Freiheit kommt von innen - Christian M. Rutishauser - E-Book

Freiheit kommt von innen E-Book

Christian M. Rutishauser

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Beschreibung

Wie gewinnt der Mensch wirkliche, innere Freiheit? Auf den Spuren seines Ordensvaters Ignatius von Loyola bahnt Christian Rutishauser den Weg von der Oberfläche hin zu einem Leben, das in sich selbst ruht und darum frei ist. Dem Rhythmus ignatianischer Exerzitien entlang führt der langjährige Chef der Schweizer Jesuiten seine Leser ins Innere, in die Gegenwart Gottes im Leben, zu sich selbst. Eine faszinierende Reise mit Abgründen, Hindernissen – und einem Ziel, das jede Anstrengung lohnt.

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Christian M. Rutishauser

Freiheit kommt von innen

In der Lebensschule der Jesuiten

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2021

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: © Zentraleuropäische Provinz der Jesuiten

Die Bibeltexte sind entnommen aus:

Die Bibel. Die Heilige Schrift

des Alten und Neuen Bundes.

Vollständige deutsche Ausgabe

© Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2005

E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, Belgern

ISBN E-Book 978-3-451-82423-4

ISBN Print 978-3-451-39091-3

Inhalt

Vorwort

In die Welt geworfen

Der Mensch ein Pilger

Das Leben ein Übungsweg

Gott ein fern-nahes Du

Auf dem Weg

Radikale Selbsterkenntnis

Schule der Sehnsucht

Tapferkeit und Treue

Liebe umfasst den Tod

Dem Geheimnis nahe

Gelassen aus innerer Freiheit

Gesandt um des Lebens willen

Erleuchtet zu erlöster Liebe

Anhang I: Der vierwöchige Übungsweg

Anhang II: Lebensdaten des Ignatius von Loyola

Über den Autor

Ich bin gekommen, Feuer auf die Erde zu werfen,

und wie wünschte ich, dass es schon entfacht wäre!

(Jesus aus Nazareth nach Lk 12,49)

gehen

über der schwarzen stadt

ein seiltanz

den fuß in der luft

schon wachsen flügel

blau ist das all

ein weg im gegenwind

ein blick zurück erschüttert

unter den sohlen

der mond

lichtaura mit hut

die sonne scheint

von innen

klingt es ton in ton

ohne zu wissen am ziel

Vorwort

Das Leben als Weg begreifen. Jeden Tag als einen Schritt. Die Mitmenschen als Wegbegleiter sehen. Ihnen in Freiheit begegnen. Auch wieder allein unterwegs sein. Darum wissen, dass der Tod den irdischen Weg beendet, aber auch ein Tor zu neuen Wegen ist: Der Weg ist eine universale Lebensmetapher. In allen spirituellen und religiösen Traditionen, auch in der Philosophie, wird das Leben als Weg beschrieben. Gerade im Gehen eröffnet sich dem Menschen oft der Sinn des Lebens. Nicht nur die äußere Landschaft, auch die Seelenlandschaft wird ihm zugänglich. Geist, Seele und Leib erschließen sich, weil auf dem Weg innere und äußere Wirklichkeiten erfahren und ergangen werden. So ist es möglich, selbst den Gang der Welt zu beobachten und ihn so engagiert wie gelassen ein Stück mitzugehen.

Das vorliegende Buch beschreibt den Weg des Menschen nach Ignatius von Loyola. Vor 500 Jahren, am Pfingstmontag 1521, wurde sein ambitioniertes Leben an spanischen Höfen durchkreuzt. Kriegsverwundet musste er auf einer Bahre in das elterliche Schloss zurückgetragen werden. In den folgenden Jahren entdeckte er jedoch einen inneren Weg. Er geht ihn beharrlich. An seelischen Abgründen vorbei findet er zu innerer Freiheit und mystischer Erleuchtung. Nach Studien in Paris wurde er zum Ordensgründer der Gesellschaft Jesu, die sich schon beim Zeitpunkt seines Todes weltweit ausbreitete. Sie wird den Gang der Weltgeschichte in einem Maß mitgestalten, wie Ignatius sich dies nie gedacht hatte.

Das Wertvollste, das er hinterlassen hat, ist sein geistliches Übungsbuch. Es zeichnet den inneren Weg des Menschen nach, wie er in der Gegenwart des göttlichen Geheimnisses zu sich selbst gelangt. In einer einzigartigen Weise buchstabieren die spirituellen Übungen aus, wie Jesus als Weg hilft, das Leben in Freiheit zu gestalten – nicht nur für sich selbst, sondern auch zum Wohl der anderen. Sie erfassen die menschliche Natur so tief, dass sie einen Humanismus nähren, der bis heute die säkulare Gesellschaft prägt. Auch die spirituellen Wege aus Indien und dem fernen Osten, wie zum Beispiel der Zen, finden im ignatianischen Üben lebendige Resonanz. Gerade für den heutigen Menschen, der mit dem traditionellen Gottesbild hadert und sich an psychologischen, spirituellen und philosophischen Lebensbeschreibungen orientiert, ist dieses Buch geschrieben. Es orientiert sich am Exerzitienbuch des Ignatius und will alte Weisheit mit neuer Einsicht verbinden: Der erste Teil führt dazu hin, das Menschsein als Pilgerweg zu verstehen und sich mit Spiritualität, Mystik und einer persönlichen Gottesbeziehung vertraut zu machen. Im Mittelteil wird in vier Kapiteln der Übungsweg des Ignatius im engeren Sinne nachgezeichnet. Dazu gehören Biografiearbeit und Selbsterkenntnis, bewusste und verantwortete Lebensgestaltung sowie Orientierung an Jesu Leben, Sterben und an seiner Auferweckung von den Toten. Im Schlussteil werden drei Grundhaltungen des gereiften Menschen beschrieben, nämlich sich innerlich immer wieder frei zu machen, sich in einer Mission gesandt zu wissen und sich zur Liebe befähigen lassen. Die drei Teile können auch je für sich allein gelesen werden.

Vor 10 Jahren bin ich in sieben Monaten zu Fuß von der Schweiz nach Jerusalem gepilgert. Diesen Pilgerweg zur Mitte habe ich in einem Buch beschrieben, und ein Film erzählt darüber. Dieses Buch beschreibt einen inneren Weg, wie ich ihn mir in meiner Meditationspraxis und geistlichen Reflexion seit Jahrzehnten aneigne. Das Lassalle-Haus als spirituelles und interreligiöses Kompetenzzentrum hat mir dazu wesentlich den Raum gegeben. Dafür bin ich sehr dankbar. Dank sei auch den geistlichen Weggefährten, denen ich auf meinem Weg begegnet bin, angefangen bei Willi Lambert SJ und Anna Brunner, über Franz Jalics SJ bis hin zu Bettina Bäumer, Alon Goshen-Gottstein und Gabriel Strenger, um nur einige zu nennen. Ohne intensives Studium von Theologie und Philosophie sowie der Inspiration aus Musik und Kunst, Film und Theater hätte ich aber auch nicht schreiben und zu einer Synthese finden können. Schließlich haben mich die Maßnahmen gegen das Coronavirus gezwungen, mehr zu Hause zu bleiben. Diesen Zwang habe ich in kreativer Freiheit für das Schreiben genutzt.

Zürich, am Fest der Epiphanie 2021

In die Welt geworfen

Manche Erfahrungen kann man durch die Sprache mitteilen, andere – tiefere – durch das Schweigen; es gibt aber auch welche, die man nicht weitergibt, nicht einmal schweigend. Na und? Wer sagt, dass Erfahrungen dazu da sind, um mit anderen geteilt zu werden? Man muß sie leben, das ist alles. Und wer sagt, die Wahrheit sei dazu geschaffen, enthüllt zu werden? Man muss sie suchen, das ist alles.

Elie Wiesel

Der Mensch ein Pilger

»Was ist der Mensch?« Immer wieder muss die Frage gestellt werden. Unzählig sind die Antworten. Oft bleiben sie selbst im Fragemodus: Der Mensch ein animal rationale, ein vernünftiges Tier? Ein Mikrokosmos soll er sein, in dem sich die ganze Wirklichkeit spiegelt. Der Mensch, die Krone der Schöpfung? Abbild Gottes, männlich und weiblich geschaffen, nur wenig geringer als Gott? Oder ist er nur Staub, der zu Staub zurückkehren wird? Gras, das am Morgen grünt; er blüht wie die Blume des Feldes; fährt der Wind darüber, ist er dahin und der Ort, wo er stand, weiß von ihm nichts mehr. So der Psalmist. Der Mensch ein Mängelwesen, das – ungleich dem Tier – in der Natur nicht zu Hause ist? Ist er ein homo symbolicus, der sich mit Sprache, Musik, Kunst und anderen Zeichen die Kultur als Heimat schafft? Kulturelle Behausung mehr schlecht als recht? Ein Bedürfnisbündel mit Sehnsuchtsüberschuss? Oder ist er ein Zufallsprodukt, Laune der Natur, ein Organismus und Zellhaufen? Ein komplex entwickeltes neurophysiologisches System? Wunderwerk oder Produkt der Evolution klingt dabei schon sympathischer. Spitze der Entwicklung oder aber deren Ausgeburt?

»Was ist der Mensch?« Alle Antworten kreisen ein, bringen wesentliche Aspekte an den Tag. Sie stammen aus verschiedenen Gesamtdeutungen des Lebens. Immer sind sie auch wertend, motivierend oder resignativ. Immer neu muss versucht werden, die Frage zu beantworten, ohne naiv zu sein und zu glauben, eine definitive Antwort geben zu können. Nicht mehr zu fragen aber wäre verheerend. Der Mensch würde nur noch als Objekt einzelner Wissenschaften wahrgenommen, die beschreiben, wie der Mensch funktioniert, soziologisch, psychologisch, neurobiologisch etc. So wichtig dies für Medizin, für politisches Handeln und wirtschaftliches Kalkül auch ist, erst in der Gesamtdeutung, die den Menschen als Subjekt erfasst, wird er zum Humanum. Er ist nicht nur ein Objekt. Nicht ein Rätsel, das man einmal lösen könnte. Er bleibt ein Geheimnis. So tief seine Psyche und so detailreich sein Gehirn auch kartografiert werden. Als Ganzer ist er mehr als die Summe seiner Teile.

Als Ganzer muss der Mensch gedeutet werden. Das ist Arbeit des Geistes. Von ihm her entsteht Sinn. Ohne Sinnhorizont kann der Mensch nicht leben. Selbst wenn die Sinnlosigkeit des gesamten Lebens postuliert wird, ist dies ein Akt der Deutung und Sinnstiftung. Die religiösen Traditionen haben immer auf einen positiven und motivierenden Sinnhorizont verwiesen. Die aufgeklärte Moderne hat religiöse Deutungen des Menschen jedoch verworfen. Sie würden falsch vertrösten und den Menschen überbewerten. Das Absurde und Tragische würden sie leugnen. Vom Menschen als Sünder zum Beispiel wollte und konnte man nichts mehr hören. Sprachspiele verschoben sich. Doch auf eine Gesamtdeutung des Menschen konnte auch die Moderne nicht verzichten. Der Mensch ein Vernunftwesen, von Natur aus gut und unverdorben, zur Kultur fähig, war die Antwort. Dass dies zu naiv und zu positiv gedacht war, zeigte sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zwei Weltkriege, wie sie zuvor nie gesehen wurden, stürzten Europa in den Abgrund. Das Abgründige und Destruktive im Menschen, das parallel zu seinen großen Kulturleistungen steht, wurde sichtbar. Die Moderne hat ein tief ambivalentes Menschenbild zurückgelassen. Ein naiver Humanismus, der ein sich selbst optimierendes Individuum ins Zentrum stellt, ist keine ernst zu nehmende Antwort auf die Frage nach dem Menschen. Selbstverwirklichung als letzte Maxime blüht zwar in einer verwöhnten Wohlstandsgesellschaft, doch nur so lange, wie die verheerenden Folgen des alltäglichen Wahnsinns ausgeblendet werden.

Humanismus plus

Die Tradition der Jesuiten misst den Erkenntnissen und Erfahrungen einer Kultur hohen Stellenwert bei. Jesuiten studieren Philosophie, Natur- und Geisteswissenschaften, um zu verstehen. Sie wollen den Zeitgeist wahrnehmen. Erkenntnisse werden geteilt, auch Zweifel und absurde Erfahrungen. Sie wollen das Menschsein begreifen. Nicht so sehr aus theoretischem Interesse. Vielmehr wollen sie konstruktiv und motivationsstärkend begleiten. Die jesuitische Tradition will den Menschen als Subjekt stärken. Den Menschen dienen, ihnen helfen, zu sich selbst – und zu Gott – zu finden, gehört zum Ursprungsimpuls des Ignatius von Loyola. Animas iuvare, den Seelen helfen, hat er es selbst genannt. Dabei steht »Seele« für das Wesen des Menschen. Es geht nicht um einen geistigen Teil neben einem leiblichen Teil des Menschseins. Es geht um den Menschen in seiner letzten Bestimmung, damit sein Leben glückt.

Jesuiten gehen von einem christlichen Humanismus aus, geprägt von der Mystik. Ignatius von Loyola lebte ja in den Jahren, als die mittelalterliche Weltordnung mit ihrem klaren Oben und Unten zerbrach. Die Welt wurde rund. Der Mensch hinausgeworfen. Er musste neu auf der Kugel stehen lernen. Der Mensch wurde dabei in seiner Größe entdeckt. Er wird getragen von einem echten Freiheitspathos. Die Renaissance verortete den Menschen mit ihrem »zurück zu den Quellen« neu in der Geschichte. Die Reformation versuchte, die Kirche auf eine neue Plattform zu stellen. Ignatius war dabei durch seine mystischen Erfahrungen von innen gehalten. Sein Orden, die Jesuiten, wird aus diesen verschiedenen Ressourcen eine Kirchen- und Kulturreform auf ihre Weise anstoßen und mittragen. Ihr Humanismus setzt ganz auf die Formung und Bildung des Menschen. Eine individualistische Verengung kannte diese Zeit aber noch nicht. Der Mensch ist eingebunden. Er hat nicht nur für sich, sondern auch für andere Verantwortung zu übernehmen. Er gehört zu einer konkreten Gemeinschaft und Gesellschaft. Alle Beziehungen sind zudem mitgetragen von der großen Beziehung zu Gott. Aus dieser Verwiesenheit heraus antwortet der Humanismus der Jesuiten auf die Frage »Was ist der Mensch?«

Der Mensch ist ein Beziehungswesen. Er ist geschaffen, zusammen mit seinen Mitmenschen. Geschaffen gemäß dem Schöpfungshymnus, der die Bibel eröffnet, am gleichen Tag wie die Tiere (Gen 1,24–31). Er ist nicht die Krone der Schöpfung. Es folgt noch ein weiterer Tag, der Sabbat. Mensch und Tier, Pflanzen und Mitwelt, alle sind als Geschöpfe aufeinander bezogen. Sie leben in einem Haus. Der Mensch lebt aus dem Vertrauen, das einander entgegengebracht wird. In sich selbst stehen kann er nicht. Er tritt aus sich heraus und will vom anderen erkannt werden. Seine Umwelt ist ihm Spiegel, in dem er sich erkennt und erkannt wird. Auf die Qualität dieser Beziehungen aber kommt alles an. Beziehungen sollen verbinden und freilassen. Zwischen sich verlieren oder symbiotisch verschmelzen einerseits und sich abschotten oder aus Angst isolieren andrerseits steht echte Beziehungsfähigkeit. In der Vielfalt der Wirklichkeit und Phänomene hat der Mensch seinen Platz zu finden, in Angrenzung und Abgrenzung. Rundherum soll er sein Leben ordnen. Seine Freiheit muss er sich zuerst innerlich erringen, wie wir sehen werden. Dabei kann und muss der Mensch auch Verantwortung für seine Mitgeschöpfe übernehmen.

Der Mensch bleibt aber nicht bei Tier und Pflanze, bei Mitgeschöpfen und Mitmenschen stehen. Vielmehr sind die Beziehungen zu ihnen getragen vom Staunen und Erkennen, von Leben teilen und Vertrauen, von Werten wie dem Guten, dem Schönen und dem Wahren. Alle Beziehungen sind getragen von einem Geist. Implizit ist ein Bezug zu transzendenten Werten immer gegeben. Spiritus, Geist, will immer überschreiten und verbinden. Spiritualität ist eine Folge von Bezogenheit. Eine explizite spirituelle Beziehung drückt dies aus und verbindet alles Geschaffene mit dem, was die Menschen seit jeher Gott nennen. Etwas Göttliches durchwirkt das Leben für den, der es nicht aus ideologischen Gründen negieren muss. »In ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir«, sagt Paulus bei seinem Auftritt auf dem Areopag im alten Athen. Er trifft sich dabei mit Denkern und Dichtern der Griechen (vgl. Apg 17,28). Der Mensch ist transzendenzoffen. In diesem weiten Sinne spirituell, unheilbar religiös, wenn er auch für eine konkrete Religionstradition unmusikalisch sein mag.

Spiritualität

Spiritualität mag als etwas erscheinen, das nur religiöse Menschen auszeichnet. Spiritualität wird oft als Teilbereich einer religiösen Tradition gesehen. In einer säkular ausdifferenzierten Gesellschaft erscheint sie dann als privates Steckenpferd. Sie wird als etwas Konfessionelles wahrgenommen. Wenn wir den Weg des Menschen in den Blick nehmen, erfassen wir das Spirituelle jedoch als eine Dimension, die die ganze Wirklichkeit durchdringt. Es ist einerseits Aspekt jeder religiösen Tradition. Andrerseits lässt es sich nicht auf das explizit Religiöse beschränken. Es gibt eine »säkulare Spiritualität«, einen Geist, eine Weltanschauung, in der die Zusammenhänge der Wirklichkeit gedeutet und ein Handeln motiviert werden. Die Grenzen zwischen Spiritualität und Philosophie sind fließend. Spiritualität kennzeichnet nämlich nicht das Irrationale und nur Gefühlvolle, sondern die existenziell erfasste Geistdimension der Wirklichkeit.

Spiritualität ist nicht diffus und irrational. Wie das Wort sagt, bezeichnet es vielmehr ein Leben, das sich bewusst vom Spiritus, vom Geist her prägen lässt. Wer spirituell lebt, öffnet sich bewusst für die Geistdimension der Wirklichkeit. Es geht um ein Leben, das sich nicht primär vom Materiellen bestimmen lässt, ohne diese Dimension abzuwerten oder gar zu leugnen. Dabei wird die Geistdimension weit gefasst, vom mehr Religiösen bis hin zum mehr Rationalen. Vom Geistlichen zum Geistigen gibt es eine Verbindungslinie. Erkennen, verstehen, reflektieren und begreifen – Begriffe, die heute säkular aufgefasst werden – stehen in Kontinuität mit erleuchtet und inspiriert werden. Auch die religiöse Tradition spricht vom Geist der Wahrheit und der Erkenntnis, vom Geist des Rates und der Weisheit. Spirituell ist jedes Erkennen, das sich nicht in einem naturwissenschaftlich-­positivistischen Faktendenken, in der Diesseitigkeit verschließt. Es ist transzendenzoffen, auf Deutung und Sinn hin, auf Werte und Normen.

So gibt es eine Kontinuität zum Erkennen in dem, was im Deutschen bezeichnenderweise Geisteswissenschaften genannt wird. Spirituelles Leben kommt nicht ohne Geschichte, Literatur und Kunst aus. Sie sind die Medien, in denen sich der Geist ausdrückt. Gerade auch die Psychologie gehört dazu, weil sie die menschliche Psyche erschließt und sich so an das herantastet, was die Spiritualität Seele nennt. Nur ist auch die Psychologie in der Gefahr, dass sie im Materiell-Messbaren stecken bleibt. In der Philosophie, sofern sich diese den letzten Fragen des Menschseins stellt, ist schließlich die Nähe zum Spirituellen, das in der Theologie reflektiert wird, am größten. Auf jeden Fall ist diese spirituelle Sicht des Menschen weder wissenschafts- noch vernunftfeindlich.

Die Jesuiten haben aber auch die Naturwissenschaft immer wieder gefördert. Gegen eine moderne verengte Sicht auf Vernunft und Verstand wehren sie sich aber. Denn wenn die transzendenz­offene Seite des menschlichen Geistes verloren geht, wird der menschliche Geist selbst nur noch halbiert wahrgenommen. Da sind die Jesuiten selbst mit einem ihrer größten Gegner einig, mit Blaise Pascal, der genial formuliert hat: »Le cœur a ses raisons que la raison ne connaît pas.« Das Herz hat seine Gründe, seine Rationalität und seine Logik, die der Verstand nicht kennt. Der Geist umfasst beides. Ebenso zielen Jesuiten auf eine umfassende Wahrnehmung der Geistdimension des Menschen hin. Sie fassen Spiritualität als eine anthropologische Konstante auf.

Mystik

Richtet sich der Mensch mit seinem Geist so unmittelbar wie möglich auf das Transzendente und Göttliche aus, so kann er Inspiration erleben. Der göttliche Geist dringt unmittelbar in ihn ein. Wenn er versucht, die materielle Oberfläche der Wirklichkeit zu überspringen, kann es Augenblicke geben, die tiefer blicken lassen. Das Bild dafür sind die geschlossenen Augen, die sich nicht an irgendeinem äußeren Gegenstand festmachen. Sie schauen nach innen und erfassen die geistige Dimension, die auch die äußere Wirklichkeit durchwirkt. Myein, die Augen schließen, ist das griechische Wort, aus dem in der Neuzeit das Wort Mystik entstanden ist. Mystik ist eine verdichtete und unmittelbar erlebte Weise des Spirituellen. Sie ist nicht jedem und jeder erfahrungsgemäß zugänglich. Doch alle haben einen Sinn, Mystik als Fluchtpunkt geistdurchwirkten Lebens zu verstehen. Auch Mystik ist anthropologisch begründet.

Thomas von Aquin beschreibt sie als cognitio Dei experimentalis, als erfahrungsbasierte Erkenntnis Gottes. Bernard McGinn hat in sechs Bänden die Geschichte der Mystik im Abendland beschrieben. Im Anschluss an ihn kann gesagt werden: Mystik ist die Erfahrung der größtmöglichen unmittelbaren Gegenwart des Transzendenten – oder aber seiner Abwesenheit. Eine Unmittelbarkeitserfahrung ist immer punktuell. Sie zeigt ihre Wahrheit jedoch darin, dass sie tiefe Spuren in einer Biografie hinterlässt. Sie bleibt wirkmächtig und prägend. Der Durchbruch zum göttlichen Geheimnis hinterlässt eine Sehnsucht danach, die Mystiker und Mystikerinnen als Abwesenheit oder Nacht bezeichnen. Das Leiden an der Abwesenheit unterscheidet den Mystiker von anderen Menschen. Diese haben ja auch keinen unmittelbaren Zugang zum Urgrund des Lebens, doch es ist ihnen gleichgültig, weil sie nicht erfahren haben, was die unmittelbare Gegenwart des göttlichen Geheimnisses bedeutet. Auch wenn grundsätzlich jedem Menschen ein unmittelbarer Erfahrungsdurchbruch zur Transzendenz möglich ist, ist es nicht angemessen, alle Menschen als Mystiker zu bezeichnen. Dies ebnet nur ein.

Eine mystische Erfahrung ist eine Absolutheitserfahrung. Was außerhalb von Raum und Zeit ist, wird angerührt. Oft wird es im Unterschied zur profanen Wirklichkeitserfahrung das Heilige genannt. Das Heilige erschüttert. Prägnant hat es Rudolf Otto als fascinosum et tremdendum bezeichnet: Es fasziniert und erschreckt zugleich. Es ist begehrenswert, weil es den Menschen heraushebt ins Göttliche. Es ist erschreckend, weil vor diesem Feuer nichts Unreines, Unwahres, Unmoralisches bestehen kann. Wer das Heilige erlebt, an dem muss alles absterben, was nicht heilig ist. Eine Heiligkeitserfahrung im eigenen Leben zu integrieren, ist eine schwierige Aufgabe, über die schon Propheten wie Jeremia und Jesaja klagen (Jer 1,1–19; Jes 6,1–10). Sie erlebten bereits, wie anspruchsvoll es ist, eine Absolutheitserfahrung in die endliche Welt hinein zu vermitteln. Diese kann zu Weltverachtung führen. Angesichts der Schönheit und Lebensfülle, des Feuers und Lichts oder wie die Transzendenz auch immer erlebt wird, erscheint alles Geschaffene gering, unvollkommen, eben verächtlich. So kann das Heilige zu einer gewaltsamem Weltunterwerfung führen. Die Allmacht des Göttlichen will sich dann der Ohnmacht der Welt bewältigen, um sie angeblich besser zu machen. Mystik ist gefährlich. Sie hat vom Wesen her mit Machtanspruch zu tun. Der oder das Andere bricht ein. Wer Heiliges erfährt, braucht erfahrene Begleitung und gute Unterscheidung der Geister. Am transzendenten Geist saugen sich allzu leicht die Ungeister der Welt fest, um sich durch das Heilige legitimieren zu lassen. Mystikerinnen und Mystiker, die einen Augenblick gleichsam außerhalb der empirischen Wirklichkeit gestanden haben, zeichnet danach jedoch die Fähigkeit aus, die profane Umwelt im Überblick zu erfassen. Scheinbare Gegensätze können sie versöhnen. Alle Dinge ordnen sich vor ihrem Auge.

Ignatius von Loyola gehört unzweifelhaft zu den Menschen, die wiederholt mystische Erfahrungen gemacht haben. Er lässt seine Transzendenzerfahrung durch das christliche Gottesbild zähmen, formen und prägen. Durch dieses Erleben wurde er zum Pilger des Absoluten. Alles in seinem Leben ordnete er dieser Erfahrung zu. Die wichtigste Beziehung für ihn ist jene zum göttlichen Geheimnis, zur göttlichen Dreieinigkeit. Durch die Gründung der Gesellschaft Jesu schaffte er eine Institution, die ihren Zweck darin hat, die Menschen einerseits humanistisch zu bilden, andrerseits ihnen aber auch zu helfen, sich als Pilger zum Heiligen hin zu verstehen.

Pilgern

So kurz die Augenblicke der mystischen Erfahrung sind, innerlich bleiben sie gegenwärtig. Stunden unmittelbarer Präsenz des Göttlichen werden nicht mehr vergessen. Sie werden oft zu Erinnerungstagen und strukturieren ganze Kalender. So ist der 13. Mai für die katholische Marienfrömmigkeit der Tag, an dem die Mutter Gottes in Fatima Hirtenkindern erschienen ist. Am 8. Dezember gedenken Zen-Buddhisten der Erleuchtung Buddhas. Muslime feiern die nächtliche Ekstase und Entrückung Mohammeds in den Himmel von Al-Aqsa, dem »entferntesten« Ort aus, am 27. Radschab. Und das Auftreten Jesu, in dem die Christen Gottes Gegenwart glauben, dauerte zwischen einem bis drei Jahre, doch es wird der ganzen Welt einen Kalender bescheren, der in seiner Geburt die Stunde null sieht. Religiöse Geisterfahrungen führen zu Markierungen in der Zeit, zu heiligen Tagen.

Doch nicht nur die Zeit, auch der Raum wird durch sie strukturiert. Die entsprechenden Orte werden zu heiligen Stätten. Fatima, der Buddha-Baum, die Al-Aqsa-Moschee, Jerusalem und wie sie alle heißen, werden heilige Orte. Das Pilgern zu diesen Stätten will dem Menschen helfen, in dieselbe Unmittelbarkeit mit der Transzendenz zu gelangen, die sich an diesem Ort einmal gezeigt hat. Der Pilgerweg ist ein Weg der Läuterung und Reinigung, denn alles muss zurückgelassen werden, was vor dem Göttlichen nicht erscheinen kann. In Psalm 24 heißt es: »Wer darf hinaufgehn zum Berg des Herrn? Wer darf stehn an seiner heiligen Stätte? Der reine Hände hat und ein lauteres Herz, der seinen Sinn nicht lenkt auf Trug, nicht lügenhaft schwört seinem Nächsten.« (Ps 24,3 f.) Der Pilger will teilhaben an der Gegenwart von Erleuchtung und Inspiration, Erkenntnis und Verstehen, Verheißung und Heil. Er macht sich aus seinem profanen Alltag auf, denn die heilige Stätte ist eigentlich ein U-topos, ein Unort. Sie steht gleichsam jenseits von Raum und Zeit. Von ihr aus wird die Wirklichkeit zusammengehalten. Von diesem Ort der Heiligkeit kann der Pilger gestärkt in seinen Alltag zurückkehren. Souvenirs, Erinnerungsgegenstände nimmt er mit. Sie helfen ihm, sein Leben weiterhin aus dem göttlichen Geheimnis zu prägen.

Das biblische Judentum hat im 7. Jahrhundert v. Chr. seinen Kult exklusiv in Jerusalem erlaubt. Jerusalem ist zum einzigen Pilgerort geworden. Ein Gott, ein Heiligtum. Im Allerheiligsten des Tempels wird die Bundeslade mit den Zehn Geboten aufbewahrt. Gott thront über dem Dekalog, von den Cherubim getragen, die die Lade schmücken. Das biblische Buch Exodus stellt die große Erzählung dazu dar: Mose schaut auf dem Gipfel des Sinai Gott und erhält den Dekalog sowie die anderen Bundestexte. Mit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels ist das Pilgern zum Allerheiligsten jedoch unmöglich geworden. Das Judentum macht das Pilgern zu einem inneren Akt. Es wird in der Tempel- und Palastmystik spiritualisiert. Mystiker werden innerlich ins Allerheiligste und vor Gottes Thron geführt. Das Christentum hat den Pilgerort Jerusalem übernommen. Jesus hat in seinem Leben den Dekalog und alle Bundestexte verkörpert und gelebt. Dafür ist er in Jerusalem von den Römern gekreuzigt worden. Der Gott der Juden, so glauben die Christen, hat ihn aber von den Toten auferweckt. Jerusalem ist ihr Pilgerort schlechthin. Die christlichen Märtyrer und Heiligen haben jedoch durch ihre Jesusnachfolge die Pilgerorte multipliziert. Überall wo Christen und Christinnen für den Glauben gestorben sind oder Erscheinungen hatten, sind heilige Stätten entstanden. Allen voran hat sich Maria, die Mutter Jesu, weltweit gezeigt. Es ist zu unzähligen Marienwallfahrtsorten gekommen. Auch viele heidnische Heiligtümer sind in diesem Sinne zu Marien- oder Heiligengedenkstätten transformiert worden. Christen können daher an viele Orte pilgern. Der Islam hingegen hat, seinem strikten Monotheismus entsprechend, einen Pilgerort geschaffen: Mekka. Mekka soll die Einzigkeit Gottes und seine Offenbarung durch Mohammed vergegenwärtigen. Einmal im Leben hat der Muslim den Hadsch zu machen. Er soll sich den Ritualen unterziehen, die ihn zu einer inneren Neu- und Wiedergeburt führen. Diese muslimische Ausformung des Pilgerns zeigt wie keine andere, dass Pilgern als eine Metapher für das ganze Leben steht. Pilgern ist immer ein ritueller Vollzug, der das Leben des Menschen als Ganzes darstellen will. Ob Pilgern in einer abrahamitischen Tradition, ob Pilgern als Hindu nach Varanasi an den Ganges oder als Buddhist um den Kailash, immer ist es ritueller Vollzug für den Menschen, der unterwegs ist zur Transzendenz, aus der er letztlich lebt. Der Mensch ist auf die Urquelle bezogen, die ihm zuweilen in einem mystischen Erleben in besonderer Dichte erfahrbar wird. Diese Beziehung zum transzendenten Geheimnis will gepflegt werden.

Homo peregrinus

Der Mensch als Pilger pflegt seine Beziehung zur Transzendenz. Ihn als Pilger zu sehen, bedeutet, ihn als ein Wesen zu sehen, das unterwegs ist. Er ist auf dem Weg. Er schreitet voran, auch wenn dies nicht immer Fortschritt bedeutet. Umwege gehören zu jedem Weg. Er ist in Bewegung, immer in Dynamik. Doch er ist kein Nomade. Er ist auch nicht in einem Irrgarten gefangen. Irrgärten sind Spielanlagen für wohlbehütete und verwöhnte Erdenbürger. Vielmehr ist das Leben im Bild des Pilgerns wie ein Labyrinth mit vielen Windungen, aber auch einer Mitte. Wunderbar großflächig in den Boden der Kathedrale von Chartres eingelassen, um gleichsam einen kleinen Pilgerweg in der Kirche selbst gehen zu können. So wird der Mensch vom Heiligen auf seinem Lebensweg umhüllt, auf das hin er unterwegs ist. Er ist weder zu Hause, noch ist er unbehaust. Seine Heimat liegt im Geheimnis des Heiligen. Wie das Tier braucht er einen Ruheort, doch nicht ein festes Nest oder eine Höhle. Für ihn gilt, was Jesus vom Menschensohn gesagt hat: »Die Füchse haben Höhlen und die Vögel des Himmels Nester. Der Menschensohn aber hat nichts, wohin er sein Haupt legen kann.« (Lk 9,58) Er braucht Rastorte auf dem Weg, doch nur um wieder weiterzugehen und irgendwann ankommen zu können. Daher schreibt Romano Guardini einmal: »Das ist aller Gastfreundschaft tiefster Sinn, dass Einer dem Anderen Rast gebe auf dem Weg nach dem ewigen Zuhause.« Er ruht, wo er aufgenommen wird, nicht wo er sein Haus baut. Die Beziehung zum göttlichen Geheimnis gibt ihm in allem Halt.

Johannes vom Kreuz meint einmal, wirkliches Pilgern sei nur allein und zu Fuß möglich. Allein, so wie jeder und jede selbst für sich Verantwortung übernehmen muss. Auch wenn Mitmenschen begleiten und helfen, jeder muss letztlich selbst entscheiden, bei prägenden Weichenstellungen wie in den vielen kleinen Alltagsentscheidungen. Zu Fuß besagt, dass der Mensch in der Geschwindigkeit gehen soll, die seinem Wesen angemessen ist. Er braucht genügend Zeit. Sich ohne technische Hilfe fortzubewegen, lässt dem Menschen Muße wahrzunehmen, zu reagieren, zu lernen, zu wachsen. Erfahrungen wollen bedacht sein und integriert werden. Das Gehen ist eine der besten Methoden zum Verdauen. Das Seelische lässt sich im Gehen in den eigenen Leib einschreiben. Denn es ist klar: Der Pilger ist verletzlich. Er ist ungeschützt unterwegs. Gleichsam nackten Fußes und ohne Rüstung. Wie anders nur schon der Radfahrer, erst recht der Motorradfahrer mit Helm und Lederkombi. Viel näher den anderen Geschöpfen ist der Pilger. Oft dem Wetter ausgesetzt wie die Tiere. Den Pflanzen nahe, die am Wegrand stehen. Nahe den Grundvollzügen des Lebens: Der Pilger braucht Unterkunft und Schutz in der Nacht, Essen kann nicht angehäuft werden, Grenzen und Stärken des eigenen Körpers sind unmittelbar zu spüren. Als Pilger weiß der Mensch, wie viel er mit allen Lebewesen teilt.

Innerlich ist der Pilger auf Transzendenz hin geöffnet. Das Leben ist für ihn nicht nur ein Spaziergang. Auch hat er nicht nur ein Wanderziel vor Augen. Das Leben ist keine Reise, von der man wieder nach Hause zurückkehrt. Vielleicht ist das Pilgern wie eine Expedition, denn es ist abenteuerlich. Der Pilger weiß, das Leben ist gefährlich. Vor allem weiß er, es endet tödlich. Weil er aber das Göttliche im Blick hat, muss er seine Sterblichkeit nicht fürchten. Er weiß, dass er im Tod auf Gott stößt. Er glaubt, dass er im Tod eine Unmittelbarkeit mit dem Ursprung des Lebens erfährt, wie sie Mystiker und Mystikerinnen schon zu Lebzeiten erfahren. Todeserfahrungen zeigen in der Tat viele Ähnlichkeiten mit mystischen Erlebnissen, die die Wirklichkeit auf ihren Ursprung hin durchsichtig machen. Die tiefste und die letzte Wegstrecke gleichen sich. Prägend sind sie dem Pilger für seinen ganzen Weg. Die Transzendenz kann und soll überall und immer aufscheinen. Die Beziehung zum Göttlichen durchwirkt alles.

Angesichts des Heiligen und mit dem Tod als letztem Zielort verändern sich dem Menschen auch alle anderen Ziele des Lebens. Sie werden relativiert, werden Etappenziele. Zuweilen mögen sie sich fast ganz auflösen. Die populär gewordene Aussage von Nietzsche »Der Weg ist das Ziel« erhält eigentlich erst beim Pilgern seine volle Wahrheit, auch wenn dies Nietzsche wohl nicht im Kopf hatte. Immer drängt das Leben weiter. Alles ist relativ. Allein der Tod und das Göttliche sind absolut. Das Leben als Weg ohne Ziel würde aber nihilistisch enden. Warum sollte man aufbrechen? Woher kommt Motivation zum Gehen? Ohne letztes Ziel, das berührt und erfüllt, ist der Mensch nur Nomade, ein umherirrendes, ruheloses Wesen. Wenn nicht gerade nihilistisch, so ist der spätmoderne Mensch sicherlich ruhelos. Die säkulare Moderne hat versucht, alles Göttliche auszutreiben. Dennoch pilgern Scharen von Menschen auf dem Weg nach Santiago de Compostela. Gleichsam ein Beweis dafür, dass Wandern allein nicht genügt. Die exotischste Reise auch nicht. Sich selbst und das Geheimnis des Lebens finden, Sinn schmecken, dem Leben Richtung geben: All das geschieht im Pilgern.

Die Haltung des planenden Vertrauens ist dem Pilger unerlässlich. Daher ist Pilgern das beste Übungsfeld für das Leben. Wer pilgert, muss sich vorbereiten und ausrüsten. Er informiert sich über Wetter und Landschaften, die auf ihn zukommen. Vielleicht lernt er eine Fremdsprache, um sich unterwegs verständigen zu können. Trotz allem werden viele Überraschungen auf dem Weg bleiben. Die Erlebnisse sind nicht voraussehbar. Oft bewahrheiten sich auch Annahmen nicht. Die Anforderungen einer Pilgerstrecke entpuppen sich anders als gedacht. Kurzfristig muss neu entschieden werden. Flexibilität und Anpassungsfähigkeit an die Situation sind gefordert, eine große Portion von Vertrauen, dass der Weg hinter der nächsten Weggabelung weitergeht.

Ignatius als Pilger

Bei der Schlacht um Pamplona 1521 wurde der Hauptmann Íñigo López de Loyola nicht nur am Bein verletzt und blieb auf Lebzeiten ein Hinkender. Seine ganze Karriere zerschmetterte die Kanonenkugel. Doch der Baske gab sich nicht geschlagen. Nach Wochen innerer Besinnung während seiner Genesung wollte er in radikaler Christusnachfolge Karriere machen, ein Heiliger werden. Sein erster Entscheid: Pilger werden, nichts Geringeres. Pilgerziel: Jerusalem. Keiner der vielen anderen Pilgerorte war ihm gut genug. Er wollte sich nur noch von Gott und Christus selbst bestimmen lassen. Er wollte sich nicht mehr in den Dienst von irdischen Machthabern stellen.

Doch sein Pilgervorhaben wurde zunächst verunmöglicht. Er stand sich selbst im Weg. Ein seelischer Kampf entbrannte. Mit harter Askese versuchte er, ihm beizukommen. Ein Leben in einer Felshöhle. Regression. Fasten, beten, körperlich kasteien, auf dass alles Destruktive und Böse in ihm besiegt werde. Fast ein Jahr ringt er mit sich. Erst erleuchtet bricht er von Manresa auf. Er setzt den Weg zu Fuß und per Schiff ins Heilige Land fort. Ist zu Beginn seines spirituellen Lebens äußeres Pilgern und inneres Unterwegssein also eins, so wird es nach der Rückkehr von Jerusalem komplexer. Zwar zieht er noch von Studienort zu Studienort. Doch dies ist kein Pilgern mehr. Nach der Ordensgründung wird er in Rom für die restlichen sechzehn Jahre seines Lebens sesshaft sein. Innerlich aber bleibt er zeitlebens Pilger. Pilgersein trifft sein Selbstverständnis am besten. So ist es nicht verwunderlich, dass das letzte Wort, das von ihm überliefert ist, nichts anderes als das Ziel seines Unterwegsseins benennt: »O Gott!«, soll der Seufzer gewesen sein, mit dem er starb. »Soll«, denn niemand war dabei. Er starb allein, so wie er zeitlebens allein und zu Fuß unterwegs war. Schade, dass es der ersten Generation der Jesuiten peinlich war, ihren Ordensgründer am Sterbebett nicht begleitet zu haben.

Als Ignatius wenige Jahre vor seinem Tod gebeten wurde, seinen spirituellen Werdegang zu erzählen, sprach er denn auch von sich als Pilger. In der distanzierten Er-Form erzählt er von seinen persönlichsten Erfahrungen. Er erzählt vom höfischen Leben, seiner Bekehrung, seinen Studien und Reisen. Er erzählt, wie er von Gott auf allen Wegen immer wieder geführt wurde. Wie ein Pilger und Schüler musste er langsam lernen, welche Form sein Leben annehmen soll. Nie hätte er vorausgeahnt, einmal als Generaloberer seines zu tausend Mitgliedern anwachsenden Ordens in Rom zu wirken. Sein Bericht des Pilgers schildert den Weg dahin. Er gehört zu den bewegendsten Erzählungen eines inneren Lebens. Seit den Bekenntnissen des Augustinus aus der Spätantike, der ebenso seine geistige Entwicklung aufgezeichnet hatte, hat das Abendland eine so exakt reflektierte Selbstbeschreibung nicht mehr gesehen. In der Neuzeit und Moderne sind nun zahlreiche Aufzeichnungen von inneren Wegen entstanden. Direkter und subjektiver ist unsere Kultur geworden, auch wenn spirituelle Erfahrungen erzählt werden. Doch wenige sind so paradigmatisch wie jene des Ignatius von Loyola. Was bei andern oft vermischt und weitläufig berichtet wird, ist in seinen Worten äußerst kondensiert und knapp festgehalten. Kein Wort zu viel, keines zu wenig. Das Ungesagte muss mitgehört werden. Er gehört zu jenen wenigen radikalen Menschen der Geschichte, die kompromisslos nach dem je größeren Geheimnis Ausschau gehalten haben. Ignatius war ein chemisch reines Element.

Wer viel einst zu verkünden hat, schweigt viel in sich hinein. Wer einst den Blitz zu zünden hat, muss lange – Wolke sein.

Friedrich Nietzsche

Das Leben ein Übungsweg

Wenn das Transzendente in die Welt einbricht, hinterlässt es Spuren in der Zeit. Es markiert mit Gedenktagen ganze Kalender. Wo sich mystische Erfahrungen ereignet haben, können auch Pilgerorte entstehen. Der Mensch beginnt, sich daran zu orientieren. Im letzten Kapitel haben wir beschrieben, wie Göttliches in Raum und Zeit aufscheinen kann. Wer dies in der eigenen Innerlichkeit erlebt, entwickelt nicht selten auch ein Set von spirituellen Übungen. Gebete werden formuliert und Meditationen begonnen. Es drängt nach bewusstem Essen oder gewissen Leib­übungen. Ein Mystiker integriert dadurch seine Transzendenz­erfahrung ins eigene Leben. Zugleich hofft er, durch das Üben erneut zu einer Erfahrung der möglichst unmittelbaren Gegenwart des Heiligen zu gelangen.

Das kann auf lange Zeit nicht unbemerkt bleiben. Der Übende entwickelt Ausstrahlung. Oft schließen sich Mitmenschen aus der Umgebung an. Oder der Mystiker geht aktiv auf sie zu. Er beginnt, sie in spirituellen Übungen zu unterweisen. So sind in allen religiösen Traditionen Meister-Schüler-Verhältnisse entstanden. Geistliche Schulen entwickeln sich daraus, die den Weg zur Transzendenz lehren. Anleitungen und Methoden des inneren Gebets, der Versenkung, der Meditation und Kontemplation werden zu einem organischen Ganzen geformt. Entsprechende Strukturen werden geschaffen: Bewegungen werden zu Bruderschaften und Orden mit festen Regeln. Meditationsräume, Kapellen oder Klöster werden errichtet. Der Grad an Institutionalisierung und Ausbau ist vielgestaltig und unterschiedlich.

Im Verlauf der Geschichte verändern sich dann solch spirituelle Bewegungen und geistliche Zentren stark. Der spirituelle Kern bleibt die Ursprungserfahrung. Sie wird immer wieder aktualisiert. Neue Erfahrungen und Geschichten werden in allen Generationen in sie hineingelesen. Groß ist die Kraft des Ursprungs. Das griechische Wort dafür, hierarchia, heiliger Ursprung, ist zu einem Begriff für Autorität geworden: Hierarchie. Mystikerinnen und Mystiker, die am Anfang einer spirituellen Tradition stehen, werden dabei zu heroischen Gründerfiguren modelliert. Legenden bilden sich um sie herum. So wird bekanntlich die Schule des Zens, der Sitzmedi­tation, auf Siddhartha Gautama zurückgeführt. Die Mevlana-Sufis sehen sich mit ihrer Drehmeditation in der Tradition von Dschalal ad-Din ar-Rumi. Rabbi Nachman von Brazlaw steht als Ursprungsfigur für die Brazlawer Chassiden. Die Franziskaner sind als Anhänger von Franz von Assisi entstanden. An den Hagiographien solcher Figuren etwas zu kratzen, schadet nicht. Wenn die verklärenden Schichten abgetragen werden, die sich im Verlauf der Zeit abgelagert haben, wird vielmehr der Blick wieder auf Menschen frei, die oft sehr mühsam um das Heilige gerungen haben. Ein solch realistischer Zugang ist für den Übungsweg der nachfolgenden Generationen oft wertvoller als ihre Idealisierung. Eine solche brauchen vielleicht Anfänger auf einem Übungsweg. Später ist sie hinderlich. Geistliche Schulen historisch-kritisch anzuschauen, hilft, Dynamiken des Charismatischen und Religiösen besser zu verstehen.

Auf jeden Fall prägen spirituelle Schulen Religionen. Sie interpretieren diese neu. Gewisse Religionstraditionen sind nichts anderes als popularisierte geistliche Schulen. In sie einzutreten, beginnt immer mit einem Aufruf: »Mensch, werde wesentlich!« Oder der Zen-Meister fordert seine Schüler auf: »Erwache!«. »Geh nun endlich!«, ist der Ruf in Gen 12,1 an Abram. Er soll mit Sara aus seiner Heimat aufbrechen. Es wird nie mehr eine Rückkehr nach Ur in Chaldäa geben. So setzt er die biblische Heilsgeschichte in Gang. Das »Höre Israel!« klingt dann durch die ganze Bibel. Jesus ruft seinen Zuhörern mehrere Male zu: »Wer Ohren hat, der höre!« (Mt 11,15; Lk 14,35). So unterschiedlich die Akzentsetzungen sind, um das Leben als Übungsweg zu verstehen, am Anfang steht immer ein Imperativ. »Lerne!«, »Verstehe!« sind Aufforderungen, die den Menschen aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit herausrufen. »Erkenne dich selbst!«, stand auf dem Torbogen des Orakels von Delphi im alten Griechenland. Heute ruft die Psychologie: »Werde, der du bist!« Spirituelle Traditionen und säkulare Philosophien sind sich darin einig. Sie setzen beim Menschen an, der fähig ist zu erkennen, sich selbst zu reflektieren. Ziel ist es, die Welt besser zu verstehen – ob durch Vernunft oder durch Erleuchtung ist einerlei, die Grenzen sind fließend. Ohne Lernen und Üben ist das Leben nicht sinnvoll zu bewältigen. Billiger ist es nicht zu haben.