Forever Again (Band 2) - Wie oft du auch gehst - Lauren James - E-Book

Forever Again (Band 2) - Wie oft du auch gehst E-Book

Lauren James

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Beschreibung

Vor 16 Jahren sind Kate und Matthew Galloway spurlos verschwunden. Ihre Tochter Clove will endlich wissen, was damals mit ihren Eltern passiert ist. Doch wo beginnt man eine Suche, wenn die Spuren über Jahrhunderte verstreut sind? Und wer waren Kate und Matthew wirklich? Es liegt an Clove allein, das Rätsel um ihre Eltern zu lösen – und dabei ihre  eigene große Liebe zu finden ... Im zweiten Band ihrer zweibändigen Reihe bringt die junge britische Autorin Lauren James ihre mitreißende Liebesgeschichte, die Jugendliche und junge Erwachsene begeistern wird, zu einem äußerst spannenden Finale. Mit temporeichen Epochenwechseln und einem außergewöhnlichen Layout ist dieser All-Age-Roman für Fans von Outlander oder Rubinrot die perfekte Mischung aus Zeitreise-Abenteuer und romantischer Lovestory. "Forever again – Wie oft du auch gehst" ist der finale Band der Dilogie.

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INHALT

Widmung

Prolog

Teil Eins

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Teil Zwei

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Teil Drei

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Epilog

Danksagung

Bisher erschienen

Über die Autorin

Weitere Infos

Impressum

Für meine Eltern, die immer exakt dort sind,

PROLOG

Campus der Universität St Andrews, Schottland, 2051

»Dad, mir ist langweilig«, flüsterte Clove ihrem Vater ins Ohr.

Es war beinahe Zeit zum Abendessen und Clove kam fast um vor Hunger, aber der Vortrag – eine sehr lange, hochtechnologische Rede, die ihre Mutter Jen vor einer Gruppe von Kollegen an ihrer Universität hielt – würde noch mindestens eine halbe Stunde dauern. Ihre Eltern hatten darauf bestanden, dass Clove sie begleitete, obwohl sie gerade mitten in einer Sim mit ihrer besten Freundin Meg gewesen war. Anscheinend durfte sie als Elfjährige nicht allein zu Hause bleiben – obwohl sie hoch und heilig versprochen hatte, sich nicht vom Sofa zu rühren, solange ihre Eltern weg waren.

»Psst«, erwiderte ihr Dad Tom und tätschelte tröstend Cloves Arm. »Der spannende Teil kommt gleich.«

Clove fragte sich, was jetzt noch passieren konnte, das diesen Abend einigermaßen interessant gestalten würde.

Sie schaute sich im Raum um, der wesentlich aufgeräumter aussah als üblich. Bei jedem ihrer vorherigen Besuche im Untergeschoss des Unigebäudes, wo sich das Labor ihrer Eltern befand, hatte hier ein totales Chaos aus Kabeln, weggeworfenen Computerplatinen und leeren Kartons geherrscht. Und sie hätte schwören können, dass sie einmal eine Maus gesehen hatte, die sich in einem alten Computergehäuse eingenistet hatte. Aber ihr Dad hatte das resolut abgestritten.

Clove versuchte, sich wieder auf die Rede zu konzentrieren, bei der es um irgendeine Subvention ging, die die Universität gerade erhalten hatte, um die Forschungsprojekte ihrer Eltern weiterhin finanzieren zu können.

»… natürlich gibt es noch ein paar Probleme, die wir aus dem Weg räumen müssen«, erklärte ihre Mum, »vor allem im Hinblick auf die Strahlendosis. Aber dessen ungeachtet haben wir enorme Fortschritte gemacht. Und deshalb freuen mein Team und ich uns sehr, Ihnen heute Abend eine kleine Demonstration der Technologie zeigen zu können.«

Die Menge keuchte auf.

»Wenn ich Sie jetzt bitten dürfte, sich hier um diesen Tisch zu versammeln.« Cloves Mutter setzte sich an einen großen Computer in der Mitte des Labors. Der Rechner war mit einem riesigen Gerät verbunden, das die Hälfte des Raums einnahm. Die Gäste traten mit ihren Weingläsern näher, während Jen ein Programm startete.

Verstohlen warf Clove einen Blick zum Büfett, das in der Nähe des Eingangs aufgebaut war. Dort warteten Schokoladen-Eclairs. Bestimmt würde es niemandem auffallen, wenn sie sich schon jetzt etwas zu essen nahm. Schließlich musste sie sich jeden Abend die Gespräche ihrer Eltern über deren Arbeit anhören und daran war nun wirklich nichts Spannendes. Jen und Tom arbeiteten an irgendetwas, das als Einstein-Rosen-Brücke bezeichnet wurde – worum es sich dabei auch immer handeln mochte. Hätte sie sich festlegen müssen, so hätte sie sich wahrscheinlich für die Arbeit ihres Vaters entschieden: Er war für die Software des Rechners zuständig und Clove programmierte gern selbst.

Ein blondes Mädchen im Teenageralter mit einem langen grünen Schal bemerkte, wie Clove dem Büfett sehnsüchtige Blicke zuwarf, und zwinkerte ihr zu. Hastig wirbelte Clove herum und versuchte, nicht rot zu werden, weil man sie erwischt hatte.

Ihr Dad stupste sie mit dem Arm an. »Pass gut auf, Clove.«

Widerstrebend drehte Clove sich zu ihrer Mum um, die gerade einen letzten Befehl eintippte. Dann erfüllte ein Geräusch das Labor – ein tiefes Dröhnen, das die Wände erzittern und die Luft vibrieren ließ. Erwartungsvoll rückten die Wissenschaftler näher und dann sah Clove, was sie alle so gebannt betrachteten.

In einem Teil des Geräts, das mit Jens Computer verbunden war – eine Art Glaskasten –, war ein Licht angesprungen. Und in dem Glaskasten befand sich eine einzelne rote Rose. Der vom Gerät erzeugte Lärm schwoll immer stärker an, bis Clove die Vibrationen in ihrer Brust spüren konnte. Die Weingläser klirrten und trugen ein schwaches, hohes Sirren zur Geräuschkulisse bei.

Sämtliche Anwesenden schienen den Atem anzuhalten. Während Clove gebannt zuschaute, brach der Lärm plötzlich ab und die Rose …

Die Rose verschwand.

Alle keuchten atemlos auf. Dann folgte ein Moment völliger Stille. Und ein weiterer Moment. Schließlich begann die Luft im Inneren des Glaskastens zu vibrieren und zu verschwimmen. Und als das Bild wieder klarer wurde, lag die Rose erneut auf dem Boden des Kastens.

Clove konnte kaum glauben, was sie da gerade gesehen hatte. Um sie herum brachen die Wissenschaftler in begeisterten Applaus aus.

Ihre Mutter erhob sich von ihrem Stuhl, mit einem stolzen Lächeln auf dem Gesicht. »Der Vorgang, bei dem Sie gerade Zeuge waren, stellt die weltweit erste öffentliche Demonstration einer Zeitreise dar.«

Überrascht schnappte Clove nach Luft. Eine Zeitreise? Ihr war gar nicht klar gewesen, dass ihre Eltern sich damit beschäftigten. Sie hatte ja nicht mal gewusst, dass Zeitreisen überhaupt möglich waren.

Ihre Mom fuhr fort: »Lange Jahre intensiver Forschungsarbeiten eines Teams aus Physikern und Computerwissenschaftlern waren erforderlich, um an diesen Punkt zu gelangen. Doch die eigentliche Arbeit beginnt im Grunde erst jetzt. Bisher funktioniert die Technik nur in sehr begrenztem Maßstab, sowohl im Hinblick auf die Größe des Objekts als auch in Bezug auf die gereiste Zeitspanne. Aber mit unserem neuen Forschungsstipendium hoffen wir, das Gerät dergestalt verbessern zu können, dass Zeitreisen für lebende Organismen und über einen längeren Zeitraum als nur wenige Sekunden möglich werden. Außerdem müssen wir uns mit dem größten Problem beschäftigen, das die heutige Technik noch nicht gelöst hat: das Überleben des Objekts.« Jen deutete auf den Glaskasten.

Clove starrte mit offenem Mund auf den Kasten. Die einst leuchtend roten Blütenblätter der Rose hatten sich aufgerollt und waren zu einem ekligen Braun verblasst, während der schwarz verfärbte Stiel verdorrt dalag. Die Rose war tot.

»Die Strahlendosis während des Transfers ist einfach zu hoch, als dass irgendein Organismus eine solche Reise überleben könnte«, erklärte Cloves Mum. »Wir werden dieses Problem beseitigen müssen, um unserem Ziel näher zu kommen: menschlichen Zeitreisen. Aber ich bin guter Hoffnung, dass wir uns schon in wenigen Jahren hier wieder versammeln werden, um genau diesen Erfolg gemeinsam zu feiern.«

Erneut brach die Menge in begeisterten Applaus aus. Clove, die vor Verwunderung völlig überwältigt war, klatschte, so laut sie nur konnte. Als sich die Gäste etwas beruhigt hatten, machte ihre Mutter sich daran, Fragen zum Gerät zu beantworten, aber Clove hörte gar nicht mehr zu. Sie schaffte es einfach nicht, den Blick von der Zeitmaschine und der verwelkten Rose abzuwenden. Ihre Eltern hatten tatsächlich eine echte Zeitmaschine gebaut.

Als Clove beobachtete, wie eines der verblassten Blütenblätter langsam von der Rose herabfiel, gab sie sich selbst ein Versprechen. Eines Tages, wenn sie älter war, würde sie hier an dieser Zeitmaschine arbeiten – selbst wenn das bedeutete, dass sie ihre gesamte Freizeit zwischen dem heutigen und jenem zukünftigen Moment mit Lernen verbringen musste. Und dann, wenn sie zur Weiterentwicklung des Geräts beigetragen hatte, würde sie der erste Mensch sein, der durch die Zeit reiste.

TEIL

KAPITEL 1

Aktenvermerk: Auszug ausClove Sutcliffe – eine nicht autorisierte Biografie, erstmals veröffentlicht im Jahr 2344

St Andrews, Schottland, 2056

Clove schmollte. Eigentlich hätte sie ein Programmierproblem lösen sollen, aber ihr war gerade eine Erkenntnis gekommen und sie brauchte einen Moment, um darüber nachzudenken.

Die Erkenntnis lautete folgendermaßen: Ihre beste Freundin mochte einen Jungen. Clove hatte angenommen, dass ihr noch ein paar Jahre bleiben würden, bis sie Meg an einen Jungen verlieren würde. Und zu allem Überfluss ging es nicht um irgendeinen x-beliebigen Jungen. Der Nachricht nach zu urteilen, die Meg ihr gerade geschickt hatte, handelte es sich bei dem Jungen, auf den sie ein Auge geworfen hatte, um niemand anderen als Cloves Cousin.

Nuts_Meg

18:02:45

18:02:45

LuckyClover

18:03:14

Reich sie bei den zuständigen Behörden ein.

Nuts_Meg

18:03:57

Ich steh echt kurz davor, Loser.

Nuts_Meg

18:04:02

Na jedenfalls, warum hast du mich im Dunkeln gelassen?? In deiner Familie gibt es ein paar mächtig süße Typen! Wieso hast du mir nie was von Alec erzählt?

Als Clove Megs letzten Satz noch einmal las, zog sich ihr Herz zusammen. Sie hätte wissen müssen, dass das passieren würde. Bei der Party zu ihrem sechzehnten Geburtstag hatte sie beobachtet, wie Meg und Alec sich draußen im Garten unterhielten – Meg hatte Alec das Gesicht zugewandt und ihn angeflirtet. Ihre weichen blonden Haare hatten im Wind geweht, wie immer perfekt wie auf einem Modefoto … und dabei noch seidenweicher als Luft. Geistesabwesend hatte Meg ihr Haar zurückgeworfen und dabei gelacht. Clove hatte sie zwar nicht hören können, aber das war auch nicht nötig gewesen – sie kannte Megs Lachen besser als ihr eigenes.

In dem Moment hätte sie wissen müssen, dass Alec alles kaputt machen würde.

Aus irgendeinem Grund sorgte die Vorstellung von Meg und Alec dafür, dass Clove sich nicht mehr auf ihre Programmieraufgabe konzentrieren konnte. Das war ungewöhnlich, weil das Programmieren ihr meistens dabei half, wieder zu sich selbst zu kommen. Sie hatte damals mit dem Programmieren angefangen, um besser mit ihrer Hyperaktivität klarzukommen. Auf diese Weise konnte sie ihre Aufmerksamkeit auf etwas Sinnvolles konzentrieren, wenn ihre endlose Energie ihren Eltern über den Kopf wuchs.

Mit zwölf hatte man die Diagnose »hochbegabtes Kind mit Hyperaktivitätsproblem« gestellt – was Clove für eine ziemlich extreme Formulierung für die Tatsache hielt, dass sie ein wenig nervös, unglaublich konzentrationsfähig und leicht ungeduldig war, wenn sie sich langweilte oder das Lerntempo ihr nicht schnell genug voranschritt. Aber wenn sie etwas interessierte, stürzte sie sich mit Begeisterung in die Materie – zumindest ein Aspekt, den die Lehrer an ihr schätzten. Clove konnte stundenlang programmieren, ohne auch nur einen Gedanken an die Außenwelt zu verschwenden, bis ihre Eltern in ihrem Zimmer auftauchten und sie zwangen, zum Abendessen oder (nach einer durchgearbeiteten Nacht) zum Frühstück in die Küche zu kommen.

Clove speicherte ihre letzten Codezeilen ab und beendete das Programm, damit sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf das bevorstehende Desaster in Megs Liebesleben richten konnte. Dann antwortete sie ihrer Freundin auf eine Weise, von der sie hoffte, dass sie ihre Verärgerung verbarg.

LuckyClover

18:04:26

Da ich mich weder zu Jungen hingezogen fühle noch zu engen Blutsverwandten, ist mir nie der Gedanke gekommen, dass er ein süßer Typ sein könnte.

LuckyClover

18:04:28

Tut mir leid.

Nuts_Meg

18:04:55

Du bist gefeuert.

LuckyClover

18:05:12

Als deine persönliche Dating-Website?

Nuts_Meg

18:05:33

Ja.

LuckyClover

18:05:49

Ach, Mist! Dabei waren damit so viele Vorteile verbunden.

LuckyClover

18:05:54

Ach, stimmt ja …

LuckyClover

18:05:59

 … da gab’s ja gar keine.

Nuts_Meg

18:06:17

Bist heute wohl zu Scherzen aufgelegt. Verstehe.

LuckyClover

18:06:43

Wenn du meinst. Ach, hab ich dir schon mal erzählt, dass mein Dad echt süß ist? Soll ich dich mit ihm verkuppeln?

Nuts_Meg

18:07:03

Klar, er ist ein Silberfuchs.

LuckyClover

18:07:09

Igitt

LuckyClover

18:07:11

IGITT

LuckyClover

18:07:21

Okay, der Schuss ist nach hinten losgegangen.

LuckyClover

18:07:33

Heterosexualität ist eklig.

Nuts_Meg

18:07:51

Jetzt sei nicht so heterophob.

LuckyClover

18:08:17

Dieses Wort gibt’s doch gar nicht.

Nuts_Meg

18:08:37

Wird es aber bald, wenn du so weitermachst.

LuckyClover

18:09:15

Du musst dich ja

so

diskriminiert fühlen.

Clove versuchte, keine Bitterkeit zu empfinden. Aber wenn Meg sich schon nicht in sie verlieben konnte, musste es dann ausgerechnet ihr Cousin sein?

Eine Nachricht von Spart, ihrem hauseigenen Künstliche-Intelligenz-System, erschien auf Cloves Armbanduhr und riss sie aus ihren Gedanken.

> Deine Mutter betritt jeden Moment dein Zimmer. Versteck sofort alle eventuell illegalen Substanzen.

Clove las die Nachricht und verdrehte die Augen. Ihr KI-System existierte in sämtlichen Computern und Uhren im Haus und schnappte gesprochene Anweisungen von jedem auf, der sich in der Nähe befand. Spart organisierte das Leben aller Hausbewohner und neigte dazu, sich wie eine wahre Nervensäge aufzuführen. Clove nahm an, dass das daran lag, dass ihr Dad das System mit ein paar Extrafunktionen ausgestattet hatte, einschließlich einer Persönlichkeit – was bedeutete, dass Spart sich gern für einen Menschen hielt.

»Komm rein«, rief Clove ihrer Mutter zu.

Jen öffnete die Tür und fragte: »Kannst du kurz nach unten kommen, Clove?« Ihre Stimme hatte einen seltsam nervösen Unterton. »Dein Dad und ich möchten etwas mit dir besprechen.«

Rasch verabschiedete sich Clove von Meg. Insgeheim war sie fast erleichtert, das Gespräch abbrechen zu können, bevor es zu ernst wurde. Dann folgte sie ihrer Mum hinunter ins Wohnzimmer und setzte sich aufs Sofa. Ihre Neugier wuchs, als sie bemerkte, wie ihre Eltern sich untereinander stumm verständigten. Die beiden tickten so ähnlich, dass sie manchmal in der Lage schienen, ohne Worte miteinander kommunizieren zu können.

Eine Nachricht tauchte auf Cloves Uhr auf. Meg hatte auf ihren Abschiedsgruß mit einem Foto von sich selbst reagiert, bei dem sie träumerisch in die Kamera schaute. Darüber hatte sie in roten Buchstaben ALEC <3 geschrieben. Genervt wischte Clove über das Display, um die Nachricht zu löschen.

»Clove«, setzte ihr Dad an, nachdem er sich geräuspert hatte, »wir müssen dir etwas mitteilen.« Langsam atmete er aus. Clove sah, wie ihre Mum seine Hand drückte. »Es wird Zeit, dass du die Wahrheit erfährst. Wir glauben, dass du jetzt alt genug bist, um alles zu verstehen.«

Doch Clove hörte nur das Pochen ihres Pulses in den Ohren.

»Also, Clove, wir lieben dich. Du bist eine wundervolle, wunderschöne Tochter …« Er verstummte.

Clove starrte ihn an. »Was ist? Was ist los?« Die Worte kamen krächzend über ihre Lippen.

Einen quälend langen Moment schwiegen alle.

Dann fuhr ihr Dad fort: »Es fällt mir schwer, es richtig zu formulieren …«

»Was?«, hakte Clove heiser nach. »Sag es mir einfach.«

Ihr Dad holte tief Luft. »Als du auf die Welt gekommen bist, ist meinem Bruder etwas zugestoßen, meinem Bruder … der dein biologischer Vater war. Ihm und deiner biologischen Mutter ist etwas zugestoßen.«

Clove spürte, wie ihr Gesicht erstarrte. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sie konnte nichts von dem, was er sagte, verarbeiten. Adoptiert. Adoptiert? Sie fühlte sich nicht wie ein Adoptivkind. Hätte sie das nicht irgendwie spüren müssen?

»Wir haben dich großgezogen, weil deine leiblichen Eltern das nicht mehr konnten«, berichtete ihr Dad weiter. »Genetisch gesehen, bin ich eigentlich dein Onkel.«

»Warum habt ihr mir das nicht schon früher erzählt?«, fragte Clove. Sie fühlte sich hintergangen, deplatziert, entsetzt … und von hundert anderen Gefühlen überwältigt, von denen sie nicht wusste, wie sie sie in Worte fassen sollte.

Ihre Eltern tauschten einen Blick. »Deine leibliche Mutter hat uns das Versprechen abgenommen, so lange zu warten, bis du alt genug bist, um das alles zu verstehen«, erklärte ihre Mum. »Sie hatte Angst, dass du damit vielleicht nicht umgehen könntest. Die Sache ist nicht leicht. Aber jetzt, da du sechzehn bist, da dachten wir …«

»Was?«, fragte Clove mit einem erstickten, matten Lachen. »Dass ich jetzt damit umgehen kann?«

»Es geht nicht nur darum, dass du adoptiert bist. Sondern auch … um die Tatsache, was mit deinen leiblichen Eltern passiert ist … und wer sie waren.« Ihre Mum starrte auf ihre Hände.

Ihr Dad rutschte unruhig in seinem Sessel hin und her.

Clove brannte darauf aufzuspringen, sich zu bewegen. Ihre Knie zuckten vor hyperaktiver Nervosität, die sich jedes Mal einstellte, wenn etwas sie aus der Fassung brachte. Sie beugte sich vor, um die Zuckungen zu stoppen. »Warum? Wer waren sie denn? Was ist mit ihnen passiert? Liegt es daran, dass sie mich nicht haben wollten? Wollt ihr mir das etwa sagen?« Clove fiel es schwer, ihre Gedanken zu ordnen.

»Ach, Clove«, sagte ihre Mum. »Nein, nein. So war das überhaupt nicht. Sie haben dich sehr geliebt.«

»Clove«, setzte ihr Dad an und bemühte sich um einen ruhigen Tonfall. »Liebes, es ist … schwer zu erklären. Sie waren …«

»Sie waren was?«, fragte Clove fordernd. »Jetzt sagt es mir endlich.«

Clove musterte ihre Eltern – also ihre Adoptiveltern, nicht ihre richtigen Eltern – und spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufrichteten. Sie verstand es nicht. Nichts ergab noch irgendeinen Sinn.

»Ich habe das nicht richtig erklärt, Clove, tut mir leid«, sagte ihr Dad – Tom. »Lass mich es bitte noch mal versuchen.« Er zögerte. Ihre Mum – Jen – nahm erneut seine Hand. »Vielleicht wäre es das Beste, wenn ich nicht lange um den heißen Brei herumrede. Was weißt du über Matt Galloway und Kate Finchley?«

Clove wusste ziemlich viel über die beiden. Aber das galt für jeden Bürger Schottlands – schließlich waren Matt Galloway und Kate Finchley berühmt. Man hatte sogar einen Film über ihr Leben gedreht. Bei den beiden handelte es sich um zwei Studenten, die im Jahr 2039 Beweise dafür gefunden hatten, dass die englische Regierung biologische Waffen entwickelte, um sie im Falle eines weiteren Weltkriegs gegen den Rest der Welt einzusetzen. Die Studenten waren mit einem Komplizen über die schottische Grenze geflohen. Matt Galloway war verhaftet worden, hatte aber später aus dem Gefängnis fliehen können und war seitdem spurlos verschwunden, zusammen mit Kate. Die Aufdeckung der Kriegspläne der englischen Regierung hatte zu deren Auflösung geführt – die Studenten hatten die Welt vor einem Angriff mit biologischen Waffen bewahrt. Trotzdem wusste niemand, wo sie sich jetzt aufhielten. Sie galten seit über sechzehn Jahren als vermisst, also so lange, wie Clove schon am Leben war.

»Du meinst die politischen Aktivisten?« Clove war ein wenig schwindlig.

»Matt Galloway war mein Bruder. Er ist dein leiblicher Vater. Kate Finchley war … ist … deine Mutter. Wir drei – die beiden und ich – haben die Verschwörung der englischen Regierung aufgedeckt.«

Clove stieß einen Laut aus, eine Art brüchiges Schnauben. »Du?« Ihr Dad, der allmählich grau wurde und ständig vor seinem Computer hockte, hatte doch sicher nicht … »Du hast dafür gesorgt, dass die englische Regierung zurücktreten musste?«

»Ja, das waren wir.« Tom kratzte sich im Nacken. »Bevor ich Jen kennengelernt habe, war ich kein Professor für Computerwissenschaft. Ich war ein Hacker. Nichts, was ich heute noch machen würde. Das, was mit Matt und Kate passiert ist, hat mir solche Angst eingejagt, dass ich danach die Finger davon gelassen habe.«

Cloves Kehle war so ausgetrocknet, als hätte sie einen Löffel Mehl geschluckt. Sie konnte gar nicht alles von dem verarbeiten, was die beiden ihr da erzählten. Ihr Dad war ein Hacker? Ihr Dad war überhaupt nicht ihr Dad? Ihre richtigen Eltern waren berühmt?

»Was ist passiert? Wohin sind sie verschwunden? Wieso hast du dich um mich kümmern müssen?«, fragte sie.

»Nachdem man Matt verhaftet hatte, sind Kate und ich nach Schottland geflohen, zum Haus meiner Eltern«, erklärte Tom. »Deine Mutter war schwanger und hat dich hier zur Welt gebracht. Danach fasste Kate den Beschluss, nach England zurückzukehren, um Matt zu befreien. Du musst wissen, dass er bei seiner Festnahme die Beweise für die biologischen Waffen bei sich hatte – und deshalb hat uns niemand geglaubt.« Tom schwieg einen Moment, um Clove die Gelegenheit zu geben, weitere Fragen zu stellen. Doch sie blinzelte ihn nur stumm an, woraufhin er fortfuhr: »Kate dachte, wenn sie Matt aus dem Gefängnis befreien könnte, wären sie in der Lage, das Beweismaterial zu nutzen, um die Welt über die Existenz der Waffe zu informieren und für deren Vernichtung zu sorgen, bevor das englische Militär sie in einem Krieg einsetzen konnte. Wir wollten nicht, dass Kate ging. Das Ganze war ein völlig verrückter Plan. Wie sollte sie Matt aus dem Gefängnis holen? Aber sie wollte nicht auf uns hören, und obwohl es ihr unendlich schwergefallen ist, dich hier zurückzulassen, war sie davon überzeugt, dass sie den Plan unbedingt in die Tat umsetzen musste. Ich habe damals eingewilligt, bis zu ihrer Rückkehr auf dich aufzupassen.« Tom verstummte und schluckte.

»Aber sie ist nicht zurückgekehrt«, beendete Jen den Bericht. »Deine Eltern sind verschwunden. Wir wissen, dass es Kate gelungen ist, deinen Vater aus dem Gefängnis zu befreien. Aber auf welche Weise? Ich weiß es wirklich nicht. Eigentlich hätte es unmöglich sein müssen. Aber Kate hat es geschafft. Den beiden ist es kurz nach Matts Flucht sogar gelungen, der NATO Beweise für die Existenz der biologischen Waffen zuzuspielen, und zwar ohne dabei geschnappt zu werden. Daraufhin wurde die englische Regierung aufgelöst. Aber wir haben keine Ahnung, was danach mit deinen Eltern passiert ist. Nach dem Gefängnisausbruch hat Tom weder von Kate noch von Matt irgendetwas gehört. Sie sind einfach spurlos verschwunden.«

»Du hast sie – meine Mutter – einfach allein losziehen lassen? Du bist hiergeblieben?« Clove versuchte verzweifelt, ihr Gesicht nicht zu einer Grimasse zu verziehen.

Tom starrte sie an, machte aber nicht den Eindruck, als ob er sie sehen würde. »Eine Entscheidung, die ich jeden Tag aufs Neue bereue.« Er rieb mit dem Daumen über seine Fingerknöchel. »Offiziell gelten sie bis heute als vermisst. Das bedeutet, dass sie es entweder geschafft haben, nach Frankreich zu fliehen oder sogar zurück nach Schottland … oder aber von der englischen Regierung gefasst wurden und in irgendeinem geheimen Gefängnis festgehalten werden.«

Eine Weile sagte niemand etwas. Clove fühlte sich schwindlig; ein paar Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. Schließlich fragte sie: »Hast du je versucht, sie zu finden?«

Tom rieb sich mit den Händen übers Gesicht. »Ich habe Erkundigungen nach ihnen angestellt und Dutzende von Online-Alarmsignalen installiert, die mich über jede Erwähnung ihrer Namen informieren. Aber schon seit sehr langer Zeit ist nichts mehr von ihnen zu hören. Ich hätte gern mehr unternommen, musste aber vorsichtig sein. Ich stehe noch immer auf der Fahndungsliste der englischen Behörden – ich kann nicht einfach losziehen und nach ihnen suchen.«

Jen tätschelte Toms Hand. »Das Ganze ist ziemlich furchterregend. Als Tom mir zum ersten Mal davon erzählt hat, habe ich mir ständig Sorgen gemacht, dass irgendetwas passieren könnte … dass englische Spione ihn finden würden. Er hatte zwar seinen Nachnamen geändert, aber das hat mich auch nicht besonders beruhigt. Inzwischen habe ich gelernt, damit zu leben. Und bisher hat man uns in Ruhe gelassen. Genau genommen sind wir alle untergetaucht.«

»Vor dem Gesetz?«, fragte Clove.

»Na ja, ich zumindest. Vor dem englischen Gesetz«, räumte Tom ein. »Deine Mum hat eine Menge auf sich genommen, als sie meinen Heiratsantrag akzeptiert hat: ein alleinerziehender Vater mit einem sechs Monate alten Kind und einer geheimen Vergangenheit als gesuchter Verbrecher.«

Jen schenkte ihm ein sanftes Lächeln. »Du bist es wert, Schatz.«

»Ich weiß nicht, was ich ohne dich getan hätte.« Tom beugte sich vor und gab Jen einen schnellen Kuss. Clove konnte es nicht ertragen, den beiden zuzusehen. Ihre gesamte Welt war vor ihren Augen in Trümmern versunken und die zwei taten so, als wäre das völlig unbedeutend.

»Dann heiße ich also nicht Clove Sutcliffe?«, fragte sie, im Versuch, das Gespräch wieder auf die wirklich wichtigen Themen zu lenken.

»Doch, doch, in rechtlicher Hinsicht schon. Ich habe bei unserer Hochzeit Jens Namen angenommen«, erklärte Tom. »Aber wenn unsere Familie etwas konventioneller wäre, dann hießest du Clove Galloway.«

»Galloway«, wiederholte Clove und probierte den Namen aus. »Clove Galloway.«

Als sie den Namen laut aussprach, nahm er Gestalt an. Plötzlich passten alle Puzzleteile zusammen. Matt Galloway und Kate Finchley waren tatsächlich ihre Eltern. Ihre richtigen, wirklichen Eltern. Es existierte ein Film über die beiden. Über ihre Eltern. Clove hatte den Film im Geschichtsunterricht gesehen. Damals hatte sie sogar einen Aufsatz über Matt Galloway und Kate Finchley schreiben müssen.

Sie waren ihre Eltern. Und sie hatten die Welt gerettet.

In leicht hysterischem Tonfall – als wäre das die wichtigste Information, die sie an diesem Tag erhalten hatte – fragte sie: »MEINE ELTERN HABEN EINEN EIGENEN WIKIPEDIA-EINTRAG?«

»Vermutlich sogar auch eine Seite in der IMDB«, bestätigte Tom, woraufhin Clove trotz der Eiseskälte, die sich in ihrem Körper ausbreitete, zu lachen begann – zu laut und zu manisch. Aber sie konnte einfach nicht mehr aufhören.

Nachdem sie sich irgendwann beruhigt und ein ganzes Glas Wasser getrunken hatte, gelang es Clove, ein paar angemessenere Fragen zu stellen. »Hat meine … Mutter keine Pläne oder so was hinterlassen … darüber, was sie nach Matts Befreiung tun wollte?«

»Nein. Falls sie überhaupt einen Plan hatte, hat sie mich jedenfalls nicht eingeweiht.« Sorgfältig richtete Tom die Kante des Untersetzers am Tischrand aus. »Aber ich habe sie auch nicht gedrängt, mir ihre Pläne mitzuteilen. Weil ich das Ganze ablehnte. Ich wollte nicht, dass sie ging. Aber ich konnte sie nicht aufhalten. Sie war fest entschlossen, Matt zu retten. Und in gewisser Hinsicht war das eine Erleichterung … Ich war aus der Nummer raus. Frei.«

»Und was war mit mir? Wie hat sie mich zurücklassen können, einfach ohne alles?«, fragte Clove mit brechender Stimme.

»Kate hat dich bei mir und deinen Großeltern zurückgelassen«, erklärte Tom. Aber irgendwie erschien Clove diese Erklärung nicht ausreichend. Was war schon ein Onkel im Vergleich zu richtigen Eltern? Was waren ihre Großeltern – die zwar richtig klasse, aber auch betagt und verschnarcht waren – im Vergleich zu einer Mum und einem Dad?

»Sie hatte fest vorgehabt, zu dir zurückzukehren. Das Ganze sollte nur vorübergehend sein. Und sie hat etwas für dich hiergelassen«, fügte Tom hinzu. »Eine Schachtel mit Briefen. Die dir vielleicht mehr erzählen können. Wir haben sie nicht geöffnet. Ich musste Kate versprechen, sie nicht anzurühren. Spart, weißt du, wo die Briefe sind?«

Sparts winzige Stimme ertönte aus Toms Armbanduhr.

> Die Schachtel befindet sich in einem Aktenschrank in der östlichsten Ecke des Speichers.

> In der benachbarten Schachtel haben sich Mäuse eingenistet. Ich habe einen Kammerjäger herbestellt, für morgen Punkt 13:00Uhr. Ist das in deinem Sinne?

»Danke, Spart. Ich hol schnell die Schachtel«, sagte Jen.

Sie stand auf, küsste Clove auf die Stirn und verließ den Raum. Clove atmete den vertrauten Geruch von Jens Parfüm ein und fragte sich erneut, wieso es ihr nie in den Sinn gekommen war, dass Jen nicht ihre richtige Mutter war. Hätte sie das nicht irgendwie wissen müssen? Hätte sie nicht in der Lage sein müssen, so etwas zu spüren?

»Warum hast du mir nicht schon früher davon erzählt?«, fragte Clove, während sie darauf warteten, dass Jen mit der Schachtel zurückkam.

Tom seufzte. »Kate – ich meine, deine Mutter – hat mir das Versprechen abgenommen zu warten, bis du älter bist, damit du das Ganze richtig verstehen würdest. Und ich hatte nichts dagegen. Als du klein warst, war die Situation lange Zeit noch immer sehr gefährlich. Wir konnten das Risiko, dass du vielleicht in der Schule etwas ausplaudern würdest, nicht eingehen. Nach Matts Flucht aus dem Gefängnis haben die englischen Behörden noch jahrelang nach ihm und Kate gefahndet. Obwohl sie die Welt gerettet hatten, bedeutete Matts Ausbruch aus dem Gefängnis, dass die beiden die meistgesuchten Kriminellen ganz Englands waren. Also bin ich untergetaucht. Und obwohl die englischen Behörden nichts offiziell gegen mich unternehmen konnten, weil ich unter dem Schutz der schottischen Regierung stand, haben wir lange Zeit befürchtet, dass sie vielleicht im Verborgenen irgendwelche Aktionen durchführen würden, um mich zu schnappen und damit an mögliche Informationen über deine Eltern heranzukommen. Deshalb war es äußerst wichtig, dass niemand meine wahre Identität kannte … oder erfuhr, wohin Tom Galloway verschwunden war. Deine Großeltern – meine Eltern – sind mit uns untergetaucht und haben ebenfalls ihren Namen geändert.

Wenn unser Aufenthaltsort durchgesickert wäre, hätten wir alle in großer Gefahr geschwebt. Was auch immer die englische Regierung mit Kate und Matt angestellt hat … das Gleiche hätte letztendlich auch mir gedroht und vielleicht sogar meinen Eltern und dir und Jen. Wir konnten dir damals nicht die Wahrheit sagen.« Tom lächelte matt und fuhr fort: »Aber tief in meinem Inneren habe ich mich immer gefragt, ob du vielleicht doch etwas davon mitbekommen hast. Erinnerst du dich an den Film über die beiden, Liebes? Nachdem du ihn gesehen hattest, hast du mit Meg immer wieder ›Kate und Matt‹ gespielt, die auf der Flucht vor der Polizei waren.«

Clove schnappte nach Luft. »Stimmt, daran erinnere ich mich. Ich wollte immer Matt sein. Wie oft habe ich deine Brille stibitzt, damit ich aussah wie er … Meg war immer Kate, weil sie die roten Haare mochte.« Die Erinnerung versetzte ihr einen Stich in die Brust. Was mussten Tom und Jen vor all diesen Jahren empfunden haben, während sie Meg und sie bei ihrem Spiel beobachtet hatten? Es musste ihnen sehr schwergefallen sein, das Geheimnis noch länger zu wahren.

»Deshalb war es schlichtweg einfacher, dir nichts zu erzählen«, fuhr Tom fort. »Außerdem hatten wir uns hier ein neues Leben aufgebaut. Wir wollten nicht wieder fliehen müssen, erst recht nicht im Hinblick auf unsere Arbeit an der Uni. Die Zeitmaschine nahm gerade erst Gestalt an. Da war es das Risiko einfach nicht wert, zumal damit auch unsere gesamte Arbeit gefährdet gewesen wäre.«

Clove schluckte und starrte auf ihre Knie. Sie wusste, dass Tom sie besorgt musterte, konnte ihm aber nicht in die Augen blicken. Allerdings war klar, wie erleichtert er sein musste, endlich mit dem großen Geheimnis herausrücken zu können.

Als Jen mit der Schachtel zurückkehrte, legte sie sie Clove in den Schoß. »Nimm dir Zeit; lies alles in Ruhe durch. Du brauchst dich nicht mal sofort damit zu beschäftigen, wenn du nicht willst. Es ist bestimmt nicht einfach, das Ganze zu verdauen. Falls du irgendwelche Fragen hast, stehen wir dir jederzeit zur Seite. Wir lieben dich, Clove.«

Clove schloss die Augen und versuchte, sich von Jens Umarmung beruhigen zu lassen, so wie während ihrer gesamten Kindheit. Aber sie musste die ganze Zeit daran denken, dass eigentlich zwei andere Hände sie hätten trösten sollen. Jemand anderes hätte ihre Mutter sein müssen.

KAPITEL 2

Folios/v8/Zeit-Landschaft 2040/MS-4

Aktenvermerk: Handschriftliche Nachricht aus dem Jahr 2040 von KATE FINCHLEY an TOM GALLOWAY, bevor sie CLOVE SUTCLIFFE in seiner Obhut zurückließ und einen Bus nach England nahm

St Andrews, Schottland, 2056

Clove hockte im Schneidersitz auf ihrem Bett und betrachtete die Schachtel. Sie bestand aus Wellpappe – die Art von Schachtel, die Tom und Jen zum Lagern von Dokumenten nutzten. Auf der Vorderseite standen mehrere Zahlen, in Toms krakeliger Handschrift. Wahrscheinlich hatte Clove die Schachtel in ihrem Leben schon Dutzende Male gesehen.

Clove wischte den festgebackenen Staub vom Deckel und beobachtete, wie die einzelnen Staubpartikel träge auf ihrer Bettdecke landeten. Sie drückte einen Daumen auf die grauen Flecken und rieb sie in den Stoff. Dann ließ sie sich in die Kissen sinken, starrte an die Decke und klopfte mit dem Fuß gegen das Fußbrett ihres Betts. Sie wollte die Schachtel nicht öffnen.

Einen Moment lang überlegte sie, ob sie Meg anrufen sollte. Nicht, um ihr die große Neuigkeit zu offenbaren – für dieses Gespräch war sie noch nicht bereit –, sondern einfach als Ablenkungsmanöver. Allerdings wusste sie, was dann passieren würde. Meg würde über Alec reden wollen und Clove würde so tun müssen, als wäre sie von der jungen Liebe der beiden total begeistert.

Sie stieß einen melodramatischen Seufzer aus, woraufhin sie sich etwas besser fühlte. Schließlich setzte sie sich auf, nahm den Deckel von der Schachtel und schaute vorsichtig hinein. Ganz zuoberst lag ein gefalteter Brief – ein richtiger Papierbogen, wie in alten Filmen. Darunter entdeckte Clove ein Bündel Unterlagen, ein Laborbuch und ein ledergebundenes Tagebuch, alles mit einem Samtband zusammengefasst. Auf dem Boden der Schachtel befand sich ein Stück Stoff, das um einen kleinen Gegenstand geschlungen war. Nachdem Clove den Stoff auseinandergewickelt hatte, stellte sie fest, dass es sich um eine kleine Fuchs-Figur handelte, die jemand in einer alten, fadenscheinigen Strickjacke versteckt hatte. Vorsichtig legte sie die Figur auf ihren Schreibtisch und fragte sich, welche Geschichte sich wohl dahinter verbarg. Wie viel mochte der Fuchs Kate bedeutet haben, dass sie ihn so sorgfältig aufbewahrt hatte?

Schließlich entdeckte Clove ganz unten in der Schachtel mehrere Hochglanzfotos. Sie zeigten einen elegant gekleideten Mann mit dunklen, leicht abstehenden Haaren, der eine Frau in einem weich fallenden weißen Brautkleid anstrahlte. Wirre rote Locken umrahmten ihr Gesicht.

Cloves Herz setzte einen Schlag aus. Das waren sie. Das waren ihre Eltern.

Sie faltete den Brief auseinander.

Folios/v8/Zeit-Landschaft 2040/MS-5

Aktenvermerk: Handschriftlicher Brief aus dem Jahr 2040 von KATE FINCHLEY an ihre ungeborene Tochter CLOVE SUTCLIFFE

Clove las den ganzen Brief in einem Rutsch und überflog dann die anderen Unterlagen, die sich als eine Mischung aus Tagebucheinträgen, E-Mails und Laboreinträgen entpuppten.

Allem Anschein nach waren ihre Eltern in die Central Science Laboratories eingebrochen, nachdem sie Hinweise in einem verschlüsselten Tagebuch von Kates toter Tante gefunden hatten. Diese hatte 2019 in jenem Labor gearbeitet, als man dort das tödliche Bakterium gezüchtet hatte. Aufgrund eines merkwürdigen Zufalls – oder vielleicht wegen einer Familientradition – hatte auch die Tante ihrer Mutter Katherine geheißen.

Das Tagebuch von Cloves Großtante lag ebenfalls in der Schachtel, zusammen mit ihren Laborbüchern und anderen Unterlagen – alles Originale! Clove hatte das Gefühl, ein Stück Geschichte in den Händen zu halten.

Stunden später, nachdem sie jedes einzelne Detail gelesen hatte, legte sie die Dokumente wieder in die Schachtel, griff sich ein Kissen und rollte sich darum zusammen. Ihr war schwindlig und sie fühlte sich verloren – gefangen in einer Geschichte, die über ihren Verstand hinausging.

Nach einer Weile rutschte sie vom Bett und ging ins Bad. Dort starrte sie in den Spiegel und trank langsam ein Glas Wasser, wobei sie jeden Schluck bewusst ihre Kehle hinablaufen ließ. Sosehr sie sich auch anstrengte – sie konnte an sich selbst nichts erkennen, das sie zu etwas Besonderem gemacht hätte. Sie hätte nie damit gerechnet, dass ihr einmal so etwas passieren würde. Schließlich war sie keine betörende Hauptfigur in irgendeinem Abenteuerfilm. Sie war die lesbische beste Freundin.

Clove suchte in ihrem Spiegelbild nach Anzeichen für Ähnlichkeiten mit ihren Eltern. Wieso war ihr nie aufgefallen, dass sie überhaupt nicht wie Tom und Jen aussah? Sie verglich ihr Gesicht mit den Fotos und betrachtete die einzelnen Gesichtszüge.

Sie hatte Matts Nase. Eine niedliche Nase, überlegte sie: leicht gestupst. Dazu besaß sie Kates Augen und Locken. Clove trug ihre Haare normalerweise kürzer, aber der Pixie-Schnitt war schon ein bisschen ausgewachsen. Die dichten dunklen Locken reichten ihr inzwischen fast bis zu den Schultern, wodurch sie den Haaren ihrer Mutter ähnelten – nur mit dem Unterschied, dass ihre Locken braun waren, genau wie Matts Haar.

Ihre Mutter hatte Harry Potter geliebt und Gedichte gehasst, genau wie Clove. Kate hatte geahnt, dass Clove einmal ein hyperaktives Kind werden würde, noch lange vor ihrer Geburt – eine Tatsache, die Tom und Jen erst nach Jahren erkannt hatten. Tom und Jen. Clove konnte sie im Moment nicht als ihre Mum und ihren Dad betrachten.

Clove Galloway, sagte sie zu ihrem Spiegelbild und wiederholte die Worte, bis sie ihr ganz natürlich über die Lippen kamen. Clove Galloway.

KAPITEL 3

Folios/v5−v6−v7−v8/Zeit-Landschaft 1941−1963−2019−2040/MS-1

Aktenvermerk: Fotografien von KATHERINE FINCHLEY und MATTHEW GALLOWAY, aufgenommen während verschiedener Zeit-Landschaften zwischen 1941 und 2040

St Andrews, Schottland, 2056

»Hey, Kumpel«, sagte Meg und ließ sich gegenüber von Clove nieder.

Ruckartig kehrte Clove in die Gegenwart zurück. Sie befand sich im Speisesaal ihrer Schule und hatte anscheinend den gesamten Vormittag über sich ergehen lassen, ohne auch nur ein Wort vom Unterricht mitzubekommen. Eigentlich wäre sie an diesem Morgen gern zu Hause geblieben, aber Jen hatte auf dem Schulbesuch bestanden, und jetzt saß sie hier während ihrer Mittagspause – zu sehr in Gedanken verloren, um irgendetwas anderes zu tun, als geistesabwesend auf ihren leeren Teller zu starren.

Sie hatte noch nichts zu essen bestellt. Langsam klickte sie sich durch die Gerichte auf der Speisekarte in der Oberfläche ihres Tischs und entschied sich schließlich für Curly Fries. Wenige Sekunden nachdem sie auf die Abbildung getippt hatte, öffnete sich eine breite Klappe in ihrem Tisch und ihre dampfend heißen Ringelpommes kamen zum Vorschein.

Meg streute Salz über ihre eigenen Pommes. »Und, hast du es geschafft, den Code zum Laufen zu bringen?«

Clove fühlte sich wie auf einem anderen Planeten. »Welchen Code?«

Meg runzelte die Stirn. »Ich dachte, das sei der Grund, warum du dich den ganzen Tag so abgesondert hast. Weil du versucht hast, dein neues Programm zu testen.«

Clove öffnete den Mund, schloss ihn dann aber wieder. »Genau«, sagte sie nur und hasste sich selbst dafür, wie leicht ihr die Lüge über die Lippen kam.

Meg warf die Haare nach hinten; eine weiche Fülle blonder Locken ergoss sich über ihre Schultern und ihren Rücken. Cloves Blick blieb daran hängen und plötzlich konnte sie die Augen nicht mehr abwenden. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie wusste nicht mehr, wann sie Meg zum ersten Mal nicht nur auf freundschaftliche Weise gemocht hatte. Aber die Tatsache, dass Meg nicht das Gleiche für sie empfand, war schwer zu verkraften – und jetzt, da Meg in Cloves Cousin verknallt war, fiel es ihr umso schwerer.

»Und, bereit für das Schülerpraktikum?«, fragte Meg. »Weißt du schon, womit du die Arbeitsstunden verbringen wirst? Ich werde vermutlich beim Betreuen der Vorschulkinder helfen. Meinst du, du darfst mit der Zeitmaschine spielen?«

»Weiß ich noch nicht.« Clove schluckte. Heute war der letzte Schultag, bevor sie am Montag zu einem einwöchigen Praktikum in verschiedene Betriebe gingen. Meg würde an der örtlichen Grundschule Erfahrungen sammeln und Clove an der Universität, im Fachbereich ihrer Eltern. Eigentlich hatte sie sich darauf gefreut – und auf eine ganze Woche ohne Hausaufgaben –, aber jetzt war sie sich nicht mehr so sicher, ob ihr der Gedanke gefiel, so viel Zeit mit Tom und Jen zu verbringen. Jedenfalls nicht nach dem, was sie herausgefunden hatte.

Ehe sie sich’s versah, sprudelte sie auch schon los: »Mum und Dad haben mir gesagt, dass ich adoptiert bin.«

Clove erkannte, wie die Bedeutung dieser Aussage ihre Freundin traf, sah es daran, wie sich Megs gesamte Haltung schlagartig änderte, als ihr bewusst wurde, dass sich das beiläufige Gespräch am Mittagstisch in eine ernsthafte Unterhaltung verwandelt hatte.

»Ach, Clove. Alles in Ordnung mit dir?«

Clove nickte und versuchte, die Tränen hinunterzuschlucken, die ihr plötzlich in die Augen zu schießen drohten. Sie war froh, dass sie es Meg erzählt hatte. Meg wusste immer genau, was sie sagen musste. Meg war immer da, jedes Mal wenn Clove sie brauchte. Wenn Meg doch bloß nicht Alec brauchen würde.

»Mir geht’s gut«, antwortete Clove in bemüht leichtem Ton. »Wirklich«, fügte sie hinzu, als Meg sie zweifelnd musterte. »Ich weiß, dass sie mich noch immer lieben, sie haben mich großgezogen, sie sind noch immer meine Eltern … und so weiter und so fort.«

Meg legte eine Pommes, die sie bereits in der Hand hielt, zurück auf den Teller. Sie sah aus, als würde sie sofort aufspringen und Clove umarmen, falls diese in Tränen ausbrechen sollte.

»Mir geht’s gut, Meg, wirklich«, versicherte Clove erneut. »Mit diesem Teil der ganzen Geschichte hab ich keine Probleme. Aber die Tatsache, wer meine richtigen Eltern sind …«

»Was? Wer sind sie denn? Clove, bist du eine Prinzessin? Mächtig!«

Clove stieß ein halbherziges Lachen aus. »Äh, nein. Schön wär’s.« Sie konzentrierte sich darauf, ihr Besteck ordentlich neben ihren Teller zu legen, damit sie Meg nicht ansehen musste. »Du darfst niemandem davon erzählen.«

»Okay.«

»Ich meine es ernst. Es ist wirklich wichtig.«

»Clove, ich verspreche es hoch und heilig. Was ist los?«

Mit einem raschen Blick vergewisserte Clove sich, dass niemand der Umsitzenden zuhörte. In Gedanken befasste sie sich noch einmal mit Toms mahnenden Worten – wie gefährlich es war, wenn irgendetwas von ihrer Situation bekannt werden sollte. Aber hier ging es um Meg! Bestimmt war es in Ordnung, ihr davon zu erzählen, oder?

Clove schluckte. Dann sprach sie leise, aber in kräftigem, stolzem, entschlossenem Tonfall: »Meine Eltern sind Matt Galloway und Kate Finchley. Die beiden Studenten … die wir während unserer Kindheit immer gespielt haben. Sie sind meine Eltern.«

Meg stieß einen langen Seufzer aus. »Okay, ich weiß nicht mal ansatzweise, was ich dazu sagen soll. Du … ernsthaft? Das ist so, als würde man herausfinden, dass Hermine und Ron die eigenen Eltern sind oder so was in der Art.«

Clove nickte nur. »Ja, ich weiß. Irgendwie total … verrückt.«

»Und, äh, wie kommst du damit klar?«

Clove blickte auf ihren Teller. »Gut.«

Meg nahm ihr Sandwich in die Hand. »Das glaub ich dir nicht. Wie kann es dir dabei gut gehen?«

»Ich bin einfach nur … keine Ahnung … ein bisschen geschockt.«

Meg schnaubte. »Das kann dir keiner verübeln.«

»Und meine Mum – also meine richtige Mutter, Kate Finchley – hat mir all diese Briefe hinterlassen.«

»Briefe? Ich dachte, sie wäre weg. Sind nicht beide spurlos verschwunden?«

»Ja. Aber sie hat die Briefe vor meiner Geburt geschrieben. Kurz danach ist sie aufgebrochen, um Matt Galloway – meinen Dad – aus dem Gefängnis zu holen. Und sie war so voller Hoffnung. Sie hat wirklich gedacht, sie würde bald wieder zurückkehren. Sie hat geglaubt, dass sie und Matt mich großziehen würden. Und dass Tom nur mein Onkel sein würde.«

»Das ist … ich weiß auch nicht. Wohin sind sie denn verschwunden? Und wo sind sie jetzt? Wenn sie so fest entschlossen war, zu dir zurückzukehren …«

Clove musste ein-, zwei-, dreimal blinzeln. »Ganz genau: Wo zum Teufel stecken sie?« Clove wusste, dass die Möglichkeit bestand, dass die beiden tot waren. Vom englischen Militär ermordet. Aber sie wollte das einfach nicht glauben. Tief in ihrem Herzen war sie sich sicher, dass ihre Eltern noch lebten.

Die Schulglocke rief zum Unterricht und Clove machte sich daran, ihre Teller abzuräumen. »Wir reden später weiter.«

Meg zog sie an sich und umarmte sie. »Es wird alles gut, Clove. Wir kriegen das schon hin. Und ich werde dir sogar dabei helfen, sie auszuspüren, wenn es sein muss.«

Clove drückte ihre beste Freundin fest an sich. Sie roch Megs Parfüm: ein von ihrer Lieblingsboyband herausgebrachter Duft. Clove atmete den Geruch tief ein. Sie wünschte, sie bräuchte Meg nie mehr loszulassen.

»Danke«, murmelte Clove. Sie schätzte Megs bedingungslose Überzeugung, auch wenn die Chancen, dass Matt und Kate noch lebten, nicht gut standen.

Meg drückte sie noch ein letztes Mal, löste sich dann von ihr und musterte ihr Gesicht eindringlich. Als Clove ihr ein zaghaftes Lächeln schenkte, schien Meg davon überzeugt, dass es ihr gut ging. Denn sie erwiderte das Lächeln und grinste dann: »Übrigens ist es total unfair, dass du fantastische Adoptiveltern und noch fantastischere leibliche Eltern hast, während ich mit zwei langweiligen Steuerberatern und einem Leben in der Vorstadt gestraft bin. Manche Leute haben einfach unverschämt viel Glück.«

An diesem Abend kamen Tom und Jen nach der Arbeit in Cloves Zimmer und setzten sich auf ihr Bett, mit Teetassen und Butterkeksen in den Händen und nervösen Mienen.

Clove speicherte den Code ab; sie konnte sich sowieso nicht konzentrieren. Dann ordnete sie die Apps auf ihrem Monitor neu an, damit sie nicht zusehen musste, wie Jen ihre Kekse in den Tee tunkte oder wie Tom seine Tochter anstarrte, als versuchte er, eine komplizierte mathematische Gleichung zu lösen.

Sie warteten darauf, dass Clove etwas sagte, um ein Gespräch über »Cloves Gefühle bezüglich der Adoption« anfangen zu können. Auf die gleiche Weise hatten sie reagiert, als Clove ihnen mitgeteilt hatte, dass sie lesbisch war. Normalerweise half es ja, alles ausgiebig zu besprechen, aber dieses Mal konnte Clove sich nicht dazu überwinden. Sie schaffte es einfach nicht. Sie wusste ja nicht mal selbst, wie sie sich fühlte.

»Wie geht es dir?«, fragte Jen schließlich mit großen, unglücklichen Augen. Sie wirkte verletzt, als hätte Clove sich absichtlich in ihrem Zimmer eingeschlossen, nur um Jen wehzutun.

»Gut«, erwiderte Clove kurz angebunden. Sie versuchte, zu lächeln und eine tapfere Miene aufzusetzen, damit sich die beiden besser fühlten – wobei sie es gleichzeitig hasste, dass sie das machen musste. Hier ging es um ihren Schmerz, nicht um den von Jen und Tom. Eigentlich sollte sie sich keine Sorgen darum machen müssen, was die beiden dachten oder fühlten. Sie hätten sie in Ruhe lassen sollen, so wie Clove es sich gewünscht hatte.

»Du kannst mit uns reden, wenn du möchtest«, sagte Jen. »Ich weiß, das alles ist nicht leicht zu verdauen.«

Clove zuckte mit den Schultern. »Matt und Kate sind verschwunden. Was gibt es da noch zu bereden?« Sie nahm ihr Strickzeug, um ihre Hände zu beschäftigen, und begann die nächste Reihe. Das Stricken war ein weiteres Hilfsmittel, das ihre Eltern ihr gezeigt hatten, um ihre Hyperaktivität in den Griff zu bekommen. Normalerweise strickte Clove, während sie auf das Kompilieren eines Codes wartete. Vor Kurzem hatte sie angefangen, weiche smaragdgrüne Wolle zu einem Schal zu verarbeiten, den sie Meg schenken wollte. Er würde sehr gut zu ihren blonden Haaren passen – da war Clove sich absolut sicher.

»Es gibt so vieles, das wir besprechen sollten, Clove. Wir möchten nicht, dass du jemals das Gefühl hast, du wärst nicht gewollt gewesen. Dein Dad und ich lieben dich so sehr. Und das Gleiche gilt für deine leiblichen Eltern, auch wenn sie nicht hier sind und für dich da sein können.«

»Ich weiß.« Natürlich wusste Clove das nur allzu gut. Tom und Jen brachten ihr so viel Liebe entgegen, dass es sie fast schon erdrückte. »Ich … ich versteh es einfach nur nicht. Wo sind die beiden jetzt?«

»Wenn sie noch irgendwo da draußen wären …«, setzte Jen zögernd an, »dann wären sie zu dir zurückgekommen. Ganz bestimmt.«

Tom räusperte sich. »Deine Mutter hat recht, Liebes. Wenn die beiden noch leben würden …«

»Nein!«, unterbrach Clove ihn und ließ die Strickarbeit in den Schoß fallen. Tom und Jen wollten, dass Clove sich weniger im Stich gelassen fühlte. Sie versuchten, ihr einzureden, dass ihre Eltern nur deshalb nicht zu ihr zurückgekehrt waren, weil sie nicht mehr lebten. Aber Clove wusste, dass das nicht stimmte. Sie wusste zwar nicht woher, aber sie war sich absolut sicher. Kate und Matt lebten noch, irgendwo da draußen.