Fremder Schmerz: Ein Leonie-Simon-Roman - Band 4 - Renate Kampmann - E-Book
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Fremder Schmerz: Ein Leonie-Simon-Roman - Band 4 E-Book

Renate Kampmann

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Beschreibung

Die Vergangenheit ruht nie: Der Kriminalroman „Fremder Schmerz“ von Erfolgsautorin Renate Kampmann jetzt als eBook bei dotbooks. Dieser Fall trifft Rechtsmedizinerin Leonie Simon unvorbereitet: Ihr Kollege Dr. Frank Gotthardt und seine Frau sind bei einem Feuer in ihrer Berliner Villa umgekommen. Die Polizei findet keinerlei Hinweise auf ein Gewaltverbrechen, doch Leonie hat einen schlimmen Verdacht. Sie entdeckt die Verbindung zu einem anderen Mordopfer – einem Arzt, der wie Gotthardt nach der Tsunamikatastrophe 2004 im Einsatz war. Sie beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln, doch dann geschehen weitere Morde. Hat der Täter es nun auf Leonie abgesehen? Die Presse über Renate Kampmann: „Dr. Leonie Simon, Rechtsmedizinerin – wenn Renate Kampmann sie nicht erfunden hätte, würde sie in der deutschen Krimi-Landschaft fehlen!“ Doris Gercke „Besser als Patricia Cornwell.“ Bild am Sonntag „Nichts für schwache Nerven.“ FREUNDIN Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Fremder Schmerz“ von Erfolgsautorin Renate Kampmann. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 714

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Über dieses Buch:

Dieser Fall trifft Rechtsmedizinerin Leonie Simon unvorbereitet: Ihr Kollege Dr. Frank Gotthardt und seine Frau sind bei einem Feuer in ihrer Berliner Villa umgekommen. Die Polizei findet keinerlei Hinweise auf ein Gewaltverbrechen, doch Leonie hat einen schlimmen Verdacht. Sie entdeckt die Verbindung zu einem anderen Mordopfer – einem Arzt, der wie Gotthardt nach der Tsunamikatastrophe 2004 im Einsatz war. Sie beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln, doch dann geschehen weitere Morde. Hat der Täter es nun auf Leonie abgesehen?

Die Presse über Renate Kampmann:

»Dr. Leonie Simon, Rechtsmedizinerin – wenn Renate Kampmann sie nicht erfunden hätte, würde sie in der deutschen Krimi-Landschaft fehlen!« Doris Gercke

»Besser als Patricia Cornwell.« Bild am Sonntag

»Nichts für schwache Nerven.« FREUNDIN

Über die Autorin:

Renate Kampmann, geboren 1953 in Dortmund, studierte Germanistik und Geschichte. Sie war Dramaturgie-Assistentin bei Peter Zadek am Bochumer Schauspielhaus, arbeitete als Journalistin, Hörspiel-Redakteurin und TV-Producerin. Seit 1995 lebt sie als freie Schriftstellerin in Hamburg. Sie schrieb unter anderem Drehbücher für die TV-Serien »Bella Block«, »Doppelter Einsatz« und »Das Duo«.

Bei dotbooks erscheint Renate Kampmanns Krimi-Reihe rund um Rechtsmedizinerin Dr. Leonie Simon, die folgende Bände umfasst:

»Die Macht der Bilder«

»Schattenreich«

»Fremdkörper«

»Fremder Schmerz«

Die ersten zwei Bände der Leonie-Simon-Reihe sind bei dotbooks auch als Sammelband erhältlich.

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eBook-Neuausgabe November 2016

Copyright © der Originalausgabe 2008 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin/List Verlag

Copyright © der Neuausgabe 2016 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/alslutsky

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95824-871-7

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Renate Kampmann

Fremder Schmerz

Ein Leonie-Simon-Roman

dotbooks.

Der Schmerz ist der große Lehrer der Menschen.

Unter seinem Hauche entfalten sich die Seelen.

Marie von Ebner-Eschenbach, Aphorismen

Eher ziehe ich mir eine Plastiktüte über den Kopf, als dass ich in ein Heim gehe, dachte die Frau mittleren Alters, die das Alten- und Pflegeheim betrat, um wie an jedem Wochenende ihre ehemalige Nachbarin zu besuchen. Dabei gehörte die Seniorenresidenz, wie von der Betreibergesellschaft tituliert, durchaus zu den besseren ihrer Art. Soweit die Besucherin das überhaupt beurteilen konnte, wurden die alten Leute gut betreut. Das renovierte ehemalige Gutshaus war sauber und ansprechend und lag in einem neuntausend Quadratmeter großen Park am Havel-Kanal. Viele der Bewohner hatten in ihren jüngeren Jahren mit Sicherheit weniger idyllisch gewohnt. Aber man wurde auf Schritt und Tritt mit Alter, Krankheit, Verfall und Sterben konfrontiert. Auch das freundlichste und bemühteste Personal konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieses Haus die letzte Station vor dem Friedhof war.

Auf der Suche nach ihrer Nachbarin, die sie nicht in ihrem Zimmer vorgefunden hatte, schlenderte die Frau durch die lichten Korridore, die sich um ein begrüntes Atrium wanden.

Weit konnte die alte Dame nicht sein. Nach einem leichten Schlaganfall benötigte sie die Hilfe eines Gehwagens, und der Vorfrühlingswind war noch zu kühl, um einen den Aufenthalt im Park als angenehm empfinden zu lassen. Es war Sonntag, und in den Zimmern, Aufenthaltsräumen und in der Cafeteria gab es einen größeren Besucherandrang als üblicherweise an Wochentagen. Da fiel es dann besonders auf, wenn ein alter Mensch ganz allein in einer Ecke saß oder unbegleitet über die Flure schlurfte.

Ob meine Tochter mich wohl täglich oder wenigstens ein- oder zweimal die Woche besuchen würde, fragte sich die Frau. Ihre Tochter war erst vierzehn und das Verhältnis so gut, wie es die Pubertät erlaubte. Aber was bedeutete das schon für die Zukunft? Der Sohn ihrer Nachbarin lebte mit seiner Familie in Südafrika und kam nur einmal im Jahr nach Deutschland, um nach seiner Mutter zu sehen.

Wie schon bei früheren Besuchen fiel der Frau ein Greis auf, der trotz seines biblischen Alters – er war schon über neunzig – mit erstaunlich kerzengerader Körperhaltung, wenn auch langsam, die Hände auf dem Rücken, den Innenhof umrundete. Wie sie von einer Pflegerin wusste, zählte er sowohl die Runden als auch seine Schritte. Er nannte das sein Fitnessprogramm, das er diszipliniert jeden Tag absolvierte. Bei schönem Wetter lief er im Park eine ebenso abgezirkelte und immer gleiche Route. Wegen dieser Disziplin, seiner Wortkargheit und anderer militärisch anmutender Eigenheiten nannte das Personal ihn den »General«.

Die Besucherin blieb stehen und sah dem Alten eine Weile zu. Nicht dass er ihr besonders sympathisch gewesen wäre, aber sie verspürte eine Aufwallung plötzlichen, heftigen Mitleids wegen seiner Einsamkeit, die ihn von den anderen absonderte. Sie überlegte, ob sie ihn ansprechen und zu einer Tasse Kaffee zusammen mit ihrer Nachbarin einladen sollte, aber dann ließ sie es doch. Und schämte sich dafür. Als sie zwei Stunden später dem Ausgang zustrebte, stand er, wiederum allein, an einem Fenster und schaute in den Park. Sie meinte, Tränen in seinen Augen schimmern zu sehen, aber das konnte auch eine Täuschung, verursacht durch die schräg einfallenden Strahlen der untergehenden Sonne, sein. Sie hielt eine Pflegerin an, die gerade an ihr vorbeilaufen wollte.

»Entschuldigen Sie, Schwester Agnes, haben Sie einen Moment Zeit?«

»Zeit ist das, was ich immer am wenigsten habe«, sagte die Schwester mit einem Lächeln, was die Abfuhr etwas mildern sollte.

»Es geht um den General. Er tut mir so leid. Bekommt er denn keinen Besuch?«

Die Schwester schüttelte den Kopf. »In letzter Zeit immer seltener. Früher kamen gelegentlich zwei etwa gleichaltrige Herren, die wahrscheinlich inzwischen tot sind. Manchmal kommt seine Tochter. Aber die habe ich auch schon lange nicht mehr gesehen. Vielleicht ist sie krank. Oder sie haben sich endgültig verkracht.«

»Ich verstehe das nicht. Wie kann man seinen alten Vater in ein Heim abschieben und sich dann nicht einmal um ihn kümmern. Ich sehe doch, wie er leidet.«

»Ihr Mitgefühl ehrt Sie.« Die Schwester betrachtete den Greis am Fenster, wandte sich dann wieder der Besucherin zu. »Andererseits, was wissen wir schon über das Leid der erwachsenen Kinder?«

Der Alte, den sie » General« nannten, was ihm durchaus schmeichelte, hätte sich je nach Laune amüsiert oder schwer geärgert, wenn er ihr Gespräch belauscht hätte, was sein schwindendes Gehör allerdings nicht erlaubte. Er mochte alt, ja sogar steinalt sein, aber Objekt des Mitleids zu sein, hätte er sich strikt verbeten. Mitleid war beleidigend und erbärmlich, etwas für Schwächlinge. Er hatte niemals mit irgendjemandem Mitleid empfunden. Und hätte er sich jemals dafür interessiert, was andere denken, wäre er überdies erstaunt gewesen, dass er für einsam galt. Je älter er wurde, desto weniger suchte er die Gesellschaft der Menschen. Nervensägen und Dummköpfe die allermeisten, vor allem die alten Trottel im Heim. Allein zu sein bedeutete ihm nichts Negatives. Die meiste Zeit seines Lebens war er allein gewesen. Auch und gerade im Kreise seiner Familie. Die meisten hatte er überlebt, und er vermisste keinen von ihnen. Das Vergangene war unwichtig geworden, und Zukunft gab es für ihn nicht mehr. Er würde in dieser Verwahranstalt für Friedhofsgemüse seine Runden drehen, bis er umfiel. Kneifen war nicht sein Fall, war es nie gewesen. Er würde bis zum Ende in guter Haltung ausharren, so wie er es immer gemacht hatte. Bis dahin wollte er seine Ruhe haben, mehr verlangte er nicht. Nur eines, dachte er, als er langsam auf sein Zimmer zusteuerte, eines hätte er gern noch gewusst, bevor er würde abtreten müssen.

Beim Abendessen saß er abseits und grüßte niemanden.

1. Kapitel

Der Signalton der Alarmanlage explodierte in die Stille des frühen Morgens. Einen Sekundenbruchteil zu spät schloss Dr. Leonie Simon die Balkontür. Der laute Fluch, den sie dabei ausstieß, wurde mühelos von dem ohrenbetäubenden Lärm des Warngeheuls übertönt. Mit wenigen Schritten war sie bei der Schaltanlage neben der Wohnungstür und stellte das System ab. Dann riss sie sich das Badetuch vom Leib, in das sie sich nach dem Duschen gewickelt hatte, und zerrte Unterwäsche und T-Shirt aus der Kommode im Schlafzimmer. Während sie sich anzog, begann sie von zehn an rückwärts zu zählen, denn sie wusste, was als Nächstes passieren würde.

»Drei, zwei, eins.« Sie zog den Reißverschluss ihrer Jeans zu.

Bei »jetzt« klingelte und klopfte es an ihre Tür. Leonie zog ein Gesicht, das, wie sie hoffte, angemessen schuldbewusst war, und öffnete die Tür.

»Tut mir furchtbar leid, Frau Imlau. Diesmal war es die Balkontür.«

Isolde Imlau, ihre Vermieterin, stand in Bademantel und Hausschuhen vor ihr und sah besorgt aus. Das war nichts Unübliches bei ihr. Isolde Imlau war ein durch und durch ängstlicher Mensch. Der Tod ihres Mannes zwei Jahre zuvor hatte diesen Zustand verschlimmert. Unglücklicherweise war kurz danach bei ihr eingebrochen worden, woraufhin sie sofort ein Alarmsystem einbauen ließ, an das sämtliche Türen und Fenster der einstöckigen Villa angeschlossen waren.

»Ich habe noch geschlafen«, sagte sie vorwurfsvoll. »Sie sollten wirklich versuchen, sich anzugewöhnen, die Anlage auszuschalten, bevor Sie eine Tür oder ein Fenster öffnen, Frau Doktor.«

»Ich werde mich bemühen«, gelobte Leonie Besserung. »Wie schaffen Sie es bloß, morgens so gut frisiert auszusehen? Schlafen Sie im Sitzen?«

Damit hatte sie gewonnen. Isolde Imlaus Miene heiterte sich auf.

»Sie machen Witze. Ich sehe furchtbar aus.«

Tatsächlich war sie eine attraktive Frau, der niemand ihr Alter von fast sechzig Jahren ansah. Soweit Leonie inzwischen mit ihrer Lebensgeschichte vertraut war, lag das nicht nur an einer günstigen genetischen Ausgangslage, sondern auch an den glücklichen und bequemen Umständen, in denen sie bis zum Tode ihres Mannes gelebt hatte. Isolde Imlau war aus einem wohlhabenden Elternhaus in die Arme eines ebenso wohlsituierten und sie vergötternden Ehemannes übergewechselt, hatte sich nie in einem anstrengenden Beruf verschleißen oder um die Erziehung von Kindern sorgen müssen. Die Schattenseite dieses beinahe paradiesischen, behüteten Daseins war eine Unselbständigkeit, wie Leonie sie bei einer Frau Anfang des 21. Jahrhunderts kaum noch für möglich gehalten hätte. Die ersten Monate ihrer Witwenschaft musste sie all das lernen, worum sich früher ihr Mann gekümmert hatte. Und er hatte sich buchstäblich um alles gekümmert. Noch nach zwei Jahren brauchte sie häufig Rat in irgendwelchen Finanz- oder Behördenangelegenheiten.

Immerhin hatte sie es geschafft, den ersten Stock des Hauses, das für sie allein zu groß geworden war, zu einer abgeschlossenen Wohnung umzubauen und in Leonie eine Mieterin zu finden, die gegebenenfalls in der Lage war, ihr in schwierigen Situationen beizustehen. Dass eine Frau Dr. Simon sie erst in eine schwierige Situation bringen könnte, lag außerhalb ihrer Vorstellungskraft.

Für Leonie hatte die Wohnung einen raren Glücksfall bedeutet, als sie vor mehr als einem Jahr vom Hamburger Institut für Rechtsmedizin zu den Berliner Kollegen gewechselt war. Mit ihrer Vermieterin verstand sie sich im Großen und Ganzen gut, die Wohnung war groß und hell und der Blick vom berankten Balkon in den gepflegten Garten Ersatz für einen Kurzurlaub. Die Adresse erregte gelegentlich Heiterkeit. Eine Rechtsmedizinerin, die in der Leichhardtstraße wohnte! Das Institut war nur zehn Fußminuten entfernt, was einen weiteren Vorteil darstellte. Besser gesagt, es war ein Vorteil gewesen, denn inzwischen war der Standort in Dahlem zugunsten eines Klinikgeländes in Moabit aufgegeben worden.

Die Klingel der Haustür ertönte. Isolde Imlaus Gesichtsausdruck wechselte wieder zu Besorgnis.

»Das ist bestimmt die Polizei«, meinte sie.

»Das will ich hoffen«, stimmte Leonie zu. »Ich meine, dafür haben Sie ja die Alarmanlage, oder?«

Sie lief rasch die Treppe hinab, etwas langsamer gefolgt von ihrer Wirtin.

Vor der Tür stand ein Streifenpolizist, den sie schon bestens kannte. Der Kollege war im Wagen sitzengeblieben. Es war noch empfindlich kühl an diesem frühen Samstagmorgen.

»Na, Frau Doktor, wieder falscher Alarm?« Der Uniformierte ließ die Begrüßung fort, eine Unhöflichkeit, die ihr zeigte, dass er die Geduld mit ihr zu verlieren begann.

»Ich bin untröstlich, aber ich bin’s nun mal nicht gewöhnt, in einem Hochsicherheitstrakt zu wohnen.«

»Wär aber besser, Frau Doktor. Das war schon das dritte Mal in vierzehn Tagen. Irgendwann kommen wir nicht mehr.«

»Nicht so laut.« Leonie sah sich rasch zu Frau Imlau um. »Lassen Sie das bloß meine Vermieterin nicht hören, die kann sonst vor Sorgen nicht mehr einschlafen.«

Der Polizist grinste. »Schon gut. Dann bis zum nächsten Mal.«

Der Kollege hatte das Auto verlassen und kam durch den kleinen Vorgarten auf sie zu.

»Guten Morgen, Frau Doktor.« Und dann an den Kollegen gewandt: »Wir müssen los. Nicht weit von hier brennt’s.«

Er nannte eine Grunewalder Adresse, die Leonie bekannt vorkam.

»Da wohnt doch mein Kollege, Doktor Frank Gotthardt. Ist jemand verletzt?«

»Keine Ahnung, die Feuerwehr ist unterwegs.«

Leonie traf rasch ihre Entscheidung. »Geben Sie Ihrer Zentrale Bescheid, dass jemand von der Rechtsmedizin auf dem Weg zum Brandort ist. Ich fahre sofort los.«

Sie stürmte ins Haus zurück und die Treppe hinauf, wobei sie ihre Vermieterin unsanft zur Seite schob.

»Tut mir leid, ich hab’s eilig.«

»Wann haben Sie das nicht?«, rief Frau Imlau hinter ihr her, ging in ihre Wohnung zurück und verriegelte energisch die Tür.

In routinierter Hast vervollständigte Leonie Simon ihre Garderobe, griff nach Tasche, Autoschlüssel und Handy und saß eine Minute später in ihrem Wagen. Erst dort fiel ihr ein, dass sie vergessen hatte, den Alarm wieder einzuschalten. Während der Fahrt verständigte sie von ihrem Autotelefon aus das Institut über den Einsatz. Dabei hoffte sie inständig, dass sie sich in der Adresse geirrt hatte oder zumindest die Anwesenheit eines Rechtsmediziners überflüssig sein würde.

Sie wusste ungefähr, wohin sie fahren musste, hatte aber sicherheitshalber die Adresse in das GPS-System eingegeben, das sie sich bei ihrem Wechsel nach Berlin hatte einbauen lassen. Zwar hatte sie lange in Berlin gelebt, aber während der Jahre in Hamburg war vieles in Vergessenheit geraten. Berlin wollte neu erobert werden und änderte überdies ständig das Gesicht. Allein während der wenigen Jahre ihrer Abwesenheit war wie verrückt gebaut und renoviert worden. Firmen, Läden, Restaurants, Clubs und Kneipen kamen und gingen. Leonie war keine Szenegängerin und versuchte gar nicht erst, bei den In-Lokalitäten auf dem Laufenden zu bleiben.

Nach ihrer Rückkehr war ihr zum ersten Mal so recht zu Bewusstsein gekommen, dass sie sich im Westteil der Stadt nach wie vor besser auskannte als in der ehemaligen Hauptstadt der DDR. Das würde sich in Zukunft schon deshalb ändern, weil im Jahre 2003 beschlossen worden war, das Rechtsmedizinische Institut der Freien Universität Benjamin Franklin mit dem ehemaligen Ost-Berliner Institut der Charité, dem Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin und dem daran angeschlossenen Leichenschauhaus unter einer Leitung zusammenzulegen. Das Kind bekam einen neuen Namen, Charité Universitätsmedizin Berlin, und natürlich eine heftige Diät verabreicht. Berlin war sexy, aber pleite.

Die schmale Wohnstraße ließ kaum ein Durchkommen zu. Polizei, Feuerwehr und die üblichen Katastrophentouristen blockierten sie auf mehreren hundert Metern. Leonie parkte ihren Wagen skrupellos in einer Einfahrt, holte den Tatortkoffer aus dem Kofferraum und lief auf die Rauchwolke zu, die sich über das ganze Viertel auszubreiten begann. Nur ein einziges Mal war sie bei ihrem Kollegen zu Hause gewesen, aber sie sah sofort, dass es das Haus der Gotthardts war, aus dem der Rauch quoll. An der Absperrung trat ein Polizist auf sie zu.

»Tut mir leid, aber hier dürfen Sie nicht durch.«

»Doktor Leonie Simon, Rechtsmedizin. Das Haus gehört einem Kollegen. Doktor Frank Gotthardt. Geht es ihm und seiner Frau gut?«

Der Uniformierte überlegte und sah sich unschlüssig um.

»Jetzt lassen Sie mich schon durch. Wo ist der Einsatzleiter der Feuerwehr? «

In dem Moment sah sie einen Ermittler vom LKA 12, zuständig für Branddelikte, mit dem sie schon zweimal zu tun gehabt hatte. Sie winkte ihm und rief seinen Namen. Er kam langsam auf sie zu. Seine Miene verhieß nichts Gutes. Seine Anwesenheit auch nicht. Die Kollegen vom kriminalpolizeilichen Dauerdienst der zuständigen örtlichen Polizeidirektion, die außerhalb der normalen Dienstzeiten für die Anfangsermittlungen zuständig waren, hatten ihn vermutlich dazugeholt, weil vorsätzliche Brandstiftung vermutet wurde.

»Guten Morgen, Frau Doktor Simon. Sie sind ja schneller als der Schall.«

»Zufall. Was ist los?«

»Kann ich nicht sagen. Die Feuerwehr hat mich noch nicht ins Haus gelassen. Der Brand scheint aber unter Kontrolle zu sein.«

Er machte eine Pause.

»Also los. Rücken Sie schon raus mit den schlechten Nachrichten.«

»Es wurden zwei Leichen im Haus gefunden, ein Mann und eine Frau. Vermutlich die Bewohner.«

Leonie Simon glaubte, gewappnet zu sein, dennoch traf es sie härter als befürchtet. Sie schwieg einen Moment, weil sie ihrer Stimme nicht traute.

»Wann kann ich die Leichen sehen?«

»Tut mir leid. Das kann ich nicht entscheiden.«

Leonie wartete ungeduldig darauf, endlich ins Haus gelassen zu werden, und drängte den Einsatzleiter der Feuerwehr so lange, bis er ihr und dem LKA-Beamten schließlich entnervt das Startzeichen gab. Sie liefen durch den ehemals gepflegten, nun völlig zertrampelten Vorgarten und betraten durch den Haupteingang einen kleinen Flur, von dem aus eine dunkle Holztreppe in den ersten Stock führte. Außer dem Brandgeruch war dort nichts von einem Feuer zu bemerken. Von diesem Eingangsbereich gelangte man durch eine Tür zunächst in eine Art zweite und ziemlich große Lobby, um die sich die Wohnräume des Erdgeschosses gruppierten. Eine breite Treppe aus hellem Marmor wand sich in das Souterrain hinab. Zwei Kommoden, die einzigen Möbelstücke in der Lobby, zeigten Brandspuren. Die Leiche von Frank Gotthardt lag zwischen der Tür zum Wohnzimmer und der Treppe. Er lag auf dem Bauch, den linken Arm unter dem Körper verborgen, die linke Gesichtshälfte an den Steinfußboden gepresst. Neben dem angewinkelten rechten Arm lag eine Pistole. Leonie Simon kniete sich neben die Leiche und bemühte sich zu verdrängen, dass es sich um einen Kollegen handelte. Teile seiner Kleidung und die Haare waren versengt oder verbrannt, die Haut, so weit sie frei lag, war von Brandwunden zweiten und dritten Grades bedeckt. Er war dem Feuer anscheinend nicht unmittelbar ausgesetzt gewesen. »In dem Fall ist die Todesursache wohl klar«, meinte der Brandermittler nach einem Blick auf die Leiche.

Das Einschussloch knapp über Frank Gotthardts Nasenwurzel war nicht zu übersehen. Leonie Simon hob den Kopf des Toten vorsichtig ein wenig an und betrachtete das stille Gesicht, das der Brand in eine helle und eine dunkle Hälfte geteilt hatte, als trage es eine Karnevalsmaske.

»Was ist hier klar?«, sagte eine Stimme hinter ihnen. Ulrich Kallweit, Hauptkommissar und Leiter einer der sieben Mordkommissionen des LKA11, betrat den Raum. Da es noch früh war und außerhalb der sogenannten Funktionszeit, wochentags von acht bis fünfzehn Uhr, nahm Leonie an, dass seine Gruppe den Bereitschaftsdienst versah und den Fall vom Dauerdienst übernommen hatte.

»Was mich anbetrifft, noch gar nichts«, erwiderte Leonie Simon. »Frank hat eine Schussverletzung, die mit Sicherheit tödlich war, falls er zum Zeitpunkt des Schusses noch lebte, was ich aber unmöglich jetzt schon sagen kann.«

Für die spätere Schmauchuntersuchung band sie Tüten um seine Hände.

»Sieht nach Selbstmord aus.« Der Brandermittler war hartnäckig.

»Möglich ist alles.« Kallweit beugte sich über die Leiche und blickte Leonie mitfühlend an.

»Tut mir leid. Gotthardt war ein netter Kerl.«

»Ja, ich weiß.« Leonie wollte sich jetzt nicht über Frank unterhalten. »Wo ist Claudia, ich meine, seine Frau?«

Ein Feuerwehrmann, der gerade an ihnen vorbeilief, deutete mit dem Daumen zur Treppe.

Mit klopfendem Herzen ging Leonie, die beiden Kriminalbeamten im Schlepptau, die Stufen hinab. Die Leiche von Claudia Gotthardt war stärker verbrannt als die ihres Mannes. Das Feuer hatte offenbar im Souterrain seinen Ausgang genommen und dort die größte Zerstörungskraft entwickelt. Leonie blickte in geschwärzte Räume, in denen Feuerwehrleute noch damit beschäftigt waren, letzte Brandnester aufzuspüren und unschädlich zu machen. Claudia lag am Fuß der Treppe, den Kopf auf der untersten Stufe. Abgesehen von den Körperstellen, an denen sie auflag, war die Haut verkohlt, wie Leonie bei vorsichtiger Untersuchung sah. Die verbrannte Kleidung war teilweise mit dem Körper verschmolzen. Dennoch war die Leiche in keinem so schlechten Zustand, wie Leonie befürchtet hatte. Wahrscheinlich war sie Feuer und Hitze nicht über einen längeren Zeitraum ausgesetzt gewesen. Leonie betrachtete Claudias Leiche aufmerksam von allen Seiten, bemühte sich aber ebenso wie bei Frank, deren Position nicht zu verändern. Bevor die Spurensicherung Fotos gemacht und das gesamte Haus auf forensische Spuren untersucht hatte, konnte sie nicht viel tun.

»Sie hat wohl versucht, über die Treppe zu fliehen. Und dann ist sie bewusstlos geworden«, spekulierte Kallweit.

Der Kollege vom Branddezernat stocherte in einem der ausgebrannten Räume herum und unterhielt sich leise mit einem der Feuerwehrmänner.

Leonie Simon richtete sich auf. »Vielleicht. Vielleicht war es aber auch ganz anders. Ich kann Ihnen im Moment nichts weiter sagen.«

Auf dem Weg zurück nach oben begegneten sie einem weiteren Brandermittler des LKA und einem Mitarbeiter Kallweits. Auch die Spurentechniker waren inzwischen erschienen und hatten ihre Arbeit aufgenommen. Vor dem Haus machte sich die Feuerwehr bereit zum Abrücken. Brandwachen wurden eingeteilt. Leonie fiel etwas ein.

»Komisch. Eigentlich wollten die beiden doch erst morgen zurückkommen.«

Sie hatte leise und mehr zu sich selbst gesprochen, aber Kallweit hatte sie gehört.

»Was meinen Sie?«

»Ach, mir fiel nur gerade ein, dass Frank Gotthardt vier Tage Urlaub genommen hatte. Die beiden haben um ihren Hochzeitstag herum immer eine Städtereise gemacht. Ich glaube, diesmal wollten Sie nach Lissabon. Ich kann mich aber auch irren, was die Urlaubsdaten anbelangt.«

Kallweit machte eine Notiz. »Prüfen Sie’s nach, und sagen Sie mir Bescheid. Gibt es sonst noch etwas, das ich wissen sollte? Wie sah’s in der Ehe der beiden aus?«

Leonie sah ihn erstaunt an. »Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass Frank und Claudia selbst …« Sie ließ offen, was sie getan haben könnten. Die Idee schien ihr völlig absurd zu sein.

»Da drin liegt ein Mann mit einer Schusswunde und einer Pistole neben sich.«

»Soweit ich weiß, besaß er überhaupt keine Waffe.«

»Eben. Soweit Sie wissen.«

Leonie hatte keine Lust, sich weiter an einem sinnlosen Ratespiel zu beteiligen.

»Hören Sie, Kallweit, wir stehen ganz am Anfang einer Ermittlung. Wir sollten uns nicht mit vagen Vermutungen aufhalten. Ich muss jetzt ins Institut.«

»Sie haben meine Frage nicht beantwortet. War die Ehe in Ordnung?«

»Ja«, blaffte Leonie.

»Soweit Sie wissen?«

Sie wandte sich ab und ließ ihn stehen. An sich mochte sie Kallweit. Er war ein ruhiger, verlässlicher Beamter, ohne viel Phantasie, aber wahrscheinlich gerade deswegen so erfolgreich. Normalerweise hätte sie auf seine erste Arbeitshypothese nicht so sauer reagiert, aber bei Frank und Claudia Gotthardt war sie befangen, wie sie sich selbst eingestand. In jedem Fall war sein Tod für das Institut ein Schlag, ganz gleich was bei den Ermittlungen herauskommen mochte.

Leonie bog von der Turmstraße auf das Gelände des Krankenhauses Moabit ab. Sie passierte eine Schranke und fuhr langsam an schönen, aber renovierungsbedürftigen Backsteinbauten und neueren, meist ebenso verwahrlosten Bauten aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts vorbei. Das ehemals berühmte Berliner Hospital, 1872 gegründet von Rudolf Virchow als provisorisches Lazarett für Pockenkranke, später langjährige Wirkungsstätte des Tuberkuloseforschers Robert Koch, war zerschlagen worden, und in den Gebäuden residierten nun diverse Institutionen des deutschen Gesundheitsbetriebes, von Arztpraxen bis zu Diakoniestationen und Beratungszentren. Leonie Simon war kein sentimentaler Mensch, aber als sie vor dem großen U-förmigen Flügelbau des Hauses L parkte, das zum größten Teil Baustelle war, dachte sie nicht ohne Wehmut an den schönen Dahlemer Altbau zurück, in dem sie bis vor kurzem ihr Büro gehabt hatte. Das Institut für Rechtsmedizin und Kollegen des Landesinstitutes teilten sich das zweite Stockwerk, das einzige zurzeit benutzbare. Ärzte, forensische Psychiater und Verwaltungsangestellte saßen dort in ihren Büros. Zu Leonies Bedauern war seinerzeit bei den Verhandlungen über die neuen Räumlichkeiten der Rechtsmedizin etwas schiefgegangen, und es war versäumt worden, das gesamte Haus L anzumieten und Sektionsräume, Labore, Kühlräume, Seminarräume und dergleichen mehr unter einem Dach zu vereinen. Stattdessen war zusätzlich das gesamte Haus O angemietet worden, in ein oder zwei Jahren und nach umfänglichen Renovierungsarbeiten würde Haus N dazukommen, mit O durch Übergänge verbunden. Der Fußweg dorthin betrug nur wenige Minuten. Leonie Simons Chef meinte, das Arrangement habe den Vorteil, dass man in seinem Büro nicht vom Gestank fauler Leichen belästigt werde.

Leonie ging an der Anmeldung vorbei, geradeaus zu einem kleinen Konferenzraum, wo sich die Belegschaft fast vollzählig versammelt hatte und auf sie wartete. In knappen Worten und so sachlich wie möglich informierte sie die Kolleginnen und Kollegen über den Stand der Dinge. Professor Oberbeck, den neuen Leiter des Institutes, hatte sie bereits vom Brandort aus in Kenntnis gesetzt. Er trat neben sie, nachdem sie ihren Bericht beendet hatte.

»Wir haben einen geschätzten Kollegen verloren, das ist bitter. Umso schlimmer, dass es unter diesen anscheinend nicht unverdächtigen Umständen geschehen musste. Aber wir sind dazu verpflichtet, unvoreingenommen unsere Arbeit zu tun. Ich erwarte also von den Kolleginnen und Kollegen, die die Sektion der beiden Leichen vornehmen werden, persönliche Gefühle zu unterdrücken. «

Die Versammlung löste sich auf, und Leonie folgte ihrem Chef in dessen Büro. Er hatte sein Refugium mit schönen alten Möbeln aus seinem persönlichen Besitz ausgestattet. Der Raum verströmte den Charme einer vergangenen Zeit, die von der Warte der modernen Medizin aus gesehen alles andere als gut gewesen war.

Lutz Oberbeck ließ sich krachend in einen Ledersessel fallen. Er war ein großer, schwerer Mann, gleichaltrig mit Leonie Simon, wenngleich älter wirkend. Sein Vorgänger, Professor König, war, kurz nachdem Leonie Simon die Oberarztstelle in Berlin angetreten hatte, völlig unerwartet zwei aufeinanderfolgenden Schlaganfällen erlegen. Leonie hatte nicht einen Moment daran gedacht, sich für den Direktorenposten zu bewerben. Von ihr wurde erwartet, dass sie sich demnächst von Berlin aus für die Nachfolge von Professor Cordes in Hamburg bewarb, der bald in den Ruhestand gehen würde. Außerdem war ihr schon lange bekannt, dass Lutz Oberbeck, der wie sie seine Assistenzzeit am Berliner Institut verbracht hatte, nur darauf wartete, aus Süddeutschland nach Berlin zurückzukehren und Königs Chefsessel zu übernehmen. Sie hatte nicht vorgehabt, mit ihm in Konkurrenz zu treten. Zudem beneidete sie ihn wahrlich nicht um die Aufgaben, die ihm durch die noch längst nicht abgeschlossenen Umstrukturierungen und den Kampf um Geld und Stellen aufgebürdet wurden. Das akademische Personal wie Ärzte, Toxikologen, Molekularbiologen, forensische Psychiater war auf das Niveau aussterbender Arten heruntergespart worden. Und damit nicht genug gab es die Planung, in etwa zwei Jahren auch das Institut in Potsdam mit der Außenstelle Frankfurt/Oder einzugliedern. Nein, sie beneidete ihren Chef ganz und gar nicht. Tatsächlich, und das würde sie niemandem gestehen, war sie noch immer nicht sicher, ob sie überhaupt jemals die Leitung eines Institutes würde übernehmen wollen. Es mangelte ihr nicht an Ehrgeiz, und sie verstand sich selbst nicht in dieser Frage.

Oberbeck musterte Leonie über den Rand seiner Brille hinweg.

»Du siehst blass aus.«

»So fühle ich mich auch«, erwiderte Leonie und setzte sich.

»Hast du heute schon etwas gegessen?« Essen war für ihn ein immens wichtiges Thema.

Leonie musste kurz über seine Frage nachdenken. »Nein. Ich hatte nicht einmal einen Kaffee.«

»Bedien dich.« Oberbeck deutete auf die silbern schimmernde Thermoskanne, die seine Sekretärin jeden Morgen gutgefüllt mitsamt gewaschenen Kaffeebechern auf einem Beistelltisch deponierte. Leonie nahm das Angebot dankbar an und aß auch von den Keksen, die in einer Schale den Kaffeetisch komplettierten.

» Glaubst du, er hat sich selbst erschossen?«

»Auf den ersten Blick sieht es so aus. Aber ich kann es mir beim besten Willen nicht vorstellen. Außerdem erklärt das nicht den Brand.«

Oberbeck wiegte sich in seinem Sessel vor und zurück. »Die Polizei wird die Kollegen befragen.«

»Das hängt vom Obduktionsbefund ab.«

»Natürlich.« Er machte eine Pause. »Gibt es etwas, das ich über Frank Gotthardt nicht wusste?«

Leonie schnippte einen Krümel von ihrer Hose. »Falls ja, dann weiß ich es auch nicht. Ich hielt ihn für einen vollkommen zufriedenen Menschen ohne größere Probleme.«

»Ja. Aber was wissen wir schließlich schon voneinander? Einer meiner besten Freunde erhängte sich kurz nach seiner Promotion, summa cum laude noch dazu. Er war mit einem wunderschönen Mädchen verlobt und hatte die allerbesten beruflichen Aussichten. Ich weiß bis heute nicht, warum er es getan hat.«

»Vielleicht hatte er Angst vor einem verplanten Leben ohne Abenteuer.«

Ihr Chef sah sie verständnislos an. Sie wechselte das Thema.

»Ich nehme an, du willst selbst obduzieren.«

Das war eher eine Feststellung als eine Frage. Der Professor nickte.

»Ich übernehme Gotthardt. Heineke kann mir assistieren.«

Leonie nickte. »Gut. Dann frage ich Lottermoser, ob er mir bei Claudia Gotthardt hilft.«

Zwei Stunden später wurden die beiden Toten angeliefert. Leonies Magen knurrte, als sie sich umzog und den Mundschutz umband. Obwohl sie hungrig war, die wenigen Kekse hatten ihren Magen längst wieder verlassen, verspürte sie keinen Appetit, und der Gedanke an ein belegtes Brot oder gar ein warmes Mittagessen verursachte ihr Übelkeit. Aus Erfahrung wusste sie überdies, dass sie die Sektion von faulen Leichen und Brandopfern besser mit leerem Magen in Angriff nahm. Die Öffnung verwesender und verbrannter Körper stellte nicht gerade ein olfaktorisches Highlight dar. Ihr Kollege Wilfried Lottermoser gesellte sich zu ihr.

»Des hätt ich ma nicht vorg’stellt, dass ich den Frank und seine Frau noch amal auf’m Tisch haben würd’.«

Lottermoser war gebürtiger Wiener und der älteste Kollege am Institut. Leonie kannte ihn seit fast zwanzig Jahren und schätzte ihn sehr.

»Hilft nix, geh ma.«

Die Präparatoren hatten die beiden Leichen vorbereitet, wozu auch eine Computertomographie gehörte, und Kallweit sowie der zuständige Staatsanwalt und ein Kollege von der Kriminaltechnik warteten schon, als Leonie und Lottermoser den Sektionssaal betraten. Auch Constanze Heineke, eine junge und attraktive Fachärztin, die Oberbeck erst kürzlich ans Institut geholt hatte, war anwesend und hatte begonnen, die äußere Leichenschau ins Aufnahmegerät zu diktieren. Sie hatte Gotthardt kaum gekannt, für sie war er eine Leiche von vielen.

Lottermoser erkundigte sich bei Kallweit, ob die Brandexperten schon einen Anhaltspunkt hätten, was passiert war.

»Es ist ziemlich sicher, dass das Feuer in Claudia Gotthardts Büro ausgebrochen ist.«

Claudia hatte Leonie einmal durch das Haus geführt und bei der Gelegenheit auch ihr Büro gezeigt. Sie arbeitete als freie Journalistin für diverse Zeitungen und Zeitschriften und tat dies zu Hause, sofern sie sich nicht auf Recherchereisen befand. Als Büro hatte sie sich den größten Raum im Kellergeschoss ausgesucht. Außerdem befanden sich dort noch ein Gästezimmer, ein Bad und zwei Wirtschaftsräume. Von Frank wusste Leonie, dass Claudia manchmal auch unten schlief, wenn sie bis in die Nacht hinein gearbeitet hatte. Franks Arbeitszimmer lag im Erdgeschoss, das ansonsten drei ineinander übergehende Wohnräume, eine Küche, ein kleines Duschbad und eine Gästetoilette umfasste. Im oberen Stockwerk gab es drei Schlafräume und ein großes Bad.

Kallweit berichtete, dass die Brandursache noch nicht geklärt werden konnte, er also auch nicht wisse, ob sie es mit Brandstiftung oder einem Unglücksfall zu tun hätten.

»An den Möbeln haben die Flammen wenig Nahrung gefunden«, referierte er. »Die meisten sind aus Stahl. Aber das Büro war mit Papieren und Akten vollgestopft. Da braucht es nicht viel, um ein hübsches kleines Feuerchen zu machen. Im Grunde braucht man nur ein Feuerzeug oder eine Schachtel Streichhölzer. Die Tür stand weit offen. So war garantiert, dass sich das Feuer ausbreiten würde.«

Leonie verlor das Interesse an seinem Bericht. Sie betrachtete Claudia Gotthardt, die eine hübsche Frau mit langen, blonden Haaren gewesen war. Meine Lorelei, hatte Frank sie einmal genannt. Nun waren nur noch stinkende, verkohlte Reste von ihrem Haar übrig.

Professor Oberbeck betrat als Letzter den Sektionssaal, und Kallweit fing mit seinem Bericht von vorn an. Nach der äußeren Leichenschau, bei der akribisch jedes Detail der Erscheinung des Toten diktiert wurde, angefangen bei Geschlecht, Größe und geschätztem Alter bis zu Wunden, Verletzungen, Narben und so weiter, begannen Leonie Simon und ihre Kollegen mit der Öffnung der drei Körperhöhlen Kopf, Brust und Bauch, untersuchten die inneren Organe, das Hirn, die Halsorgane, lösten bei Frank Gotthardt auch die Haut von Armen und Beinen, entnahmen Gewebeproben und Körperflüssigkeiten für die toxikologische und histologische Untersuchung. All dies war die übliche Vorgehensweise, die jedem Toten geschuldet war, variiert, natürlich, falls die Auffindesituation und der Zustand der Leiche einen Verdacht bereits nahelegten oder das Interesse auf einen bestimmten Punkt lenkten. Von größter Bedeutung für Hauptkommissar Kallweit und dessen weitere Ermittlungen war in diesem Fall zum Beispiel die Frage, ob die beiden bereits vor oder erst nach Ausbruch des Feuers gestorben waren. Bei der Sektion wurde also besonders darauf geachtet, ob sich vitale Zeichen fanden, die auf Brandeinwirkung zu Lebzeiten schließen ließen. Als vitale Zeichen gelten zum Beispiel das Einatmen und Verschlucken von Rußpartikeln, die sich in Lunge und Magen nachweisen lassen, Erytheme, also Rötungen, am Rande von Brandblasen, eine deutliche Erhöhung des Co-Hb-Wertes des Blutes, die wie auch kirschrote Leichenflecke auf eine Kohlenmonoxyd-Einatmung hinweist, oder auch die sogenannten »Krähenfüße« neben den Augenwinkeln, die durch Zukneifen der Augen entstehen und in den Falten unberußt bleiben.

Die Gotthardts waren nach Leonies Ansicht beide mit großer Wahrscheinlichkeit bereits tot, als die Flammen sie erreichten. Frank starb durch die Verwüstungen, die die Pistolenkugel in seinem Hirn angerichtet hatte, seine Frau hatte einen Genickbruch erlitten.

»Dann ist sie also die Treppe heruntergefallen.« Das war mehr eine Feststellung als eine Frage, und Kallweit hatte sie an niemanden im Besonderen gerichtet.

»Jedenfalls sollte es so aussehen.« Leonie Simon war damit beschäftigt, verbrannte Haut an Schultern und Rücken abzutragen. Die darunterliegende Fettschicht hatte sich weitgehend aufgelöst, und die Muskulatur war blaß-bräunlich verfestigt und wirkte wie verkocht.

»Was wollen Sie damit sagen?«

Leonie richtete sich auf und sah Kallweit an. »Nur dass ich einen Treppensturz als Ursache des Genickbruchs für unwahrscheinlich halte. Ich kann keine Überstreckung der Halswirbelsäule mit Zerrung und Unterblutung des vorderen Längsbandes oder Brüche im Bereich des vierten bis sechsten Wirbelkörpers oder Dornfortsatzes feststellen, was in einem solchen Fall zu erwarten wäre. Außerdem«, sie deutete auf Nacken- und Schulterbereich der Toten, »kann ich keine der Verletzungen finden, die bei einem Treppensturz gewöhnlich auftreten, zum Beispiel Hautabschürfungen an den Armen und Weichteileinblutungen im Schultergürtel. Ebenso fehlen Platzwunden und Unterblutungen am Kopf. Und dann die Position, in der wir sie gefunden haben.«

»Sie lag am Fuß der Treppe, den Kopf nach oben auf der untersten Stufe.« Kallweit sah Leonie skeptisch an.

»Ja, aber sie lag auf dem Bauch. Wenn sie von oben heruntergekommen und gestolpert wäre, hätte sie anders fallen müssen, auf den Rücken oder auf die Seite.«

Kallweit überlegte einen Moment. »Sie könnte vor dem Feuer geflüchtet sein, wollte die Treppe hochlaufen und ist dabei gestürzt.«

»Auch dann wär die Position falsch«, sekundierte Lottermoser. »Wenn’s beim Hinauflaufen nach vorn g’fallen wär, hätt sie sich mit die Händ abg’stützt. Wäre sie aber nach hinten g’fallen, hätt’s mit’m Kopf oba, also nach unten auf der Stieg’n oder am Fuß der Stieg’n g’legen.«

Leonie nickte beifällig. »So ist es. Und wie auch immer, ich hätte Sturzverletzungen finden müssen. Ich bin beinahe sicher, dass wir auch auf dem CT keine sturzbedingten Läsionen der Knochen finden werden.«

»Und wie soll der Genickbruch passiert sein?«

Leonie zuckte mit den Schultern. »Das kann ich Ihnen nicht sagen. Von allein bricht ein Genick jedenfalls nicht.«

Professor Oberbeck schaltete sich ein. »Ich hätte auch noch etwas zur Verkomplizierung des Falles beizutragen.«

Kallweit und Leonie traten gemeinsam an den Stahltisch, auf dem Frank Gotthardt lag. Oberbeck bedeutete dem Präparator, der mit der Stryker-Säge bereitstand, er solle noch einen Moment mit der Öffnung des Schädels warten. Es war nicht angenehm, gegen den Lärm der Säge anzureden.

»Schauen Sie sich mal seine Hände an.«

Leonie wusste, worauf ihr Chef hinauswollte. Schon bei ihrer notgedrungen oberflächlichen Untersuchung am Fundort waren ihr zwei Dinge aufgefallen.

Kallweit betrachtete die Hände des Toten. »Rechte Hand berußt und/oder beschmaucht, kann man ja leider nicht voneinander unterscheiden. Deutlicher die Beschmauchung der linken Hand, die vom Körper verdeckt und dadurch vor Ruß geschützt war. Deutet auf Selbstmord hin. Er hat die Waffe mit beiden Händen gepackt, auf Armlänge von sich weggehalten und mit dem Daumen den Abzug betätigt.«

»Also eine atypische Waffenhaltung. In dem Fall würde ich eine andere Art der Beschmauchung der Hände erwarten, nämlich auch auf der Oberseite von Daumen und Zeigefinger. Tatsächlich aber sehen wir nur eine mäßige Beschmauchung der Handinnenflächen.« Oberbeck drehte die Hände des Toten um.

»Ein solches Verteilungsmuster könnte entstehen, wenn man die Hände dem Schützen in einer unwillkürlichen Abwehrbewegung entgegenstreckt«, erklärte Leonie. »Aber Genaueres wird uns Ihr Kollege erst nach der Untersuchung sagen können.« Sie nickte dem Spurentechniker zu, der sich anschickte, mit Hilfe von Schmauchtabs, kleinen mit Folien beklebten Metalltellerchen, die Schmauchspuren von den Händen Sektion für Sektion abzustempeln. Die Folien wurden in Plastikröhrchen aufbewahrt und sollten später im LKA-Labor chemografisch angefärbt und im Rasterelektronenmikroskop morphologisch untersucht werden, wodurch ein Schmauchverteilungsbild entsteht und eine Einschätzung der Schussentfernung möglich wird.

»Und zweitens«, fuhr Oberbeck fort, »wundere ich mich über die Verteilung der sogenannten Backspatter, Blut und Gewebeteilchen, die mit Hochgeschwindigkeit aus Schusswunden austreten und an seiner Schusshand überall in Hülle und Fülle nachweisbar sein müssten. Ich sehe sie aber nur an beiden Handrücken.«

»Was Sinn ergäbe, wenn er tatsächlich die Handinnenflächen auf Kopfhöhe einem Angreifer entgegengehalten hätte. Dann bekommen nur die der Wunde zugedrehten Handrücken die Spritzer ab«, fügte Leonie hinzu. »Man könnte noch erwähnen, dass es keine parallel angeordneten, schnittartigen Schlittenverletzungen am Zeigefinger der Schusshand, Frank war übrigens Rechtshänder, durch den Rückschlag des Verschlussstücks gibt. Aber das hat keine Beweiskraft, denn das muss auch bei einer atypischen Schusshaltung nicht notwendig passieren.«

Kallweit brauchte einen Moment, bis er alles verdaut hatte. »Sie glauben also, es gibt eine dritte Person, die Frank erschossen und Claudia, wie auch immer, das Genick gebrochen hat. Und daran gibt es auch nicht den geringsten Zweifel? Die Fakten der Obduktion lassen keine andere Interpretation zu?«

Oberbeck und Leonie sahen einander einen Moment an. Oberbeck übernahm es zu antworten.

»Also, ich würde es ex negativo formulieren. Frau Doktor Simon hat keine Anzeichen eines Sturzes gefunden, so dass die Unfallthese rechtsmedizinisch nicht bewiesen werden kann. Ebenso wenig kann ich zweifelsfrei belegen, dass Frank Gotthardt Selbstmord begangen hat. Ob hingegen an den Todesfällen ein unbekannter Dritter beteiligt war, ist von den Fakten her denkbar, aber nicht mit Bestimmtheit zu sagen.«

»Ich für meinen Teil bin dessen sicher«, sagte Leonie mit fester Stimme. »Alles andere ergibt einfach keinen Sinn.«

»Ach nein?« Kallweit riss den Blick von Gotthardts Leiche los. »Was halten Sie davon? Gotthardt tötet seine Frau, legt das Feuer und erschießt sich anschließend selbst. Der ganz gewöhnliche erweiterte Suizid mit Brandstiftung, passiert andauernd.«

»Geh, so ein Nonsens.« Lottermoser warf klirrend das Skalpell auf das Organbrett. »Doch nicht der Gotthardt. Der hätt seiner Lorelei niemals des Genack brechen können. Vorher wird der Papst evangelisch.«

Kallweit lenkte ein. »Na gut, es kann ja auch ein Unfall gewesen sein. Gotthardt findet seine Frau tot vor und dreht durch. Legt zuerst das Feuer, holt dann seine Waffe und bum.«

»Wollen Sie meine Version hören?« Leonie betrachtete geistesabwesend ihre blutigen Handschuhe. »Ein Unbekannter dringt in das Haus der Gotthardts ein …«

»Wir haben keine Einbruchsspuren gefunden«, unterbrach Kallweit.

»… dringt in das Haus ein, weil er entweder etwas sucht und nicht weiß, dass die Gotthardts schon zurückgekommen sind, oder weil er einfach nur töten will. Er überrascht Claudia oder wird von ihr überrascht, tötet sie, indem er ihr das Genick bricht…«

»Was ja bekanntlich kinderleicht ist.« Wieder Kallweit.

»… indem er ihr das Genick bricht, was er beim deutschen KSK oder bei den amerikanischen Ledernacken oder in Pakistan bei al-Qaida oder wo auch immer gelernt hat, und legt das Feuer, um Spuren zu verwischen. Dann erschießt er Frank, der jetzt erst aufwacht oder nach Hause kommt, und legt die Waffe so neben ihn, dass es wie Selbstmord aussieht.«

»Können Sie mir auch sagen, welches Motiv der geheimnisvolle Killer haben könnte?«

»Rache«, sagte Dr. Constanze Heineke, die sich bis jetzt ausschließlich auf ihre Arbeit konzentriert hatte. »Welcher Rechtsmediziner hatte nicht schon mal Ärger wegen eines Gutachtens?«

»Denken Sie an jemand Bestimmten?«

»Nein. Aber ich bin ja auch noch nicht so lange am Institut.«

»Warten Sie den Bericht der Spurensicherung und die noch ausstehenden Untersuchungen ab«, schlug Leonie vor. »Vielleicht finden wir noch etwas, das uns weiterbringt.«

Als Leonie eine Stunde später ihre Handschuhe abstreifte und wegwarf und die Treppe hinauflief, die von den Sektionsräumen in die Oberwelt führte, war sie enttäuscht und frustriert wegen der Unbestimmtheit der Befunde. Ihre Erfahrung und mehr noch ihr Instinkt sagten ihr, dass sie es mit einem Doppelmord zu tun hatten. Nur konnte sie es nicht beweisen, nicht gut genug, um ein Schwurgericht davon zu überzeugen.

In ihrem Büro blinkte der Anrufbeantworter. Anders als in Hamburg hatte sie in Berlin nur eine Halbtagssekretärin zur Verfügung. Wenn die um 15.00 Uhr Feierabend hatte, und den hielt sie strengstens ein, krank oder in Urlaub war, musste die Maschine den Telefondienst übernehmen. Der Tag, an dem Frank und Claudia Gotthardt starben, war ein Samstag. Die Sekretärin hatte frei gehabt, und so fand Leonie diverse Anrufe vor, einige noch von Freitagabend. Der vierte Anruf datierte von Freitagnacht, kurz nach dreiundzwanzig Uhr. Die Stimme von Frank Gotthardt breitete sich in der Stille von Leonies Büro aus.

»Hallo, Leonie. Ich bin’s, Frank. Ich bin schon zurück. Wir haben den Trip abgebrochen. Claudia und ich haben uns gestritten. Ziemlich heftig. Na ja, ist auch egal jetzt. Ich wollte dich zu Hause nicht stören. Aber, weil du ja für mich den Bereitschaftsdienst am Wochenende übernommen hast, wollte ich, dass du weißt, ich bin da, und natürlich komme ich morgen ins Institut. Also, schlaf dich aus. Wir sehen uns Montag.«

Leonie drückte die Stopp-Taste. Die Stimme des Mannes, den sie noch eben leblos und schlimm zugerichtet auf dem Stahltisch hatte liegen sehen, verfehlte nicht ihre Wirkung. Sie fröstelte. Aber das hatte noch einen weiteren Grund. Wenn sie Kallweit den Anruf Vorspielen würde, bekäme seine Hypothese, dass sie es mit Mord und anschließendem Selbstmord zu tun hatten, neue Nahrung. Er würde daraufhin möglicherweise versuchen, die Einstellung der Ermittlungen zu erreichen, und sie wusste nicht, ob sie den Staatsanwalt von ihrer Sicht der Dinge überzeugen konnte. Ihr Finger schwebte über der Löschtaste. Es war eine schwere Entscheidung. Sie traf sie in weniger als einer Minute.

2. Kapitel

Die Brandwachen der Feuerwehr waren bereits abgezogen worden, als Leonie Simon das Haus der Gotthardts zum zweiten Mal betrat. Der Ermittler des LKA und der Brandexperte waren noch immer oder schon wieder bei der Arbeit. Falls sie über Leonies Auftauchen erstaunt waren, zeigten sie es nicht.

»Stört es Sie, wenn ich mich ein wenig umschaue?« Leonie vermied sorgfältig, in eine der vielen Löschwasserpfützen zu treten.

»Tun Sie sich keinen Zwang an. Wir sind auch so gut wie fertig.«

Der Brandexperte, ein kleiner älterer Mann mit Richelieu-Bärtchen, beschriftete eine Probe und verstaute sie sorgfältig in seinem Koffer.

»Dürfen Sie mir verraten, ob wir es mit Brandstiftung zu tun haben?«

»Die Sache ist die, dass ich es nicht kann. Bis jetzt habe ich weder einen Hinweis auf die Verwendung eines Brandbeschleunigers noch auf eine Manipulation an der Elektrik gefunden. Es stehen natürlich noch die Laboruntersuchungen aus. Das Einzige, was ich mit Gewissheit schon jetzt sagen kann, ist, dass das Feuer im Souterrain ausgebrochen ist, und zwar im Büro. Genauer gesagt, auf dem Schreibtisch, der völlig mit Papier bedeckt gewesen sein muss. Da hat möglicherweise schon eine Zigarettenkippe, eine umgeworfene Kerze oder so etwas gereicht. Ob das Absicht war oder ein Versehen, ist in solchen Fällen schwer zu sagen.«

»Sehr schade.« Leonie war enttäuscht. »Wann, denken Sie, hat es angefangen zu brennen?«

»In den späteren Morgenstunden würde ich sagen. Die Feuerwehr wurde von einem Nachbarn gegen halb sechs alarmiert. Und da sich das Feuer noch nicht im ganzen Haus ausgebreitet hatte, kann der Zeitpunkt der Entzündung nicht allzu weit zurückgelegen haben.«

»Immerhin war es schon im Erdgeschoss angekommen«, wandte Leonie ein. Sie warf einen Blick in das rußgeschwärzte Wohnzimmer, dessen angekohlte Möbel einen traurigen Anblick boten.

»Ja, aber das waren nur kleinere Brandnester, Funkenflug, wissen Sie. So ein Treppenhaus wirkt wie ein Kamin. Aber nur im Büro ist größerer Schaden entstanden.«

»Interessant«, sagte Leonie und bahnte sich einen Weg zu Frank Gotthardts Arbeitszimmer, wo es fast so schlimm aussah wie in dem seiner Frau.

»Komisch, finden Sie nicht?«

»Dasselbe Problem wie unten. Viel Papier. Da reicht ein Funke.«

»Es könnte aber auch einer gezündelt haben, erst unten, dann hier oben.«

Richelieu zuckte mit den Schultern. »Möglich wär’s. Streichhölzer habe ich übrigens auch nicht gefunden, nur der Vollständigkeit halber.«

»Um genau zu sein, haben wir gar nichts gefunden, das uns irgendwie weiterhilft.« Der Ermittler sah ziemlich frustriert aus. »Kein Feuerzeug, keine Wachsreste, keine Kippe, kein überhitzter Heizstrahler, kein Benzin oder wenigstens Nagellackentferner, kein Garnichts. Vielleicht war’s ja ein Geistesblitz.«

»Interessant«, wiederholte Leonie und schöpfte neue Hoffnung. Die Untersuchung der Treppe erbrachte keine wesentlichen Erkenntnisse. Es fanden sich keinerlei Hinweise auf einen Treppensturz, den sie noch immer nicht völlig ausschließen wollte. Wenn es etwas zu entdecken gegeben hatte, waren die Spurentechniker bereits darauf gestoßen. Sie würde Kallweit danach fragen müssen.

Leonie verabschiedete sich von den Männern und verließ aufatmend das Haus, dessen Geruch nach verkohltem Holz, verschmortem Kunststoff und verbranntem Menschenfleisch ihr auf den Magen schlug. Auf dem Weg zu ihrem Auto zögerte sie, blieb schließlich stehen und betrachtete die Häuser, die zur Rechten, zur Linken und gegenüber dem Gotthardt’schen Haus standen. Wer von den Nachbarn mochte die Feuerwehr informiert haben? Sicher ein Frühaufsteher oder jemand mit Schlafstörungen. Als Erstes klingelte sie bei dem Haus, von dem man den besten Blick auf das Nachbargrundstück und die Fenster des Souterrain-Büros hatte. Nach mehrmaligem Läuten öffnete eine dunkelhaarige Frau mit Kittelschürze und Gummihandschuhen. Es war die polnische Putzfrau, die nur über bruchstückhafte Deutschkenntnisse verfügte. Immerhin verstand Leonie am Ende der mühevollen Unterhaltung so viel, dass die Familie, die dort wohnte, seit einigen Tagen auf Mallorca weilte. Im Nachbarhaus zur Linken traf sie überhaupt niemanden an. Im Haus gegenüber bewegten sich die Küchengardinen. Leonie überquerte die Straße, bewunderte kurz den makellos gepflegten Vorgarten, in dem kein welkes Blatt und kein noch so kleines Unkräutlein zu sehen war, und hob die Hand, um die Klingel zu betätigen. Aber die Tür öffnete sich, noch bevor sie den Knopf erreichen konnte. Eine Frau von etwa dreißig Jahren, die einen Säugling auf dem Arm trug, stand vor ihr.

»Sind Sie von der Polizei?«

»Nein«, sagte Leonie. »Nicht direkt. Doktor Simon von der Rechtsmedizin. Doktor Gotthardt war ein Kollege von mir. Die Polizei war noch nicht bei Ihnen?«

»Doch, schon. Ein Polizist in Uniform. Weil ich die Feuerwehr angerufen hatte. Tut mir so leid. Ich kannte die beiden nicht besonders gut. Aber ein paar Sätze redet man ja doch mal miteinander, wenn man sich auf der Straße trifft.«

»Natürlich. Sie haben also den Notruf getätigt. Darf ich vielleicht kurz hereinkommen?«

Leonie warf einen raschen Blick auf das Klingelschild. »Frau Klein.«

Statt einer Antwort drehte sich die junge Frau um und stieß eine der drei Türen auf, die von der kleinen Diele abgingen. Leonie folgte ihr in ein unaufgeräumtes Wohnzimmer, das einen seltsamen Kontrast zu dem gepflegten Vorgarten bildete. Das Baby fing an zu greinen. Die Mutter stopfte ihm ihren kleinen Finger in den Mund, woraufhin Ruhe herrschte.

»Er hat im Moment ziemliche Probleme mit Blähungen.«

Leonie setzte sich in einen mit grünem Plüsch bezogenen Sessel, den einige helle Flecke zierten. Der Geruch von saurer Milch stieg ihr in die Nase.

»Sie haben also das Feuer als Erste entdeckt«, eröffnete Leonie das Gespräch. »Das muss ziemlich früh am Morgen gewesen sein.«

»Er hat mich fast die ganze Nacht auf Trab gehalten.« Sie betrachtete nachdenklich ihr Baby, das schmatzend an ihrem Finger saugte. »Der Salbeitee hat auch nicht geholfen.«

»Dann haben Sie womöglich auch einen Schuss gehört?« Einem Gespräch über die Verdauungsprobleme von Säuglingen war Leonie nicht gewachsen.

»Einen Schuss?« Frau Kleins Interesse wandte sich ihrer Besucherin zu. »Sie meinen, auf die Gotthardts hat jemand geschossen?«

»Dazu kann ich nichts sagen.« Offensichtlich hatte sie nichts gehört.

Das Interesse der jungen Mutter war unwiderruflich geweckt. Sie zog ihren Finger aus dem Mund des Babys, worauf das wieder zu quengeln begann.

»Die beiden sind ermordet worden? Und das Feuer war Brandstiftung?«

»Wir sind noch nicht sicher, was passiert ist.« Leonie ärgerte sich. Ungeschickter hätte sie es nicht anstellen können. In weniger als einer Stunde würden sämtliche Nachbarn die Mordversion präsentiert bekommen.

»Wahrscheinlich war alles nur ein tragischer Unglücksfall. Wir versuchen, den Hergang der Ereignisse zu rekonstruieren.«

Die junge Frau schien entschlossen, dabei zu helfen. »Also, ich habe die Gotthardts am Freitag kurz nach dem Ende der Tagesschau aus einem Taxi steigen sehen. Mit einem großen Koffer. Komisch, hab ich gedacht. Die wollten doch erst Montag wiederkommen. Sie waren nämlich in Lissabon. Hab ich von einer Nachbarin gehört.«

Leonie nickte zum Zeichen, dass sie darüber Bescheid wusste.

»Bis etwa ein Uhr hab ich noch Licht in seinem Arbeitszimmer gesehen. Und dann war eigentlich nichts mehr. Irgendwann bin ich auch eingeschlafen.«

Letzteres äußerte sie mit sichtlichem Bedauern.

»Das heißt, das Feuer war das Nächste, was Sie bemerkt haben?«

»Na ja, kurz vorher haben zwei Jungen ziemlichen Lärm gemacht. Haben sich gestritten, direkt vor dem Haus der Gotthardts. Betrunken wahrscheinlich.«

»Wann war das?«

»Gegen fünf Uhr etwa.« Die junge Frau überlegte. »Meinen Sie, die könnten den Brand gelegt haben?«

»Sie sollten in jedem Fall mit der Polizei darüber sprechen, falls Sie es noch nicht getan haben. Noch weitere Vorfälle, an die Sie sich erinnern?«

»Nein.« Ein kurzer Moment des Zögerns. »Nein, da war sonst nichts.«

»Vielen Dank, Frau Klein.« Leonie erhob sich. »Ich will Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen.«

Das Baby legte die Stirn in Falten und heulte eine Oktave höher. Leonie öffnete die Haustür und trat auf den oberen Treppenabsatz hinaus. Frau Klein klopfte ihrem Sohn beruhigend auf den Rücken.

»So viel Aufregung hatten wir hier noch nie«, sagte die junge Frau. »Ist sonst eine ganz ruhige Gegend.«

Leonie verabschiedete sich und ging zu ihrem Wagen. Als sie davonfuhr, standen Mutter und Kind noch immer an der Tür.

Leonie war nicht nach Feiern zumute. Aber den Geburtstag ihrer Tante konnte sie nicht schwänzen. Charlotte Reichert war die Schwester ihrer vor langer Zeit ermordeten Mutter und hatte sich in der schlimmsten Phase ihres Lebens um sie gekümmert. Seit Leonies Rückkehr nach Berlin pflegten sie wieder einen regelmäßigen Kontakt. Für eine Frau, die ihr einundsiebzigstes Lebensjahr vollendete, sah Charlotte Reichert fabelhaft aus, und von den kleinen Widrigkeiten abgesehen, die das Altern auch für die genetisch mit Robustheit Gesegneten mit sich bringt, war sie in guter gesundheitlicher Form. Im Jahr zuvor hatte sie ihren Siebzigsten im großen Stil und einem beeindruckend umfangreichen Freundes- und Bekanntenkreis gefeiert, weswegen sie sich diesmal auf die Gruppe der allerengsten Freundinnen und Freunde beschränkte. Leonie, die als Letzte auftauchte, was niemanden überraschte, traf nur auf eine kleine Gesellschaft von acht älteren Leuten, darunter »das Brunochen«, Witwer und hartnäckiger Verehrer ihrer Tante.

Leonie fiel sofort dreierlei auf. Erstens ein Blumenbouquet von so gewaltigen Ausmaßen, dass selbst Tante Charlottes größte Bodenvase darunter fast verschwand. Zweitens die ungewohnte Mürrischkeit und Wortkargheit Brunos. Und drittens die blendende Laune ihrer Tante, die geradezu an Ausgelassenheit grenzte.

Charlotte Reichert, eine begnadete Köchin, hatte zu Leonies Überraschung kein Menü für ihre Gäste gekocht, sondern bei einem italienischen Partyservice Platten mit Vorspeisen bestellt.

So verteilte sich die Gesellschaft locker im Wohnzimmer, statt am Esstisch zu sitzen. Nachdem sie ihrer Tante gratuliert und eine Begrüßungsrunde absolviert hatte, nahm Leonie die erste Gelegenheit wahr, sich an Brunos Seite zu begeben, der gerade das dritte Glas Prosecco hinunterstürzte.

»Vorsicht, Bruno«, warnte Leonie. »Alkohol in Verbindung mit Kohlensäure macht besonders schnell betrunken.«

»Dann ist ja gut.«

Leonie nahm einen Schluck von ihrem Bier. Prosecco war nicht ihre Sache. »Kummer? Oder einfach nur schlechte Laune?«

Bruno sah sie erschrocken an. »Merkt man das?«

Leonie verkniff sich ein Lächeln. Sie wollte den alten Mann nicht kränken. »Ich schon.«

Bruno griff nach der halbvollen Flasche, die er vorsorglich neben sich gestellt hatte.

»Siehst du den Angeberstrauß?«

Er warf einen verächtlichen Blick in dessen Richtung.

»Der ist kaum zu übersehen. Von wem ist er?«

»Von Henry.«

Bruno gelang es, den Namen so auszusprechen, als habe er sich einer ausgesuchten Obszönität entledigt.

Leonie überlegte kurz, konnte sich aber nicht erinnern, den Namen von ihrer Tante gehört zu haben. »Müsste ich den kennen?«

»Wirst du schon noch kennenlernen. Charlotte ist ganz verrückt nach ihm.«

Auf diese Enthüllung hin gönnte sich Bruno ein weiteres Glas Prosecco. Leonie betrachtete ihre Tante, die gerade über einen Witz perlend lachte und dabei zehn Jahre jünger aussah. Sie war perfekt geschminkt und frisiert, was nicht ungewöhnlich bei ihr war, und trug ein neues hochelegantes Kostüm, das ihre schlanke Figur betonte. Warum, fragte sich Leonie, sollte sich ihre Tante nicht noch mal verlieben? Dazu war es nie zu spät. Armer Bruno!

»Du übertreibst sicher. Sie hätte mir von ihm erzählt, wenn er ihr wichtig wäre.«

Bruno schüttelte traurig den Kopf. »Sie erzählt niemandem von ihm. Aber ich hab sie beobachtet. Ich weiß Bescheid.«

»Heißt das, du hast sie beschattet?«

»Ich hab mir Sorgen um sie gemacht. Einer muss ja auf sie aufpassen.«

Ach du grüne Neune, dachte Leonie. Ein eifersüchtiger alter Knabe und eine Tante mit Frühlingsgefühlen. »Hör mal, das geht nicht, Bruno. Ich weiß ja, dass Tante Charlotte dir viel bedeutet. Aber du hast nicht das Recht, dich in ihr Leben einzumischen. Außer sie gesteht dir das Recht zu.«

Der alte Mann senkte den Kopf und schwieg. Leonie fühlte mit ihm.

»Wer ist denn nun dieser Henry?«

»Ein Angeber mit einem dicken Auto, der ihr andauernd Blumen schickt und sie in teure Restaurants einlädt. Und er ist viel jünger als sie.«

»Und warum redet sie nicht über ihn, wenn er so toll ist?«

Bruno zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Vielleicht will sie uns ja mit einer Blitzhochzeit überraschen.«

»Unsinn«, erwiderte Leonie.

Aber als sie am späteren Abend in ihrer Wohnung am offenen Fenster stand und in den nur von einem phantastischen Vollmond beleuchteten Garten blickte, überlegte sie, ob sie ihre Tante auf diesen Henry ansprechen sollte. Nicht die Tatsache, dass ihre Tante mit einem Mann ausging, störte sie, sondern die Heimlichkeit, mit der sie diese neue Bekanntschaft betrieb. Andererseits galt für sie dasselbe wie für Bruno. Tante Charlotte war niemandem Rechenschaft schuldig, auch ihr nicht. Und falls sie einen Anflug von Backfischverliebtheit durchmachte und das für sich behalten wollte, musste das respektiert werden. Leonie schloss das Fenster, aktivierte die Alarmanlage und ging zu Bett.

Oberstaatsanwalt Wittke war ein ungewöhnlich hässlicher Mann. Seine knochige, windschiefe Magerkeit versagte auch dem teuersten Anzug seine Wirkung. Die über den Gesichtsknochen straff gespannte Haut war von gräulich blässlicher Farbe und gesprenkelt mit geröteten Narben, Pickeln und eitrigen Beulen, die den Mittvierziger anscheinend seit seiner Pubertät nicht verlassen hatten. Wittke saß im Büro von Professor Oberbeck und erhob sich beim Eintritt Leonie Simons. Er mochte keine Schönheit sein, aber sein Benehmen war untadelig. Vor ihm lagen die Obduktionsprotokolle von Frank und Claudia Gotthardt. Oberbeck war in aufgeräumter Stimmung.

»Ah, Leonie, ich bin gerade dabei, Oberstaatsanwalt Wittke davon zu überzeugen, dass Kallweit sich irrt. Unterstütze mich mal.«

Leonie schüttelte Wittke die Hand, was sie nur sehr ungern tat. Ganz allgemein hatte sie für diese Art der Begrüßung nichts übrig.

»Gern. Ich nehme an, Sie spielen mit dem Gedanken, die Ermittlungen einzustellen, weil es keinen Beweis für Brandstiftung gibt.«

Wittke räusperte sich. »Nun, die Obduktionsergebnisse sind ja leider auch nicht von der erhofften Eindeutigkeit, nicht wahr?«

Seine Stimme war weich und samtig und passte überhaupt nicht zu seiner äußeren Erscheinung.

»Ich habe mir eben noch einmal die Röntgen- und CT-Aufnahmen von Claudia Gotthardt angeschaut. Die Art ihres Genickbruches ist absolut untypisch für einen Sturz, abgesehen davon, dass andere zu erwartende Schädigungen der Weichteile fehlen. Die Halswirbelsäule zeigt eine Torsionsverletzung im Bereich des Axis, also des zweiten Halswirbels. Der Dens axis ist frakturiert. Claudia Gotthardt hat dadurch eine massive Halsmarkquetschung erlitten, was zu einer tödlichen Atemlähmung führt.«

Wittke hatte interessiert zugehört. »Wenn ich Sie recht verstehe, wurde ihr der Hals buchstäblich umgedreht.«

»So ist es«, nickte Leonie. »Wenn ich mal ohne Gewähr herumspinnen darf, dann würde ich vermuten, dass jemand von hinten an sie herangetreten ist und ihren Kopf mit beiden Händen gepackt und ruckartig verdreht hat. So ähnlich, wie es ein Chiropraktiker tut, wenn er die Halswirbelsäule einrenken will. Nur eben gewaltsam und über das Maß hinaus.«

»So weit zu Ihrer Vermutung. Lässt sich das beweisen?«

»Nein«, gab Leonie zu. »Außer Sie akzeptieren den Ausschluss anderer Szenarien als Beweis.«

Wittke wandte sich an Oberbeck. »Und wie sieht es mit dem Ehemann aus? Für die Spuren an den Händen haben Sie ebenfalls eine ungewöhnliche Interpretation, wie ich dem Protokoll entnahm.«

Oberbeck legte die Fingerspitzen aneinander. »Was die Beschmauchung anbelangt, haben wir noch kein Ergebnis vom LKA bekommen. Ob Frau Simons Idee, dass er die Hände in Abwehr erhoben hat, gestützt werden kann, müssen wir abwarten.«

»Eine mäßige Beschmauchung kann aber auch mit der Art der verwendeten Munition Zusammenhängen, habe ich mir sagen lassen. «

»Das ist richtig«, gab der Professor zu. »Deshalb sollten wir erst einmal die Tests abwarten, ehe wir entscheiden, was wir glauben wollen. Was das Fehlen von Schlittenverletzungsspuren und Backspatter anbelangt, kann das ein Hinweis auf Fremdverschulden sein, allerdings nicht mehr als das.«

Leonie schaltete sich wieder ins Gespräch ein. »Was hat Kallweit denn inzwischen über die Waffe herausgefunden? Gehörte sie meinem Kollegen?«

Wittkes Nasenspitze zuckte wie die eines Kaninchens. »Offiziell gehört sie niemandem. Sie ist nicht registriert. Möglicherweise eine alte NVA-Pistole. Makarov PM, die vor 1994 gebaute Version. Nach dem Ende der DDR war es nicht besonders schwierig, an so etwas heranzukommen. Übrigens sind nur Gotthardts Fingerabdrücke auf der Waffe.«

»Und das Motiv?«, begehrte Leonie auf. »Wieso sollte Frank seine Frau umbringen, Feuer legen und dann sich selbst erschießen?«

Flüchtig dachte sie an die Mitteilung auf ihrem Anrufbeantworter. Aber wegen eines läppischen Ehekrachs hätte Frank nicht eine so verzweifelte Tat begangen, davon war sie überzeugt.

»Außerdem gibt es nicht den geringsten Hinweis auf die Ursache des Feuers. Kein schadhaftes elektrisches Gerät, keine umgefallene Kerze, kein Zigarettenstummel im Bett. Also keine Nachlässigkeit, kein Zufall, kein Unfall. Aber auch keine Brandstiftung? Oder hat da ein ganz Oberschlauer alles brav wieder eingesammelt und mitgenommen, was er zum Zündeln gebraucht hat?«

Wittke nickte anerkennend. »An Phantasie mangelt es Ihnen nicht, Frau Simon, wie ich sehe.« Nach einem Moment des Nachdenkens: »Gut, passen Sie auf. Solange die Untersuchungen noch nicht alle abgeschlossen sind, soll Kallweit weiterermitteln. Falls sich dabei Gesichtspunkte ergeben, die die Faktenlage verändern, vielleicht ein Motiv, das wir noch nicht kennen, bin ich bereit, die Akte offenzuhalten, bis ein Täter gefunden ist. Einverstanden?«

»Geh, sei doch froh, dass’d wenigstens das erreicht hast.«

Leonie saß mit ihrem Kollegen Dr. Lottermoser im Kneipen-Restaurant »Luise« an der gleichnamigen Königin-Luise-Straße in Dahlem. Sie hatten sich mit einer Rotweinflasche in eine Ecke verzogen, wo es ein wenig ruhiger war.

»Mm«, brummelte Leonie und starrte geistesabwesend einen jungen Mann an, der ihrem Blick mit einem frechen Grinsen begegnete und seinem Freund etwas zuflüsterte, über das beide lachen mussten. Leonie schüttelte den Kopf und wandte sich ihrem Kollegen zu.

»Das Schlimme ist, ich frage mich, ob Kallweit nicht doch recht haben könnte.«

»Erweiterter Suizid?«

Leonie nickte.

»Schwer zu beantworten. Spontan tät ich nein sagen, aber in die Köpf von die Leut kannst schließlich und endlich nicht hineinschauen, oder?«

Leonie nippte an ihrem Glas und schwieg. Sie dachte an Franks Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter, die sie wider alle Regeln gelöscht hatte.

»Das wird dann auf jeden Fall a bisserl ungemütlich werden bei uns. Als hätt ma nicht schon genug zum tun.«

Leonie wusste, worauf er anspielte. Die Polizei würde im Institut nachforschen wie auch in Franks privatem Umfeld. Sein Leben, seine Arbeit, seine Kontakte würden unters Mikroskop gelegt werden, und am Ende würde womöglich gar nichts dabei herauskommen.

»Du kennst den Kallweit besser als ich. Wie schätzt du ihn ein?«

»Tja«, sagte Lottermoser und zog an seinem rechten Ohrläppchen, eine für ihn typische Geste. »So mancher tat ihn für a bisserl faul halten, aber ich persönlich glaub halt, der is einfach ein Gemütlicher. Überlegt lieber dreimal, anstatt einen Schnellschuss zu tun. Nicht übermäßig kreativ. Mehr so ein Praktischer, wie ma sagt.«

»Du meinst, einer der ein Messer braucht, um einen Mord zu erkennen?«

»Nein, nein. Er is nicht deppert. Verstehst mich nicht falsch, gell, Leonie. Aber ohne eine belastbare Faktenlage fangt der gar nicht an.«