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Seit drei Jahren hält der Nemesis-Killer den Südwesten der USA in Atem: Mit Helen hat er bereits das sechste Mädchen entführt. Das FBI tappt im Dunkeln, jede Spur verläuft im Sande. Kann Steve Parker, der über die paranormale Fähigkeit verfügt, Gefühle anderer Menschen zu 'orten', die Ermittler davon überzeugen, seine Hilfe anzunehmen? Oder wird Helen das gleiche tödliche Schicksal wie die anderen fünf Mädchen ereilen? Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt! LeserInnenstimmen: "Ich bin durch diese Geschichte voller Spannung und Emotionen gesuchtet." "Empfohlen für alle, die gern Thriller-angehauchte Krimis lesen." "Nervenkitzel und der Wahnsinn des Killers sind ebenso vorhanden. Eine gut durchdachte und intensive Geschichte. Gerade die Szenen aus der Sicht des Opfers waren nervenaufreibend. Mitfiebern ist hier garantiert! "Wer wird das nächste Opfer des Nemesis-Killers? Vielleicht du?"
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Marcus Ehrhardt
Fremde Angst – Nemesis
Fremde Angst – Nemesis
Copyright © 2017 Marcus Ehrhardt
Alle Rechte vorbehalten. Jede Weitergabe oder Vervielfältigung in jeglicher Form ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Autors erlaubt.
Impressum: Marcus Ehrhardt Klemensstraße 26 49377 Vechta Deutschland
E-Mail: [email protected]
Korrektorat / Lektorat: Tanja Loibl
Titelgestaltung: Birgit Stolze
Bildnachweis
Titel: Anthony Baggett/123rf.com, Margo555/dreamstime.com, Catalenca/photocase.de, Rücktitel: secretgarden/photocase.de
Diese Geschichte ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen sind rein zufällig.
Für Larissa und Jannis
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Danksagung
Über den Autor
Eine Bitte am Schluss
Kapitel 1
18. August letzten Jahres Gillian Andrews fühlte sich wie ein wildes Tier in der Falle. Der strenge Geruch von Desinfektionsmittel dominierte den Raum. Sie erschauderte, als sie das metallische Klicken vernahm. Knarrend öffnete sich die Tür zu ihrem Gefängnis. Ruckartig wandte sie ihren Kopf von der Tür ihres Käfigs ab, in dem sie seit etlichen Tagen hauste. So musste sie nicht sehen, ob er nach ihr schaute oder ob er sie wieder schlagen würde, wie er es bisher bereits mehrfach getan hatte. Ihr nackter Körper erzitterte vor Angst und Kälte. Was hatte sie nur verbrochen? Sie war sich keiner Schuld bewusst. Gillian wollte nicht sterben! Sie liebte ihr Leben und sie hatte so viele Pläne. Warum sie? Warum tat er das? Sie fand nicht den Hauch einer Antwort auf die Fragen, die sie seit ihrer Entführung quälten. Anfangs fürchtete sie sich von Tag zu Tag mehr, seit einiger Zeit wandelte sich die Angst zunehmend in Hoffnungslosigkeit. Sie wusste nicht, wie viel Zeit sie bereits an diesem grausamen Ort verbracht hatte, aber sie ahnte, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb.
Bedrohlich hallten seine Schritte in dem gefliesten Raum, jeder einzelne fühlte sich an wie ein Schlag ins Gesicht. Als Damien grob ihre Fesseln löste und ihr befahl, die Treppe hochzusteigen und sich nach draußen zu bewegen, wehrte sie sich nicht. Ohne Widerstand folgte sie mit hängenden Schultern und gesenktem Haupt der schroffen Anweisung des Mannes mit der randlosen Brille im ovalen Gesicht. Seine grünen Augen spiegelten pure Verachtung für sie wider. Am Wagen angekommen kletterte sie unbeholfen in den Kofferraum seines auf Hochglanz polierten Hondas und legte sich hinein. Sie kauerte sich wie ein Embryo im Mutterleib in die Kunststoffschale, welche sich kalt auf ihrer nackten Haut anfühlte. Einzelne Tränen rannen über ihr Gesicht, als er den Kofferraumdeckel schloss und die Dunkelheit sie umhüllte. Während der langen Fahrt, die sie darin liegen musste, dachte sie an nichts. Damien hatte sie gebrochen. Als er ihr am Ziel der Reise aus dem Kofferraum half, bedankte sie sich sogar bei ihm. Gillian wünschte sich nur, dass es schnell vorbei sein würde. Sie gehorchte dem Befehl des kräftigen Mannes, sich neben das Dornengebüsch mit den kleinen, gelben Blüten auf den Rasen nahe der großen Pappel zu legen. Sie vernahm das Summen der Bienen, die ihrem Bestäubungsauftrag nachkamen. Es roch nach Hyazinthen. Das Letzte, was Gillian auf dieser Welt sah, war die grelle Mittagssonne, die hell am wolkenlosen Himmel stand. Sie schloss ihre Augen und wartete auf das Unvermeidliche. Das Letzte, was sie hörte, war ein weit entferntes Geräusch, das sie an die rotierenden Blätter eines Hubschraubers erinnerte. Das Letzte, was sie spürte, waren Damiens behandschuhte Hände, die sich um ihren Hals legten und langsam zudrückten. Es tat kaum weh, dann war sie frei ...
Kapitel 2
20. August letzten JahresDer dunkelblaue Honda bog von der Lamar Street rechts auf die Zufahrt des West Hill Cemetery. Nach wenigen Metern führte der Weg über einen Wendekreis wieder vom Friedhof herunter. Damien parkte seinen Wagen auf dem Scheitelpunkt im Schatten einer hochgewachsenen Kiefer. Vom Beifahrersitz nahm er einen Strauß Veilchen und einen kleinen Beutel und verließ das Fahrzeug mit einer fließenden Bewegung. Die Nachmittagssonne trieb das Thermometer auf fast 30 Grad Celsius. Nur vereinzelte Wolken sorgten für eine kurze Abkühlung. Trotz des regen Verkehrsaufkommens auf den vorbeiführenden Straßen lag eine entspannende Ruhe über dem Friedhof. Der intensive Duft der Veilchen mischte sich mit dem des gemähten Rasens und vieler anderer frischer Sommerblumen, welche die zahllosen Gräber zierten. Damiens blaue Jeans klebte, genau wie sein Poloshirt, an seinem Körper, als er über den Rasen an der Kapelle vorbeischritt. Er folgte dem Weg bis zum achten kleinen Abzweig. Wenige Meter weiter blieb er vor einem einfach gehaltenen, grauen Marmorstein stehen, faltete seine Hände und hielt kurz inne.
»Hi, Dad«, begrüßte er den Verstorbenen. Damien wischte mit einem Taschentuch den Staub vom Stein.
Hier ruht in Frieden unser geliebter Ehemann und Vater – Neil Staanson setzte sich in schwarzen Lettern vom Stein ab. Nach seinem Tod vor vielen Jahren hatte Damiens Vater hier in Sherman, Texas, die letzte Ruhestätte gefunden. In Sherman verbrachte auch Damien seine ersten Lebensjahre.
Nur wenige Besucher des Friedhofs nahmen Kenntnis von dem jungen, durchtrainierten Mann, der seine dunkelblonden Haare nach hinten gegelt trug. Er hielt eine kleine Schaufel in der Hand, die er von der Kapelle mitgenommen hatte. Vorsichtig hockte er sich hin. Nachdem er den Blumenstrauß auf dem Grab abgelegt hatte, hob Damien ein kleines Loch mittig vor dem Grabstein seines Vaters aus.
»Ich habe dir wieder mal etwas mitgebracht. Ich hoffe, es gefällt dir«, flüsterte er, während er den Inhalt des Beutels in das Loch schüttete und anschließend mit Erde bedeckte. »Glaube mir, Dad, du kannst stolz auf mich sein. Ich halte unser Andenken in Ehren und ich bin noch lange nicht fertig.« Damien wischte sich eine einsame Träne aus dem Gesicht. Andächtig verweilte er noch einige Zeit knieend vor der Ruhestätte.
Eine halbe Stunde später sah man die dunkelblaue Limousine das Städtchen Sherman in Richtung Westen verlassen.
Kapitel 3
Dienstag, 16. Mai
»Hey, Matt, alles klar bei euch?«, fragte Steve Parker seinen Freund Matthew via Skype. Der dunkle Bass seiner Stimme hallte in dessen Zimmer wider. An der ansonsten kargen Zimmerwand erkannte er Poster von Jimi Hendrix und den Red Hot Chilipeppers, die Musik im Hintergrund konnte er jedoch der Band Pink Floyd zuordnen.
»Hi, Steve, natürlich. Und, wie gefällt dir dein neues Zuhause?«, antwortete Matt, der dem jungen Keanu Reeves immer ähnlicher wurde. Seine dunkelbraunen langen Haare hingen ihm wild über die Stirn. Steve konnte es nicht mit Sicherheit sagen, aber er meinte, die ersten Barthaare im schmalen Gesicht seines Freundes zu entdecken.
»Bisher gefällt es mir ganz gut. In der Hitze kocht zwar manchmal mein Gehirn, aber die Arbeit auf der Farm tut mir gut. Ich bin zuversichtlich, dass ich mich an dieses neue Leben gewöhnen werde.«
»Sounds good.« Matt nickte zustimmend, während er eine der widerspenstigen Strähnen zur Seite schob und damit seine fast schwarzen Augen freilegte. Er kam optisch ganz nach seiner verstorbenen Mutter Isabell, einer Mexikanerin, die Steve nur von Fotos her kannte. Auch hatte Matts Haut diesen typischen lateinamerikanischen Teint.
»Warum in meiner Bude allerdings ein Radio und ein Fernseher rumstehen, verstehe ich nicht. Das Zeug, was da läuft, kann sich doch niemand, der klar denkt, ernsthaft reinziehen«, ergänzte Steve und kratzte sich an seinem hervorstehenden Kinn. Auch er müsste sich mal wieder rasieren.
»Haha, da stimme ich dir zu, das ist teilweise echt gruselig.« Das Abbild Che Guevaras auf seinem roten T-Shirt schien ebenfalls zu lachen.
»Aber Matt … du weißt, dass du mir nichts vormachen kannst. Was ist los? Sheila?« Steve sah ihm ruhig in die Augen, bis der Junge den Blick senkte.
»Boah, lass die Hellseherei! … Ja, sie hat Schluss gemacht«, sagte Matt traurig.
»Tut mir leid, in Beziehungsfragen kann ich dir überhaupt nicht weiterhelfen«, erwiderte Steve. »Aber ich musste nachfragen.« Insgeheim hatte er es schon befürchtet. In den letzten Gesprächen erzählte Matt bereits weit weniger enthusiastisch von diesem Thema als am Anfang seiner Beziehung zu ihr.
»Ist schon klar, ich erwarte auch gar nicht, dass du mir da weiterhelfen kannst. Kümmere du dich lieber um dein eigenes Liebesleben.« Matt zwinkerte ihm zu. »Und was sehe ich da? Kriegst du etwa graue Haare?«
»Ja, ein Jahr kenne ich dich und seitdem bin ich um zehn Jahre gealtert«, frotzelte der 42-jährige Steve, dessen lange, leicht gewellte, braune Mähne von den ersten silbernen Strähnen durchzogen wurde. Meist band er sie sich hinten zusammen, heute fielen sie offen auf das karierte Holzfällerhemd, welches seine breiten Schultern betonte.
»Wie geht es deinem Bruder?«, schnitt Steve ein neues Thema an.
»Henry kommt so langsam damit klar, dass er den Entführer damals erschossen hat. Jedenfalls benimmt er sich fast wieder so wie früher«, erzählte der 16-jährige. Sein Bild verschwamm kurz. Nachdem er einige Handgriffe am Monitor erledigt hatte, wurde es wieder scharf.
»Das freut mich. Es ist sowieso ein Drama, dass er darunter leiden muss. Schließlich hat er uns das Leben gerettet.« Häufig erkundigte sich Steve nach Matts ein Jahr älterem Bruder. Dieser hatte mit der Entführung Matts und deren Folgen scheinbar mehr zu kämpfen als der Entführte selbst.
»Da hast du natürlich recht. Aber wir bleiben dran und Onkel Bob gibt wie immer sein Bestes. Wie er es damals auch bei mir tat, als unsere Eltern verunglückt waren.« Matt senkte leicht den Kopf. Steve spürte sofort die aufkeimende Traurigkeit des Jungen.
»Na ja, es kommen wieder bessere Zeiten«, kam pathetisch von Steve.
»Amen«, erwiderte Matt im gleichen Tonfall.
»So, ich würde gern weiter mit dir quatschen, aber ich muss ins Bett. Morgen geht’s früh los auf der Ranch. Lass den Kopf nicht hängen wegen Sheila. Das Leben geht weiter. Wir sehen uns, mein Freund. Grüß Bob und Henry. Bye.« Er winkte in die Kamera.
»Damit hast du wohl recht. Ich muss auch noch etwas für die Schule machen. Aber wenn ich genauer drüber nachdenke, guck ich doch lieber ein paar Folgen Breaking Bad.« Grinsend formte er das Victoryzeichen. »Gute Nacht, Steve.«
Kapitel 4
Sonntag, 9. JuliBereits zum fünften Mal in den letzten zwei Wochen nahm Damien den Weg nach Pueblos auf sich. Tagelang hatte er den Stadtplan und die Busverbindungen studiert. Aufgrund seines fast fotografischen Gedächtnisses fiel ihm das leicht. Die Theorie jedoch in die Praxis umzusetzen, stellte auch für den hochintelligenten, 28-jährigen Nachfahren skandinavischer Einwanderer eine gewisse Herausforderung dar. Aber das gehörte zum Krieg dazu. Strategisches Handeln erachtete er als seine Stärke. Genauestens merkte er sich, welche Ampelkreuzungen und Busbahnhöfe von Kameras überwacht wurden, wann er wo sein müsste und wann er wo nicht auftauchen dürfte. Ab übermorgen würde er sein nächstes Opfer finden. Damien folgte immer demselben Muster und die Schlampen lernten es nie. Das Schuljahr über studierte er gewissenhaft die Profile seiner möglichen Beute auf Facebook, Instagram und Twitter. Er profitierte von ihrem unendlichen Mitteilungsdrang: Immer wieder posteten sie, wann und wo sie welche Party oder welches Konzert besuchen würden. Privatsphäreeinstellungen ignorierten die meisten, so konnte er in der Regel mühelos deren Wohnort mit wenigen Mausklicks herausfinden. Wie dumm sie sich doch verhielten! Damien schmunzelte in sich hinein. Er wusste genau, welche Buslinien in die noblen Vororte fuhren, in denen die wohlhabenden Familien residierten. Er kannte alle Haltestellen und hatte eine genaue Vorstellung, wo er ungefährdet zuschlagen können würde. Er müsste einfach nur abwarten. Natürlich klappte es nicht immer. Manche Nächte fuhr er mit leerem Kofferraum nach Hause, ohne ein passendes Mädchen gefunden zu haben. Einige Male musste er abbrechen, weil urplötzlich Passanten auftauchten und sein Vorhaben durchkreuzten. Selbst ein perfekter Plan unterlag einigen Unwägbarkeiten. Aber jemand meinte es gut mit ihm: Spätestens nach sieben oder acht Versuchen fand er immer eine dieser kleinen Schlampen, die glaubten, die Welt würde ihnen gehören und der Rest der Welt ausschließlich existieren, um ihnen Beifall zu klatschen.
»Diese widerlichen Flittchen bringen nur Unglück über die Welt – niemand braucht sie!«, hatte Damiens verstorbene Mutter ihm mit scharfer Stimme in seiner Kindheit immer wieder eingeimpft.
»Ich weiß, Mom, ich weiß«, sagte er, während er seine Brille zurechtrückte.
Er fühlte sich gut. Nein, er fühlte sich mächtig. Und er tat das Richtige. Irgendwann würden die ignoranten Leute von der Presse und der Polizei es verstehen. Nemesis-Killer nannten sie ihn. Er selbst sah sich aber nicht als Killer, er war ein Großmeister der Vergeltung. Trotzdem fühlte er sich jedes Mal geschmeichelt, wenn seine Heldentaten, in welcher Form auch immer, der Öffentlichkeit präsentiert wurden.
Diese kleinen Schlampen und deren Eltern bekämen das, was sie für ihren Hochmut und ihre Arroganz verdienten. Sie würden bezahlen für das Leid, welches er in seiner Kindheit und Jugend hatte ertragen müssen. Damien geriet stets in Rage, wenn er an früher dachte – an die Cheerleaderinnen und Ballköniginnen, die ihn nie auch nur eines Blickes gewürdigt hatten, die ihn auslachten, als er es einmal gewagt hatte, eine von ihnen anzusprechen.
»Warum hast du das auch getan, mein Junge? Du bist viel zu gut für diese Schlampen! Denk doch nur daran, was sie unserer Familie angetan haben!«, tadelte ihn seine Mutter damals.
Natürlich, sie gingen mit dem Quarterback des Footballteams oder den Stars des Basketballteams ihrer Schule, auf keinen Fall mit einem von seinesgleichen.
»Das sind alles verdorbene, nutzlose, kleine Dirnen, jede nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht«, hatte sie früher oft gesagt. Anfangs hatte Damien daran gezweifelt, doch je älter er wurde, desto besser verstand er seine Mutter. Die Nerds, zu denen er zweifelsfrei gehörte, existierten nur dann für sie, wenn sie ihnen bei den Hausaufgaben helfen konnten. Aber wehe, einer der Nerds hatte es gewagt, sie in der Öffentlichkeit anzusprechen! Diese Barbies und deren Eltern, die sich mit ihren bildhübschen Töchtern schmückten. Die herablassend auf alle sahen, die nicht zu deren handverlesenem Zirkel gehörten. Damien hasste sie so sehr. Und er sah ein, dass seine Mutter von Anfang an recht gehabt hatte.
Die Collegezeit hatte ihm als Vorbereitung gedient, um seinen Krieg beginnen zu können. Den Master of Science für Physik und Chemie erwarb er dank der ihm eigenen wahnsinnigen Motivation fast im Vorbeigehen. Er schloss als einer der fünf Besten seines Jahrgangs ab. Die hübschen Kommilitoninnen behandelte er freundlich und half ihnen, wenn er darum gebeten wurde.
»Wähnt euch nur in Sicherheit, ihr werdet alle dafür bezahlen!«, sagte er sich dabei stets.
Kurz darauf glaubte er sich am Ziel: Er bekam eine Anstellung an der Highschool in Hays, wo er Naturwissenschaften unterrichtete. Jetzt konnte er den Feldzug beginnen. Er wollte Rache üben, indem er die Schönheitsköniginnen der einzelnen Jahrgänge in seinen Fächern schlecht benotete, sie vor den normalen Schülern vorführte, sie lächerlich machte. Sie sollten heulend aus der Klasse laufen und ihren Eltern vom bösen Mr. Staanson berichten. Dann würde er diese in den folgenden Gesprächen verhöhnen und sie erniedrigen. Er würde sie leiden lassen und auf ganzer Linie siegreich sein.
Schnell hatte Damien Staanson einsehen müssen, dass sein Plan nicht aufgehen würde. Viel zu sehr schränkten ihn die Formalitäten ein: Er musste Vorgaben der Schulleitung einhalten, Gesetze und Verordnungen befolgen, kurz um – es wurde ein Desaster und Damiens Hass wuchs umso mehr.
Schließlich kam ihm der perfekte Gedanke und der Schmerz, welchen sein erstes Opfer, Betty Miller, und ihre Eltern erleiden mussten, ließ ihn erstmals triumphieren. Der Fernsehbericht, in welchem seine Tat detailliert geschildert wurde, ließ ihn ekstatisch aufschreien. Alles lief wie geplant. Auch seine nächsten Entführungen gestalteten sich fast problemlos. Von Mal zu Mal fühlte er sich mächtiger und stärker. Damien konnte es am Anfang eines neuen Schuljahres kaum abwarten, bis die nächsten Sommerferien begannen. Bis die Cheerleader sich auf ihren Urlaub und die Partys am Strand freuten, und wieder eine von ihnen für alles bezahlen musste.
»Du machst das gut, mein Junge«, hörte er die stolze Stimme seiner toten Mutter jedes Mal, wenn er wieder eine Schlacht gewonnen hatte. Und jedes Mal stimmte er ihr lächelnd zu.
Kapitel 5
Mittwoch, 12. Juli Steve hatte heute keine Verabredung via Skype. Nach dem anstrengenden Arbeitstag auf der Farm stand er jetzt unter der erfrischenden Dusche, um sich den Staub vom Körper zu spülen. Der Architekt der Wohnung schien nicht der Längste gewesen zu sein: Mit seinen 1,85 m stieß Steve an den Duschkopf, wenn er sich komplett aufrichtete. Langsam gewöhnte er sich an das alles hier, an das neue Leben.
Vor vielen Jahren hatte er mit seinen Eltern gebrochen und seither keinen Kontakt mehr zu ihnen gehabt. Er wusste nicht einmal, ob sie überhaupt noch lebten. Manchmal fragte er sich, ob er sich dafür schämen müsste, dass es ihn nicht interessierte. Hin und wieder überkamen ihn die Erinnerungen an früher, als sowohl seine Eltern als auch Nachbarn, Mitschüler und Lehrer ihn sonderlich, ja sogar verrückt nannten. Lange hatte er geglaubt, dass die letzten anderthalb Jahrzehnte, die er in der Einsamkeit der Rocky Mountains gelebt hatte, sein Paradies auf Erden wären.
Je länger er nun hier in der Zivilisation verbrachte und die ersten Freundschaften aufbaute, umso mehr merkte er, dass er sich etwas vorgemacht hatte. Obwohl er sich an viele Dinge hier gewöhnen musste, stellte er doch fest, dass er jetzt sehr zufrieden, fast glücklich lebte. Er mochte den Umgang mit den Menschen: sei es Matt und dessen Familie, die er ab und zu traf, seine Vorarbeiterin Sally, für die er mehr als reine Sympathie empfand, sein Chef Clay oder sein Nachbar Frank, mit dem er hin und wieder ein Bier zischen ging. Ganz langsam tastete er sich an die Normalität heran, die er bisher nicht gekannt hatte.
»Du bist ein gefühlsduseliger Spinner«, schalt er sich lächelnd. Steve schamponierte seine braunen Haare und begann, unter dem Rauschen des Wassers, das aus dem Duschkopf auf ihn hinunter prasselte, Wonderful world von Sam Cooke zu intonieren – nicht schön, aber laut. Gesungen hatte er bisher eher selten, was nicht ausschließlich an seinem fehlenden Gesangstalent lag.
Kapitel 6
Freitag, 14. Juli Damien spürte wieder das Raubtier in sich. Jede Faser seines Körpers schien von Neuronensignalen überflutet zu werden. Seit über einer Stunde parkte sein dunkelblauer Honda im Schutze tiefhängender Äste eines Ahornbaumes schräg gegenüber der Bushaltestelle. Von dort konnte er den gesamten Vorplatz beobachten. Langsam sollte sein Opfer auftauchen. Beethovens Klaviersonate Nr. 14 lief nur deshalb auf viertel Lautstärke, damit niemandem ein Auto auffiel, aus dem klassische Musik erklang. Richtig genießen konnte Damien Musik nur, wenn er seine Anlage bis zum Anschlag aufdrehte. Sehr wenige Leute spazierten kurz nach Mitternacht in dieser Gegend umher. Außer einem Fahrradfahrer, der wie von der Tarantel gestochen an ihm vorüber raste, zählte er zehn vorbeifahrende Autos, seit er seinen Posten bezogen hatte. Die Zeit verstrich. Gerade spielte er widerwillig mit dem Gedanken, seine heutige Mission abzubrechen, da betrat Michelle die Bühne. Das 18-jährige, blonde Mädchen stakste auf viel zu hohen Absätzen, die sie älter wirken ließen, zu einer Sitzbank und nahm darauf Platz. Das Massieren ihrer schlanken Waden bestätigte seinen immer gehegten Verdacht, dass diese Schuhe unbequem sein mussten.
»Die Waden werden bald dein geringstes Problem sein, Miststück«, brummelte er mit einem anzüglichen Lächeln vor sich hin. Sie schien nervös zu sein, denn ihr Blick wanderte rastlos von der einen zur anderen Seite. Sie hatte ihre langen Beine überschlagen und wippte unablässig mit dem oberen Fuß. Die Uhr unterhalb seines Tachometers verriet ihm, dass ihr Bus in drei Minuten planmäßig ankommen müsste.
Nachdem sich vier Minuten später das spärlich besetzte Fahrzeug mit Michelle an Bord in Bewegung gesetzt hatte, hängte sich Damien in weitem Abstand hinten dran. Von seinem Opfer trennten ihn nun ungefähr 300 Meter und ein schwarzer Chevrolet Suburban, der dem Bus folgte. Damien bog an der zweiten Straße nach links ab und musste zwei Blocks weiter vor einer roten Ampel warten. Der Bus mit seiner Fracht kreuzte vor ihm, mit etwas Abstand immer noch den Chevrolet im Schlepptau.
»Interessant, sie scheinen langsam dazu zu lernen.« Damien lächelte anerkennend in sich hinein. Diesmal folgte er ihnen nicht, sondern fuhr geradeaus und wartete drei Blocks weiter am Straßenrand. Nach fünf Minuten passierte ihn der Bus und etwas später auch der Chevrolet. Damien erkannte dank der Straßenbeleuchtung zwei Männer in Anzügen, die seiner angedachten Beute hinterherfuhren. »Ach Leute, etwas mehr Mühe dürft ihr euch schon geben.« Er wendete seinen Wagen, drehte die Musik bis zum Anschlag und Beethoven begleitete ihn nach Hause.
Kapitel 7
Sonntag, 16. Juli
»Und vergiss nicht, um ein Uhr bist du spätestens wieder hier, Helen.« Demonstrativ tippte er mit dem Zeigefinger auf seine Uhr.
»Klar, Dad. Ich nehme den Bus um Viertel nach zwölf.« Sie nickte gespielt ehrfürchtig. Der Duft ihres Lavendel-Parfums erfüllte den Flur, als sie auf ihren Sneakers an ihrem Vater vorbei zur Haustür tippelte.
»Dann viel Spaß und nicht zu viel Alkohol, Schatz!«
»Du weißt doch, dass ich nichts trinke, Dad. Und es ist schließlich keine Poolparty, wir feiern doch nur in unserer Mädelsrunde«, erwiderte Helen zwinkernd. Dann lief sie fröhlich winkend von der Auffahrt in Richtung Bushaltestelle. Ihr Pferdeschwanz wippte im Rhythmus ihrer schnellen Schritte. Helens Vater sah seiner hübschen, blonden Tochter besorgt hinterher. Er ließ sie ungern abends gehen, insbesondere, wenn sie das Haus in ihrem kurzen Jeansrock verließ, so wie heute.
Fünfzehn Minuten später saß die 17-jährige Helen im Bus. Sie wippte unruhig mit dem Fuß und in ihrem Bauch kribbelte es, als pilgerte ein Regiment Ameisen auf dem Jacobsweg. Helen freute sich seit Tagen so sehr auf diesen Abend, allerdings nicht mit der Mädelsrunde.
Als sie acht Haltestellen später aus dem Bus stieg, wartete dort bereits ein junger Mann auf sie. Sie fielen sich sofort verliebt um den Hals und küssten sich innig.
»Endlich habe ich dich wieder!«, hauchte der schlaksige, junge Mann ihr verzehrend ins Ohr, nahm ihre Hand und führte sie an den beiden Buchen vorbei zu einem von unregelmäßigen Schieferplatten gesäumten Weg.
»Ich habe dich auch unheimlich vermisst, Ray. Aber in zwei Monaten ist das Versteckspiel endlich vorbei.«
»Du glaubst immer noch, dass dein Vater mich akzeptieren wird, nur weil du dann volljährig bist? Einen Vorbestraften?« Sie erreichten die Grünfläche des angrenzenden Parks, welche die Ausmaße eines Baseballfeldes hatte. Der warme Juliabend lud dazu ein, ihn romantisch im Park zu verbringen.
»Du hast doch keine Bank überfallen oder jemanden ermordet. Aber stimmt schon, meine Eltern sind da echt intolerant«, sagte sie bedrückt. Der mittlerweile 20-jährige Ray hatte sich drei Jahre zuvor unter Alkoholeinfluss den Wagen seines Vaters für eine Spritztour mit Freunden ausgeliehen, natürlich ohne dessen Zustimmung. Dabei fuhren sie einen Mann an und verletzten ihn schwer. Ray hatte bereits wegen Besitzes von Cannabis, kurz bevor Colorado Ende 2012 den Anbau und Verzehr von Marihuana legalisierte, mehrere Sozialstunden ableisten müssen. Daher hatte ihn der Richter wegen des neuen Deliktes zu sechs Monaten Jugendarrest verurteilt.
»Na ja, egal, in zwei Monaten können sie uns mal«, sagte sie trotzig und fiel ihm abermals um den Hals. Er sog tief ihren Lavendelduft ein, der durch die Temperaturen des schwülen Sommerabends noch intensiver wirkte.
»Wow, du hast dir ja richtig Mühe gegeben«, sagte Helen entzückt, als sie die reichhaltig bestückte Picknickdecke hinter den Rhododendronbüschen entdeckte. Ihre himmelblauen Augen strahlten ihn an. Das fröhliche Lachen zweier Mädchen, die ein paar Meter neben ihnen Federball spielten, drang zu ihnen herüber.
Sie hatten sich ungefähr vier Monate zuvor auf einem Rockfestival kennengelernt, als beide vor den Toiletten gewartet hatten und er ihr, ganz Gentleman, den Vortritt auf eine Herrentoilette gelassen hatte. Welch Romantik, scherzten sie immer wieder.
»Wie kann ich mich dafür erkenntlich zeigen?«, hatte sie ihn damals gefragt, nachdem sie buchstäblich in letzter Sekunde das WC erreicht hatte.
»Falls du mir deine Nummer gibst, sind wir quitt«, antwortete er mehr im Spaß, da hatte sie schon angefangen, sie ihm mit ihrem Kajalstift auf seinen Arm zu kritzeln.
Seit diesem Abend nutzten sie jede Möglichkeit, um sich heimlich zu treffen. Bisher hatte Helen weder ihren Eltern überhaupt, noch ihrer besten Freundin Marie näheres von ihrem Schwarm erzählt. Marie wusste lediglich, dass Helen ihren Traumtypen kennengelernt hatte. Das reichte der besten Freundin als Grund, um als Alibi zu fungieren.
Sie alberten herum und verspeisten die Leckereien, die Ray mitgebracht hatte. Immer wieder verlor sich Helen in seinen grauen Augen. Die Zeit verging wie im Flug.
Mittlerweile umhüllte die Dunkelheit den Park. Die Federballspielerinnen hatten ihn bereits vor über einer Stunde verlassen, und auch sonst war keine Menschenseele mehr zu sehen. Die Anlage schien heute Nacht allein ihnen zu gehören – und Helen war bereit. Engumschlungen küssten und streichelten sie sich, langsam zogen sie sich aus. Das Mondlicht ließ Helens makellose, junge Haut schimmern wie Elfenbein. Auf einer weichen, karierten Wolldecke, geschützt von der Dunkelheit und den Rhododendronbüschen, erlebte das blonde, langhaarige Mädchen ihr erstes Mal. Als er in sie eindrang, verspürte sie einen leichten Schmerz, doch die Verliebtheit und das romantische Flair sorgten dafür, dass es zu einem wundervollen Erlebnis für sie wurde. Verschwitzt aber glücklich lagen sie lange Zeit nur so da und fantasierten über ihre Zukunft. Der laue Sommerwind kühlte ihre erhitzten Körper langsam ab. Sie hätten am liebsten die Zeit angehalten.
»Verdammt, ich muss zum Bus!«, rief Helen erschrocken, als sie eher beiläufig auf die Uhr schaute. Die romantische Stimmung wurde jäh unterbrochen.
»Wirklich? Jetzt schon? Komm, lass uns durchbrennen!«, schlug Ray halb im Scherz vor. Er schaute sie mit seinem treusten Hundeblick an.
»Du bist so süß, aber ich muss jetzt leider wirklich los. Mein Vater ruft sonst die Polizei.« Zwinkernd sprang sie auf. Sie packten schnell ihre Sachen zusammen und eilten zum Bus.
»Mir ist nicht wohl dabei, dich allein durch die Nacht fahren zu lassen«, sagte Ray besorgt.
»Oh, noch süßer. Von der Haltestelle hab ich nur gut zehn Minuten nach Hause und der Busfahrer wird mich schon nicht überfallen«, beruhigte sie ihn. Sie küssten sich innig zum Abschied. Widerwillig entließ er sie aus seiner Umarmung, dann verschwand sie in den mittlerweile vorgefahrenen, fast leeren Bus. Der Busfahrer tippte kurz etwas in sein Handy, dann schloss er die Tür und brummend setzte sich das Fahrzeug mit der winkenden Helen in Bewegung.
»Ihre Haltestelle, Miss!« Verträumt hätte Helen sie fast verpasst. Sie sprang auf und stieg aus.
»Danke, ich wünsche Ihnen einen schönen Feierabend«, verabschiedete sie sich. Der Fahrer nickte und winkte ihr kurz zu. Zischend schloss sich die Tür und der Bus fuhr in die Nacht davon.
Mit etwas schlechtem Gewissen aber einem unglaublich schönen Glücksgefühl lief sie den schwach beleuchteten Gehweg entlang, vorbei an den gepflegten Vorgärten, die durch Hecken oder kleine Mauern vom Weg abgegrenzt wurden. Die Schmetterlinge in ihrem Bauch schienen auf Koks zu sein. Helen summte eine Melodie, deren Titel ihr gerade nicht einfallen wollte, die Grillen sorgten für den passenden Background. Von ihrem Heim trennten sie noch ungefähr 500 Meter. Sie zupfte ihren Rock und ihre weiße Bluse zurecht und hoffte, ihrem Vater würde der kleine Grasfleck am Ärmel nicht auffallen. Völlig in Gedanken merkte Helen nicht, wie sich ihr jemand von hinten näherte. Erst als der Mann sie fast erreicht hatte, registrierte sie etwas, drehte sich erschrocken um und suchte panisch in ihrer Handtasche nach dem Pfefferspray. Dazu, es zu benutzen, kam sie nicht mehr. Zu schnell geschah alles: Der Mann presste ihr grob ein feuchtes Tuch aufs Gesicht und raunte ihr etwas zu, das sie nicht verstand. Er riss sie mit dem Arm zur Seite und zerrte sie hinter eine Zypressenhecke. Als sie schockiert die Luft einsog, spürte Helen ein scharfes Brennen in den Augen. Sie hatte das Gefühl, ihre Lungenflügel würden explodieren. Was passiert hier?