwarz wie Kohle, genauso schwarz wie seine schulterlangen Haare.

Plötzlich wirkte er bestürzt. Er sprang auf, den Fetzen Papier mit meiner Handynummer in der Hand. »Sorry, ich wollte dich nicht belästigen«, murmelte er, obwohl ich diejenige war, die ihn angesprochen hatte. Abrupt wandte er sich um und verschwand. Ich hatte ihn nicht mal nach seinem Namen gefragt – nur das Tattoo auf seinem Unterarm blieb mir im Gedächtnis: ein nach oben geöffneter Kreisel. In Gedenken an seine Mutter, hatte er unter Schluchzern gesagt.

Ich stand auf. Meine Freunde warteten schon viel zu lange auf mich.

Sophias Neuigkeiten lenkten mich ab und vertrieben den Gedanken an den Fremden. Sie hatte jemanden kennengelernt. Das war an sich nichts Ungewöhnliches, aber die Art, wie sie über ihn sprach … Ich hatte sie noch nie zuvor so über einen Kerl reden hören, und ich kannte sie seit dem Kindergarten, also wusste ich sofort, dass es ihr ernst war. Sie zeigte mir ein verschwommenes Profilbild von ihm, auf dem man ihn kaum erkannte, und erzählte mir von seinem ungewöhnlichen indianischen Namen: Niyol.

Ein paar Wochen später stellte sie ihn mir vor, als Leo, Ellie und sie mich nach meiner Schicht in der Bar abholten. Er sah deutlich besser aus – eine gesündere Hautfarbe, keine blutunterlaufenen Augen mehr, aber ich erkannte ihn trotzdem sofort als den vollkommen aufgelösten Typen von den Stufen vor der Galerie. Sein schwarzes, zum Man Bun gebundenes Haar glänzte, und er hatte einen Dreitagebart, mit dem er verdammt gut aussah. Sophia war schon ziemlich angetrunken und bemerkte vor lauter Freude darüber, dass wir ihn endlich kennenlernten, meine Reaktion nicht. Er tat so, als hätte er mich noch nie gesehen, und ich war zu überrascht, um etwas zu sagen. Später, als alle beim Tanzen waren, nahm er mich beiseite und bat mich, ihr nichts von unserem Zusammentreffen zu erzählen.

»Ich weiß, es ist viel verlangt«, sagte er, als er meinen misstrauischen Blick sah. »Aber ich habe keine Lust, vor ihr dieser Mensch zu sein. Wenn die Zeit reif ist und wir uns ein bisschen besser kennen, dann werde ich ihr davon erzählen. So lange ist es meine Sache.« Er klang aufrichtig, und obwohl ich ein komisches Gefühl dabei hatte, irgendetwas vor meiner besten Freundin geheim zu halten, willigte ich ein. Er hatte ja recht – es war seine Sache, wann er ihr davon erzählte. Also entspannte ich mich und versuchte, mich zu amüsieren.

Nur sollte sich herausstellen, dass er das nie tat. Während Sophia mit der Zeit immer glücklicher mit ihm wurde, fing er an, mir zu schreiben. Am Anfang waren es nur kurze Nachrichten, die er nicht einmal konkret an mich richtete. Es klang eher so, als müsste er sich seine Gedanken einfach von der Seele reden. Ich unterdrückte jedes Mal das Bedürfnis, ihm zu schreiben, er solle bitte damit aufhören, denn letztendlich hatte ich zu viel Mitleid, wenn er davon erzählte, wie leer seine Wohnung war und wie er manchmal nachts aus seinen Träumen aufschreckte und für ein paar Sekunden dachte, dass seine Mutter noch am Leben war.

Mit jeder Nachricht überschritt er aufs Neue eine unsichtbare Grenze. Weil er mir diese Dinge schilderte, nicht Sophia, obwohl sie diejenige war, die er vor meinen Augen leidenschaftlich küsste, mit der er auf Dates ging, in deren Bett er schlief. Es wurde immer seltsamer. Wenn wir alle zusammen feiern gingen, sah er mich an, während er sie im Arm hielt. Wenn ich morgens ins Bad lief und er in der Küche Kaffee kochte, nachdem er mal wieder eine Nacht in unserer WG verbracht hatte, zwang ich mich, bedeutungslosen Small Talk zu führen, obwohl ich über seine dunkelsten Abgründe Bescheid wusste.

Und immer war da dieser Blick. Dieser verfluchte Blick, mit dem mich noch nie jemand angesehen hatte.

Irgendwann ertappte ich mich dabei, wie ich bewusst zu viel trank, um ihm ohne schlechtes Gewissen auf seine Nachrichten zu antworten oder ihn mitten in der Nacht anzurufen, wenn ich wusste, dass er gerade nicht mit Sophia zusammen war. Aus diesen Antworten wurden stundenlange Telefonate, und schließlich wurden Treffen daraus. Wir taten nichts, wir redeten nur. Doch jedes Mal, nachdem ich seine Wohnung verlassen hatte, konnte ich es nicht ertragen, Sophia in die Augen zu sehen. Ich hatte Gewissensbisse, war mir sicher, sie könnte mir meinen Verrat an der Nasenspitze ansehen, immerhin waren wir wie Schwestern. Aber weder sie noch Leo oder Ellie schöpften Verdacht, auch wenn ihnen mit der Zeit auffiel, dass ich mich seltsam gegenüber Niyol verhielt. Sophia fragte mich sogar, was ich denn gegen ihn hätte und was sie tun könnte, um mich davon zu überzeugen, was für ein toller Kerl er war. Ich ließ mir eine dumme Ausrede einfallen und starb innerlich ein bisschen. Ich musste das mit ihm sofort beenden, was auch immer »das« war. Noch am selben Abend teilte ich ihm meine Entscheidung mit, während Sophia unter der Dusche stand.

Er sagte nichts, er sah mich einfach an, aus diesen dunklen, tiefen Augen, und dann, als ich mich endlich losreißen konnte und die Wohnung zu meiner eigenen Sicherheit verlassen wollte, weil ich es nicht ertrug, sie zusammen zu sehen, da zog er mich an sich und küsste mich. Und das Schlimmste war nicht, dass ich mich nicht wehrte. Das Schlimmste war, dass ich mir wünschte, er würde nie, nie wieder damit aufhören.

Von diesem Moment an war ich verloren.

Ich wich zurück, keine Sekunde zu früh, denn ich hörte schon das Badezimmerschloss. Als ich ohne ein richtiges Ziel durch die Straßen lief, drehte sich alles in meinem Kopf, und ich fühlte mich wie der schlimmste Mensch auf Erden. Da war allerdings noch eine andere Emotion – es fühlte sich an wie ein Rausch. Was seine Berührungen und sein Blick in mir hervorriefen, hatte ich noch nie zuvor so heftig gespürt. Trotzdem rief ich ihn später an und verfluchte ihn, fragte, ob er denn kein schlechtes Gewissen Sophia gegenüber hatte.

»Ich bin verliebt in sie«, sagte er. »Ich will sie nicht verletzen, aber dass zwischen dir und mir etwas ist, das sich nicht erklären lässt, kannst du nicht leugnen. Ich kann mich nicht mehr dagegen wehren.«

Das war es – das reichte aus, um mich naives, blindes, selbstsüchtiges Mädchen für ein paar weitere Tage in den Abgrund stürzen zu lassen. Es reichte aus, um mein Gewissen, all meine Moralvorstellungen und meine Prinzipien lahmzulegen.

Als Sophia für eine Familienfeier übers Wochenende bei ihren Eltern in Morley war, willigte ich ein, mich mit Niyol in einem Club außerhalb der Stadt zu treffen, ein Ort, von dem wir wussten, dass uns dort niemand kennen würde. Diese Nacht veränderte alles. Nicht nur, weil sie so verdammt perfekt war, sondern weil sie mir zeigte, was für eine Macht er über mich hatte. Wozu er mich bringen konnte. Ich folgte ihm in seine Wohnung, und es kam, wie es kommen musste. Als ich im Morgengrauen heulend nach Hause lief, wusste ich, dass er es nie beenden würde. Nicht mit Sophia und nicht mit mir. Deshalb traf ich eine Entscheidung, obwohl ich wusste, die Konsequenzen würden mein Leben verändern.

Sobald Sophia zurück in unsere WG kam, nahm ich meinen Mut zusammen und beichtete ihr alles. Sie ließ mich ausreden, kein einziges Mal unterbrach sie mich. Weder Geschrei noch Beschimpfungen folgten.

»Hör auf zu weinen«, sagte sie, als ich mit der ganzen furchtbaren Geschichte fertig war. Dann fing sie selbst damit an. Tränen liefen ihr über die Wangen, doch sie gab keinen Laut von sich. Die ganze Nacht hörte ich sie packen, während ich schlaflos in meinem Bett lag. Am nächsten Morgen kamen Ellie und Leo, um ihr beim Auszug zu helfen. Und ich hatte es immer noch nicht geschafft, mit dem Weinen aufzuhören.

Heute

Ich hielt die Luft an und tauchte meinen Kopf unter Wasser. Meine Haut war aufgeweicht, doch die erhoffte Entspannung war bislang ausgeblieben. Ich hatte das warme Bett verlassen und mir ein Bad eingelassen, weil ich einfach keine Ruhe fand.

Das warme Bett, in das Will und ich gestern völlig fertig gefallen waren, nachdem wir zum Haus bei den Ydor zurückgekehrt waren.

Kein Wunder, dass ich kein Auge zugetan hatte. Es war nicht nur seine Nähe, die mich in heillose Verwirrung stürzte, auch wenn sie ganz bestimmt dazu beitrug. In meinen Gedanken spielten sich immer wieder die Ereignisse der letzten Tage ab: Entführung. Visionen. Evelyn. Elemente. Adoptiveltern. Wasserfall. Zeitsprung. Autofahrt. Beerdigung. Abschied. Will. Die Insel. Niyol.

Das Gefühl, als ich aus meinem Fenster kletterte. Dann nur Stunden später meine Wohnung in den Nachrichten brennen zu sehen. Stück für Stück die Kontrolle über mein Leben zu verlieren. Neue Menschen kennenzulernen. Die Bedeutung von »Inventi« wirklich zu spüren.

Das Badewannenwasser brannte in meinen aufgerissenen Augen. Wollten wir doch mal sehen, ob ich meinem Talent nicht auf die Schliche kommen konnte! Durch mein Abtauchen bildeten sich Bläschen an der Oberfläche und verteilten sich fluchtartig, bis sie sich vollständig auflösten. Ich zählte innerlich bis zehn. Benommenheit ergriff mich, während der Sauerstoff immer knapper wurde.

Will würde stinksauer sein.

Natürlich wollte ein Teil von mir zurück zu Sophia in unsere alte Wohnküche. In eine Welt, in der meine Eltern und meine besten Freunde mich nicht tot glaubten.

Aber ich hatte noch immer keine Ahnung, wie genau das mit den Visionen funktionierte und was ich die letzten beiden Male gesehen hatte.

Ich presste meine Augen zu, als es immer anstrengender wurde, dem Bedürfnis nach Sauerstoff zu widerstehen. Mit einer Hand krallte ich mich am kalten Wannenrand fest, die andere war um den silbernen, kunstvoll gefertigten Hahn geklammert.

Ablenken. Ich musste mich ablenken.

Niyol, wie er zusammen mit Aria auf dem Dach stand, erschien vor mir. Seine schwarz glänzenden Haare im aufbrausenden Wind.

Die Erinnerung peitschte glühende Hitze durch meine Adern. Er war es wirklich gewesen. Wohlauf und unbeschwert, ohne zu ahnen, dass ich mich nur wenige Meter von ihm entfernt befand. Wie stand er mit der Ältesten der Pnoe in Verbindung? Hatte sie ihn mit der verantwortungsvollen Aufgabe vertraut, nach Leeds zu gehen, weil sie verwandt waren?

Wie hatte ich nur so dämlich sein können? Niyol war nicht zufällig in mein Leben getreten, oder? Wer wusste schon, ob seine Mutter wirklich gestorben war oder ob er nach einem Grund gesucht hatte, mein Mitleid zu erregen. Hatte er sich Sophia gezielt ausgesucht und mit ihr gespielt?

Schlagartig wurde mir schlecht. Wie ihre Augen immer gestrahlt hatten, wenn sie von ihm erzählte!

In knappen Sätzen hatte ich Will vorhin geschildert, wer dieser Typ auf dem Dach gegenüber war, während er mich nach unten gezerrt hatte. Er hatte nur genickt und war nicht näher darauf eingegangen.

Immerhin war mein Inventi nicht Teil der Verschwörung gewesen und hatte keine Ahnung, dass der größte Fehler meines Lebens offenbar von der Omilia in die Wege geleitet worden war.

Mein Griff lockerte sich, und ich glitt tiefer in die Wanne. Feiner Nebel legte sich über meine Gedanken. Hätte ich vor zwei Wochen gewusst, dass ich einmal in einer gefüllten Wanne liegen und versuchen würde, die Luft bis zur Bewusstlosigkeit anzuhalten, um Zugriff auf etwas zu haben, das sich sowieso nur in meinem Kopf abspielte, wäre ein Sprung aus meinem Fenster keine schlechte Idee gewesen.

Als mein Blickfeld begann, sich mit Schwärze zu füllen, spürte ich fast so etwas wie Erleichterung. Es war ein Geschenk des Himmels, für ein paar Herzschläge meiner Realität zu entfliehen.

Genau in diesem Moment ertönte ein unschönes Reißen. Bevor ich mich’s versah, wurde ich schon an die Oberfläche gezerrt. Von zwei sehr wütenden Händen.

Keuchend saugte ich die Luft ein. Zwang meine Lider auseinander. Alles drehte sich. Zuerst sah ich den mintfarbenen Duschvorhang. Ich hatte ihn zugezogen, bevor ich untergetaucht war. Jetzt lag er zur Hälfte auf den ebenfalls grünen Fliesen – das vordere Stück hing offensichtlich abgerissen von der Stange herunter.

Ganz langsam hob ich den Kopf und wagte einen Blick in das Gesicht meines Retters. Der Zorn, den ich beim Gedanken an Niyol verspürt hatte, spiegelte sich in Wills Gesicht wider. Mal fünfzig.

»Ich konnte nicht schlafen«, brachte ich nach ein paar Sekunden stillschweigendem Starr-Contest hervor. Es sollte verteidigend klingen, leider war nur Schuldbewusstsein in meiner Stimme zu hören.

Sofort war ich mir meiner Nacktheit bewusst. Natürlich hatte ich auch keine Seife in das Wasser gegeben, sodass nicht einmal Schaumberge meinen entblößten Körper abschirmen konnten. Doch meine Sorge war unbegründet, Wills Blick war stur auf mein Gesicht gerichtet, und seine Hände lagen schraubstockfest auf meinen Schultern.

»Kiana Lyberth«, knurrte er. Es war in dieser Situation absolut verrückt, aber ich konnte nicht anders, als auf seine Lippen zu schauen. Die Müdigkeit wahrzunehmen, die die kleinen Furchen unter seinen Augen verrieten. Die Art, wie seine Haare quer in alle Himmelsrichtungen abstanden, weil er nur Sekunden zuvor aus dem Tiefschlaf gerissen worden war. Meinetwegen.

»Willst du mich umbringen?«

Ich seufzte, schlug aber einen versöhnlichen Ton an. »Ich kann nicht einfach tatenlos herumsitzen, also dachte ich …«

»Also dachtest du, du ertränkst dich mal eben in der Badewanne«, vervollständigte er trocken. Ehe ich noch etwas erwidern konnte, ließ er meine Schultern ruckartig los, sodass ich wieder nach hinten rutschte, und erhob sich.

Er griff nach dem erstbesten Handtuch und hielt es mir mit ausgestrecktem Arm hin, während er den Kopf zur Seite wandte.

Ich verdrehte die Augen. Keine Ahnung, ob ich erleichtert sein sollte, dass er meinem Körper im schonungslosen Badezimmerlicht keine Beachtung schenkte, oder ob ich es als Beleidigung auffassen sollte.

Er wartete, bis ich mir das Handtuch um meinen inzwischen zitternden Körper geschlungen hatte, dann drehte er sich mit einem gefährlichen Funkeln in den dunkelblauen Augen zu mir um.

»Kiana«, wiederholte er meinen Namen und trat einen Schritt auf mich zu. »Was mache ich nur mit dir?«

Ich schaute zu ihm auf und musste gegen das Bedürfnis ankämpfen, ihm um den Hals zu fallen. Die Erschöpfung lauerte im Hintergrund, wurde aber durch mein rasendes Herz übertönt.

»Sie haben mich mein ganzes Leben lang manipuliert«, flüsterte ich. »Ich kann nicht einfach so tun, als wäre nichts geschehen! Ich muss mehr herausfinden.«

Mit einem Mal fand seine Hand wieder ihren Weg zu mir, sachte fuhr er mein Gesicht entlang.

»Du wirst alles herausfinden«, murmelte er. Seine Stimme war immer noch belegt vom Schlaf. »Aber nicht jetzt und nicht ohne mich. Du hast genug mitgemacht und brauchst nichts als Ruhe. Schon gar nicht so etwas.« Er nickte zur Badewanne und sah für einen Moment so aus, als wäre ihm schlecht, bevor er seine Mimik wieder unter Kontrolle hatte.

Seine Finger wanderten meinen Hals hinab, und er strich mir über den Arm, bis er an meinem Handgelenk angekommen war. Ich wagte nicht, zu atmen.

»Wovor hast du Angst?«, fragte er plötzlich.

»Angst?«

»Warum kannst du nicht zur Ruhe kommen?«

Oh, um Gottes willen, er spielte auf mein rasendes Herz an. Schnell schüttelte ich seine Hand ab.

Natürlich nützte es nichts, wenn er meinen Puls nicht mehr spüren konnte, er fühlte ja sogar dann alles, was ich fühlte, wenn er sich Kilometer von mir entfernt befand.

Trotzdem drückte ich mich an ihm vorbei, in der Hoffnung, der räumliche Abstand würde dabei helfen, diese Verbindung irgendwie zu kappen.

Ich war nicht einmal die Hälfte der Wendeltreppe hinaufgekommen, da hörte ich schon seine Schritte hinter mir.

»Es tut mir leid, aber ich kann dich das nicht tun lassen. Heute Nacht war schlimm genug.«

Für einen Augenblick schloss ich die Augen. Er rechtfertigte sich. Er dachte, ich wäre sauer auf ihn.

»Du glaubst bestimmt, deine Gabe ist der Grund für alles, was dir passiert ist, und vielleicht stimmt das auch, aber du weißt nicht, wie vollkommen egal mir das im Moment ist. Es geht um dich, verdammt! Du bist auch nur ein Mensch, egal, was der Rest dieser bescheuerten Stadt denkt. Ein Mensch, der seine Grenzen und das Recht auf ein bisschen Seelenfrieden hat.«

Ohne nachzudenken, wirbelte ich auf der Stufe herum. Er stand kaum eine Armlänge von mir entfernt.

»Du musst damit aufhören.«

»Aufhören womit?«

Körperlich und geistig war ich vollkommen ausgelaugt, außerdem spürte er sowieso jede einzelne meiner Regungen. Mir fehlte schlichtweg die Kraft, mir eine Ausrede einfallen zu lassen. »Dinge zu sagen, die mich dazu bringen, dich küssen zu wollen.«

Ich hatte wirklich keine Lust, seine Reaktion zu sehen oder mich mit der ohrenbetäubenden Stille auseinanderzusetzen. Also lief ich geradewegs ins Schlafzimmer und tauschte das Handtuch, so schnell ich konnte, gegen einen frischen Pyjama.

Kopfschüttelnd verharrte ich vor dem Fenster und betrachtete die Stadt, die sich unter dem wolkenverhangenen Himmel ausdehnte. Wie war ich bloß hier gelandet? Noch vor ein paar Tagen hatte ich ein komplett anderes Leben in Leeds geführt, jetzt war ich in dieser Stadt, die mich noch an den Rand des Wahnsinns treiben würde.

Bevor ich den wenig erfreulichen Gedanken weiter ausführen konnte, nahm ich Wills Anwesenheit wahr.

Er trat hinter mich und holte tief Luft. »Wir beide … das ist eine schlechte Idee.«

Langsam wandte ich mich um, suchte seinen Blick und nickte. Mir war klar, dass er wahrscheinlich nur Interesse an mir hatte, weil er meine Gefühle spiegelte.

»Ich weiß.«

»Wir sollten das nicht tun.« Er trat einen Schritt auf mich zu, und sein Duft hüllte mich ein. Machte er es mir absichtlich so schwer?

»Ich weiß, Will«, erwiderte ich, nun etwas heftiger.

»Ich weiß, dass es absolut idiotisch und fehlplatziert und –«

Er gab mir keine Chance, den Satz zu vollenden. Seine Hände waren vorgeschnellt, und er zog mich zu sich. Er krallte sich an allem fest, was er von mir zu fassen bekam, während seine Lippen meine fanden. Stürmisch erwiderte ich seinen Kuss. Mit voller Wucht wurden alle Sorgen beiseitegedrängt und verloren an Bedeutung. Wer hätte gedacht, dass der beste Verdrängungsmechanismus für meine Probleme seit Tagen vor meiner Nase herumgelaufen war?

Heiß und feucht lag sein Mund auf meinem, während meine Knie zu Butter wurden.

Er schlang mir einen Arm um die Taille und bewegte sich rückwärts. Ich ließ meine Hände in seine Haare wandern und gab mich meinen Gefühlen endgültig hin. Das böse Erwachen würde früh genug kommen, wenn ich mich damit auseinandersetzen musste, wie erbärmlich es war, sich zu jemandem hingezogen zu fühlen, der sowieso keine andere Wahl hatte, als es zu erwidern.

Sein leises Stöhnen zwischen unseren Küssen ließ auch diesen Gedanken verschwinden. Wir waren am Bett vorbeigestolpert und nun vor der Treppe angekommen. Schwer atmend löste er sich von mir und schloss kurz die Augen. Zwischen seinen Brauen hatte sich eine besorgniserregende Falte gebildet.

Ich starrte ihn heillos verwirrt an. Kaum zu fassen, wie unwichtig lebenswichtige Ereignisse von hier aus erschienen.

Erneut gab er mir keine Chance, mich zu fangen. Er griff nach meiner Hand, und ohne sich noch einmal nach mir umzusehen, trat er auf die Wendeltreppe. Ich sah gar nichts mehr, nicht das Wohnzimmer, nicht die Küche, nicht den Garten hinterm Fenster. Meine ganze Konzentration richtete sich auf meine Finger, die unter Strom zu stehen schienen.

Ich erwachte erst aus meiner Trance, als Will vor dem Kamin zum Stehen kam. Er ließ meine Hand los und bückte sich, um die Falltür zum Keller aufzustoßen. Mein Herz machte einen Satz.

Mit einer Hand auf meinem Rücken schob er mich nach vorn.

»Links findest du die Bodentreppe. Halt dich einfach an mir fest, bis du sie gefunden hast.«

Nickend ging ich in die Knie. Dies war definitiv nicht der richtige Zeitpunkt, um sein Vorhaben anzuzweifeln. Mit den Konsequenzen würde sich mein Zukunfts-Ich befassen dürfen.

Ich hielt mich an der Außenseite des Lochs fest, gleichzeitig streckte ich meine Beine ins Dunkle und suchte mit den Füßen nach der Leiter. Sie zitterten leicht, was garantiert nicht an der ungewissen Tiefe lag.

Im Handumdrehen hatte ich die Sprossen gefunden und war ein Stück nach unten geklettert.

»Mach dir keine Sorgen, es sind keine fünf Meter«, hörte ich Wills Stimme leise über mir und hätte etwas Ironisches geantwortet, wäre ich nicht so sehr damit beschäftigt gewesen, mich zu fragen, wieso er mich in sein Schlafzimmer brachte. Nein, ich machte mir keine Sorgen um die Höhe. Sondern um mein armes Herz.

Erst als meine Beine ins Leere traten, hielt ich inne. Will machte noch immer keine Anstalten, mir nach unten zu folgen.

»Ich glaube, ich bin am Ende der Leiter angekommen!«, rief ich leicht verunsichert.

»Du musst dich das letzte Stück fallen lassen«, kam prompt die Antwort. Ich legte den Kopf in den Nacken, und mein Blick traf auf sein Gesicht, das in der Falltürluke schwebte. Bildete ich es mir ein, oder war Triumph darin zu sehen?

»Unten liegen mehrere Teppiche, du wirst weich landen.«

Na schön. Ich wollte gerade gehorchen, da erklang ein kaum vernehmliches, lang gezogenes Quietschen. Wills Gesicht verschwand, und dann verschwand plötzlich auch alles andere. Mit einem lauten Knall war die Tür über mir zugeklappt, und die Dunkelheit hatte mich vollends verschluckt. Lediglich ein paar feine Lichtstrahlen, in denen Staubkörner tanzten, drangen durch die Ritzen. Mein Blick folgte ihren hektischen Bewegungen, bis mein Verstand endlich in die Gänge kam. Fluchend kletterte ich die Sprossen wieder hinauf.

»Will?«

Stille. Ich war oben angelangt und stemmte eine Handfläche gegen das splittrige Holz. Nichts rührte sich.

»Was zur Hölle tust du da?«, brüllte ich und schickte ein paar wüste Verwünschungen hinterher, während ich wie wild auf die Unterseite der Falltür einhämmerte.

»Du hast mir keine Wahl gelassen, Wundermädchen.« Ein dumpfes Geräusch drang an mein Ohr. Es klang beinahe wie ein Kichern.

»Du willst mich wegsperren?«, machte ich in derselben Lautstärke weiter.

»Es ist nur zu deinem Besten.«

»Du hast gesagt, wir sind ein Team, du Verräter!«

Hatte er mich gerade allen Ernstes geküsst, um mich zu überlisten? Und ich war darauf reingefallen, weil ich mir für eine Sekunde eingebildet hatte, dass es ihm wie mir ging. Ging es noch erniedrigender?

Wütend schlug ich auf die nächstliegende Sprosse ein und stieß einen Schmerzenslaut aus, als ein scharfer Schmerz meine zur Faust geballte Hand durchfuhr.

Oh, ich würde ihm den Hals umdrehen.

»Teammitgliedern ist es verboten, sich selbst umzubringen«, antwortete er eine Spur weniger belustigt.

»Du weißt ganz genau, dass ich nur mein dummes Talent auslösen wollte«, fauchte ich.

»Und du weißt ganz genau, dass ich jedes Mal einen halben Herzinfarkt bekomme, wenn du dich in Gefahr begibst.«

»Es tut mir leid, aber es geht hier nicht um dich«, presste ich hervor.

»Und ob. Unsere Leben sind miteinander verbunden, ob es dir passt oder nicht.«

Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Eventuell half ein vernünftiger Tonfall. »Mach bitte die Tür auf.«

»Vergiss es.«

»Mach die verdammte Tür auf, du Mistkerl!« So viel dazu.

»Gute Nacht, Kiana.«

»Wenn du mich jetzt hier alleine lässt, wirst du es bereuen«, drohte ich. Ich sollte ihm erklären, dass ich mir in seinem Schlafzimmer genauso gut irgendetwas zum Strangulieren suchen konnte, aber das nahm ich mir selbst nicht ab.

Jetzt lachte er wieder, während seine Schritte sich entfernten. »Ich wünsche angenehme Träume.«

Es dauerte ein paar Minuten, in denen ich weiterhin auf die Tür einschlug, doch schließlich fügte ich mich in mein Schicksal und trat den Rückzug an.

Tatsächlich landeten meine nackten Füße auf etwas Weichem, als ich mich am Ende der Leiter fallen ließ.

Die Luft hier unten roch so intensiv nach meinem treulosen Inventi, dass ich mich für einen Augenblick auf nichts anderes konzentrieren konnte. Holzig, männlich, sauber. Ich verfluchte ihn gleich noch mehr.

Mit ausgestreckten Händen tastete ich in der Finsternis nach einer Wand, bis ich etwas gefunden hatte, das sich wie ein Lichtschalter anfühlte.

Ich blinzelte überrumpelt, als der Raum in einem Meer aus Tausenden kleinen Lichterpunkten aufleuchtete. Die Treppe bestand aus glatt geschliffenen, leicht verbogenen Ästen, und auch der Rest des fensterlosen Zimmers erinnerte an ein gemütliches Baumhaus aus hellem Holz. Die kleinen Lichter waren an durchsichtigen Drähten befestigt und rankten sich um die dicken Äste, aus denen nicht nur die Leiter, sondern auch das große Bett gearbeitet waren. Dieses wirkte wie eine besonders große Auskerbung des Baumes, war ovalförmig und bildete das Zentrum des Raumes. Es wurde von herunterwachsenden Ästen umrahmt, die über und über mit funkelnden Lichtern versetzt waren. Die Bettwäsche war dunkelblau und in der Mitte der Matratze zusammengeknüllt.

Ich hob den Kopf und entdeckte ein paar Papierfetzen an den Ästen über dem Bett. Ich trat näher.

Kleine Kunstwerke. Zeichnungen seiner Mutter – genau wie in deren Wohnung in Wetherby. Auf einer konnte ich sie alle drei erkennen, sie hoben sich in schwarzen, hastig gezeichneten Linien von dem leicht vergilbten Weiß ab. Obwohl es wirkte, als wären die Striche nachlässig gezogen worden, kamen die Gesichter den lebendigen Vorbildern so nahe, dass mir unwillkürlich eine Gänsehaut den Rücken herunterrieselte. Auf einem weiteren Bild war das gleiche männliche Porträt zu sehen, das ich wieder und wieder in der engen Wohnung vorgefunden hatte. Der verschwundene Teil der Familie: Liam Lowe, Wills und Alessas Vater, dessen Verlust ihre Mutter in jahrelange Depressionen gestürzt hatte.

Laut seufzte ich auf und duckte mich unter den Ästen durch, um zum Bett zu gelangen. Mein Zorn war wie weggeblasen. Ich konnte Will im Augenblick nicht böse sein, wo hier alles nach Einsamkeit schrie.

Eine Weile lag ich auf dem Rücken und begutachtete die glücksstrahlenden Gesichter zwischen den leuchtenden Ästen, als wären sie die Antworten auf all meine Fragen. Die Erforschung meines Talents war nur eines meiner Ziele. Ich würde nicht ruhen, ehe ich Eve aus Neros Klauen befreit hatte, alles zu meinen biologischen Eltern und den Machenschaften der Omilia herausgefunden hatte und meinen Adoptiveltern entgegentreten konnte.

Die Tränen auf meinen Wangen spürte ich erst, als ich die Bettdecke bis an mein Kinn zog. Ich vergrub mein Gesicht in dem duftenden Stoff und ließ mich von der Erschöpfung übermannen.

Doch obwohl Will mich hier unten eingesperrt hatte, wusste ich mit unleugbarer Sicherheit, genau in diesem Augenblick war ich nicht alleine mit meinem Kummer. Und vielleicht, vielleicht würde ich es nie wieder sein müssen.

Völlig orientierungslos schlug ich die Augen auf. Nicht nur der fremde Geruch der Bettwäsche, auch die brennenden Lichter trugen zu meiner Verwirrung bei. Schlaftrunken richtete ich mich auf. Dabei kam die Erinnerung an die jüngsten Geschehnisse zurück und setzte mich vorübergehend außer Gefecht. Ich ließ mich zurück auf die Matratze fallen und starrte an die hölzerne Decke.

Schließlich meldete sich aber ein menschliches Bedürfnis, und ich tapste zur Leiter. Blieb nur zu hoffen, dass mein Inventi nicht geplant hatte, mich für alle Ewigkeit hier unten festzuhalten.

Zu meiner Erleichterung gab die Klappe der Falltür widerstandslos nach. Ich stieß sie auf und hievte mich auf den Wohnzimmerboden. Erst als ich auf allen vieren aus dem Loch krabbelte, wurde mir bewusst, dass es draußen stockdunkel war.

Ein kleines Feuer prasselte müde im Kamin hinter mir, und Regentropfen plätscherten gegen die Fensterscheibe.

Ich erhob mich und streckte meine steifen Glieder. Nach einem schnellen Besuch im Badezimmer nahm ich die Treppe nach oben. Mein Weg führte schnurstracks zu meinem Mantel, der über der Stuhllehne hing. Eilig durchwühlte ich die Taschen nach meinem Steinzeithandy, der einzigen Verbindung zu Eves Freunden. Dieses Kleidungsstück war eins der wenigen Überbleibsel, das mir noch aus meinem alten Leben geblieben war … Ich verscheuchte den Gedanken mit einem Kopfschütteln und kramte das Labelkabel hervor, das mir Casper bei unserem Ausflug ans Meer zugesteckt hatte, bevor ich das Handy anschloss und den Bildschirm nach ein paar Sekunden Wartezeit mit der gewohnten Tastenkombination aktivierte.

Jemand mit einer unbekannten Nummer hatte unzählige Male versucht, mich zu erreichen. Daria? Casper? Nate? Ihre Nummern waren doch eingespeichert … Ich hatte ihnen mehrere Nachrichten geschickt, um ihnen mitzuteilen, was sich auf der Insel zugetragen hatte.

Es klingelte nur zwei Mal, nachdem ich auf Rückruf gedrückt hatte.

»Guten Abend, Kiana.«

Vor lauter Schreck ließ ich das Handy beinahe fallen.

»Du machst dich am besten gleich fertig«, fuhr mein Gesprächspartner fort, wohl wissend, dass ich gerade nicht in der Lage war, zu antworten. Sein Tonfall war gelassen, aber ich hörte auch eine beunruhigende Schärfe heraus. »Wir haben eine Menge zu besprechen. Der Wagen vor der Tür wird dich in die Omilia bringen.«

Es klickte, und schon war die Leitung tot.

Nero klang ganz und gar nicht, als sei er zu Scherzen aufgelegt.

Den Fahrer kannte ich bereits, wie auch beim letzten Mal sprach er kein Wort mit mir. Dank des Regens und der wolkenverhangenen Nacht konnte ich kaum etwas durchs Autofenster erkennen.

Ich hatte mich eilig in dunkle Jeans und einen grünen Strickpullover gezwängt und vor lauter Panik, was Neros Anruf zu bedeuten hatte, das Handy wenig kreativ unter dem Bett versteckt. Woher hatte er diese Nummer?

Nun, da das Auto vor dem Fluss zum Stehen kam, kristallisierte sich jedoch eine andere Emotion heraus. Er hatte meine Eltern verraten. Seine Nichte auf eine Insel gesperrt. Und dann war da noch die Sache mit Niyol. Zwar hatte ich nur Aria zusammen mit ihm gesehen, aber ich war mir zu hundert Prozent sicher, dass die beiden Ältesten der Ydor und der Pnoe unter einer Decke steckten.

Es passte. Sie wollten, dass ich mich schnellstmöglich von meinem alten Leben löste, um mich in Tessarect einzugliedern und für sie zu arbeiten. Und wie könnte ich das, wenn ich noch an meinen Freunden und meinen Eltern hing?

Also hatten sie erst meine Eltern gezwungen, den Kontakt zu mir abzubrechen, und schließlich Niyol zu mir geschickt, um mich von meinen Freunden zu isolieren. Selbstverständlich war ich selbst schuld. Ich war auf seine Nachrichten eingegangen. Hatte ihn zurückgeküsst. Und hatte – anders als in meiner Vision letzte Nacht auf dem Dach der Omilia – nicht die richtige Entscheidung getroffen, nämlich Niyol abblitzen zu lassen. Es war bitter, so deutlich gezeigt zu bekommen, wie meine Zukunft aussehen könnte. Sophia hätte mich nicht aus ihrem Leben gestrichen. Sie wäre mir nicht böse gewesen.

Meine deprimierenden Gedankengänge wurden unterbrochen, als die Tür auf meiner Seite geöffnet wurde und ein paar Regentropfen ins Wageninnere gelangten.

»Guten Abend, meine Liebe.«

Erleichtert griff ich nach der runzligen Hand. Picabo stand mit einem warmen Lächeln vor mir. Auch wenn ich nicht wusste, ob ich dem Mentor der Ydor vertrauen konnte – er arbeitete ja eng mit Nero zusammen –, fühlte ich mich jedes Mal in seiner Anwesenheit etwas ruhiger. Immerhin war er mit meinem Großvater befreundet gewesen. Na ja, Nero war auch mit meinem leiblichen Vater befreundet gewesen … Das musste also nichts heißen.

In der freien Hand hielt Picabo einen türkisfarbenen Regenschirm, den er über mich hielt, während er mich ins Freie zog. Sein Mantel war aus blauem Samt.

Nachdem wir eine der Brücken überquert hatten, gab uns das verschnörkelte Tor bereitwillig den Weg frei. Ein paar Stände von gestern waren noch nicht abgebaut, auch wenn der See mit der Trauerweide in seiner Mitte und der kleine Platz vor der Omilia inzwischen menschenleer waren.

Picabo streckte einen Arm in Richtung Omilia aus. »Nach dir, Kiana.«

Seite an Seite liefen wir den Gang an blauen Gemälden vorbei. Gleich zu Beginn kamen uns zwei Gestalten entgegen. Mein Begleiter nickte ihnen zu, und erst da erkannte ich, dass es sich um das Rastamädchen Maila handelte, das mich aus unerfindlichen Gründen nicht leiden konnte und mich das auch merken ließ. Sie war in Begleitung eines älteren Manns, den ich noch nie gesehen hatte, dessen Outfit jedoch genauso blau wie ihres und Picabos war.

Im Vorbeigehen warf ich ihr ein strahlendes Lächeln zu. Hoffentlich trieb sie das zur Weißglut. Wenn man Daria Glauben schenken durfte, dann war sie nur eifersüchtig auf meine Rolle in der Omilia. Wie man darauf eifersüchtig sein konnte, war mir ein Rätsel. Liebend gern hätte ich mit jeder x-beliebigen Person in dieser Stadt getauscht.

Vor Neros marmorner Bürotür blieben wir stehen.

Sie flog auf, bevor wir uns bemerkbar machen konnten.

Eves Onkel nickte Picabo freundlich zu, dann traf der Blick aus seinen Eisaugen auf mich.

»Schön, dass du es so schnell hergeschafft hast«, begrüßte er mich mit einer Herzlichkeit, die so gar nicht zu seinem Gesichtsausdruck passte, und winkte mich ins Zimmer. Picabo verabschiedete sich und ließ uns allein.

Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken. Ich straffte die Schultern. Ich hatte nichts zu befürchten, ich war diejenige, die Grund hatte, wütend zu sein.

Nero schloss die Tür und bedeutete mir, mich auf einem der Sessel niederzulassen. Mein Blick wanderte über die Reihen unzähliger Buchrücken, bevor ich ihn wieder auf mein Gegenüber richtete und mir ein Lächeln abrang. Wenn er sich ambivalent verhalten konnte, dann konnte ich das auch.

Eine einzelne Kerze flackerte zwischen uns, daneben stand ein Teeservice aus hellblauem Porzellan, das mit goldenen Dreiecken bemalt war.

»Wie geht es dir, Kiana?«, fragte Nero mich ruhig, nachdem er die dampfende Flüssigkeit in zwei Tassen gegossen hatte. Sein Blick war so intensiv, dass ich ihm ausweichen musste.

»Blendend«, gab ich zurück, ohne mir die Mühe zu geben, den Sarkasmus aus meiner Stimme zu verbannen.

Er faltete seine Hände auf dem Tisch. »Ich wollte mich bei dir erkundigen, ob du weißt, was meine Nichte im Schilde führt.«

Ich nahm einen Schluck vom Tee und verbrannte mir prompt die Zunge. Er wollte allen Ernstes über Eve sprechen? Nachdem er sie auf eine Insel verfrachtet hatte, damit sie mir nichts von seinem dunklen Geheimnis erzählte?

»Und wieso sollte ich das wissen?«, fragte ich seelenruhig.

»Nun, lass es mich erklären.« Seine Mundwinkel zogen sich weiter nach oben, doch das Blau seiner Augen war kälter denn je. »Ihr ist die Verantwortung, die ich ihr damals übertragen habe, ein bisschen zu Kopf gestiegen. Anstatt dich auf deine Ankunft in Tessarect vorzubereiten, musste sie dich zusätzlich zu den ohnehin schon sehr einnehmenden Ereignissen in deinem Leben verwirren.«

War Niyol auch deshalb nach Leeds gekommen? Um mich auf diese Stadt vorzubereiten?

»Ich weiß leider immer noch nicht, wovon Sie sprechen.«

»Also gut.« Sein Lächeln erlosch, und er holte etwas aus der Tasche seines Jacketts hervor, das er zwischen uns auf den Tisch legte. Es war ein Handy. Die Frage nach dem Besitzer erübrigte sich. Wann hatten sie es Eve abgenommen? Vermutlich direkt nach ihrer Ankunft auf der Insel, sonst hätte sie ja versucht, Kontakt zu mir oder den anderen aufzunehmen.

Ich hob eine Braue. Jetzt ging ich vollständig in meiner Rolle auf.

»Erklär mir doch bitte, wieso ich nur einen einzigen eingespeicherten Kontakt auf Evelyns Telefon finden konnte!«

Darauf gab es eine einfache Antwort: Weil Eve mit allen Wassern gewaschen war und es natürlich geschafft hatte, verdächtige Spuren zu Pyros zu löschen, bevor ihr Onkel sie in die Finger kriegen konnte.

»Und wieso du unter der eingespeicherten Nummer erreichbar bist! Obwohl William mir versicherte, er habe dein Telefon in deiner Leedser Wohnung zurückgelassen.«

»Ach, das«, sagte ich, während es in meinem Kopf arbeitete. »Eve hat mir ein Handy gekauft, damit wir in Kontakt bleiben, wenn sie mal wieder die Stadt verlassen muss.« Das war zwar keine optimale Antwort, aber besser, als Casper, Nate, Daria und unsere Wasserfall-Exkursion zu erwähnen.

»Ich habe es vor Will versteckt«, setzte ich hastig nach. Die Aktion von heute früh hatte ich ihm zwar noch nicht verziehen, trotzdem wollte ich ihm keine Schwierigkeiten bereiten. Nicht, wenn ich wusste, was für ihn auf dem Spiel stand. »Wo ist er eigentlich? Sollte er nicht auf mich aufpassen?«

»Er hat gerade eine Trainingsstunde.« Ich sah den Zorn in Neros Augen aufflackern, bevor er sich unter Kontrolle bekam. »Zunächst sollten wir uns um dich kümmern. Ich habe dich nicht nur hierherbestellt, um mit dir über meine rebellische Nichte zu sprechen. Sie ist ohnehin gerade beschäftigt.«

Ja. Damit, ihren Inventi zu entkommen.

»Sondern …«, fuhr Nero fort. Ich hielt die Luft an. »Hast du in letzter Zeit etwas … Ungewöhnliches empfunden?«

Das Bedürfnis, ihm den heißen Tee ins Gesicht zu schütten, wurde fast übermächtig. »Sie meinen, abgesehen von den Emotionen, die ich empfunden habe, als ich betäubt und hierherverschleppt wurde? Oder die, die zum Vorschein kamen, als ich miterleben durfte, wie meine Eltern und meine Freunde mich beerdigt haben?«

Und nicht zu vergessen: die, als ich herausgefunden habe, was mit meinen biologischen Eltern geschehen war. Und wer Niyol war.

»Wir wollen dir nichts Böses«, wiederholte er den Satz, den er auch das letzte Mal in diesem Zimmer zu mir gesagt hatte. Er lächelte, was ihn noch unglaubwürdiger machte.

Ja, und ich bin der Weihnachtsmann. »Ich würde jetzt gerne gehen«, brachte ich mit meinem letzten Rest Selbstbeherrschung hervor und erhob mich. Meine Hände bebten, ich ballte sie zu Fäusten.

»Nur noch eine Sache.« Auch Nero stand auf, er schaute auf mich herab. »Ich denke, es ist an der Zeit, dir einen Beweis zu liefern, dass wir es gut mit dir meinen … damit du uns wieder ein bisschen mehr vertrauen kannst.« Er ließ wieder ein tiefes Seufzen hören.

Als hätte ich ihnen jemals vertraut …

»Aber du hast bewiesen, dass du stärker bist, als man angesichts deiner Situation erwarten dürfte«, fügte er hinzu.

Ich konnte dieses Affentheater keine Sekunde länger ertragen! Alles, was ich wollte, war, einen Weg finden, um Eve zu kontaktieren, oder wenigstens Daria und die anderen, und über unsere weiteren Schritte sprechen.

Seine nächsten Worte ließen mich erstarren.

»Würdest du gerne deine biologischen Eltern kennenlernen, Kiana?«

ZWEIAkazien

Der Gondoliere dockte an einem breiten weißen Steg an und half uns aus dem Boot. Gut dreißig Minuten hatte die Fahrt hierher gedauert. Nero zufolge befanden wir uns nun im Norden der Stadt. Komisch, noch letzte Woche hatte er mir erzählt, ich dürfte auf keinen Fall den Bezirk der Ydor verlassen, um kein Aufsehen zu erregen.

Mit jedem Meter, den wir auf dem Fluss zurückgelegt hatten, war es kälter geworden. Die eisige Gischt hatte nicht gerade geholfen, inzwischen war ich vollkommen durchgefroren. Erstaunt registrierte ich die zarten Schneeflocken, die auf meinem Mantel landeten.

Meine Schuhe hinterließen Spuren auf dem von einer feinen Schneeschicht bedeckten Untergrund. Dabei hatten wir erst Anfang November! Tja, jetzt wusste ich wohl, welches Wetter bei den Choys, die dem Element Erde angehörten, im Vordergrund stand.

Mein Blick wanderte zu den prunkvollen Gebäuden, die sich am Ufer emporhoben und sich vor der Dunkelheit abzeichneten. Als wir auf sie zuliefen, konnte ich die Ornamente sehen – Blumenranken, Pflanzen und Getreidekörner rahmten die symmetrischen Linien der Fenster und Türen. Jugendstil, schoss es mir durch den Kopf, und ich dachte an den Univorbereitungskurs. Verrückt, wie ewig dieses Leben her war.

»Beeindruckend, nicht wahr?«

Ich wandte mich Nero zu. Er hatte den Kragen seines silbergrauen Mantels hochgeschlagen, der hervorragend zu seinen Haaren passte. Die Narbe auf der einen Gesichtshälfte war in der Finsternis kaum sichtbar. »Alles bei den Choys ist eine schöne Fassade. Die Häuser, die Menschen. Lass dich nicht vom ersten Eindruck täuschen, hinter jeder optischen Perfektion lauert der Zerfall.«

»Was tue ich hier?«, fragte ich, ohne auf sein ominöses Gerede einzugehen. Natürlich wollte ich mehr über Tessarect und über meine Eltern erfahren, aber er nahm doch nicht an, dass seine manipulativen Spielchen einfach vergessen sein würden, nur weil er mir einen anderen Bezirk zeigte und dabei unverständliche Dinge schwafelte?

Leicht zerstreut sah er mich an, als hätte er zwischenzeitlich meine Anwesenheit verdrängt.

»Wie ich bereits sagte, ich bringe dich zu Kai und Agnia«, antwortete er nach einer kurzen Pause.

Misstrauisch kniff ich die Augen zusammen. »Und was hat das mit dem Erde-Bezirk zu tun? Ich dachte, meine biologischen Eltern gehören dem Feuer und dem Wasser an.«

»Das tun sie, aber wir halten es für sicherer, sie nicht mit ihren Elementen in Verbindung zu bringen. Der Choys-Bezirk stellt neutralen Boden dar.«

»Aber das ergibt doch alles keinen Sinn!«, entfuhr es mir. »Sie haben mir erzählt, dass man als Talentierter auf keinen Fall seinen Bezirk verlassen darf und dass jeder Kontakt zu einer anderen Elementengruppe gefährlich sein kann.«

»Das habe ich. Aber dieser Fall ist mehr als ungewöhnlich, wie du weißt.« Er schenkte mir ein mitleidiges Lächeln. »Und außerdem gibt es hier die beste psychiatrische Einrichtung.«

»Wieso das?«

Wir waren inzwischen auf einer Straße angelangt, die rechts und links von beinahe identisch aussehenden Häusern gesäumt wurde. Sie unterschieden sich lediglich in ihrer Farbe: Die unterschiedlichsten Gold-, Gelb- und Brauntöne reihten sich aneinander. Die Straße war menschenleer und doppelt so breit wie die engen Gässchen bei den Ydor und bei den Pyro.

»Die Gabe der Choys ist sehr komplex. Sie können jeden beliebigen Moment wiederholen, wenn sie sich unter der Erde befinden. Die Choys wurden im Laufe unserer Geschichte immer weniger als die anderen Talentierten kontrolliert, weil man zunächst annahm, dass ihre Gabe nicht so viel Unheil anrichten könnte. Sie waren eher introvertierte, friedliche Geschöpfe. Nach und nach kristallisierten sich aber Problematiken heraus, die ihr Talent mit sich brachte. Viele von ihnen lebten kaum mehr in der Realität, sie verschwendeten ihre Nächte damit, Momente mit geliebten Menschen so oft in ihren Köpfen zu durchleben, bis diese zu ihrer Wirklichkeit wurden.«

»Also ist es ein bisschen wie ein fotografisches Gedächtnis?«, fragte ich weiter. Obwohl es dringendere Dinge zu besprechen gab, war meine Neugierde geweckt. Ich wusste immer noch viel zu wenig über die Talente der anderen Elementengruppen.

»Das ist zu einfach gedacht.« Nero runzelte die Stirn. »Sie können sich nicht nur an die genauen Details erinnern, sondern auch an alles, was sie dabei gespürt haben. Mit jedem erneuten Aufrufen werden die Empfindungen stärker. Sie werden so lebendig, dass die Gegenwart dagegen wie ein farbloser Abklatsch wirkt. Viele verkraften es nicht und verfallen in Depressionen, oder schlimmer: in eine Suchtspirale, die sie zwingt, es immer und immer wieder zu tun.«

Eine Weile ließ ich seine Worte auf mich wirken. Irgendwie konnte ich mir sehr gut vorstellen, dass man die schönsten Momente immer wieder erleben wollte. Mir war es heute Morgen ähnlich ergangen. Ich konnte es kaum erwarten, die Vision mit Sophia erneut heraufzubeschwören, ihr Lächeln zu sehen, das Strahlen in ihren Augen …

»Können sie ihr Talent auch nur zu einer bestimmten Tageszeit ausüben?«, wollte ich wissen.

Wir waren am Ende der Straße angekommen und gelangten auf einen kleinen Hof. Die Gebäude hier waren niedriger, zum ersten Mal fielen mir die Berge auf, die sich dahinter vor dem Nachthimmel abzeichneten.

»Ja, die Choys können ihre Gabe nur um Punkt Mitternacht auslösen, wenn sie sich unter dem Erdboden befinden. Doch im Gegensatz zu den Ydor, den Pyro und den Pnoe gibt es keine zeitliche Begrenzung für sie. Haben sie sich einmal in die Vergangenheit katapultiert, können allein sie bestimmen, wann sie in die Realität zurückkehren. Es kann Stunden dauern, im schlimmsten Fall Tage.«

Ich starrte ihn an. Ob ich genauso Gefahr lief, stunden- oder gar tagelang in meinem Kopf zu verbringen?

Für einen Augenblick blieb ich stehen. Es war deutlich zu sehen, wie Nero ein Bein hinter sich herzog, und ich war plötzlich versucht, ihn zu fragen, ob die Verletzung irgendetwas mit der Narbe auf seinem Gesicht zu tun hatte. Doch bevor mir die Worte über die Lippen kommen konnten, sprach er schon weiter.

»Ich möchte nicht, dass du dir Hoffnung machst. Sie sind deine biologischen Eltern, aber es ist sehr unwahrscheinlich, dass sie dich erkennen werden.« Mit eindringlicher Miene sah er mich an. Das helle Blau seiner Augen wirkte fast durchsichtig.

Da war sie wieder, die Wut. Sein fürsorgliches Gehabe konnte er sich wirklich sparen.

»Ich bin bereit«, erwiderte ich kühl.

Die psychiatrische Klinik verbarg sich in einem cremefarbenen Haus mit Giebeldach, das in der Mitte eines zugefrorenen Sees thronte. Wir überquerten einen weiteren Steg, der die einzige Verbindung zwischen dem Ufer und dem Gebäude war und nahtlos in die hölzerne Plattform überging, auf der das Haus erbaut worden war. Ich runzelte die Stirn. Ein Haus am See – passte das nicht eher zu den Ydor?

»Das Eis ist nur eine Sicherheitsvorkehrung«, erklang es neben mir, als wir beinahe am Eingang angekommen waren. »Den Patienten ist es strengstens verboten, Gebrauch von ihrem Talent zu machen.«

»Aber was ist mit den Ydor?«, wollte ich wissen.

»Dein Vater ist der einzige Ydor in dieser Einrichtung, Kiana«, erklärte Nero mit nachsichtiger Miene. »Und er hat sein Talent für immer verloren, als du auf die Welt kamst.«

Mit diesen Worten griff er nach dem Türklopfer in Stierkopfform.

Die Tür wurde keine fünf Sekunden später von einer älteren Frau mit feuerroten Haaren und einem herzförmigen Muttermal auf der Wange aufgerissen. Sie hatte eine gelbe Uniform an und trug eine Brille auf der Stupsnase. Ein ehrfürchtiges Lächeln bildete sich auf ihren schmalen Lippen, als sie Nero ansah.

»Wir haben Sie schon erwartet, Sir.« Sie machte einen kleinen Knicks, bevor ihr Blick zu mir wanderte.

»Und du musst das arme Mädchen sein«, hauchte sie mindestens ebenso ehrfürchtig.

Ich hob die Augenbrauen. Doch ich bekam keine Gelegenheit, diese zweifelhafte Begrüßung zu kommentieren. Nero hatte mich bereits ins Warme geschubst, und die Tür fiel hinter uns ins Schloss.

Der quadratische Raum, in den wir traten, erinnerte an die Rezeption eines Hotels. Hinter einem Marmortresen saßen zwei junge Frauen, die beide die gleiche Uniform wie die erste trugen und uns unverhohlen anstarrten. Mehrere gelbe Sessel und helle Holztische waren neben dem Tresen angeordnet, dazwischen Töpfe mit Efeupflanzen, die zur Decke hinaufwuchsen. Auf den Wandgemälden waren idyllische Felderlandschaften zu sehen. Zwei ältere Herren spielten schweigend Schach, ein kleines Mädchen saß im Schneidersitz und mit geschlossenen Augen zu ihren Füßen und wippte langsam vor und zurück. Von irgendwoher erklangen sanfte Töne, die wohl eine beruhigende Wirkung verströmen sollten, aber die seltsame Stimmung hier drinnen nur verstärkten. Außerdem war weit und breit kein Fenster zu sehen.

»Hier entlang, Mr Lagarde, Miss Lyberth«, sagte unsere Begleitung und warf den zwei Frauen hinter dem Tresen einen strengen Blick zu. Bei dem schlechten Versuch, beschäftigt zu wirken, griffen sie nach irgendwelchen Ordnern und stießen dabei gegeneinander.

Sie führte uns in einen schmalen Flur, an weiteren Felderbildern vorbei. Am Ende des Gangs blieb sie vor einer hellen Tür stehen. Leiden sind Lehren war darauf eingraviert. Ein Blick zu den anderen Türen zeigte mir, dass auch auf ihnen Sprichwörter standen, auch wenn ich die Worte von hier aus nicht entziffern konnte.

Ich hatte keine Chance, mich zu wappnen. In einer Sekunde starrte ich auf die goldfarbenen Worte, in der nächsten klappte die Tür auf, und ich hielt die Luft an.

Erneut wurde ich von Nero nach vorne gedrückt. Der Raum war deutlich größer als erwartet, mindestens doppelt so groß wie der Empfangsbereich. Es gab drei Bereiche: einen Vorraum mit einem Sofa, einem Tisch und einem Waschbecken und dahinter einen vergitterten zweigeteilten Raum mit jeweils einem Bett darin.

Auf den ersten Blick war nichts zu entdecken, doch dann nahm ich eine Bewegung in der rechten Zelle wahr. Meine Hände waren mit einem Schlag feucht und mein Mund staubtrocken. Es spielte keine Rolle. Es sollte keine Rolle spielen! Nur, weil sie meine Eltern waren, hieß das nicht, dass ich irgendeine Verbindung zu ihnen spüren würde. Sie würden Fremde für mich sein, so wie diese ganze Stadt fremd für mich gewesen war.

Die Frau in der Uniform trat vor und winkte mich zu sich. Ich wagte einen Schritt nach vorne, ließ meinen Blick genau dort ruhen, wo sich etwas bewegt hatte. Die Bettdecke raschelte, und schließlich setzte sich jemand auf.

Mein Herz schlug schneller, als ich noch näher an das Gitter trat. Erst sah ich die knochigen Arme unter einem weiten braunen Shirt, dann den schmalen, langen Hals, und schließlich traf mein Blick auf das Gesicht.

Die Frau vor meinen Augen war eindeutig dieselbe wie auf dem Polaroid, das Will mir in meiner zweiten Nacht in Tessarect gegeben hatte. Dieselben kurz geschorenen Haare, dieselben feinen, dunklen Augenbrauen und dieselben großen Augen. Nur älter, so viel älter als das Mädchen in dem hellroten Sommerkleid. Und auch von dem Glück in ihren hübschen Zügen fand ich nun keine Spur mehr. Es war von dunklen, tiefen Schatten unter den Augen ersetzt worden.

Mum? Ich schluckte. Auf einen Schlag hatte ich einen schmerzhaften Kloß im Hals, und mein Herz donnerte gegen meine Brust.

Ihr Gesicht hatte auch auf der Fotografie schmal gewirkt, aber jetzt schien sie in der braunen Psychiatrie-Kluft geradezu zu versinken. Ausgemergelt. Das war nicht mal das Schlimmste – das Schlimmste war der Ausdruck in ihren hellbraunen Augen. Wässrig schauten sie zu mir hoch, ohne mich richtig anzusehen.

Plötzliche Übelkeit machte sich in mir breit. Dass die Beziehung meiner Eltern sie beide hatte verrückt werden lassen, war nur eine weitere Lügengeschichte von Nero, hatten Eve und ihre Freunde gesagt. Schließlich waren Eve und Nate auch noch bei klarem Verstand, obwohl sie eine Ydor und er ein Pyro war und sie ständig miteinander rumhingen. Aber Eve und Nate waren weder ineinander verliebt, noch hatten sie gemeinsam ein Kind gezeugt.

Was, wenn das hier der Beweis dafür war, dass Nero die Wahrheit sagte? Was, wenn der Rausch wirklich existierte und von denjenigen Besitz ergriff, die sich den Regeln widersetzten? Wenn Nero meine Eltern aus gutem Grund an die Omilia ausgeliefert hatte?

»Du kannst ruhig näher treten«, ertönte die sanfte Stimme der Pflegerin.

Gerade wollte ich gehorchen, da ließ Agnia sich wieder nach hinten auf die Matratze fallen, als hätte das kurze Aufrichten jegliche Energie aus ihrem erschöpften Körper gesaugt. Zeitgleich regte sich in der linken Zelle etwas.

Ich zuckte zurück und strauchelte, als ein Mann nur einen Herzschlag später am Gitter erschien und mit beiden Händen die Stäbe umfasste. Sein sandfarbenes, von grauen Strähnen durchzogenes Haar fiel ihm in die Stirn. Er presste sein Gesicht gegen das Metall.

Der Ausdruck in seinem Gesicht trieb mir heiße Tränen in die Augen. Es war der gleiche wie bei meiner Mutter. Apathisch. Wie eine leere Hülle.

»Er-erkennt er mich?«, stammelte ich. Seine Finger schlangen sich immer fester um die Stäbe.

Ich drehte mich zu Nero und der Pflegerin um. Seine Miene war irgendwie neugierig, während über ihr Gesicht eine Emotion zuckte, die ich nicht deuten konnte und die sie mit einem Räuspern überspielte.

»Ich fürchte nicht«, murmelte sie. Sie trat auf mich zu und legte mir eine Hand auf die Schulter. »Er reagiert nur auf unsere Anwesenheit, das geschieht auch jedes Mal, wenn Pflegepersonal das Zimmer betritt.«

Nickend presste ich die Lippen aufeinander, bevor ich mich wieder zu ihm umdrehte. Er trug ebenfalls ein braunes Oberteil und eine gleichfarbige Stoffhose, die an ihm viel zu groß wirkte, auch wenn er nicht so zerbrechlich wie Agnia zu sein schien.

»Was ist genau mit ihnen passiert?«, hörte ich mich flüstern, nachdem ich die Tränen erfolgreich zurückgedrängt hatte.

Nero trat neben mich. Ich konnte nicht aufhören, meinen Vater anzusehen. Bewegungslos stand er am Gitter, den leeren Blick auf uns gerichtet.