Fragen an den Islam 1 - Fethullah Gulen - E-Book

Fragen an den Islam 1 E-Book

Fethullah Gülen

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Beschreibung

Obwohl der Islam auch in Deutschland mittlerweile längst zu einem festen Bestandteil der Gesellschaft geworden ist, ist er vielen Menschen nach wie vor fremd. Ihnen sind die Grundbegriffe und Glaubenskonzepte dieser Religion weitgehend unbekannt. Das Buch Fragen an den Islam 1 schafft hier Abhilfe. Es wendet sich sowohl an Muslime als auch an Nicht-Muslime und gewählt einen Einblick in die Welt des Islam, der weit über die üblichen Schlagworte und oberflächlichen Darstellungen hinaus geht. Fethullah Gülen ist einer der führenden Gelehrten und Denker der heutigen Türkei. Sein besonderes Bemühen gilt dem friedlichen Zusammenleben der Menschen und Völker sowie dem Dialog der Kulturen und Religionen.

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FRAGEN an den Islam - 1

M. Fethullah Gülen

Copyright © Define Verlag,

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Erschienen im Define Verlag

Korrespondenz: Gerbermühlstr. 32 - 60594 Frankfurt am Main Tel: +49 69 / 83-83-8000

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ÜBER DEN AUTOR

WERDEGANG

Muhammed Fethullah Gülen ist ein islamischer Gelehrter und Denker, ein produktiver Autor und Dichter. Er wurde 1941 in Erzurum, Türkei, geboren und von unterschiedlichen namhaften muslimischen Gelehrten und spirituellen Meistern wie Haci Sidki Efendi (in angemessener Koranrezitation), Sadi Efendi (im Arabischen) und Muhammed Lutfi Efendi1 (in spirituellen Dingen) unterrichtet. Gülen studierte auch die Prinzipien und Theorien der modernen Sozial- und Naturwissenschaften. Dank seiner außergewöhnlichen Begabungen und seines intensiven Selbststudiums ragte er schon bald unter den Jugendlichen seines Alters hervor. Schon in jungen Teenagerjahren begann er seine Lehrtätigkeit, was ihm auf Grund seiner akademischen Leistungen und seiner offenkundigen intellektuellen Auffassungsgabe nicht schwer fiel.

1959 erhielt er nach einem Abschluss mit Auszeichnung die Lizenz, als staatlicher Prediger zu arbeiten. Nach kurzer Zeit wurde er auf einen Posten in Izmir, der drittgrößten türkischen Stadt, befördert. Dort widmete er sich der Aufgabe, seine Lebensziele zu definieren und den Kreis seiner Zuhörer zu erweitern. In seinen Reden und Vorträgen legte er großen Wert darauf, soziale Themen anzusprechen; denn er beabsichtigte, junge Leute dazu zu ermuntern, intellektuelle Aufklärung mit weiser Spiritualität und fürsorglichem, menschlichem Handeln zu verbinden.

Gülen beschränkte sich nicht darauf, nur in der Stadt zu lehren. Er reiste in die Provinzen und hielt Vorträge in Moscheen, Gemeindezentren und Kaffeehäusern. So erreichte er einen sehr repräsentativen Schnitt der Bevölkerung und kam auch mit Studenten und Lehrern in Kontakt. Die Themen seiner Vorträge variierten: Er sprach z.B. über Religiöses, Bildung, Wissenschaft, Darwinismus, Ökonomie und soziale Gerechtigkeit. Obwohl sich seine Vorträge auf ein so breites Spektrum an Themen erstreckten, besaßen sie eine außergewöhnliche Tiefe und Qualität. Dies beeindruckte die akademischen Kreise und trug ihm deren Respekt und Aufmerksamkeit ein.

Gülens Ideale

In seinen Vorträgen und Schriften spornt Gülen sein Publikum an, ein Gleichgewicht zwischen materiellen und spirituellen Werten herzustellen und auf diese Weise nach der Wahrheit zu suchen. Nur so können sich die Menschen Gelassenheit bewahren und wahre Glückseligkeit erlangen. Gülen war und ist stets darum bemüht, die positiven Wissenschaften mit der Religion zu versöhnen, die Differenzen zwischen diesen beiden Polen zu beseitigen und die Philosophien des Ostens und des Westens einander näher zu bringen.

Gülen glaubt, dass das 21. Jahrhundert Zeuge der Geburt einer spirituellen Dynamik werden wird, die lange brachliegenden moralischen Werten neues Leben einhaucht. Gülen kündigt ein Zeitalter der Toleranz, des Verständnisses und der internationalen Zusammenarbeit an, das letztlich eine einzige gemeinsame Zivilisation hervorbringen wird, die auf interkulturellem Dialog und dem Teilen von Wissen gründet. Um selbst zum Erreichen dieses hehren Ziels beizutragen, gründete er wohltätige Organisationen in und außerhalb der Türkei. Außerdem inspirierte er seine Mitstreiter, sich die Massenmedien, vor allem das Fernsehen zu Nutze zu machen, um die Leute über alle Angelegenheiten von persönlichem oder gemeinschaftlichem Interesse zu informieren.

Gülen widmet sich ganz der Lösung der gesellschaftlichen Probleme und glaubt, dass die Straße zur Gerechtigkeit für alle mit einer angemessenen universellen Bildung gepflastert ist. Die Vermittlung von Wissen ist für Gülen die oberste gesellschaftliche Aufgabe und Pflicht, da sie allein die Voraussetzungen für den Aufbau einer toleranten Gesellschaft schafft. Zur Verwirklichung dieses Zieles ermunterte Gülen jahrelang die Elite der türkischen Gesellschaft, die Leitfiguren der Gemeinden, die Industriellen, aber auch die kleinen Geschäftsleute, den Bedürftigen eine qualitativ hochwertige Ausbildung zu ermöglichen. Die Spenden, die er sammeln konnte, flossen in Stiftungen, die fortan die Gründung von Schulen in der Türkei und anderen Ländern förderten. Diese Bemühungen tragen inzwischen Früchte, denn die Absolventen der von Gülen inspirierten Schulen, insbesondere der zentralasiatischen Schulen, erreichen immer wieder sehr gute Plazierungen in den Einstufungstests der Universitäten und sind ständige Anwärter auf die vorderen Plätze bei internationalen Wissensolympiaden. Dort haben sie bereits zahlreiche Goldmedaillen in Fächern wie Mathematik, Physik, Chemie oder Biologie gewonnen.

Gülens Rolle als treibende Kraft, die weltweit zur Gründung von Schulen aufruft, zielt darauf ab, den Berufstätigen von morgen zu einer ausgewogenen und vielseitigen Ausbildung zu verhelfen, indem sie den Studenten von heute dringend benötigtes Wissen und Sachkenntnisse ebenso zur Verfügung stellt wie vernünftige moralische und ethische Werte. Diese Synthese soll die Studenten befähigen, aktiv an der Gestaltung einer positiven Zukunft der Menschheit mitzuwirken.

Gülen glaubt, das die Menschen neue Ideen nur dann akzeptieren, wenn sie durch überzeugende Argumente untermauert werden. Diejenigen, die zu diesem Zweck Gewalt anwenden, bezeichnet er als intellektuell bankrott. Seiner Meinung nach werden die Menschen, wenn es darum geht, die eigenen Angelegenheiten zu regeln und den eigenen spirituellen und religiösen Werten Ausdruck zu verleihen, immer nach Entscheidungsfreiheit verlangen. Die Demokratie bedürfe zwar weiterer Verbesserungen, sei aber das einzig lebensfähige politische System. Deshalb sollten die Menschen danach streben, politische Institutionen zu modernisieren und zu stärken. Nur dann könne man eine Gesellschaft aufbauen, in der die individuellen Rechte und Freiheiten respektiert und unterstützt werden, und in der Chancengleichheit für alle mehr ist als nur ein Traum.

1981 beendete Gülen seine formale Lehrtätigkeit, nachdem er zuvor eine ganze Generation junger Studenten inspiriert hatte. Sein Engagement seit den 60er Jahren vor allem für eine Reform des Bildungswesens hat ihn zu einem der prominentesten und respektiertesten Männer in der Türkei gemacht. Zwischen 1988 und 1991 hielt er in einigen der berühmtesten Moscheen der Türkei eine Reihe von Predigten als Prediger im Ruhestand. Auf Grund von schweren gesundheitlichen Problemen werden seine Ideen heute vor allem in Form von Büchern, Audio- und Videokassetten sowie weiterer Medien präsentiert.

Interreligiöse und interkulturelle Aktivitäten

Seit jener Zeit konzentriert Gülen seine Bemühungen darauf, einen Dialog zwischen einzelnen Gruppen herzustellen, die unterschiedliche Ideologien, Kulturen, Religionen und Nationen repräsentieren. Er nahm an zahlreichen Tagungen und Konferenzen teil, in denen es darum ging, die Menschheit auf ein Jahrhundert der Toleranz und des Verständnisses vorzubereiten - auf ein Jahrhundert, in dem die Kulturen miteinander kooperieren und die Bindungen unter den Menschen immer stärker werden. Gülen meint, dass die Menschen unabhängig von allen nationalen und politischen Grenzen viel mehr Gemeinsamkeiten haben, als sie denken.

Demzufolge hält er es für lohnend und gleichzeitig auch für notwendig, einen aufrichtigen Dialog zu etablieren, in dessen Rahmen sich die Menschen gegenseitig besser kennen lernen. Er selbst ging mit gutem Beispiel voran und gründete die ‚Stiftung der Journalisten und Schriftsteller‘, deren Aktivitäten zur Förderung von Dialog und Toleranz in der Gesellschaft bei fast allen gesellschaftlichen Schichten großen Anklang fand.

Aus derselben Motivation heraus empfängt Fethullah Gülen führende Persönlichkeiten aus aller Welt und stattet ihnen Gegenbesuche ab. In der Türkei gehören der Botschafter des Vatikans, der griechisch-orthodoxe Patriarch, der Patriarch der armenischen Gemeinde, der Oberste Rabbiner der jüdischen Gemeinde und viele Journalisten, Kolumnisten, Fernseh- und Kinostars und Denker verschiedener intellektueller Richtungen zu den Menschen, mit denen Gülen regelmäßig zusammentraf. Gülen traf Papst Johannes Paul II., John O’Connor, den Erzbischof von New York, Dale F. Eickelman, einen amerikanischen Professor für Anthropologie, Professor Sidney Griffith von der Katholischen Kirche in den USA, Leon Levy, den früheren Präsidenten der Antidefamationsliga, und viele weitere führende Repräsentanten anderer Religionen.

Aktuelle Aktivitäten

Seit nunmehr fünf Jahren hält sich Gülen aus gesundheitlichen Gründen in den USA auf. Dort lebt er sehr zurückgezogen und gibt nur noch selten Interviews, wenn die Umstände es erfordern. Trotz seiner Prominenz hat Gülen es immer vermieden, sich in die offizielle Politik einzumischen. Die Zahl seiner Bewunderer weltweit dürfte in die Millionen gehen. Seine 1995 intürkischer Sprache erschienene Autobiografie Fethullah Gülen Hocaefendi: Kücük Dünyam (Fethullah Gülen: Meine kleine Welt) erscheint mittlerweile in 50. Auflage.

Nach wie vor schreibt Gülen für mehrere türkische Zeitschriften wie Yeni Ümit, Sizinti und Yagmur sowie für die deutsche 3-Monatszeitschrift Die Fontäne. Gülen ist Verfasser von insgesamt über 40 Büchern (von denen die meisten in der Türkei Bestseller waren) und Hunderten von Artikeln. Viele seiner unzähligen Vorträge zu gesellschaftlichen und religiösen Themen wurden auf Audio- und Videokassetten aufgenommen.

Inzwischen wurden seine Bücher in viele Sprachen übersetzt, natürlich auch ins Deutsche:

 Sufismus

 Fragen an den Islam

 Kriterien oder die Lichter auf dem Weg

 Hin zum verlorenen Paradies

 Das unendliche Licht: Der Prophet Muhammad

 Die Grundlagen des islamischen Glaubens

Zu Gülens Bewunderern zählen Journalisten, Akademiker, TV-Stars, Politiker und inländische wie ausländische Staatsmänner. Sie sehen in ihm einen wahren Erneuerer und einen einzigartigen Gesellschaftsreformer, der selbst praktiziert, was er lehrt. Sie betrachten ihn als Friedensaktivisten, Intellektuellen, religiösen Gelehrten, Lehrer und Dozenten, Autor und Dichter, als großen Denker und spirituellen Meister. Fethullah Gülen hat sich das Ansehen dieser Menschen verdient, weil er sich mit großer Hingabe der Lösung gesellschaftlicher und spiritueller Probleme widmet, weil er Herz, Seele und Verstand der Menschen anspricht und den ganzen Menschen erneuern und stärken möchte, damit jeder Einzelne seinen Teil dazu beitragen kann, der Gesellschaft und damit dem Wohl seiner Mitmenschen zu dienen.

TEIL I

GOTT

1.1 Was kennzeichnet das Wesen und die Attribute Gottes? Können wir Ihn überhaupt beschreiben? Was sollen wir Menschen antworten, die fragen „Warum können wir Gott nicht sehen?“, oder „Wenn Gott doch alles erschaffen hat, wer erschuf dann Gott?“

Gott unterscheidet sich von Seiner Schöpfung in allen Belangen. Der Schöpfer kann auf gar keinen Fall die gleiche Daseinsform wie jene haben, die Er erschuf. Obwohl diese Tatsache für den gesunden Menschenverstand nachvollziehbar scheint, fragen nach wie vor viele Menschen, warum wir Gott nicht mit unseren eigenen Augen sehen können. Unser unmittelbares Sehvermögen ist sehr beschränkt und daher sicherlich kein geeignetes Mittel, um das Unbeschränkte aufzuspüren. Dies lässt sich vielleicht folgendermaßen veranschaulichen:

Im Körper des Menschen und sogar auf jedem einzelnen seiner Zähne existieren unzählige Bakterien. Diese Geschöpfe sind sich des Zahnes, auf dem sie leben, nicht bewusst. Um den Zahn als solchen wahrnehmen zu können, müssten sie sich auf irgendeine Weise an einen Punkt außerhalb des Zahnes begeben. Dann wäre es unter Anwendung künstlicher Hilfsmittel (wie z.B. Teleskope, Mikroskope usw.) durchaus denkbar, dass sie eine ungefähre Vorstellung von den Dimensionen des Zahnes und eventuell auch von der Größenordnung des Körpers, zu dem der Zahn gehört, erhielten. Nur mittels eines so unvorstellbar großen Aufwandes könnte sich eine Bakterie des menschlichen Körpers bewusst werden, der ja das breite Fundament bzw. den Nährboden ihrer Existenz bildet. Und selbst dieses kaum vorstellbare Bewusstwerden ist noch unermesslich weit weg von dem, was wir im entferntesten Sinne als Verstehen bezeichnen würden.

Das menschliche Wahrnehmungsvermögen ist ähnlich begrenzt, wenngleich auf einer ganz anderen Ebene. Zwar können wir vielleicht mit Teleskopen und anderen Instrumenten durch Entfernungen von Millionen von Lichtjahren ‚hindurchsehen‘. Aber alles, was wir auf diese Weise sehen, ist bedeutungslos verglichen mit den Dimensionen des Ganzen, von dem es nur ein winzig kleines Fragment ist. Mag es sich auch um eine andere Ebene handeln - was Menschen sehen können, ist ebenso unbedeutend wie das Bewusstsein der Bakterien um das lebende Gewebe, innerhalb dessen sie leben und sterben. Denn auch dieses Gewebe ist ja im Vergleich zu den Dimensionen des Körpers, der es umgibt, nur ein winziges Fragment.

Beschäftigen wir uns noch eingehender mit dem Thema, wird uns sehr schnell klar werden, dass unser Verstand unser Sehen und Hören und andere Sinneswahrnehmungen entscheidend beeinflusst. Wir benötigen eine Grundvorstellung von dem, was wir sehen, um es unterscheiden und wieder erkennen zu können. Wüssten wir z.B. nicht einmal ungefähr, was ein Baum ist, wären wir nicht in der Lage, dem Objekt vor unseren Augen, dass wir als Baum kennen, einen Sinn zu geben. Wenn unser Sehen also so beschränkt ist, wie es sich darstellt, und wenn wir - sogar bei Objekten innerhalb der Schöpfung und innerhalb der Reichweite unseres Sehens oder unserer Seh-Instrumente - auf ein allgemeines Verständnis angewiesen sind, um dem, was wir sehen, einen Sinn zu geben, wie anmaßend und absurd erscheint dann die Frage, warum wir den Schöpfer des Ganzen nicht direkt sehen oder erkennen können!

Wir sind Lebewesen, die erschaffen wurden; d.h., dass wir sterblich und in unseren Möglichkeiten und Fähigkeiten beschränkt sind. Nur Gott, dem Schöpfer, sind keine Grenzen gesetzt. Seine Gnade lässt uns über den Erdboden bzw. die Umwelt, in der wir leben und sterben, in der wir nach Erkenntnissen und Tugend streben und unser Heil suchen, verfügen. Der Prophet Muhammad, Friede sei mit ihm, sagte: Verglichen mit Gottes Thron des Wissens ist das ganze Universum so winzig wie ein Ring, der in eine Wüste geworfen wurde. Verglichen mit Seinem Thron der Macht wiederum ist aber auch dieser Thron des Wissens so winzig wie ein Ring, der in eine Wüste geworfen wurde.2

Dieser Vergleich vermittelt uns eine Vorstellung davon, wie weit die Unbeschränktheit des Schöpfers unser Vermögen, diese zu begreifen, übersteigt. Wie können wir also auch nur den Versuch unternehmen, uns über die wahre Beschaffenheit von Gottes Thronen des Wissens und der Macht, von denen aus der Allmächtige in Seiner Unbeschränktheit Seinen Willen und Seine Anordnungen erteilt und Sich um Seine Schöpfung kümmert, Gedanken zu machen, geschweige denn beginnen, von Gott Selbst Vorstellungen zu entwickeln?

Warum können wir Gott nicht sehen?

Der Koran lehrt:

Blicke können Ihn nicht erreichen, Er aber erreicht die Blicke.(6:103)

Nach dem Aufstieg des Propheten Muhammad in die Himmel fragten ihn seine Gefährten, ob er Gott gesehen habe. Nach Abu Dharr ist überliefert, dass er bei einer Gelegenheit geantwortet habe: Was ich sah, war Licht. Wie soll ich Ihn sehen?3 Bei anderer Gelegenheit soll er erwidert haben: Ich habe ein Licht gesehen.4 Diese Aussagen erläutern den wohl bekannten Ausspruch Das Licht ist die Grenze bzw. der Schleier um Gott.5 Zwischen uns und Gott existiert das Licht, das Er erschuf. Alles, was wir sehen, sehen wir mit Hilfe dieses Lichtes und in diesem Licht - das Licht bildet die Grundlage, die Sphäre und die Grenze unseres Sehens. Es entzieht Gott unseren Blicken und verbirgt Ihn vor uns. In Wirklichkeit sehen wir lediglich einen Teil jenes Lichtes der Schöpfung und damit auch nur einen Teil dessen, was Ihn verhüllt.

Dieses Thema lässt sich auch aus anderer Perspektive betrachten. Ibrahim Haqqi sagte: „Im gesamten Universum der Schöpfung gibt es nichts, was Gott gleich, ähnlich oder entgegengesetzt wäre. Gott ist über alle Form erhaben, ja sogar immun gegenüber und frei von Form.“

Nur weil existierende Dinge etwas Gleiches, Ähnliches oder Gegenteiliges haben, sind wir überhaupt in der Lage, sie wahrzunehmen und voneinander zu unterscheiden. Was das Wort lang bedeutet, wissen wir nur, wenn wir vergleichen oder entgegenhalten können, was kurz ist. Was Licht ist, wissen wir nur, wenn wir eine Vorstellung von Dunkelheit haben. Den Einen, der nichts Ähnliches, Gleiches oder Gegenteiliges aufweist, zu erkennen oder zu kennzeichnen, ist also ganz und gar unmöglich. Hierin liegt die Bedeutung der Aussage, Gott sei über alle Form erhaben.

Dem Leser wird wahrscheinlich schon klar geworden sein, dass die Frage nach der direkten Wahrnehmung Gottes lediglich ein Spiegelbild der Frage nach dem direkten Erkennen und Gewahrwerden Seines Wesens ist. Aber genauso wenig wie wir Gott sehen können, können wir Sein Wesen erkennen oder uns dessen gewahr werden. So wie Er jenseits aller Maße von Form, Qualität oder Quantität steht, übersteigt Er auch unser Auffassungsvermögen. Die Muslime drücken es in der islamischen Gotteslehre (Kalam) folgendermaßen aus: „Egal welche Vorstellung von Gott wir in unseren Köpfen entwickeln - Er hat nichts mit ihr gemein.“ Die Sufis versichern: „Gott befindet Sich jenseits aller Dinge, auch jenseits unserer Vorstellungskraft. Uns umgeben Tausende von Schleiern.“

Von erfahrenen Menschen stammt die Aussage, dass Gott zwar existiere, Er könne aber weder vom Verstand des Menschen erfasst noch von den menschlichen Sinnen registriert werden. Der einzige Weg, Wissen um Ihn zu erlangen, führt über die Propheten, d.h. über jene Menschen, die Gott zu Überbringern Seiner Offenbarung gemacht hat. Wo Wahrnehmung und Verstand keinen Zugang gewähren, müssen wir uns ganz auf die Rechtleitung der Offenbarung verlassen.

Stellen wir uns einmal vor, wir würden uns in einem verschlossenen Raum befinden und an der Tür dieses Raums ein Klopfen hören. Zwar können wir in dieser Situation sehr wohl eine vage Vorstellung von dem Klopfenden entwickeln, über seine Eigenschaften können wir jedoch lediglich Vermutungen anstellen. Ganz sicher wissen wir nur, dass es an der Tür geklopft hat und dass wir die Freiheit besitzen, zur Tür zu gehen, sie zu öffnen und die betreffende Person zu bitten, sich uns zu zeigen. Dieses Vorgehen wird uns unter Umständen ermöglichen, mehr über ihre wahren Eigenschaften zu erfahren.

Diese einfache Analogie mag uns dabei helfen, uns der Frage, auf welche Weise wir Gott suchen sollten, zweckmäßiger zu nähern. Die Realität der Schöpfung, ihre Unermesslichkeit in Verbindung mit der grundlegenden Einheit ihrer Gestalt, ihre reine Schönheit und Harmonie, der Nutzen, den sie für uns bereithält, und ihre Ansprüche an unsere Arbeitskraft und unseren Verstand - all diese Faktoren führen uns die Existenz des Schöpfers vor Augen. Die Tatsache, dass eine wunderbare Vielzahl von Produkten aus einem einzigen Material gewonnen wird, weist uns auf eine treibende Kraft hin, die das Endprodukt spinnt, mischt, färbt, webt oder anderweitig präpariert. Das phänomenale Zeugnis der Schöpfung lässt uns in gleicher Weise schlussfolgern, dass es einen Schöpfer gibt. Während nun aber der Hersteller von Waren ausfindig gemacht und möglicherweise überzeugt werden kann, sich uns bekannt zu machen, liegt es nicht in unserer Macht, solche anmaßenden Nachforschungen auch beim Schöpfer anzustellen. Dies doch zu versuchen, wäre in der Tat ebenso ungehörig wie zwecklos. Es wäre genauso zum Scheitern verurteilt wie die Neugier eines Produktes gegenüber seinem Hersteller. Ohne die Unterstützung des Schöpfers Selbst können wir nur bis zu jener Stufe vordringen, auf der wir beim erstmaligen Hören des Klopfens an der Tür beginnen, uns aussichtslosen vagen Vermutungen darüber hinzugeben, wer wohl geklopft hat.

Die Wirklichkeit sieht nun aber so aus, dass - der Barmherzigkeit Gottes sei Dank - die Erschaffung des Menschen von der Offenbarung begleitet wurde. Die Offenbarung Gottes, die Er den Propheten enthüllt hat, und deren Lehren halten uns die Tür weit offen. Es ist uns möglich, auf die Schöpfung um uns herum zu reagieren. Denn sie bietet uns Zeichen, die nicht nur die Tatsache der Existenz des Schöpfers belegen, sondern auch Seine Attribute manifestieren. Von den Propheten lernen wir, über Seine Attribute nachzudenken und sie aufzuzählen: der Eine, der Barmherzige, der Erbarmer, der Allwissende, der Allmächtige, usw.. Ein wirkliches Begreifen dieser Attribute erfordert eine tiefe innere Erfahrung und Meditation, die man nur dann erreicht, wenn man sich an den Vorbildern der Propheten orientiert und die Gebote Gottes aufrichtig und umfassend befolgt, unvoreingenommen über einen langen Zeitraum hinweg studiert und ernsthaft meditiert. Solange unsere inneren Fähigkeiten nicht ausgebildet sind, sind wir nicht in der Lage, die Bedeutung der Schöpfung zu erfassen, und können uns der Meditation über die in ihr manifestierten Attribute Gottes nicht hingeben.

Aber selbst wenn sie ausgebildet sind, gelingt es nicht jedem Menschen, das Wesen Gottes zu ergründen. Abu Bakr as-Siddiq drückte dies mit den Worten aus: „Sein Wesen zu begreifen, bedeutet einzugestehen, dass Sein Wesen unbegreiflich ist.“

Unsere Aufgabe besteht darin, unser Abkommen mit Gott einzuhalten und Ihn anzuflehen: „O Du, der Du als Einziger der Anbetung würdig bist! Die Tatsache, dass wir unfähig sind, wahres Wissen über Dich zu erlangen, bedarf keiner Erklärung. Dennoch glauben wir, dass Du uns tatsächlich näher bist als unsere eigene Halsschlagader. Durch das Universum, das Du erschaffen und uns wie ein Buch aufgeschlagen hast, und durch die wunderschöne harmonische Gestaltung all dessen, was Du von den geringsten bis hin zu den gewaltigsten Dingen erschaffen hast, spüren wir Deine Existenz und Nähe in der Tiefe unserer Herzen. Wir erkennen, dass auch wir zur Sphäre Deiner Erscheinungsformen gehören. Dadurch erfahren unsere Seelen einen Zustand des Friedens und des Trostes, während unsere Herzen Gelassenheit finden.“

Nun gibt es aber auch Menschen, die eine solche Gelassenheit oder ein nach innen gerichtetes Leben überhaupt nicht für erstrebenswert halten. Ihre Vernunft hat eine bewusste Kehrtwendung vollzogen. Bereitwillig geben sie sich einer mechanischen Form von Sophisterei hin, die ihren Verstand verführt und lähmt. Sie fragen:

Wenn Gott doch alles erschaffen hat, wer erschuf dann Gott?

Als ich diese Frage zum ersten Mal hörte, legte ich ganz spontan Zeugnis ab und sprach: „...und Muhammad, Friede sei mit ihm, ist sein Gesandter!“ Denn der Gesandte hatte prophezeit, dass diese Frage irgendwann einmal gestellt werden würde. Er sagte noch viele weitere zukünftige Ereignisse von Wichtigkeit voraus, die alle genau eingetroffen sind bzw. bis zum Ende der Zeit noch eintreffen werden. Einmal erwähnte er: Es wird fürwahr ein Tag kommen, an dem einige Leute mit gekreuzten Beinen sitzen und fragen werden: Wenn Gott doch alles erschaffen hat, wer erschuf dann Gott?6

Natürlich sind Menschen, die Fragen wie diese stellen, Atheisten oder tendieren zumindest zum Unglauben und setzen alles daran, andere ebenfalls in die Irre zu führen. Mit ihrer Frage bezwecken sie, die Verantwortung, die ein Geschöpf seinem Schöpfer gegenüber schuldig ist, ebenso abzustreifen wie Glauben und Gottesanbetung. Bestenfalls beruht ihre Frage auf der Betrachtung der Beziehung zwischen Ursache und Wirkung. Jede Gegebenheit lässt sich als eine Wirkung bezeichnen, die einer vorangegangenen Gegebenheit, einer Ursache zugeschrieben wird, für die ihrerseits ebenfalls eine frühere Gegebenheit verantwortlich gemacht wird usw. Erstens ist es aber für jeden, der unbefangen nachdenkt, offensichtlich, dass die Idee der Ursache keine Tatsache, sondern nur eine Hypothese ist: Alles, was tatsächlich existiert, stellt eine bestimmte oft (aber nicht für immer) wiederholte Abfolge von Gegebenheiten dar. Wendet man zweitens diese Hypothese auf die gesamte Schöpfung an, dann kann man gar nicht auf ihren Schöpfer stoßen, denn jeder Schöpfer müsste der Hypothese zufolge ja seinerseits auch wieder einen Schöpfer haben. (Die nutzlose Idee einer nicht enden wollenden Kette von Schöpfern war sogar eines der Argumente, die muslimische Theologen verwandten, um die Notwendigkeit, an Gott zu glauben, zu begründen.)

Dass der Schöpfer aus Sich Selbst heraus existiert, dass Er ein Einziger ist und weder Gleiche noch Ebenbürtige neben sich duldet, ist ganz offensichtlich. Wenn es stimmt, dass jedes erschaffene Lebewesen etwas bewirkt, dann wurde die Fähigkeit zu bewirken mit dem Lebewesen zusammen erschaffen. Von keinem Lebewesen im Universum darf behauptet werden, es existiere aus sich selbst heraus. Vielmehr verdankt jedes Lebewesen sein Dasein dem Schöpfer, der allein aus Sich Selbst heraus existiert und besteht. Aus der Tatsache, dass der Schöpfer als Einziger wirklich etwas erschafft, folgt, dass Er für alle Lebewesen, die Er erschafft, auch alle erdenklichen Ursachen und Wirkungen bestimmt hat, die diesen vorangehen bzw. folgen. Deshalb sprechen wir von Gott auch als dem, der alles aufrechterhält, der Seiner Schöpfung vom Anbeginn bis zum Ende Leben gibt und sie bewahrt. Alle Ursachen haben in Ihm ihren Anfang, und alle Wirkungen finden in Ihm ihr Ende. Erschaffene Dinge sind in Wirklichkeit nichts anderes als Ziffern oder Nullen, die sich unabhängig davon, wie viele von ihnen wir in eine Reihe stellen, auf Null summieren, sofern ihnen nicht eine positive Zahl vorangestellt wird, welche ihnen einen Wert verleiht. Dieser Logik folgend kann die Schöpfung ohne Gott keine wirkliche Existenz besitzen oder irgendeinen Wert haben.

Die so genannten Ursachen haben keinen direkten oder eigenständigen Einfluss auf das Dasein, keine direkten oder eigenständigen Wirkungen. Zwar mag es wohl sein, dass wir uns der Begriffe Ursachen und Wirkungen bedienen müssen, um verstehen zu können, wie uns (durch die Gnade Gottes) ein Teil der Schöpfung in einem begrenzten Raum und für eine kurze Zeitspanne verständlich und verfügbar gemacht wird. Aber selbst dies bestätigt unsere Abhängigkeit von Gott und unsere Verantwortung Ihm gegenüber. Gott hat es keineswegs nötig, Ursachen und Wirkungen zu erschaffen. Vielmehr sind wir es, die auf Ursachen und Wirkungen angewiesen sind, um begreifen zu können, was Er erschaffen hat. Er allein ist der Erste und der Letzte, der Ewige, der Veranlasser und der Ausschlag Gebende - all unsere bemühten, aber vergleichsweise winzigen Anstrengungen in Bezug auf Ursache und Wirkung sind nichts weiter als Schleier zwischen uns und dem Majestätischen Gott.

Um es also noch einmal zu betonen: Er, Allah, ist der Eine Gott, der aus Sich Selbst heraus Existierende, der ewig und um alles Anzuflehende. Er zeugt nicht und wurde nicht gezeugt; und nichts ist ihm gleich.

1.2. Warum erschuf Gott das Universum; tat Er es aus einer Pflicht heraus? Warum hat Er es nicht schon zu einem früheren Zeitpunkt erschaffen?

Zunächst einmal sollte man festhalten, dass wir als menschliche Wesen alles aus einer menschlichen Perspektive heraus wahrnehmen und unsere Beobachtungen in entsprechende Worte kleiden. Um ein Beispiel zu nennen: Die Menschen handeln aus Notwendigkeiten oder aus einem Verlangen heraus. Wir handeln, weil wir bestimmte Bedürfnisse haben oder dazu gezwungen werden. Weil wir in uns selbst vernarrt sind und fehlerhafte Überlegungen anstellen, maßen wir uns törichterweise an, uns mit Gott zu vergleichen, und stellen uns vor, Gott würde so handeln, wie wir es tun. Wenn die oben genannten Fragen gestellt werden, müssen wir uns also unbedingt in Erinnerung rufen, dass Gott über allen Wünschen und Bedürfnissen und weit jenseits unserer unzulänglichen Vorstellungen steht.

Wer ist über die Erschaffung des Universums unglücklich? Wer möchte in der Erntezeit nicht vom Einbringen der Ernteerträge profitieren? Wer sucht nicht sein Glück, indem er auf bestmögliche Weise all das zu nutzen versucht, was die Welt für ihn bereithält? Nur sehr wenige Menschen, die sich in einer sehr schlimmen Lage befinden, sind so vorschnell und unbesonnen, ihr Leben in dieser Welt zu beklagen. Einige wenige haben zwar auch in ihrem Kummer Selbstmord verübt, die überwältigende Mehrheit der Menschen aber ist eher dankbar als dass sie es bedauert zu leben, in diese Welt gekommen und Mensch zu sein. Wer beklagt sich schon darüber, in der Obhut seiner Eltern versorgt und von ihrer liebenden Fürsorge in der Kindheit behütet zu werden? Wer bedauert es schon, jung zu sein und eine Zeit zu durchleben, in der das Hochgefühl des Lebens im ganzen Körper zu spüren ist? Wem missfällt es schon, als reifer Erwachsener eine Familie und Kinder zu haben und mit ihnen ein harmonisches Leben zu führen? Und mit welchen Instrumenten können wir das Glück und die Zufriedenheit der Gläubigen messen, die hier nicht nur die Saat für die kommende Welt säen, sondern sich auch in dieser Welt ihren Erfolg sichern? Die Gläubigen finden die Schlüssel zu den Türen des höchsten Glücks. Deshalb sind sie zufrieden und haben keinen Grund zu verzweifeln.

Mit vollem Bewusstsein nehmen wir all diese verschiedenen Arten des Glücks wahr und danken unserem Schöpfer, der uns zum Leben erweckt hat, von ganzem Herzen.

Das gesamte belebte wie unbelebte Universum wurde mit vielerlei Zierden künstlerisch gestaltet und geschmückt. Es ähnelt einer endlosen Parade oder einer Ausstellung von Kunstgegenständen, die erschaffen wurde, um alle Menschen zu fesseln und zum Nachdenken anzuregen. Die Schönheit der Landschaft dieser Parade, ihre außergewöhnliche Vielseitigkeit und ihr prächtiger Schmuck, ihr schierer Reichtum und der ständige Fluss von Ereignissen, der sie prägt, stellen für unsere Sinne und unseren Verstand eine präzise und greifbare Realität dar. Diese Realität spricht für die Existenz einer wirkenden Kraft, welche sie ins Dasein ruft. Die Realität der Werke und Handlungen Gottes ermöglicht uns schließlich, den, der wirkt, und auch. Seine Namen zu erkennen. Anhand dieser Namen, die sich in Gegenständen und Lebewesen manifestieren, versuchen wir, auf Seine Attribute zu schließen. Über die Kanäle und Gebete, die unseren Herzen zugänglich sind, sehnen wir uns danach, ja, kämpfen wir darum, Ihn, den Erhabenen, persönlich kennen zu lernen. Diese Aufwertung unseres Seins wird von einer weiten Sphäre der Realität inspiriert: von Dingen, Ereignissen und dem unermesslichen Reich, in dem der Mensch im Universum das Amt eines Verwalters innehat, wie auch von der Beziehung zwischen Mensch und Universum und vom Herrschaftsgebiet der Namen und Attribute Gottes.

Eine simple Analogie veranschaulicht die Absicht des Schöpfers:

Stellen wir uns einmal einen erfahrenen Kunsthandwerker oder Künstler vor. Angenommen, dieser Künstler ist ein außerordentlicher Bildhauer, der mit ein paar Hammer- und Meißelschlägen lebensechte Skulpturen aus härtestem Stein formen und die schönsten Gefühle hervorzaubern kann. Oder er ist ein geschickter Holzschnitzer, der seine Seele gewissermaßen in ein Nussbaum- oder Buchenholz gießen oder, wie man so schön sagt, ein Stück Ebenholz zum Leben erwecken kann; oder ein ausgezeichneter Maler, dessen Pinselstriche die herrlichsten Farbkombinationen hervorbringen und die staunenden Betrachter ob ihrer Schönheit anrühren können. Diesen grundverschiedenen Fähigkeiten lassen sich noch eine ganze Reihe weiterer hinzufügen. Doch eines ist klar: Ein Künstler kann nur dann als wahrer Künstler bezeichnet werden, wenn er seine Fertigkeiten auch in der Praxis demonstriert. Erst seine Kunstwerke oder das Verfahren, mit dem er sie herstellt, geben uns Aufschluss über seine Talente. Jede innere Kraft wünscht, die in ihr verborgene Realität zu enthüllen, und strebt danach, sich in eine äußere Form, in einen äußerlich wahrnehmbaren Körper zu kleiden, um so ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Samenkörner wollen keimen, Spermien sind darauf erpicht, sich mit der Eizelle in der Gebärmutter zu vereinigen und Bläschen, die durch die Luft schweben, trachten danach, als Wassertröpfchen zu Boden zu fallen. Sie alle nehmen diese Mühen ganz einfach deshalb auf sich, weil sie sich wünschen, ihr eigentliches Wesen in der Realität zu präsentieren.

Das Bedürfnis, sein inneres Wesen zu enthüllen, um so von anderen gesehen und erkannt zu werden, ist allerdings stets mit Schwächen und Makeln behaftet; denn alle Lebewesen und ihre Wünsche sind nicht mehr als ein Abglanz des Ursprünglichen Wesens. Einzig und allein der Kunstfertige Schöpfer ist vollkommen. Keine einzelne und keine zusammengesetzte Manifestation der Essenz reicht jemals an die Essenz selbst heran. Das sollte man sich stets vor Augen halten.

Das gesamte künstlerische Wirken im Universum weist auf die Namen Gottes hin. All die Namen, die sich in den unterschiedlichen Denkmälern des kunstvollen Schöpferwerkes manifestieren, beleuchten unseren Weg und lassen uns die Attribute dieses Wesens, dieses Einen Schöpfers, erkennen. Sie stimulieren und erwecken unsere Herzen mit Hilfe der Zeichen und Botschaften des Verborgenen, aber allzeit Gegenwärtigen Schöpfers, die unseren Sinnen zugeführt werden.

Der Schöpfer Selbst will Sich uns in ganzem Umfang bekannt machen und dabei alle Unklarheiten beseitigen. Anhand der Vielfalt und Schönheit der Schöpfung will Er uns Seine Brillanz demonstrieren. Die großartige Ordnung und die Harmonie im Universum sollen uns Seinen Willen und Seine Allmacht nahe bringen, und in der Tatsache, dass Er sogar unsere geheimen Wünsche und Sehnsüchte stillt, dokumentiert Er Seine Barmherzigkeit, Sein Mitgefühl und Seine Gnade. Daneben verfügt Er über viele weitere Namen und Attribute, über die Er Sich uns bekannt machen möchte.

Mit anderen Worten: Um Seine Macht und Seinen Willen zu manifestieren, bereichert Er diese Welt um Dinge, die Er in Seinem allumfassenden Wissen genau kennt. Indem Er all diese Dinge dem Prisma des Intellekts und des Verständnisvermögens bewusst denkender Lebewesen überlässt, weckt Er in den Sphären der Erde und der Himmel Staunen, Bewunderung und Wertschätzung.

So wie sich die Talente eines gewandten Künstlers auf erhabene Art und Weise in seinen Kunstwerken manifestieren, erschuf der Besitzer des Universums das Universum, um in ihm die Kraft und Allmacht Seiner Kreativität zu manifestieren.

Kommen wir nun zur zweiten Frage:

Warum hat Gott das Universum nicht schon zu einem früheren Zeitpunkt erschaffen?

Wenn das Wort ‚früher‘ irgendeinen Zeitpunkt oder Zeitraum innerhalb der Ewigkeit vor der Erschaffung der Zeit bezeichnen soll, ergibt dies keinen Sinn. In Relation zur Ewigkeit haben selbst Zeitspannen von 100 oder 1.000 Milliarden Jahren keinerlei Bedeutung. Im Zeitrahmen der Ewigkeit ist Zeit überhaupt nicht vorstellbar. Nur Gott ist ewig. Sein Wesen und Seine Existenz sind ewig. Mit Ausnahme Gottes kann keine Sache und kein Lebewesen für sich in Anspruch nehmen, ewig zu sein. Wenn sich das Wort ‚früher‘ aber auf die Ewigkeit selbst bezieht, dann ist zu berücksichtigen, dass diese keinen zeitlichen Beschränkungen unterworfen ist. Diese Uneingeschränktheit schließlich ist einzig und allein ein notwendiges Privileg der Existenz, Namen und Attribute Gottes. Das heißt, Gott gehört ausschließlich Sich Selbst, und nur Er selbst kann für Sich beanspruchen, ewig zu sein.

Innerhalb des alles umfassenden und verstehenden Wissens Gottes besitzt alles, was erschaffen wurde, eine absolute Realität als Ilm (Wissen). Im Tasawwuf (Sufismus) werden die erschaffenen Dinge und Lebewesen als Archetypen bezeichnet, die wir uns als innere Kräfte, Pläne oder Projekte vorstellen können. Ihnen Ewigkeit zuzuschreiben wäre falsch. Eigentlich ist es schon fast beleidigend, wenn wir uns in diese Dinge überhaupt einmischen. Wenn wir mit unseren begrenzten Maßstäben eine Aussage über Lebewesen oder Seelen, die in der Schöpfung vorkommen, treffen wollen und uns Fragen widmen, die Teilbereiche des Übersinnlichen und Unsichtbaren (Ghaib) betreffen, so spricht dies gewissermaßen für unsere Unfähigkeit einzugestehen, dass wir anmaßend sind, weil wir nicht erkennen oder erkennen wollen, dass unserem Verstand Grenzen gesetzt sind.

Verglichen mit Gottes Thron des Wissens ist das ganze Universum so winzig wie ein Ring, der in eine Wüste geworfen wurde. Verglichen mit Seinem Thron der Macht wiederum ist aber auch dieser Thron des Wissens so winzig wie ein Ring, der in eine Wüste geworfen wurde. Wie soll es also ein Mensch anstellen, den Besitzer dieses Thrones der Macht zu erkennen und Aussagen über Sein Wesen und Seine Essenz zu treffen!

Viele Dinge dienen Seinem Wesen und Seinen Taten als Spiegel. Doch Gott kannte Sich Selbst schon vor der Existenz dieser Dinge, bevor Er das Universum erschaffen hat. Er kennt Sich Selbst, Seine Namen und Seine Taten, ohne dabei irgendein Bedürfnis nach irgendetwas zu verspüren. Er stößt in jeder Sphäre auf Sein Wesen und auf Seine Taten: in der Sphäre Seiner Namen ebenso wie in der physischen Schöpfung; in den winzigsten Teilchen eines Atoms ebenso wie in den gewaltigsten und komplexesten Einheiten dieser Sphären. Er kennt Sich Selbst und macht Sich Seinen bewussten Dienern durch die Manifestationen Seiner Namen bekannt.

Mit Seinem ewigen Wissen (Ilm) erkennt Er Sich in allen Sphären auf andere Art und Weise wieder. Doch nichts, was mit Ihm verbunden ist, ändert sich jemals. Ja, unter Seinen Attributen befinden sich auch solche, die als negative Attribute bezeichnet werden: Beispielsweise isst und trinkt Gott nicht. Zeit schränkt Ihn nicht ein. Er verändert Sich nicht und es verlangt Ihn nach nichts.

Innerhalb der Grenzen unserer Zeit sehen und erkennen wir, was Er anordnet und für uns veranlasst. Aber wir wissen weder, was in weiter Vergangenheit passiert ist, noch, was die Zukunft bringen wird. Auch wissen wir zum Beispiel nichts über die Existenz der Lebewesen im Wissen Gottes oder über die ursprünglichen verborgenen Realitäten und die Sphären des Geistes. Trotz allen wissenschaftlichen Fortschritts haben wir bis heute keine Vorstellung davon - und können diese auch gar nicht haben -, wie tief und weit das Universum ist. Phänomene wie die Spiralnebel sind uns nahezu unbekannt. Wir wissen nicht, was sie bedeuten, welche Bedeutung sie für die Weltordnung haben und welche Art Licht sie auf die dunklen Punkte der gesamten Schöpfung werfen. Genauso wenig wissen wir über das Jenseits. Angesichts dieser gewaltigen Geheimnisse können wir nur bitten: „Ma’ruf! (Gütiger Herr!) Wir haben weder Dich Selbst noch Deine Werke vollständig entschlüsseln können. Verzeihe uns!“

1.3 Gott weiß genau, wie wir in dieser Welt handeln und leben, ob wir Seinen Anforderungen folgen oder nicht. Warum aber werden wir dann überhaupt zur Prüfung in diese Welt geschickt?

Natürlich weiß Gott, wie wir in dieser Welt handeln und leben. Er schickt uns auf die Erde, damit wir uns von Ihm prüfen lassen, auf dass wir durch die Verantwortung, die Er uns auferlegt, unsere Fähigkeiten und Fertigkeiten weiterentwickeln. Die Menschen werden nicht alle mit denselben Stärken und Talenten erschaffen. Sie gleichen in gewisser Hinsicht Mineralien, die erst dann als rein und erlesen gelten, wenn sie aufgearbeitet wurden.

Jemand, der künstlerisches Talent besitzt, möchte dieses Talent zum Ausdruck bringen. Seine Kunstwerke machen ihn in der Öffentlichkeit bekannt. Ähnlich ist die Majestät, Erhabenheit und Kunstfertigkeit der Schöpfung Gottes eine Präsentation und Reflexion Seiner heiligen Namen und Attribute. Um uns Menschen Seine Kunst (Allmacht, Stärke, Weisheit, Schönheit und Barmherzigkeit) nahe zu bringen, erschuf Er das Universum und stellte in ihm Aspekte Seiner geheimnisvollen verborgenen Schätze zur Schau.

Um uns zu demonstrieren, wie sich Seine Namen, Attribute und Künste manifestieren, gestaltete Er das Universum Schritt für Schritt. In unterschiedlichem Umfang und in wechselnder Qualität gewährt Er uns zahllose Gelegenheiten, Ihn besser kennen zu lernen. Darüber hinaus gewährt Er uns unendlich viele Möglichkeiten, ein fundiertes Wissen über Ihn zu erlangen. Er ist der Absolute Schöpfer, der alles aus einer Substanz erschafft und jedem einzelnen Element tausenderlei Nutzen zuspricht - wenn Er nur will. Aus diesem Grunde kann sich zum Beispiel Karbon entweder als Kohle oder als Diamant manifestieren. Und sowohl Kohlen als auch Diamanten können in den unterschiedlichsten Arbeitsprozessen noch weiter verfeinert und aufgearbeitet werden.

Alles, was erschaffen wurde, was sich im Universum entfaltet hat und dem Menschen zur Verfügung gestellt wurde, prüft und läutert den Menschen und bereitet ihn in gleicher Manier auf die ewige Glückseligkeit im Paradies vor, wie Rohmaterialien verfeinert, gereinigt und zu Silber, Gold oder Diamanten verarbeitet werden. In einem Hadith sagte der Prophet Muhammad, Friede sei mit ihm: Menschen sind wie Mineralien. Jemand, der in der Dschahiliya (der vorislamischen heidnischen Zeit der Unwissenheit in Arabien) gut ist, ist auch im Islam gut.7 Umar zum Beispiel genoss bereits in der vorislamischen Zeit hohes Ansehen, Ruhm und Ehre. Nachdem er aber Muslim geworden war, stieg sein Ansehen noch. Zudem erwarb er sich eine gelassene Würde, Gutherzigkeit und die Erhabenheit des Iman (Glaubens). Zuvor war er eher grob, leicht erregbar und überheblich gewesen, ein Mensch, der dachte, er könnte über alles verfügen. Doch dann entwickelte er sich, was sein Auftreten gegenüber den Gläubigen betraf, zu einem der bescheidensten und demütigsten Männer. Dem Islam hatte er es zu verdanken, dass er seine Qualitäten und Eigenschaften vervollkommnen konnte. Wenn wir also einen aufrichtigen, dynamischen, tatkräftigen, mutigen und temperamentvollen Menschen sehen, wünschen wir uns, er möge Muslim werden; denn jemand, der schon vor seiner Bekehrung zum Islam ein guter, wunderbarer und angesehener Mensch ist, wird es im Islam erst recht sein.

Der Islam befasst sich mit dem wertvollsten und erlesensten aller Minerale - dem Menschen. Er nimmt den Menschen, modelliert und läutert ihn und lässt ihn reifen. Dadurch vervollkommnet er ihn und macht ihn so rein wie Gold im verfeinerten Zustand. Der Reinheitsgehalt der Gefährten des Propheten betrug 24 Karat. In späteren Zeiten jedoch entfernten sich die Muslime von diesem Standard der Reinheit und erreichten nicht mehr 24, sondern lediglich 15 Karat. Im 20. Jahrhundert sind einige Menschen sogar auf einen Reinheitsgehalt von einem Karat oder weniger hinabgesunken. Als traurige Konsequenz dieser Tatsache wurde dieses Jahrhundert Zeuge von Problemen, die von einer Unzahl von zügellosen und kriminellen Menschen aufgeworfen wurden.

Wir werden in dieser Welt auf die Probe gestellt, damit wir geläutert und rein werden und uns Tugendhaftigkeit und Vollkommenheit erwerben. Zwar weiß Gott, wie gut oder weniger gut wir unsere Prüfung bestehen. Er testet uns aber dennoch; nicht deshalb, weil Er irgendetwas nicht wüsste, was Er durch uns erfahren wollte. Der wahre Grund ist vielmehr, dass Er jeden Menschen vor sich selbst und vor anderen auf die Probe stellen will. Wenn wir uns unermüdlich bemühen, uns selbst zu vervollkommnen, herauszufinden und zu überprüfen, wer wir sind und was wir besitzen (ob wir wertlos und nutzlos wie Eisen oder bedeutsam wie Gold sind), dann handeln wir nur wie Instrumente, die bestätigen, was Gott seit jeher weiß. Geprüft wird, wofür wir uns abmühen und welche Anstrengungen wir unternehmen, wenn wir etwas erreichen möchten. Einst werden wir vor Gott treten und Ihm auf folgende Weise Rechenschaft über uns ablegen: ...jedoch ihre Hände werden zu Uns sprechen, und ihre Füße werden all das bezeugen, was sie erworben haben. (36:65) Hände und Füße repräsentieren symbolisch alle Werkzeuge, die uns zum Handeln befähigen, d.h., alle Glieder unseres Körpers, einschließlich unserer Fähigkeiten und Talente. In anderen Koranversen werden Augen, Ohren und die Haut als Zeugen erwähnt, die gegen uns aussagen werden, falls wir sie missbrauchen.

Alles, was wir besitzen, wird einer Prüfung vor uns selbst unterzogen - all unsere Körperteile, all unsere Fähigkeiten zu denken und zu fühlen und alle Gelegenheiten, die zu nutzen uns gewährt wurden. Gott, der Erhabene, prüft uns nicht, weil Er wissen will, wie wir diesen Test bestehen, sondern weil Er uns einen Spiegel vorhalten will, auf dass wir uns bewusst werden, dass wir uns gleichzeitig selbst testen und getestet werden. Gott weiß mehr als jeder andere, nämlich alles.

1.4 Warum sollen wir Gott anbeten, wenn Er doch unserer Anbetung gar nicht bedarf? Wenn wir Ihn aber anbeten, warum dann nicht so, wie wir es für richtig halten?

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