Twelve of Nights – Das verlorene Leben - Nena Tramountani - E-Book

Twelve of Nights – Das verlorene Leben E-Book

Nena Tramountani

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Beschreibung

Ioanna hat ihr Ziel erreicht und ist der dämonischen Welt der Kalikanzari entkommen – doch der Preis dafür ist hoch. In der letzten der zwölf Raunächte hat Ioannas große Liebe Daphne ein folgenschweres Opfer erbracht und scheint nun für Ioanna verloren. Während sie mithilfe überraschender Verbündeter schockierende Wahrheiten über die Kalikanzari aufdeckt, ist Ioanna entschlossen, für ihre Liebe zu kämpfen. Ihre Erleichterung ist groß, als sie schließlich eine Möglichkeit findet, mit Daphne zu sprechen. Doch das Gefühl hält nicht lange an, denn Daphne liebt Ioanna nicht mehr. Sie hasst sie …

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»Twelve of Nights – Das verlorene Leben« enthält Themen, die belasten können. Deshalb findet ihr am Ende dieses Buchs eine Inhaltswarnung.

© Piper Verlag GmbH, München 2024

Redaktion: Melike Karamustafa

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

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Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

I

1

Daphne

5. Januar

Gegenwart

Kurz vor Mitternacht

2

Ioanna

6. Januar

Gegenwart

Nach Mitternacht

3

Ioanna

6. Januar

Gegenwart

Nach Mitternacht

4

Aristotelis

1. Januar

Sieben Jahre zuvor

Nach Mitternacht

5

Ioanna

6. Januar

Gegenwart

Nach Mitternacht

6

Aristotelis

1. Januar bis 6. Januar

Sieben Jahre zuvor

Kurz vor Sonnenaufgang

7

Ioanna

6. Januar

Gegenwart

Nach Mitternacht

8

Aristotelis

7. Januar

Sechs Jahre zuvor

Nach Mitternacht

9

Aristotelis

7. Januar

Sechs Jahre zuvor

Nach Mitternacht

10

Ioanna

6. Januar

Gegenwart

Nach Mitternacht

11

Ioanna

6. Januar

Gegenwart

Nach Mitternacht

12

Ioanna

6. Januar

Gegenwart

Morgengrauen

13

Aristotelis

6. Januar

Gegenwart

Morgengrauen

14

Ioanna

6. Januar bis 27. Januar

Gegenwart

Nach Sonnenuntergang

15

Ioanna

27. Januar

Gegenwart

Nach Sonnenuntergang

16

Aristotelis

1. Januar

Fünf Jahre zuvor

Nachmittag

17

Aristotelis

5. Januar

Fünf Jahre zuvor

Nachmittag

18

Aristotelis

16. Mai

Fünf Jahre zuvor

Nachmittag

19

Aristotelis

26. Dezember

Zwei Jahre zuvor

Sonnenuntergang

20

Aristotelis

7. Januar

Gegenwart

Mitternacht

II

21

Daphne

6. Januar

Gegenwart

Vormittag

22

Ioanna

27. Januar

Gegenwart

Nach Sonnenuntergang

23

Aristotelis

23. Februar

Zwei Jahre zuvor

Nach Mitternacht

24

Ioanna

1. Februar

Gegenwart

Sonnenuntergang

25

Ioanna

1. Februar

Gegenwart

Nach Sonnenuntergang

26

Ioanna

1. Februar

Gegenwart

Nach Sonnenuntergang

27

Ioanna

1. Februar

Gegenwart

Kurz vor Mitternacht

28

Daphne

6. Januar

Gegenwart

Vormittag

III

29

Ioanna

28. Juni

Gegenwart

Nachmittag

30

Ioanna

28. Juni

Gegenwart

Nachmittag

31

Ioanna

28. Juni

Gegenwart

Kurz vor Sonnenuntergang

32

Ioanna

28. Juni

Gegenwart

Nach Sonnenuntergang

33

Ioanna

28. Juni

Gegenwart

Nach Sonnenuntergang

34

Ioanna

28. Juni

Gegenwart

Nach Sonnenuntergang

35

Ioanna

28. Juni

Gegenwart

Nach Sonnenuntergang

36

Daphne

1. Juni

Gegenwart

Nach Mitternacht

37

Ioanna

29. Juni

Gegenwart

Nach Mitternacht

38

Ioanna

29. Juni

Gegenwart

Mittag

39

Ioanna

29. Juni

Gegenwart

Kurz vor Sonnenuntergang

40

Aristotelis

29. Juni

Gegenwart

Nach Sonnenuntergang

41

Ioanna

29. Juni

Gegenwart

Nach Sonnenuntergang

42

Daphne

29. Juni

Gegenwart

Morgengrauen

43

Ioanna

30. Juni

Gegenwart

Morgendämmerung

IV

44

Aristotelis

30. Juni

Gegenwart

Nach Sonnenaufgang

45

Ioanna

30. Juni

Gegenwart

Nach Sonnenaufgang

46

Ioanna

30. Juni

Gegenwart

Nach Sonnenaufgang

47

Aristotelis

30. Juni

Gegenwart

Mittag

48

Ioanna

30. Juni

Gegenwart

Sonnenuntergang

49

Ioanna

30. Juni

Gegenwart

Vor Mitternacht

50

Ioanna

30. Juni

Gegenwart

Vor Mitternacht

51

Daphne

1. Juli

Gegenwart

Nach Mitternacht

52

Ioanna

1. Juli

Gegenwart

Nach Mitternacht

53

Aristotelis

1. Juli

Gegenwart

Sonnenaufgang

V

54

Ioanna

24. Dezember

Gegenwart

Kurz vor Mitternacht

55

Aristotelis

24. Dezember

Gegenwart

Kurz vor Mitternacht

56

Aristotelis

7. Januar

Sieben Jahre zuvor

Nach Mitternacht

57

Ioanna

24. Dezember

Gegenwart

Kurz vor Mitternacht

58

Daphne

24. Dezember

Gegenwart

Kurz vor Mitternacht

59

Ioanna

25. Dezember

Gegenwart

Nach Mitternacht

60

Daphne

25. Dezember

Gegenwart

Nach Mitternacht

61

Ioanna

31. Dezember

Gegenwart

Kurz vor Mitternacht

62

Ioanna

31. Dezember

Gegenwart

Kurz vor Mitternacht

63

Daphne

31. Dezember

Gegenwart

Mitternacht

VI

64

Aristotelis

31. Dezember

Gegenwart

Mitternacht

65

Aristotelis

1. Januar

Gegenwart

Nach Mitternacht

66

Ioanna

1. Januar

Gegenwart

Nach Mitternacht

67

Daphne

5. Januar

Gegenwart

Kurz vor Mitternacht

5 Jahre später

Epilog

Daphne

31. Dezember

Kurz vor Mitternacht

Danksagung

Playlist

Inhaltswarnung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für all die Leben, die ich noch leben werde.

Für all die Menschen, die ich noch lieben werde.

I

»Diesmal machen wir es richtig.«

»Was meinst du damit?«

»Diesmal keine Isolation.«

»Sondern?«

»Sie muss Teil der Gruppe werden. Sie muss sich zum ersten Mal in ihrem Leben verstanden fühlen.«

1

Daphne

5. Januar

Gegenwart

Kurz vor Mitternacht

»Ich habe einen Weg gefunden.«

Meine eigenen Worte pulsieren durch meinen Körper.

»Ich habe einen Weg gefunden«, als ich Jiajias Auto auf dem Hotelparkplatz erreiche, auf den Fahrersitz gleite und den Motor starte.

»Ich habe einen Weg gefunden«, als ich losfahre, schon bald das Geschwindigkeitslimit überschreite und eins mit der Nacht werde.

»Ich habe einen Weg gefunden.«

Mein Geist ist hellwach, die letzten Tage wirbeln in mir durcheinander.

Keinen Herzschlag zu haben, ist nicht so seltsam, wie man vielleicht annehmen könnte. Vielmehr ist es eine Erleichterung, weil mein Körper nicht versteht, wann er überreagieren soll. Seit ich denken kann, habe ich auf alles überreagiert. Meine Gefühle waren mein größter Feind, weil sie mich an Bedürfnisse erinnerten, die nicht zu denen der anderen Menschen in meinem Leben passten.

Ioannas verweintes Gesicht blitzt immer wieder vor mir auf, doch es ist leicht, es beiseitezuschieben. Sie wird verstehen. Eines Tages wird sie verstehen, wie auch der Tag gekommen ist, an dem ich verstanden habe, wieso mein Großvater sich von ihr hat markieren lassen.

Als ich Dodekada erreiche und die Monotonie der ebenen Landschaft durch hohe Felsformationen abgelöst wird, verziehen sich meine Lippen zu einem Lächeln. Die hellen Backsteinhäuser mit den schneebedeckten Flachdächern scheinen in der Dunkelheit zu leuchten. Da ist keine Wehmut in mir, kein Abschiedsschmerz, keine Reue. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich eine Entscheidung getroffen, bei der ich mir absolut sicher bin.

Mir begegnet keine Menschenseele, während ich den Berg erklimme, auf dem der Weltenbaum wächst. Der Wind schlägt mir Schneeregen ins Gesicht, lässt die Lichter im Tal einen verschwommenen Tanz aufführen. Ich setze einen Fuß vor den anderen, schiebe die Anstrengung beiseite und danke dem Himmel, dass mir niemand gefolgt ist. Als Ioanna mir erzählt hat, wie sie sich das Herz aus der Brust geschnitten hat, konnte sie nicht ahnen, dass sie mir eine Gebrauchsanweisung liefert.

Ich möchte niemanden dabeihaben. Ich bin in die Einsamkeit geboren worden und will mein menschliches Leben auch allein hinter mir lassen. Ein Herz zu haben bedeutet, sich ständig gegen die einzige Gewissheit zu wehren, die man als Mensch hat – am Ende sind wir alle allein. Es ist befreiend, endlich nicht mehr dagegen anzukämpfen. Ari, Jiajia, selbst meine Mutter … Es würde ihnen nur wehtun zuzuschauen, so wie damals Ioannas Schwester. Was ich im Begriff bin zu tun, wird ihnen ebenfalls wehtun, aber mit der Zeit werden sie verstehen, dass ich ihnen einen Gefallen erwiesen habe.

Sobald ich den Gipfel erreiche und die verschlungenen Äste des Baums in Sicht kommen, ziehe ich meinen Mantel aus, nachdem ich das Messer aus der Manteltasche geholt und auf dem Boden abgelegt habe. Ich habe es aus Aris und meiner Wohnung mitgenommen, bevor ich mich von meiner Großmutter verabschiedet und nach Larisa gefahren bin. Ari und ich haben es gemeinsam ausgesucht, weil er der Meinung war, dass stumpfe Messer in der Küche lebensgefährlich sind. Ein japanischer Hersteller. Es ist wunderschön – und war schweineteuer.

Dann knöpfe ich mein Hemd auf. Es ist Ioannas. In meiner Eile habe ich es vertauscht. Nach einem letzten Blick auf das Dorf unter mir greife ich nach dem Messer.

Genau in dem Moment, in dem ich den Griff umschließe und ausholen will, ertönt ein Schrei. Kurz darauf schält sich eine Gestalt aus der Dunkelheit.

Für den Bruchteil einer Sekunde zweifle ich an meinem Verstand. Blinzele. Wie …

»Was hast du getan?«, schreit Ari. Genau wie Ioanna im Hotelzimmer: »Was hast du getan?«

Ich packe den Messergriff fester. »Du solltest nicht hier sein.« Meine Stimme klingt gefasst, frei von Emotionen.

Wieso ist er hier? Woher wusste er, dass ich hier sein würde?

Er rennt auf mich zu und packt mich bei den Schultern. Die warme Berührung jagt Stromschläge durch meinen Körper. Selbst in der Dunkelheit kann ich sehen, wie sein Blick lodert.

»Was hast du getan?«, wiederholt er leise, flehend. Er zittert am ganzen Körper. Ich habe ihn noch nie so außer Fassung erlebt.

»Verschwinde«, gebe ich zurück. In jeder anderen Situation wäre ich vor der Kälte meines Tonfalls zurückgezuckt. Hätte mich dafür geschämt, dem Menschen, der mir stets Verständnis entgegengebracht hat, noch mehr wehzutun. In dieser läuft mir die Zeit davon. Sobald die Uhr Mitternacht schlägt, darf ich nicht mehr in Dodekada sein.

»Daphne …« Aris Stimme versagt. Sein Blick zuckt zu dem Messer in meiner Hand.

Abrupt reiße ich mich los und trete zurück. »Wenn du mich davon abhältst, sterbe ich.«

Ich kann nicht sagen, wie viel Ari weiß. Aber inzwischen ist mir klar, dass es weitaus mehr ist, als ich all die Jahre angenommen habe. Er hat meine Aufzeichnungen über Ioanna und mich verbrannt. Weil er mich für sich möchte? Weil er mich vor den Kalikanzari beschützen will? Jetzt spielt es keine Rolle mehr.

Plötzlich erstarrt er. Seine Miene, eben noch ein einziges Schlachtfeld, wird ausdruckslos. Seine Hände, zu Fäusten geballt, entspannen sich.

Und dann nickt er. »Ich weiß.«

Ich könnte ihm so viele Fragen stellen. Doch mit meiner Menschlichkeit schwindet auch meine Neugierde. Ich habe ein klares Ziel vor Augen. Also sinke ich zu Boden, spüre den kalten Schnee nur am Rande, höre das Heulen des Windes leiser, als hätte jemand die Lautstärke runtergedreht, hole tief Luft, bohre die Messerspitze in meine Brust und beginne zu drücken.

Für einen Moment raubt mir der Schmerz alle Sinne. Wie oft habe ich darüber nachgedacht, mir das Leben zu nehmen, und es doch nie versucht? Ich bin eine Meisterin darin, seelische Schmerzen zu erdulden, physische sind ein ganz anderes Kaliber.

Ich beiße die Zähne zusammen und blicke nach unten, wo sich Blutstropfen auf meiner Haut bilden. Übelkeit steigt in mir auf. Das Messer in meiner Hand zittert.

Fuck, ich habe nicht mal tief geschnitten. Das ist noch gar nichts.

Sekundenlang verharre ich reglos.

Wie hat Ioanna das durchgezogen? Und alle vor ihr? Wie kann man bei vollem Bewusstsein …

Hinter mir ertönt ein Rascheln, dann legt sich eine Hand über meine, die das Messer hält.

»Schließ die Augen«, flüstert Ari. Er hat sich hinter mich gesetzt, seine Oberschenkel drücken gegen meine, und obwohl alles in mir sich dagegen wehrt, lehne ich mich mit dem Rücken gegen seine Brust. Ich sollte allein sein. Ich will stark genug sein. Aber er ist da. Er war immer da.

Ich schließe die Augen.

»Denk an den Schmerz«, fährt er fort.

Ich denke an Nächte voller Einsamkeit. An das Gefühl, nirgendwo dazuzupassen. An meine Eltern. Ich denke an mein Gesicht im Spiegel und an die Frage, die sich durch mein gesamtes Leben gezogen hat: Was ist falsch mit mir?

Ari umklammert meine Hand, holt aus und rammt mir das Messer in die Brust.

Ich will schreien, doch kein Laut kommt mir über die Lippen. Meine Lider flattern auf. Mit der freien Hand umklammere ich seine, die neben mir im Schnee ruht. Er erwidert den Druck.

Sein heißer Atem an meinem Nacken. Sein vertrauter Geruch. Und dann wieder alles verzehrender Schmerz.

Die Angst ist größer. Größer als meine Einsamkeit, größer als das Gefühl, falsch in diesem Leben zu sein. In diesem Moment verstehe ich, dass ich es niemals allein durchgezogen hätte. Suizidgedanken sind eine Sache, sich das Herz aus der Brust zu schneiden eine ganz andere.

»Hör auf!«, will ich brüllen. »Ich schaffe das nicht!«

»Wenn dein Schmerz nicht reicht«, raunt er mir ins Ohr. »Denk an ihren.«

Die Welt friert ein und ich mit ihr.

Natürlich. Er hat recht. Das ist die Lösung.

Und so sehr er meine Gefühle für Ioanna zuvor in den Dreck gezogen und sie trivialisiert hat, so sehr scheint er inzwischen zu verstehen.

Ich erinnere mich daran, was sie mir in unserem Hotelzimmer in Larisa erzählt hat. An Tage, Wochen, Monate voller Taubheit. An eine Einsamkeit, die sich in die Knochen sengt, einen von innen heraus auffrisst. An ihre Eltern, die sie nicht akzeptiert haben. An ihre Schwester, die sie zu diesem Schicksal verdammt und dann im Stich gelassen hat.

Ioanna, nur wenig jünger als ich, als sie ihr Leben verlor. Ioanna, die jedes Jahr zu mir zurückkehrt, obwohl ich mich nicht an sie erinnere. Ioanna, die mehr verdient.

Aris Hand, meine Hand, ich kann nicht sagen, welche das Messer führt. Schwindel überfällt mich, unsere Umgebung verschwimmt, erbebt. Aber wir hören nicht auf. Wir gehen bis zur Grenze der Unerträglichkeit und darüber hinaus. Ich wünsche mir, das Bewusstsein zu verlieren, doch ich nehme alles wahr.

»Danke«, wispere ich lautlos. »Danke, dass du bei mir bist.«

Inmitten der Endlosigkeit Aris Stimme: »Du musst es herausnehmen. Ich grabe ein Loch. Daphne? Nicke, wenn du mich verstehst. Ich werde dich jetzt loslassen.«

Ich nicke, obwohl ich den Kopf schütteln will. Ich greife mir an die Brust. Nass und heiß. Statt zurückzuzucken, statt mich zu übergeben, nehme ich mein Herz behutsam zwischen die Hände und halte es vor mich. Ioanna hatte recht. Im Gegensatz zu dem Blut, das mir über die Haut rinnt und den Schnee tränkt, ist das Organ eiskalt.

Es dauert nur wenige Sekunden, bis Ari ein Loch in die Erde gegraben hat. Es dauert eine ganze Ewigkeit. Der Schmerz weicht vor mir zurück wie Silberfische vor dem Licht. Pures Adrenalin fließt durch meine Adern.

Ich erwidere Aris Blick, während ich das Herz in die Erde lege. Tränen strömen ihm übers Gesicht. Dafür bleiben meine Wangen trocken. Alles wird gut werden. Noch nie war ich mir einer Sache so sicher.

»Du musst zur alten Bahnhofshalle«, durchbricht er die Stille. »Durch den Wald. Die anderen Kalikanzari werden dich mitnehmen.«

Ich will etwas antworten, ihn fragen, woher zur Hölle er das weiß, aber in diesem Augenblick erklingen die Kirchenglocken.

»Hau ab!«, schreit er.

Ich erhebe mich. Schaue an mir herab. Meine Brust ist blutverschmiert, aber unversehrt. Ohne dass ich etwas davon mitbekommen habe, ist das klaffende Loch zugewachsen.

»Ari …«

»Verschwinde!«

Als ich loslaufen will, brüllt er wieder los: »Nicht den Weg, den du hoch genommen hast!« Er weist hinter sich. »Hier lang. Und wenn du den Herzschlag eines Menschen hörst, versteck dich! Schaue niemandem in die Augen, bis du die anderen gefunden hast! Versprich es mir. Daphne! Wenn du stirbst, war alles umsonst.«

Ich gehorche, während die Kirchenglocken immer lauter zu werden scheinen. Was bleibt mir auch anderes übrig?

Sollte ich das hier überleben, werde ich ihn während der nächsten Raunächte fragen, warum er mir geholfen hat.

Und woher er wusste, was zu tun ist.

2

Ioanna

6. Januar

Gegenwart

Nach Mitternacht

»Ich erinnere mich an alles«, krächze ich.

Ari starrt mich an, als wäre er drauf und dran, mir an die Gurgel zu gehen. Mein Herz rast, große rotschwarze Punkte legen sich über mein Sichtfeld. Mühsam blinzelnd verscheuche ich sie, nur damit sie Momente später zurückkehren.

Das Blut an seinem Hemd … Das Blut …

»Es ist unmöglich, dass du dich erinnerst«, zischt er.

»Das Gleiche könnte ich zu dir sagen«, würge ich hervor.

Er ist ein Mensch. Die Kirchenglocken sind längst verklungen, Mitternacht liegt hinter uns. Menschen erinnern sich nicht an die Raunächte. Aber auch ich bin jetzt ein Mensch, und mein Gedächtnis ist unversehrt. War auch Ari mal ein Kalikanzari? Hat sich jemand für ihn geopfert? Kann das möglich sein?

Er erhebt sich und fährt sich mit beiden Händen durch die dunklen Locken, zerrt daran, bis es mir allein vom Zusehen wehtut. Dann zuckt sein Blick an mir vorbei nach unten, zum Fuß des Berges.

Ein einziges Wort verlässt seine Lippen: »Polizei.«

Ich stütze mich im Schnee ab und stehe ebenfalls auf. Wovon redet er? Wen interessiert so etwas Belangloses wie die Polizei?

»Wo ist Daphne?«, fauche ich. »Ist sie in Sicherheit?«

Ohne eine Antwort lässt er mich stehen und beginnt zügigen Schrittes mit dem Abstieg.

Ich wirbele herum und folge ihm. Es dauert eine ganze Weile, bis ich ihn eingeholt habe, weil ich aufpassen muss, nicht auszurutschen.

»Hey! Ich rede mit dir!«

Er reagiert noch immer nicht, beschleunigt lediglich seine Schritte, also renne ich vor ihn und schneide ihm den Weg ab.

»Beantworte meine Frage.«

Seine Nasenflügel beben. »In Sicherheit?«, echot er verächtlich. »Jetzt denkst du an ihre Sicherheit?« Unvermittelt lacht er los. Hoch und laut und beängstigend.

Ich stolpere einen Schritt zurück, verliere das Gleichgewicht, schlittere einen Meter abwärts, bis ich mich wieder fange. Mein Magen zieht sich zusammen.

Ehe ich etwas erwidern kann, verebbt sein Lachen. »Geh mir aus den Augen, sonst kann ich gleich für nichts mehr garantieren.«

Wut kocht in mir hoch, doch obwohl ich als Mensch nie gut darin war, sie zurückzudrängen, gelingt es mir jetzt dennoch. Es geht nicht mehr um mich. Alles, was zählt, ist Daphne.

»Ich weiß, du konntest mich nie leiden, aber …«

»Dich nicht leiden?« Mit zwei großen Schritten ist er bei mir und packt mich wieder bei den Schultern.

Erneut komme ich ins Rutschen. Wir beide. Er lässt mich nicht los, auch nicht, als wir den Berg weiter halb herunter stolpern, halb fallen.

Seine Finger graben sich in meine Haut. »Du denkst, es geht hier um Eifersucht?«, donnert er. »Dass ich wütend bin, weil sie sich für dich entschieden hat?«

»Worum denn sonst?«, schreie ich zurück.

Von weiter unten dringt ganz leise Stimmengewirr zu uns herauf, das der brausende Wind Sekunden später allerdings verschluckt.

Ari erwidert etwas, doch ich höre ihn nicht, denn ich stoße gegen etwas Hartes, einen Stein unter dem Schnee oder eine besonders dicke Wurzel, und stolpere. Als ich zu Boden gehe, wird er mitgerissen, und mit einem Mal befindet sich sein Gesicht direkt vor meinem.

Keuchend weiche ich zurück und werfe einen Blick nach unten.

Wir sind nur noch wenige Meter vom Fuß des Bergs entfernt. Ein Polizeiauto mit blinkendem Blaulicht ist neben dem Taxi zu sehen, mit dem ich hergekommen bin. Zwei Gestalten stehen dazwischen und erwecken den Anschein, als würden sie etwas untersuchen.

Fluchend wende ich mich ab. »Die sind wegen mir hier.«

Ari kneift die Augen zusammen. »Was?«

Die Zeit der Geheimnisse ist vorbei.

Ich atme einmal tief durch. »Ich hab das Auto in Larisa geklaut.«

»Larisa.« Er wirkt, als wäre ihm schlagartig schlecht geworden.

»Ich hatte keine andere Wahl, okay?« Wütend rappele ich mich auf. Währenddessen vergewissere ich mich, dass Daphnes Handy nach wie vor in meiner Hosentasche steckt. Sie hatte es im Hotelzimmer zurückgelassen, und ich habe es mitgenommen. »Irgendwie musste ich ja nach Dodekada kommen.«

Und ich bin zu spät gekommen. Ich habe Daphne im Stich gelassen.

Aber sie war nicht allein, dieser Mistkerl hat ihr Gesellschaft geleistet. Und jetzt steht er kurz davor, mich umzubringen, wenn ich seine hasserfüllte Miene richtig deute.

Kann ich ihm das wirklich verübeln? Es ist alles meine Schuld.

Mit einem Satz ist auch Ari auf den Beinen. Er sieht an sich hinab und beginnt dann, seinen Mantel zuzuknöpfen.

Ich selbst trage keine Jacke, nur Jeans und einen Strickpullover. Daphnes Pullover. Das Erstbeste, was ich mir im Hotelzimmer übergezogen habe. Als sie abgehauen ist, hat sie mein Oberteil angezogen. Erst jetzt fällt mir auf, dass mein Körper von einer dicken Gänsehaut überzogen ist. Scheiße, ist es kalt! Kein Vergleich zu sonst während der Raunächte. Ich habe es genossen zu frieren, weil es eine starke Empfindung war. Nun ist es beinahe unerträglich.

Ari scheint nicht zu frieren. Als er beim obersten Knopf angekommen ist, kapiere ich, wieso er das tut. Das Blut an seinem Hemd.

Sobald er fertig ist, deutet er nach unten. »Ich hoffe, du kannst schauspielern.«

Ohne mir die Gelegenheit zu geben zu reagieren, tritt er zu mir und legt mir fest einen Arm um die Schultern.

»Verpiss dich!«, stoße ich hervor und will ihn von mir schieben, doch sein Griff ist eisern.

»Halt die Klappe«, gibt er mit bebender Stimme zurück. »Oder hast du eine bessere Idee, wie wir an denen vorbeikommen?«

Ich öffne den Mund und schließe ihn wieder.

Er will mir helfen?

Zu überrumpelt, um mich zu wehren, füge ich mich und laufe mit ihm das restliche Stück nach unten, während mein Herz schneller klopft.

Als wir bei den Autos angelangt sind, treten zwei Männer in Uniform dazwischen hervor.

»Guten Abend«, sagt der Größere. Er hat einen gigantischen Schnurrbart und trägt eine Schiebermütze, unter der zotteliges Haar hervorlugt. Fehlt nur noch die Pfeife. Einen kurzen Moment denke ich an meinen Vater. »Was machen die Herrschaften zu so später Stunde hier?«

Der Kleinere, mit spitzem Kinn und verkniffener Miene, legt den Kopf schief und mustert uns eingehend.

»Meine Freundin wollte unbedingt Sternschnuppen sehen«, sagt Ari und lacht kehlig und warm. »Aber das wird heute wohl nichts mehr, was, mein Schatz?«

Ich ringe mir ein Lächeln ab, obwohl mir bei seinen Worten übel wird. Wieso machen wir uns überhaupt die Mühe, die Polizisten zu täuschen? Daphne ist weg. Daphne ist eine Kalikanzari. Meinetwegen. Und Ari …

»Na, du bist ja ein toller Freund«, erwidert der größere Polizist trocken. »Lässt sie hier ohne Jacke rumlaufen.«

Zum ersten Mal sehe ich ihm in die Augen. »Vielleicht habe ich ja Lust, so rumzulaufen.«

Ari lacht erneut, diesmal mit einem schrillen Unterton. »Wie auch immer – ich hoffe, es ist alles in Ordnung? Können wir Ihnen weiterhelfen?«

Der kleinere Mann räuspert sich. »Wir sind auf der Suche nach einer jungen Frau, deren Beschreibung exakt auf deine Freundin zutrifft.« Ein Glitzern tritt in seine Augen, als er sich mir zuwendet. »Wo warst du in der letzten Stunde, Puppe?«

Ich geb dir gleich Puppe!

»Bei meinem Freund. Wieso?«, erwidere ich und kuschele mich enger an Ari, der für einen Moment ganz starr wird, nur um mich im nächsten dichter an sich zu ziehen.

»Wir haben den ganzen Abend gemeinsam verbracht«, sagt er ruhig. »Und wir würden jetzt gerne nach Hause gehen, falls es Ihnen nichts ausmacht. Es ist wirklich sehr kalt. Sollten Sie weitere Informationen benötigen, können Sie sich gern unsere Namen und die Anschrift notieren.«

Der Größere zückt sein Handy.

»Aristotelis Nikolaidis«, sagt Ari, woraufhin beide Polizisten innehalten und einen schnellen Blick tauschen.

»Du bist der Junge von Pavlos Nikolaidis?«, sagt der Kleinere in völlig verändertem Tonfall. Er klingt beinahe mitleidig.

Aris Halsschlagader zuckt. Sein Lächeln verrutscht. »Der bin ich.«

Sekunden verstreichen wie Minuten.

»Haut schon ab«, brummt der größere Polizist schließlich mit einem Seufzen.

Das lassen wir uns nicht zweimal sagen.

3

Ioanna

6. Januar

Gegenwart

Nach Mitternacht

Die Tür fällt geräuschvoll hinter uns zu.

Es ist eine schlechte Idee, sich hier aufzuhalten, aber ich habe keine Ahnung, wo ich sonst hin soll, also bin ich Ari wortlos gefolgt.

Sobald wir außer Sichtweite der Polizei waren, hat er mich abrupt losgelassen. Den ganzen Weg über habe ich keinen Ton über die Lippen gebracht, jetzt drückt die Stille schmerzhaft auf meine Ohren. Außerdem ertrage ich den Anblick der Wohnung nicht. Eine Kochnische links neben der Eingangstür, dann der Wohnbereich, Bücherregale, ein Kamin, ein Rattansessel, ein Juteteppich. Alles ist hell und freundlich. Erwachsen. Normal. Dieses Leben, von dem ich nie ein Teil gewesen bin. Und dann der Geruch …

Ich kicke mir die Stiefel von den Füßen. »Warum hast du das getan?«, frage ich, während ich meinen Blick über den Wohnbereich und die Küche wandern lasse. Daphne hat so viel Zeit hier verbracht. So viel Zeit, in der sie vergessen hat, dass ich überhaupt existiere. Und jetzt ist sie weg. »Warum hast du mir geholfen?«, frage ich lauter, als keine Antwort folgt.

Ari hat Schuhe und Mantel bereits ausgezogen und ist jetzt damit beschäftigt, mit fahrigen Bewegungen sein Hemd aufzuknöpfen. Die Deckenbeleuchtung ist zu grell. Ich ertrage die Helligkeit nicht. Es sind zu viele Details. Die Kratzer im Parkettboden. Die Staubschicht auf der Stehlampe. Es ist alles zu … zu menschlich. Wie lange ist es her, dass ich eine Wohnung von innen gesehen habe?

»Wir müssen sie zurückholen«, entfährt es mir.

Das Wir hallt in mir wider, als wollte es mich verhöhnen. Scheiß drauf! Er ist meine einzige Option, oder?

Da scheint mich Ari endlich zu registrieren. »Du hast offensichtlich keine Ahnung, wie das funktioniert«, stößt er hervor. »Die Raunächte sind vorbei.«

Natürlich weiß ich das. Aber woher weiß er das?

Sein Blick wird glasig. »Es war meine Aufgabe«, murmelt er wie zu sich selbst und kämpft erfolglos mit einem der Knöpfe, wird immer aggressiver. »Ich hätte sie beschützen müssen.«

»Hör auf damit!« Ich gehe auf ihn zu, verharre jedoch, als uns nur noch eine Armlänge trennt. »Es ist meine Schuld. Nur meinetwegen …«

»Es war mein Job!«, brüllt er, lässt von seinem Hemd ab und starrt mich mit blutunterlaufenen Augen an. »Es war alles, was ich zu tun hatte!«

»Wovon redest du?«, wispere ich, und mein Herz poltert wieder los. Ich hasse jedes Pulsieren und Schlagen in mir. Es ist eine Erinnerung an ihr Opfer, um das ich sie nie gebeten habe. Und es ist eine Erinnerung daran, dass der Fluch auch ein Segen war.

Unverständliche Worte dringen aus seinem Mund, immer wieder rauft er sich die Haare, während er auf und ab geht. Sein halb geöffnetes Hemd beachtet er nicht mehr. Das Blut darauf ist getrocknet und wirkt beinahe schwarz.

»Warum bin ich hier?«, will ich wissen, und als er nicht antwortet, kämpfen sich weitere Fragen an die Oberfläche, sprudeln regelrecht aus mir hervor. »Wieso erinnerst du dich? Wer bist du wirklich? Wieso war es dein Job? Was meinst du damit? Was zur Hölle geschieht hier? Wie kann es sein, dass ich wieder ein Mensch bin? Wie kann sie weg sein?« Und dann die wichtigste, die schrecklichste: »Warum hat sie das getan?«

Ari bleibt stehen. »Weil sie dich liebt.« Er schnaubt. »Nicht wahr? Liebe trotzt allen Widerständen. Liebe zwingt selbst den Tod vor Demut in die Knie. Sie hat es selbst gesagt. Mit dir ist es anders.«

Meine Wut verpufft auf einen Schlag.

»Das ist keine Liebe.« Tränen quellen aus meinen Augen hervor. »Das ist purer …«

»Für Reue ist es zu spät, Ioanna.«

Plötzlich wünsche ich mir, er würde mich beleidigen. Plötzlich will ich einen Kampf.

Ach was, ich will nur bestraft werden.

Und dennoch kann ich dem Bedürfnis, mich zu rechtfertigen, nicht widerstehen. »Ich wollte nie …«

»Es ist zu spät!«, schreit er. »Es ist vorbei!«

Eine ganze Weile herrscht Stille. Meine Gedanken überschlagen sich. Was Daphne wohl gerade tut? Fühlt sie etwas? Wie sind die Regeln bei Menschen, die sich freiwillig markieren lassen?

Nein, nein, das wird mich jetzt nicht weiterbringen. Eins nach dem anderen.

»Bist du wie ich?«, frage ich Ari.

Wut blitzt in seinen braunen Augen auf. »Was?«

»Warst du ein Monster? Hat sich jemand für dich geopfert?«

Schon wieder lacht er sein kaltes grausames Lachen. Eine Antwort gibt er mir nicht.

Ich weiß nicht, wie mir geschieht. Ich weiß nicht, was genau ich bezwecke, woher meine Eingebung kommt. Doch im nächsten Augenblick setzen sich meine Beine wie von allein in Bewegung.

Als ich bei ihm angekommen bin, strecke ich eine Hand aus und presse sie ihm auf seine nackte Brust. Seine vernarbte Brust, wie mir in dem Moment auffällt. Auf die linke Seite.

Er zuckt zurück, aber ich lasse nicht von ihm ab.

Sekunden später hat er mich bei den Schultern gepackt und heftig zurückgestoßen.

Ich strauchle, fange mich wieder. Mein Herz rast so heftig, dass mir wieder schwindelig wird.

»Das ist nicht möglich«, wispere ich.

»Ach ja?« Reine Mordlust liegt in seinem Blick. »Genau wie es nicht möglich ist, eine Kalikanzari zu sein und wieder ein Mensch zu werden?«

Der Raum beginnt zu rotieren.

»D-Du … Du bist kein …« Ich kann den Satz nicht vervollständigen, doch die Erkenntnis breitet sich in Rekordschnelle in mir aus.

In seiner Brust pocht kein Herz.

4

Aristotelis

1. Januar

Sieben Jahre zuvor

Nach Mitternacht

»Dein Vater wollte immer mehr Kinder«, pflegte meine Mutter zu jedem meiner Geburtstage zu sagen. »Aber als du auf die Welt kamst, hat er gemerkt, dass du mehr als genug bist.« Sie lächelte dann immer, sodass ihre Grübchen in den Wangen zum Vorschein kamen.

Ich erwiderte ihr Lächeln, bis ich alt genug wurde, um die Wahrheit zu erkennen. Mein Vater hatte keine Kinder mehr gewollt, weil er keine weitere Enttäuschung ertragen hätte.

Das ließ er mich nicht spüren, nicht zu Beginn zumindest. Erst nachdem sein Herz zu schlagen aufgehört, nachdem sich die Kälte in seinen Blick geschlichen hatte und nicht mehr mit bloßer Ungeduld verwechselt werden konnte. Erst nachdem er als ein Mann in die Wälder gegangen war, die Dodekada umgeben, und als Monster zurückkehrte. Das verstand ich damals noch nicht. Ich war nur ein stiller Junge, der Angst vor der ganzen Welt hatte. Angst vor Stürmen, die Bäume zum Umstürzen bringen könnten. Angst vor dem Wind, der wie das Wispern der Toten klang. Angst vor der Dunkelheit. Angst davor, an der Supermarktkasse zu wenig Geld dabeizuhaben. Angst davor, meine Mutter traurig und meinen Vater wütend zu machen. Angst war meine treuste Begleiterin.

Im Nachhinein war es beinahe witzig. In der einzigen Situation, in der ich mich wahrhaftig hätte fürchten sollen, hatte ich keine Sekunde gezögert.

Die Tür zur Werkstatt meines Vaters öffnete sich mit einem Knarzen. Eine gefühlte Ewigkeit tastete er nach dem Lichtschalter, bis ich mich seiner erbarmte und den Schalter selbst umlegte.

Zwar zuckte er nicht zusammen, doch sein Atem stockte, als er mich erblickte. Sein dünnes Haar glänzte feucht, seine Brille war beschlagen. Er trug eine Daunenweste über seinem Pullover, beide Kleidungsstücke waren ihm zu groß. In den letzten Jahren hatte er abgenommen, aber sich nie neue, passende Klamotten besorgt. Als wäre der Akt allein ein zu großes Eingeständnis, dass sich etwas verändert hatte. Und Veränderungen hasste mein Vater sogar noch mehr als seinen einzigen Sohn.

»Was tust du hier, mitten in der Nacht?«, blaffte er mich an.

»Ich habe auf dich gewartet.«

Es war unfassbar, wie ruhig meine Stimme klang. Hatte sie je so ruhig geklungen, wenn ich mit ihm sprach? Normalerweise raste mein Herz schon los, wenn ich seine schweren Schritte vernahm. Selbst als ich gewachsen und ihm körperlich eindeutig überlegen war, hatte sich daran nichts geändert. Jetzt gab es nichts mehr in meiner Brust, was rasen konnte.

Seine Augen wurden schmal. »Du solltest längst im Bett sein.«

Normalerweise scherte er sich nicht darum, wie lange ich mich draußen herumtrieb – je weniger er mich zu Gesicht bekam, desto besser, nahm ich an –, doch jedes Jahr in der Silvesternacht hatte er darauf bestanden, dass ich zu Hause blieb. Ich hatte mich nicht dagegen gewehrt. So konnte ich mir wenigstens einbilden, dass er der Grund war, aus dem ich den Abend nicht mit Freunden verbrachte, nicht die Abwesenheit von ebensolchen in meinem Leben.

»Wer hat dich damals markiert?«, fuhr ich fort, als hätte er nichts gesagt.

Sämtliche Farbe wich ihm aus dem Gesicht. War das schon die Wirkung meines Opfers? War er bereits dabei, wieder ein Mensch zu werden?

Seine Lippen teilten sich, doch nur ein Krächzen drang daraus hervor.

»Lass uns keine Zeit verschwenden.« Ich lächelte. »Du musst es nicht leugnen, ich weiß alles.«

Die Lücken in seinen Notizbüchern, die er unter dem Zwischenboden einer Schublade, in der sich altes Werkzeug befand, versteckt hatte, hatte die Kalikanzari gefüllt, die mein Herz heute auf meine Aufforderung hin zum Stillstand gebracht hatte. Ich war bereit. Und zum ersten Mal in meinem Leben war ich nicht nur furchtlos, sondern konnte mich kaum daran erinnern, jemals Angst gehabt zu haben.

Als mein Vater seine Stimme wiederfand, klang sie wie die eines Fremden. »Ich habe etwas Schreckliches getan, Ari.« Er blinzelte heftig. »Hätte ich damals gewusst … Es ist alles meine Schuld. Ich wollte nur helfen. Ich konnte nicht ahnen, was aus mir werden würde … aus dir.«

Seine Augen glänzten, Sekunden später folgte die erste Träne. Ich hatte ihn noch nie weinen sehen. So oft hatte ich mir in der Vergangenheit gewünscht, einem seiner Gefühlsausbrüche beizuwohnen. Meiner Mutter zufolge gab es diese, doch mir gegenüber hatte er sich stets vollkommen emotionslos gezeigt. Ich hatte mich ihm verzweifelt näher fühlen wollen. Wie konnte ich von einem Menschen abstammen, der so wenige Gefühle hatte, während ich ein Opfer meiner war? Doch so sehr ich mich früher danach gesehnt hatte, jetzt widerten mich seine Tränen an. Es war eine Herausforderung, nicht zurückzuweichen.

»Ich dachte, dir würde es gut ergehen, weil du noch deine Mutter hast«, brachte er hervor. Ich war mir sicher, das erzählte er mir nur, weil er wusste, bald wären die Raunächte vorbei und ich würde alles vergessen. »Er dagegen hatte niemanden. Ich war mir sicher, ich tue das Richtige. Ich wollte nie, dass du … Mein Sohn, ich bereue so sehr, dich im Stich gelassen zu haben. Du bist so viel besser als ich. So viel stärker. Du …«

Wut rauschte durch meine Adern. Heiß und schäumend und alles verzehrend.

»Hör auf«, sagte ich. »Es ist jetzt vorbei.«

Mit starrer Miene blickte er zu mir auf. »Was?«

»Ich bereue es nicht. Und ich schwöre dir, ich werde es auch später nicht bereuen. Denn du hast recht – ich bin stärker als du.«

Einen Moment lang blieb er still, dann packte er mich bei den Schultern und schüttelte mich. »Wovon redest du?«

»In sechs Nächten«, murmelte ich. »In sechs Nächten hast du dein Herz wieder.«

Sein Griff wurde fester. Er sollte wehtun, doch ich spürte nichts als klare, köstliche Erleichterung.

»Ari!«, schrie er. »Ari, nein. Du kannst nichts davon wissen. Du bist nur ein Kind.«

Ich war ein Kind, das gelernt hatte, dass meine Gefühle mich davon abhielten, ein Teil dieser Welt zu sein. Ich war ein Kind mit einer Mutter, die um ihren Mann trauerte, als wäre er tot, obwohl er tagein, tagaus neben ihr einschlief, und mit einem Vater, der seine Gefühle gemeinsam mit seinem Herz unter dem Weltenbaum begraben hatte.

Am Ende dieser Raunächte würde ich es ihm gleichtun. Und dann würde ich endlich frei sein.

»Das kann nicht sein«, stammelte er. »Du kannst nicht … Das ist nicht möglich … Ari …«

Ich packte seine Hand, löste sie von meiner Schulter und presste sie auf mein Herz.

Ein unmenschlicher Laut verließ seine Lippen.

»Natürlich ist es möglich«, flüsterte ich sanft. »Du hast es mir schließlich vorgelebt.«

Ein Teil von mir dachte zu diesem Zeitpunkt noch, ich täte es aus purem Trotz. Mein Vater hatte den einfachsten Ausweg gewählt und mich allein gelassen, wieso sollte ich ihn nicht mit seinen eigenen Waffen schlagen? Doch mit der Zeit würde ich verstehen, dass ich tatsächlich nur ein Kind gewesen war, das es nicht mehr ertrug, seine Mutter leiden zu sehen, seinen Vater auch nur einen weiteren Tag zu enttäuschen.

Und dass dieser Weg alles andere als einfach war.

»Du hast dich markieren lassen?«, brüllte er, und ich trat zurück, während ich nickte.

Plötzlich wurde er ganz ruhig. Bevor ich verstand, was er tat, war er zwischen dem Gerümpel seiner Werkstatt verschwunden und tauchte kurz darauf mit einer Spirituosenflasche wieder auf. Mit zitternden Händen schraubte er den Deckel ab, dann stürzte er auf mich zu, nagelte mich an die Wand und begann den Inhalt über mir auszuleeren.

Ich riss den Kopf zurück, damit das Zeug mein Gesicht verfehlte, doch mein Hemd war binnen Sekunden durchtränkt.

Es ging alles viel zu schnell.

»Ich kann das nicht zulassen«, hörte ich ihn wie aus weiter Ferne sagen, und dann sah ich sein Zippo aufschnappen.

Ich erinnerte mich vor allem an die Gravur darauf, seine Initialen, und daran, wie ich es ihm zu seinem Geburtstag geschenkt hatte. Mein Vater wurde wütend, wenn man ihn auf seinen Geburtstag ansprach, so auch in diesem Fall, aber benutzt hatte er es seitdem täglich.

»Das ist kein Leben, Ari.«

Sein wilder Blick, voller Gefühle. Nie zuvor hatte ich meinen Vater so menschlich erlebt wie in dem Moment, in dem er mich umzubringen versuchte.

Die Flammen stiegen an mir empor, die Hitze traf mich zeitverzögert. Ich schrie nicht, obwohl der Schmerz unerträglich war. Kurz darauf ging ich zu Boden und schloss die Augen, während das Schluchzen meines Vaters lauter wurde.

Das Letzte, was ich hörte, war die Stimme eines kleinen Mädchens, glockenhell und sanft: »Ich werde mich ab jetzt um dich kümmern.«

Dann verlor ich das Bewusstsein.

Meinen Vater sah ich nie wieder.

5

 

Ioanna

6. Januar

Gegenwart

Nach Mitternacht

Ich stürze in die Küche und öffne alle Schubladen in Reichweite, bis mein Blick auf die Magnetleiste über dem Spülbecken fällt.

Ein entnervtes Stöhnen erklingt hinter mir, aber ich achte nicht darauf, sondern greife nach dem Messer mit der größten Klinge und wirble herum.

Ari kommt mir entgegen. »Hör auf, unsere Zeit zu verschwenden.«

Zeit verschwenden – alles, worum ich mich während der Raunächte gesorgt habe. Nun habe ich nichts als Zeit. Mit Gefühlen, aber ohne Daphne.

»Das ist nicht möglich!«, schreie ich.

Es gelingt ihm endlich, sein Hemd vollständig aufzuknöpfen, und er streift es ab, bevor er es achtlos zu Boden gleiten lässt.

Dunkles Haar bedeckt seine Haut, unregelmäßig, denn der Haarwuchs ist durch große rosafarbene Narben durchbrochen. Im Schein der Deckenlampe glänzen sie.

Auch ich habe Narben aus dem Davor.

Ari hält mir einen Unterarm hin. »Hier. Nur zu.« Seine Stimme bebt vor unterdrückter Wut.

Als ich nicht reagiere, ihn stattdessen nur anstarre, packt er meine Hand, die das Messer hält, richtet es gegen sich selbst und fährt in einer schnellen Bewegung mit der scharfen Seite über seine Haut.

Blut tritt hervor wie bei mir, als ich Daphne diesen Trick demonstriert habe, es läuft seinen Arm entlang, doch nur einen Augenblick später ist kein Schnitt mehr zu sehen.

Ich sollte es verstehen. Rational weiß ich, was hier geschieht, denn ich habe es am eigenen Leib gespürt. Aber nie außerhalb der Raunächte.

Ich starre auf seinen Arm und zurück in sein Gesicht.

Als Kalikanzari müsste er in der Nähe eines Menschen sterben.

Was, wenn ich kein richtiger Mensch bin? Was, wenn er deshalb unversehrt vor mir stehen kann?

Mein Herz rast und rast. Ohne darüber nachzudenken, drehe ich meine Hand, setze die Klinge an und imitiere den Schnitt auf meiner Haut, so fest ich kann.

Der Schmerz ist scharf und klar. Für ein paar erleichternde Sekunden ist er alles, worauf ich mich konzentrieren kann.

Dann kommen mir die Polizisten in den Sinn. Sie waren definitiv richtige Menschen. Dennoch hat Ari sich problemlos mit ihnen unterhalten können.

Sein Fluchen reißt mich zurück in die Gegenwart. Im nächsten Moment hat er mir das Messer aus der Hand genommen und in die Spüle hinter mir geschmissen. Er greift nach der Küchenrolle auf der Anrichte, reißt ein Stück ab, knüllt es zusammen und presst es auf meinen Schnitt, der blutet und blutet und nicht aufhören will zu bluten.

»Bist du jetzt zufrieden?«, zischt er.

Wir sind uns viel zu nah. Sein fremder Geruch steigt mir in die Nase. Er ist nur wenige Zentimeter größer als ich. Seine Augen sind nicht so dunkel wie Daphnes, um die Pupillen herum haben sie einen hellgrünen Kranz. Wie oft hat sie in diese Augen geschaut, bis sie sich in ihn verliebt hat? Wie oft hat sie in seinen Armen gelegen? Wie oft ist sie neben ihm aufgewacht?

Der Moment vor der Kathedrale an Weihnachten kommt mir in den Sinn, als ich Daphne und Ari zum ersten Mal zusammen gesehen habe. Als mir die Eifersucht die Luft abgeschnürt hat. Nicht weil er ein Mann, sondern weil er ein Mensch war und ihr alles geben konnte, was sie von mir nie bekommen würde.

Ein Mensch. Ein gottverdammter Mensch. Menschen haben Herzschläge. Menschen sind nicht unverwundbar.

»Sag mir, wie das möglich ist«, stoße ich hervor, doch das ist nicht alles, was ich wissen will. »Sag mir, seit wann du so bist.«

»Einen Dreck werde ich dir erzählen!«, schleudert er mir entgegen. »Deinetwegen stecken wir überhaupt erst in dieser Scheiße!«

Der Schock darüber, was Daphne getan hat, meine Reue, all die Schuldgefühle schmelzen ineinander und bilden etwas Neues, Mächtigeres. Der Schmerz in meinem Arm ist nur mehr ein entferntes Pochen. Meine unverletzte Hand schnellt vor und schließt sich um seinen Hals. Ich nutze den Überraschungsmoment, um ihn gegen den Kühlschrank zu pressen und zuzudrücken. Das blutige Stück Küchenrolle fällt auf die Fliesen.

»Ich will Antworten«, knurre ich. »Jetzt sofort.«

Schon wieder lacht er, macht allerdings keine Anstalten, sich zu wehren.

»Mutig.« Er hält mich mit seinem Blick gefangen.

Ich drücke fester zu. Einen Herzschlag lang habe ich fast den Eindruck, als würde er es genießen. Nicht meine Berührung, sondern die Illusion von Schmerz.

»Dabei hast du doch gerade gesehen, dass ich dir überlegen bin.«

Warmes Blut rinnt meine Haut hinab. Die Empfindung ist so ungewohnt, dass ich beinahe in Tränen ausbreche.

»Wenn du ein Kalikanzari bist«, fauche ich. »Wenn du hier sein kannst, dann können wir auch Daphne zurückholen.«

Es ist irrsinnig. Ich denke an die Leiche der Kalikanzari, die auf der Insel angespült wurde, nachdem sie einem Menschen begegnet war. Ich denke an jede Warnung, an jedes Monster, das es nicht wagt, sich dem Fluch zu widersetzen. Ich denke an mich, all die Tage und Nächte gefangen auf der Insel.

Beim Klang von Daphnes Namen flackert etwas in Aris Augen auf. Eine Emotion, vor die er sogleich wieder kalte Berechnung schiebt. »Sie ist nicht wie ich.«

Irgendetwas stimmt nicht.

»Sag ihren Namen«, verlange ich.

Vorhin ist mir nicht aufgefallen, dass er ihren Namen kein einziges Mal ausgesprochen hat, weil ich zu sehr in meinem eigenen Gefühlsstrudel gefangen gewesen bin.

Statt mir zu antworten, presst er die Lippen aufeinander, als hätte er Angst vor jedem Wort, das entweichen könnte.

Mein Griff um seine Kehle lockert sich. »Was fühlst du?«

Ich klinge nicht mehr wütend. Dafür habe ich zu viele Fragen. Dieser Mistkerl ist mein einziger Anhaltspunkt. Zwar weiß ich, wo die Insel liegt, aber ich weiß auch, dass ich nur dorthin gelangen werde, sofern ich unsterblich bin. Also brauche ich ihn.

»Ich bin ein Kalikanzari«, presst er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Kurzerhand lasse ich ihn los, trete zurück und bücke mich nach dem Papier, um es mir erneut auf meine Wunde zu pressen.

»Und dennoch fühlst du etwas«, flüstere ich.

Sein Kehlkopf hüpft, als er hart schluckt.

»Wir müssen sie retten«, fahre ich fort.

»Wir werden gar nichts.«

»Warum bin ich hier?«

»Außerdem kommt jede Rettung zu spät. Sie hat kein Herz mehr.«

Ich habe keine Ahnung, woher ich die Kraft nehme, doch in diesem Moment schaffe ich es, all meine Schuldgefühle beiseitezuschieben, während ich ihn mit meinem Blick gefangen nehme und meine Lippen zu einem freudlosen Lächeln verziehe. »So wie du?«

Obwohl er mir tatsächlich überlegen ist, obwohl ich Angst vor ihm haben sollte, ist er es, der sich mit dem Rücken gegen den Kühlschrank drückt und gehetzt an mir vorbeischaut, verzweifelt auf der Suche nach einem Ausweg wie ein in die Ecke getriebenes Tier.

»Du liebst sie wirklich, oder?«, flüstere ich.

Jäh kehrt sein Blick zu mir zurück. Er muss es nicht aussprechen.

»Es war mein Job!«, hat er geschrien. Sie zu beschützen, war sein Job. Wer auch immer ihm den Auftrag dazu erteilt hat, wie auch immer es möglich ist, als Kalikanzari außerhalb der Raunächte unter Menschen zu weilen, einer Tatsache bin ich mir plötzlich sicher.

»Aber Gefühle für sie zu haben, war nicht Teil deines Jobs, habe ich recht?«

Angst. So viel Angst in seiner Miene. Es ist die Sorte, die einen aus dem Nichts trifft, eine Mischung aus Grauen und Erkenntnis. Ich habe sie in dem Hotelzimmer in Larisa verspürt, als ich begriffen habe, dass kein Herz mehr in Daphnes Brust schlägt. Es ist jene Angst, die vollkommen unvermittelt auftritt und jegliche Verdrängung unmöglich macht.

Das ist es. Das Wissen, das ich gegen ihn einsetzen kann.

Als sich Ari vom Kühlschrank abstößt, bin ich mir sicher, er wird sich auf mich stürzen.

In diesem Moment erklingt ein schrilles Klingeln.

Unsere Köpfe zucken zur Tür.

Wieder klingelt es.

Und noch einmal.

Da Ari keine Anstalten macht, sich zu bewegen, verdrehe ich die Augen und wende mich von ihm ab. Mit wenigen großen Schritten bin ich bei der Tür angelangt und reiße sie auf.

Eine Frau mit dunklem Kurzhaarschnitt und hellgrünem Wollmantel steht vor mir. Ich schätze sie auf Ende dreißig, höchstens Anfang vierzig. Ihr rundes Gesicht ist ungeschminkt. Sie trägt eine dunkle Brille, deren Gläser von feinen Regensprenkeln übersät sind. Trotz der Uhrzeit wirkt sie hellwach.

Sie nimmt die Brille ab und kneift die Augen zusammen. »Wer bist du?«

Blitzschnell huscht ihr Blick zu meinem verwundeten Arm, dann zu meinem Gesicht und schließlich hinter mich.

Ich hebe eine Braue. »Sollte ich das nicht Sie fragen?«

Irgendetwas an ihr kommt mir bekannt vor. Ihre lange Nase, der große Mund, der irgendwie nicht recht zum Rest passt … Kenne ich sie von früher, aus Athen?

Meine Brust scheint sich zu verengen. Die Zeit in Athen kommt mir nicht vor, als wäre sie Jahre her, sondern ganze Universen, Tausende Leben entfernt.

Sie streckt mir eine Hand mit perfekt manikürten roten Nägeln hin. »Mein Name ist Maria Dimitriou. Ich bin hier, um meine Tochter zu sehen.«

Mein Puls schießt in die Höhe. Ach du Scheiße … Daphnes Mutter. Das erste Jahr mit Daphne, als ihr Großvater sie gezwungen hat, das Telefonat anzunehmen. Nur zu gut erinnere ich mich an ihre von Tränen getränkte Stimme danach: »Ich spüre es. Jedes Mal, wenn ich mit ihr rede. Deshalb will ich nicht mit ihr telefonieren. Ich ertrage es nicht, wie sie mit mir umgeht. Sie behandelt mich, als hätte ich irgendetwas … Böses in mir, etwas Verdorbenes.«

Daphnes Mutter hat sie im Stich gelassen. Zwar hatten ihre Großeltern definitiv ihre Finger im Spiel, doch diese Frau ist verantwortlich für unglaublich viel Schmerz in Daphnes Leben. Sie ist die ideale Projektionsfläche, um für ein paar Sekunden zu vergessen, für wie viel von Daphnes Leid ich verantwortlich bin.

»Ach ja?«, zische ich. »Jetzt sind Sie hier, um Ihre Tochter zu sehen? Ein bisschen spät, oder?«

Ihre Gesichtszüge entgleisen ihr. Bevor sie sich eine Antwort überlegen kann, spreche ich weiter. »Daphne ist nicht hier. Sie können also gleich wieder abhauen.«

»Wo ist sie?«, bringt sie mit zittriger Stimme hervor.

»Verreist.«

Ich will gerade die Tür schließen, da schnellt ihre Hand vor und umklammert den Rahmen.