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Er war ein Mann der Widersprüche, ein spiritueller Meister, dessen Wurzeln in den Protestantismus eintauchen und sich von der katholischen und orthodoxen Tradition ernähren. Wie kein anderer verkörpert Frère Roger jenen dringlichen Wunsch nach einem ökumenischen Dialog, der die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts prägte. Aber wer war er eigentlich? In ihrer umfassenden Biografie nähert sich Sabine Laplane der Person Roger Schutz, der als Frère Roger von Taizé weltberühmt wurde. War er ein Prophet? Ein Freund der Armen? Ein charismatisches Vorbild der Jugend? Sabine Laplane ist es gelungen, einen neuen Blick auf diese außergewöhnliche Persönlichkeit zu werfen, von seinen Anfängen in der Schweiz bis zu seinem gewaltsamen Tod 2005. Wer Frère Roger kennenlernen will, muss dieses Buch lesen.
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Seitenzahl: 694
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Sabine Laplane
Frère Roger
Die Biografie
Aus dem Französischen von Kordula Witjes und Judith Blank
Titel der Originalausgabe:
Frère Roger de Taizé
Avec presque rien …
© Les Éditions du Cerf, 2015
www.editionsducerf.fr
24, rue des Tanneries
75013 Paris
Für die deutsche Ausgabe
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2018
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau
ISBN E-Book 978-3-451-80637-7
ISBN Print 978-3-451-34823-5
Impressum
Vorwort
Kapitel I: Aus einem reformierten Pfarrhaus
Eine balzacsche Atmosphäre
Was ich sehe, ist schön
Zurück in Burgund
Wenn sich Priester und Pastoren umarmen
Kapitel II: Eine Kindheit als Pfarrerssohn
Eine patriarchische Familie
Kein Kommentar!
Eine Zeit der Selbsterziehung
Tatendrang
Auf der Suche nach Anerkennung
»Dein Vater ist ein Mystiker«
Sonntag für Sonntag getrennt zum Gottesdienst
Kapitel III: Erwachsenwerden unter puritanischen Vorzeichen
Die Vertreibung aus dem Paradies
Ein Zeugnis katholischen Glaubens
Unter der Eibe
Die Konfirmation
Im Angesicht des Todes
Die Berufung zum Schriftsteller
Zeit der Hoffnungslosigkeit
André Gide
Schweigen prägt die Familie
Ein vorprogrammierter Misserfolg
Kapitel IV: Die Saat geht auf
Das »Zedernhaus« von Lausanne
Ein steter Blick nach Deutschland
Die Studententaufe
Der Widerschein seiner Herrlichkeit
Missverständnisse
Wäre seine Liebe nicht so brennend gewesen
Vielleicht übertreffen wir alles bisher Dagewesene
Ein ökumenisches Jugendkonzil
Zu Tode betrübt
Ein seltsamer Semesterbeginn
Kapitel V: Mutige Entscheidungen
Unsere Berufung als christliche Intellektuelle
Ein Leben in Gemeinschaft
Den Einzelnen zu einer geistlichen Disziplin anleiten
Mit 25 Jahren kampflos aufgeben?
Wie im Märchen
Ohne Mühe entsteht nichts Dauerhaftes
Heute Nacht war ich im Traum in Taizé
Vorbereitungen für die zukünftige Arbeit
Die Inspiration ist vorhanden
Wie sind sie nur auf uns gekommen?
Am Anfang ganz allein
Ein Werkzeug in Gottes Händen
Gemeinsam mit Katholiken
Im Dienst der Reformation
Kapitel VI: Leben in Gemeinschaft – ein Versuchslabor
Ein feindlicher Agent?
Eine Gemeinschaft, die in der Welt lebt
Am Puls der Zeit
Max und Pierre
Trotz der eigenen Schwächen Rat und Weisung geben
Die Gnade einer Gründung
Interkonfessionelle Exerzitien
Mit niemandem brechen
Eine Debatte neu entfacht
Ordination
Sozialer Realismus und christlicher Kommunismus
Kapitel VII: Licht und Schatten
Ein Dorf für Kinder
Der Tisch war gedeckt
Eine Ethik der Inspiration
Ein historischer Moment für die Kirche
»Klugheit«
Klarstellung
Unruhestifter
Evangelische Christen in einer katholischen Kirche
Eine Studienreise nach England
Unser Weg ist der eines klösterlichen und kontemplativen Lebens
Ein Ja für das ganze Leben
Ökumenische Kontakte in Frankreich und den Niederlanden
Die Gefahr, uns beweihräuchern zu lassen
Inkognito in Rom
Rückkehr zu den lebendigen Quellen der frühen Kirche
Kapitel VIII: Worauf es heute ankommt
Wir wären gerne etwas bekannter
Gott, komm mir zu Hilfe; Herr, eile mir zu helfen!
Die Brüder haben in Rom Spuren hinterlassen
Ein düsterer Tag
An sozialen Brennpunkten leben
Einfache Worte, die uns Halt geben
Wie vor einer Wand
Ein Orden für Männer und Frauen?
Pedro und die Großmutter
Taizé bewegt die Welt
Ein sichtbares Zeichen der Einheit
Das Engagement von Laien in der Kirche fördern
Das Versprechen, nicht in den Vatikan zu reisen
Eine Kettenreaktion
Ihr Leben sagt mehr als ihre Worte
Hinter den Kulissen – nur Zweifel und Misstrauen
Wie sollen wir das mit unserem Gewissen vereinbaren?
Kapitel IX: Die Zukunft erahnen
Keine schwierigen Fragen stellen!
Wie kommt es, dass man uns überhaupt zuhört?
Ein Wendepunkt in der Geschichte
Wir werden nicht über die Geschichte zu Gericht sitzen
Alles daransetzen, um auf den Nächsten zuzugehen und ihn kennenzulernen
Am Verhandlungstisch kommen wir nicht weiter
Der »Erfolg von Taizé«
Der Himmel schickt uns eine neue Kirche
Eine schmerzliche Überraschung
Ein Kolloquium von Bischöfen und Pfarrern über die Verkündigung des Glaubens
Einer verzerrten Berichterstattung zuvorkommen
Sie durchkreuzen unsere Pläne!
Im Fokus der Öffentlichkeit
Bis nach Polen
Die Versöhnungskirche
Die Nacht ist vorgerückt, der Tag ist nahe
Bei Patriarch Athenagoras in Konstantinopel
Eine Kirche, die gleichsam unter einem Zelt lebt
Unser kleines Boot ist immer noch in Gefahr
Kapitel X: Dynamik des Vorläufigen
Das »protestantische Bewusstsein« im französischen Protestantismus
Wir werden in Rom dabei sein
Im Herzen der katholischen Familie
Eine loyale und nützliche Rolle
»Ganz einfach evangelisch bleiben«
Solidarität als neue Dimension der Ökumene
Ein heller Stern zieht voran
Der dritte Verlust in meinem Leben
Eine kleine Klosterstadt
Ökumenische Gespräche und Zeichen
Entwickelt sich die Ökumene rückläufig?
Eine franziskanische Fraternität in Taizé
Eine Taizé-Anthropologie
Wie eine Flut
Wenn die Christenheit in Lateinamerika unterginge
Ein Bruch zwischen den Generationen
Aggiornamento
Keine Privilegien!
Kapitel XI: Karsamstag
Vom Dialog mit Gott zum Miteinander der Menschen
Größere Aufgaben in der Kirche
Taizé wird immer wichtiger für die Katholizität
Eine gemeinsame Schöpfung
Ein internationales Jugendtreffen
Die Ökumene, eine neue Ideologie?
Eine Ansammlung persönlicher Schwächen
Eine revolutionäre Haltung
Ja, es tut weh!
Einen ungeheuren Kampf bestehen
Die Nacht des Glaubens
Die ungewisse Zukunft der Christen
Auf den Protest eingehen
Spannungen und Wandel
Wachstumsschmerzen
Konkrete Gesten ebnen den Weg
Kapitel XII: Einer neuen Schöpfung entgegengehen
Sich den Katholiken öffnen
Hoffnung – eine Herausforderung
In Sotto il Monte
Ein Abenteuer des Glaubens
Der Wein und das gebrochene Brot – eine andere Lösung gibt es nicht
Ein Konzil der Jugend
Wir schauen nach Taizé
In aller Stille
Eine Zeltkirche
Ein universaler Hirte
Beim Namen gerufen
Als Pilger unterwegs
Ein ungewöhnliches Post-Skriptum
Eine doppelte Kirchenzugehörigkeit?
Die Gefahr paralleler Wege
Durch den Nebel hindurch
Fantasie und Mut
Auf dem Weg zu einem eucharistischen Glauben?
»Apostolische« Reisen
Ich liebe das Leben!
Verhindern, was nicht wiedergutzumachen wäre
Vor der Glaubenskongregation
Der beschwerliche Weg der Heiligkeit
Aufbruch ins Ungeahnte
Eine kontroverse Persönlichkeit
Jubilate Deo!
In einem »konziliaren Zustand« leben
Innere Zerrissenheit
Der beschwerliche Weg der Versöhnung
Eine neue Etappe
Unsichtbare Sterbehäuser
Die Berufung zur Universalität
Kapitel XIII: Taizé in Rom – Rom in Taizé
Besuchen Sie mich bald wieder!
Ferment der Versöhnung
Kommen Sie nach Rom!
An der Schwelle zum neuen Jahrtausend
Ein neuer Mittelpunkt
Eine mystische Sicht der Kirche
Ein geistlicher Gewaltstreich
Dann werde ich mit Ihnen schweigen
Ein weltweiter Pilgerweg der Versöhnung
Gott verurteilt uns nicht zum Stillstand
Die Anerkennung eines universalen Hirtenamtes
Der Papst in Taizé
Kapitel XIV: Von Neubeginn zu Neubeginn
Du hast mir den Weg gezeigt
Wie an einer Quelle
Ein Feuer, das in ihm brennt
Die Erde bewohnbar machen
Die Quellen des Vertrauens
Die Zukunft der Menschheitsfamilie
Ich kenne deine Bedrängnis und deine Armut …
Macht euch bewusst, was alles möglich ist!
Im Rampenlicht
Confitemini Domino
Kontinuität
Anhang
Abkürzungen in den Fußnoten
Abkürzungen im Text
Die Familie von Frère Roger
Die Schriften von Frère Roger
Bildnachweise
Dank der Autorin
Über die Autorin
Allein mit der Hingabe unseres Lebens,
mit fast gar nichts anderem,
erwartet der auferstandene Christus,
dass das Feuer und der Heilige Geist
in uns spürbar werden.
Frère Roger, 19951
1 Frère Roger, En tout la paix du cœur, 2002; siehe darin den Gedanken zum 22. Januar.
Der Sommer 1970 ist mir noch immer unvergessen. Frère Roger, damals 55 Jahre alt, sitzt in seinem weißen Gebetsgewand auf einem Hocker in der Versöhnungskirche von Taizé, wie ein Fels in der Brandung unter den vielen jungen Menschen um ihn herum auf dem Boden. Einen solchen Anblick würde man eher bei einer Studentenversammlung erwarten als in einer Kirche. Frère Roger spricht mit leiser Stimme in das Mikrofon in seiner Hand. Er ermutigt uns, klare Entscheidungen zu treffen, Christus in der Kirche nachzufolgen und unser Leben dafür einzusetzen, dass »der Mensch nicht länger Opfer des Menschen sei«.
Nach einem Freiwilligenjahr in Taizé und meinem Eintritt in eine Ordensgemeinschaft bin ich immer wieder an diesen Ort zurückgekehrt. Im Laufe der Jahre hatte ich mich an die Art gewöhnt, wie Frère Roger sprach: oft undeutlich und vielsagend, und dann wieder verblüffend klar. Meistens konnte man nur erahnen, was er sagen wollte. Er erzählte von Menschen, die er bewunderte – Glaubende wie Nichtglaubende –, von leidvollen Situationen in seinem Leben, von dem, was einer seiner Brüder gerade entdeckt hatte, oder von seinem letzten Gespräch mit »dem geliebten Papst Johannes XXIII.«; er sprach auch von seiner Liebe zu Russland oder über geistliche Texte von Kardinal Martini, den er mit Begeisterung las …
Obwohl er von seinen Eltern eine gewisse Zurückhaltung geerbt hatte und aus einem Umfeld stammte, in dem man nicht über sich selbst sprach, war Frère Roger zutiefst davon überzeugt, dass seine Erfahrungen anderen weiterhelfen können.1
So weit man in seinen Schriften auch zurückgeht, immer wieder finden sich Spuren seines Lebens und Hinweise auf Begegnungen, die ihn geprägt haben. Diese autobiografischen Bezüge sind wie musikalische Motive, die bis zuletzt immer wieder auftauchen, jeweils neu arrangiert und im Laufe der Jahre immer schlichter formuliert werden. Sie finden sich in seinen wöchentlichen Ansprachen abends in der Versöhnungskirche und auch in seinen Tagebüchern wieder – einzelne, scheinbar zusammenhanglos aneinandergereihte Begebenheiten.
Nach dem Tod des Gründers der Communauté von Taizé im Jahr 2005 haben sich Historiker wie der Franzose Yves Chiron2 und die Italienerin Silvia Scatena3 mit der Aufzeichnung seines Lebens befasst. Nie werde ich vergessen, wie Frère Roger in den 1980er-Jahren mehrmals zu mir sagte: »Man sollte das aufschreiben!«
Der einhundertste Geburtstag von Frère Roger liegt nun hinter uns. Dies ist ein Anlass, andere Menschen an dem teilhaben zu lassen, was ich selbst vom »inneren Abenteuer« Frère Rogers verstanden habe.4 Mit der vorliegenden Biografie möchte ich den geistlichen Lebensweg Frère Rogers nachzeichnen. Mit Unterstützung der Communauté sowie anhand verschiedener Berichte und bislang unveröffentlichter Dokumente wird sein familiärer Hintergrund beleuchtet, seine Jugend und die schrittweise Entdeckung seiner Berufung, innerhalb der reformierten Kirche eine monastisch geprägte Gemeinschaft von Brüdern zu gründen, die schon bald eine ökumenische Dimension annimmt und deren Mitglieder heute an verschiedenen Orten auf der ganzen Welt leben.
All dies ging mit inneren Kämpfen einher: die eine Kirche zu erneuern, die im Dienst an der Gemeinschaft aller Menschen steht, so verschieden sie voneinander auch sein mögen – eine Kirche, die auf die Kleinsten und Schwächsten achtet, die sich für Gerechtigkeit einsetzt und Zeugnis ablegt für das unendliche Erbarmen Gottes. Frère Roger wird ein Konzil der Jugend einberufen und einen Pilgerweg des Vertrauens auf der Erde initiieren … Sein Lebensweg stellt uns heute noch die Frage: »Wirst du mit deinem ›Nahezu-Nichts‹ Versöhnung stiften in der Kirche, diesem Geheimnis der Gemeinschaft?«5
1 Siehe den einleitenden Kommentar zu den Tagebuchauszügen in: À la joie je t’invite, 2012, S. 28; deutsche Ausgabe in Vorbereitung.
2 Yves Chiron, Frère Roger, le fondateur de Taizé, 2008; dt. Frère Roger – Gründer von Taizé: eine Biografie, 2009.
3 Silvia Scatena, Taizé, Le origini della comunità e l’attesa del concilio, LIT, Zürich–Berlin, 2011; und: Silvia Scatena, Anni di concilio a Taizé. in: Cristianesimo nella Storia, Nr. 34 (2013), S. 315-390.
4 Bereits erschienen: Sabine Laplane, Prier 15 jours avec frère Roger de Taizé, 2008; dt. Frère Roger – Taizé: Ein Weg des Vertrauens, 2010.
5 Frère Roger, Les Sources de Taizé, in: Les écrits fondateurs, 2011, S. 36; dt. Die Grundlagen der Communauté von Taizé, 2016, S. 35.
Das Wesentliche geschieht in unserem Herzen.
Frère Roger, 19811
Im Alter von 20 Jahren weiß der junge Roger Schutz, was er werden will: Schriftsteller und Bauer.2 Adèle Rosset, eine Großtante, deren Geschichten ihn als kleines Kind begeistert hatten, weckt in ihm schon früh den Wunsch zu schreiben. Von Bekannten wird die Tante als schwatzhaft bezeichnet, aber sie nimmt den kleinen Nachzügler ernst. Die Großen vergessen ihn gerne, denn er ist der letzte Junge nach einer langen Reihe von Mädchen und hat nur einen wesentlich älteren Bruder, Charles. Tante Adèle hingegen gibt seiner Vorstellungskraft Nahrung und holt ihn aus seiner Einsamkeit heraus. So eröffnen sich ihm neue Horizonte zwischen Fiktion und Geschichte, wodurch er sich mit den grundlegenden Gegebenheiten der menschlichen Seele und deren Unwägbarkeiten vertraut macht.
Tante Adèle bringt aus Paris den Duft der großen weiten Welt in das kleine Schweizer Dorf Provence. Sobald der kleine Roger seine Aufgaben erledigt hat, machen es sich die beiden im hinteren Teil des Gartens gemütlich. Dort, neben dem Rosenbeet, weit weg vom Haus, breitet sich vor ihnen die Landschaft aus, mit einem wunderbaren Blick über den See von Neuchâtel und an schönen Frühlingstagen bis zu den schneebedeckten Gipfeln der Alpen. So entsteht ein intensiver Austausch zwischen Roger und seiner Großtante. Sie erzählt ihm aus der Chronik der Familie, ohne das geringste Detail im Leben der Hauptpersonen zu übergehen. Sie zeichnet das Porträt einer Familie, die mit ihren weitreichenden Verzweigungen und ihren Schicksalswendungen sehr vielschichtig und schwer zu fassen ist. Aber sie erzählt nicht nur alte Anekdoten, sondern stellt auch den historischen Zusammenhang her. Wie alle Kinder hört der junge Roger gerne immer wieder dieselben Geschichten. Ob es ihm bewusst war oder nicht, die so verschiedenen Biografien und Milieus, die sich in seiner Familie in Frankreich und der Schweiz begegnen, werden sein weiteres Leben bereichern. Aus diesem Gemälde treten einige äußerst originelle Persönlichkeiten und Ereignisse hervor, die das Leben des Gründers der Communauté von Taizé auf besondere Weise prägen, andere werden hingegen ausgeblendet.
Als Erwachsener verspürt Frère Roger eines Tages das Bedürfnis, in den kleinen Ort Bachs nahe der deutsch-schweizerischen Grenze im Kanton Zürich zu fahren, um das bescheidene Haus der Familie Schütz zu besuchen, die im 17. Jahrhundert aus Deutschland in die Schweiz übersiedelt war. Roger hat seinen Großvater väterlicherseits, Hans-Ulrich Schütz (1831–1915), nicht mehr gekannt, doch Tante Adèle hat ihm von dessen Güte und Großzügigkeit erzählt. Im Alter von 18 Jahren, im Jahr 1849, verlässt dieser junge Mann sein Dorf und beginnt in Neuchâtel ein Jurastudium. Dort arbeitet er auch als Notargehilfe. Da er sich jedoch »aufgrund seiner Rechtschaffenheit«3, so die Tante, weder für eine juristische Laufbahn noch für den Anwaltsberuf geeignet fühlt, eröffnet er den vornehmen Bazar Schütz & Schinz, der schon bald floriert und aus dem später das renommierte Warenhaus Armourins wurde. Seine Geschäftsreisen führen ihn durch ganz Europa. Er spezialisiert sich auf sächsisches Porzellan und verwandelt das Erdgeschoss seines Hauses in der Rue de la Serre von Neuchâtel in eine Kunstgalerie.
Großeltern Schütz
Dieser Vorfahre Rogers ist fast 40 Jahre alt und hat 40 »arme Patenkinder«, als er Cécile-Eugénie Rosset, die Schwester eines Freundes, heiratet, die 15 Jahre jünger ist als er und aus einer angesehenen Familie mit hugenottischen Wurzeln stammt. Möglicherweise kommt daher Rogers Überzeugung, er habe väterlicherseits französisches Blut in den Adern. Aus dieser Ehe gehen drei Kinder hervor, zwei Mädchen und ein Junge, Charles (1877–1946), Rogers Vater. Im Gegensatz zu ihrem Mann, einem gläubigen Christen mit einem festen Platz in der Kollegiatskirche von Neuchâtel, steht seine Frau der Philosophie Voltaires nahe. Sie respektiert die Überzeugungen ihres Mannes, behält ihre eigenen jedoch bei und begleitet ihn sonntags nicht in die Kirche.
Schon bald nimmt das Paar den Vater von Cécile-Eugénie und ihre zwei unverheirateten Geschwister, Mary und Charles, bei sich auf. Monsieur Rosset, der Vater von Cécile-Eugénie, hat das Vermögen der Familie durch Fehlinvestitionen beim Bau der Eisenbahnlinie von Bern nach Lausanne verloren, und seine Frau hat sich von ihrem Kummer nicht mehr erholt. Stillschweigend übernimmt die ältere der beiden Rosset-Schwestern, Mary, im Hause Schütz die Leitung des Haushalts und den Vorsitz bei Tisch. Sie gibt dem Paar durch ständige Sticheleien deutlich zu verstehen, dass sie ihre Ehe missbilligt, obwohl die beiden eigentlich ihre Gastgeber sind. Das Ehepaar Schütz erträgt die Demütigungen klaglos, aber ihr Sohn Charles – Rogers Vater – leidet sehr darunter. Insgeheim nimmt Charles seiner Mutter deren passives Verhalten übel und hegt zeit seines Lebens eine gewisse Bitterkeit gegen den mütterlichen Zweig der Familie und dessen Selbstgefälligkeit. Er selbst wird immer ein einfaches Leben und den Kontakt zu den Ärmsten der Armen suchen.
Dessen ungeachtet steht das Haus allen offen, auch der Großtante Adèle, die plötzlich mit ihren drei Kindern in Paris von Gerichtsvollziehern bedrängt wird, nachdem sich ihr verschwenderischer Ehemann an der Börse ruiniert und sich, ohne eine Adresse zu hinterlassen, aus dem Staub gemacht hat. Sie verlässt ihr Palais in der Nähe der Champs-Élysées. Ihr Schwager hilft ihr, die Angelegenheiten in Paris zu regeln, und lädt sie nach Neuchâtel ein. Doch alte Liebe rostet nicht, und eines schönen Tages kehrt ihr Mann mit prall gefülltem Geldbeutel aus Indien zurück, nimmt sein früheres Leben in Paris wieder auf, verschleudert erneut alles Hab und Gut und stirbt.
Schon lange bevor er mit der Literatur in Berührung kommt, versteht der kleine Roger seinen Vater auf intuitive Weise. Manchmal erzählt er später trotz seiner sonst eher zurückhaltenden Art von der balzacschen Atmosphäre seiner Kindheit und erinnert sich an die traurigen Erzählungen seiner Großmutter in Neuchâtel: »Zum ersten Mal war ich in den Ferien von zu Hause fort und hatte mich so auf meine Großmutter väterlicherseits gefreut. Ich hörte ihr stundenlang zu. Ganz in Schwarz gekleidet saß sie stocksteif und aufrecht da und sprach über das unendliche Leid ihrer Kindheit. Ihre Mutter hatte sich drei Wochen lang die Augen über das harte Los der Familie ausgeweint und starb. Schon nach wenigen Tagen überkam mich Langeweile. Ich wollte wieder nach Hause, zu meinen Bäumen.«4 Damals lebt die unverheiratete Tante Cécile Schütz bei ihrer Mutter in Neuchâtel und hat es sich zur Aufgabe gemacht, ihrem Neffen Manieren beizubringen. Diese indirekte Kritik an seinen Eltern macht dem jungen Roger schwer zu schaffen.
Die Zeit in Neuchâtel vermittelt Roger die unvergessliche Erfahrung, dass er in eine großzügige Familie hineingeboren worden ist, in der wahre Solidarität gelebt wird. Gleichzeitig stört ihn schon damals, welche Rolle das Geld in den Gesprächen der Erwachsenen spielt. Doch die unerschütterliche Güte seines gedemütigten Großvaters wird er nie vergessen.
Wenn die Tante aus Paris zu Besuch ist, treten jedes Mal neue Persönlichkeiten aus dem Schatten hervor. Tante Adèle kennt nämlich auch den mütterlichen Zweig der Familie recht gut. Da gibt es zuallererst den Urgroßvater Delachaux, genannt Gay, aus der kleinen Stadt Le Locle im Kanton Neuchâtel. Als Uhrmacher lebt er auf seinen Geschäftsreisen sein Fernweh aus. Mit seiner Person verbinden sich Überfahrten nach Amerika, ein Geschäft in Boston … lauter magische Worte, die Rogers Fantasie beflügeln und ihn träumen lassen. 1971, auf seiner ersten Reise in die Vereinigten Staaten, muss Roger daran zurückdenken: »Mit dem Flugzeug von Paris nach New York … ein Kindheitstraum. Habe ich nicht die letzten Tage vor Freude getanzt beim Gedanken an die Überquerung des Atlantiks? Amerika, das habe ich mir immer gewünscht – die Geschichten meines Urgroßvaters. Seitdem fühle ich eine Sehnsucht nach unendlichen Weiten, nach einem Land ohne Grenzen.«5
Die Frau des Urgroßvaters Delachaux, die geborene Elsässerin Olympe Kullmann (1833–1907), ist noch jung, als ihr Mann und zwei ihrer Söhne an Tuberkulose sterben. Kurz vor ihrem Tod wird sie von einem ihrer Enkel gefragt: »Sie haben so vieles durchgemacht im Leben, würden Sie mir, der ich nicht an Gott glauben kann, etwas mit auf den Weg geben?« Was sollte sie, selbst wenn sie die Kraft hätte, auf diese Frage antworten? Als der junge Mann acht Tage später an ihr Sterbebett zurückkehrt, flüstert sie ihm mit letzter Kraft zu: »Was ich sehe, ist schön!«6 Diese Geschichte seiner Urgroßmutter hat Roger sehr beeindruckt. Auch viele Jahre später erzählt er davon und zeigt dabei auf das Foto, das er von ihr aufbewahrt.
Ihre Tochter Marie-Louise Delachaux, (1857–1921), verheiratet mit Louis Hippolyte Marsauche (1846–1912), ist Rogers Großmutter mütterlicherseits. Nach dem Tod ihres Mannes, der Pfarrer in Nordfrankreich war, zeigt sich die starke Persönlichkeit dieser Frau. Auf der Karte, mit der sie ihre Tochter Amélie vom Tod des Vaters in Kenntnis setzt, schreibt sie unter Tränen: »Der liebe Vater liegt in einem schönen Sarg in der Kirche, in seiner Kirche. Gestern Abend waren wir dort, um ihm die Lieder zu singen, die er so liebte.«7 Sie wohnt weiterhin im Pfarrhaus von Saint-Just, deren neuer Pfarrer ihr eigener Sohn, Louis Marsauche, wird, und übernimmt nach der Mobilmachung im August 1914 selbst die Predigten in Saint-Just. Als die Front näher rückt, nimmt sie Verwundete und schwangere Frauen bei sich auf. Doch schließlich muss sie selbst fliehen, geht nach Paris, von dort nach Mussidan im Périgord, in Südfrankreich, und zieht nach Kriegsende zu ihrer Tochter Amélie nach Provence, einem kleinen Dorf im Schweizer Kanton Waadt, wo Charles Schütz damals Pfarrer ist.
Großeltern Marsauche
In der Familie Schütz genießt Marie-Louise einen legendären Ruf und ihr Schwiegersohn, Rogers Vater, überschüttet sie mit Lobeshymnen. »In meiner Kindheit war diese Frau für mich der Inbegriff weiblicher Intelligenz. Oft sah ich in meiner Fantasie eine weite Landschaft mit hohen Bäumen, vom Abendlicht durchflutet, und unter ihrem Blätterdach saßen meine Großmutter und meine Mutter. Ihnen verdanke ich meine Vorliebe für große Landhäuser.«8
Roger ist vier Jahre alt, als diese heldenhafte Großmutter seine Welt betritt. Das ganze Haus ist auf ihre Ankunft vorbereitet und erwartet diesen ganz besonderen Gast. Laut Passierschein ist sie über das Elsass gereist. Dort leben die Kullmanns, die Familie ihrer Mutter. Ende November 1919 liegt schon viel Schnee. Nach Sonnenuntergang tauchen in der Ferne die Karbidscheinwerfer eines Autos auf, das vor dem Haus hält. Die Wagentür öffnet sich, und eine alte Dame mit leichenblassem Gesicht steigt aus, ganz in Schwarz gekleidet. Sie begrüßt jeden Einzelnen. Sie ist nicht sehr groß, im Passierschein steht 1,59 m, aber mit ihrem Witwenhut à la Caterina de’ Medici und dem langen schwarzen Schleier, der ihr bis auf die Schultern fällt, ist sie eine beeindruckende Erscheinung. Das Bild prägt sich Roger tief ein.
Als Madame Marsauche das Haus betritt, fällt sie in Ohnmacht. Sie ist zu erschöpft. Keine zwei Jahre später wird sie an Krebs sterben. In eine rote Decke gewickelt, legt man sie an jenem Abend auf ein Bett, das später der kleine Roger bekommt – angeblich habe er darauf bestanden. Viele Jahre schläft er darin und nimmt es später sogar mit nach Taizé. Eines Tages schenkt er es dann seinem Patenkind Marie-Sonaly, zusammen mit einer roten Decke … Es ist mehr als ein sentimentales Erinnerungsstück, es ist eine greifbare Verbindung, ein Ausdruck seines Wunsches nach Kontinuität. Dieser erste Kontakt zwischen Großmutter und Enkel prägt sich ihm tief ein. Es sind Eindrücke für das Leben, ohne dass Worte fallen. Zum ersten Mal sieht Roger den Tod nahen und ein Leben seinem Ende entgegengehen. In den Augen des Kindes verstärkt der Tod seiner Großmutter seine Bewunderung für sie und seine Faszination für das Geheimnis, das sie umgibt.
Großmutter Marsauche – mütterlicherseits – wird von Frère Roger gerne als eine Frau »aus altem protestantischen Haus« beschrieben, wahrscheinlich im Kontrast zu ihrem Mann, Rogers Großvater Louis Marsauche, der aus einer katholischen Familie in Burgund stammt. Dessen Vater war Wagenbauer und hatte in Alès, in Südfrankreich, eine Werkstatt. Der junge Louis kehrt nach Burgund zurück und tritt 1866 ins Priesterseminar von Sens im nördlichen Burgund ein. Als Seminarist und Subdiakon9 wird er im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 nicht eingezogen. Doch er kann sich mit der Unfehlbarkeit des Papstes, die am 18. Juli 1870 im Zuge des Ersten Vatikanischen Konzils zum Dogma erhoben wird, nicht abfinden. Er bricht mit Rom und tritt in der Schweiz zur Altkatholischen Kirche über. Dies alles geschieht in der Zeit des Kulturkampfs, der über die deutschen Grenzen hinaus bis in die Schweiz hinein ausgetragen wird.
Nach zwei Jahren als Vikar in Noirmont, im Schweizer Jura, wird er 1876 in Bonn durch den ersten altkatholischen Bischof zum Priester geweiht und liest seine erste Messe in Bienne, wo er auch seine erste Pfarrstelle antritt. Da die altkatholische Kirche ihren Priestern kein Zölibat auferlegt, heiratet Louis Marsauche 1878 in Saint-Imier die evangelische Marie-Louise Delachaux. Zur selben Zeit bittet er die Kirchenoberen um ein Exeat, um von Bern nach Genf wechseln zu dürfen: »Ich weiß«, so schreibt er, »dass ich dort bei den Eltern von Madame Marsauche Unterstützung für unsere Sache und für uns persönlich erwarten kann; sie sind einflussreiche Mitglieder des Genfer Kantonatsrats und unserer Sache wohlgesonnen.«10 Doch vergeblich.
So verlässt er schließlich die altkatholische Kirche, in der es ihm zu eng wird, hin- und hergerissen »zwischen dem römischen Ultramontanismus und dem evangelikalen Protestantismus«11, und tritt 1880 zur reformierten Kirche über. Um weiterhin als Priester arbeiten zu können, muss er zurück in den Hörsaal der Theologischen Fakultät, bevor er 1882 in der Kollegiatskirche von Neuchâtel ordiniert wird. Danach übt er sein Amt 13 Jahre lang in der Landeskirche in Peseux, in der Nähe von Neuchâtel, aus.
Während seiner Zeit als Vikar in Noirmont hat Louis Marsauche starke Bande zu den Freimaurern geknüpft. Da er vor 1892 aufgenommen wurde, gehört er vermutlich der Loge Bonne Harmonie in Neuchâtel an. Diese Mitgliedschaft ist angeblich auch der Grund, warum seine Tochter Amélie, Rogers Mutter, nie über ihn und seine Nachkommen gesprochen hat. Frère Roger scheint bis ins hohe Alter nicht an diesen Familiengeheimnissen zu rühren.
Mehrfach versucht Pfarrer Marsauche, sich nun wieder nach Bern versetzen zu lassen. Er interessiert sich sehr für die Politik, und die Landeshauptstadt stellt eine Drehscheibe der internationalen Politik dar. Seine zahlreichen Zeitungsartikel und Publikationen zeigen sein Interesse an Fragen zur nationalen und internationalen Wirtschaft, zum Arbeitsrecht und zur sozialen Gerechtigkeit. Vor allem aber fungiert er als Schweizer Korrespondent für die französische Gewerkschaftszeitung Le Moniteur. Er ist zum einen ein großer Idealist, aber auch Vorkämpfer einer Art betrieblichen Mitbestimmung, und setzt sich für einen Dialog zwischen Arbeitern und Arbeitgebern ein. Obwohl er hoch hinaus will, vergisst er nie die Wagnerwerkstatt seines Vaters und aus welch bescheidenen Verhältnissen er stammt: »Wenn man das Leben der Arbeiter kennengelernt hat, zu denen ich auch die Inhaber solch kleiner Gewerbebetriebe zähle, kann man für sie nur große Sympathie empfinden.«12
Louis Marsauche bewundert den Schweizer Föderalismus und stellt ihn 1891 der französischen Öffentlichkeit in dem Artikel Die Schweizer Konföderation nach ihrer Konstitution oder Studie zur sozialen Ökonomie und Politik13 vor. Außerdem nimmt er als militanter Pazifist an vielen Kongressen teil, ohne dabei weder seine seelsorglichen Pflichten noch sein kirchliches Amt zu vernachlässigen. Nebenbei unterrichtet er ab 1892 auch an der Theologischen Fakultät von Neuchâtel, die ihn 1894 als Professor aufnimmt. Aber im Januar 1895 lässt er sich von der Synode in Neuchâtel freistellen und verlässt die Universität. Er geht nach Paris, anscheinend ohne zu wissen, was er dort tun wird. Damals ist er 49 und seine Tochter Amélie ist 15 Jahre alt. Nach einer Tätigkeit als Seelsorger im Gefängnis La Petite Roquette wird er 1898 von der Société Centrale d’Évangélisation nach Saint-Just-en-Chaussée, 80 Kilometer nördlich von Paris, geschickt, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 1912 bleibt.
Er kommt also weder nach Bern noch nach Genf. Vielleicht hat er begriffen, dass er in der Politik keine große Rolle spielen würde. Es ist gut möglich, dass sein Ortswechsel nach Frankreich mit einem neuen Missionseifer zusammenhängt und mit dem Wunsch, das bequeme Leben in der Schweiz aufzugeben. Möglich ist auch, dass es der Wunsch seiner betagten Eltern ist, die er dort bei sich aufnimmt. Sein Vater stirbt 1898 in Paris und seine Mutter 1912 in Saint-Just.
Bei seiner Ankunft in Paris schreibt Louis Marsauche sich an der Freien Evangelisch-Theologischen Fakultät zur Promotion ein. Doch treibt er weder sein Studium noch seine journalistische Tätigkeit voran. Im September 1895 hatten auf dem Kongress von Limoges marxistische Ideologen die Führung übernommen und die Gewerkschaft Confédération Générale du Travail (C.G.T.) gegründet. Louis Marsauche, der sich stets für den Dialog und gegen Revolution oder Klassenkampf ausgesprochen hat, veröffentlicht daraufhin im August 1897 in der Zeitschrift Le Moniteur14 einen letzten enttäuschten Artikel mit dem Titel Ohnmacht. Dieses Ereignis scheint ihn veranlasst zu haben, nicht weiter mit der Feder für die großen Anliegen der Zeit zu kämpfen.
Ab diesem Zeitpunkt beschließt er, sich verstärkt mit der Geschichte der Reformation in seiner Gegend zu befassen, und veröffentlicht 1902 die Ergebnisse seiner Studien.15 In einer Zeit der sich anbahnenden Trennung von Staat und Kirche macht Louis Marsauche aus seinem besagten Büchlein eine Anklageschrift, die mit der katholischen Kirche hart ins Gericht geht. Aber er erwähnt auch die Anfeindungen, denen diese damals ausgesetzt ist, und verlässt das Feld der Geschichtsschreibung, um seinem Schlussabsatz einige prophetische Akzente zu verleihen: »Vielleicht wendet sich die katholische Kirche in ihrer Verzweiflung oder angesichts einer Gesellschaft ohne Glauben ihrem einstigen Opfer, der evangelischen Kirche, zu, die ihre Kraft und die Lauterkeit ihrer Wege und ihres Strebens unter Beweis gestellt hat. Dann werden die Kirche der Vergangenheit und die Kirche der Zukunft, Priester und Pastoren, einander umarmen und die geläuterte Kirche ihrer wahren Bestimmung zuführen.« Im Großen und Ganzen beschreibt sein Werdegang ein Modell für die kirchliche Entwicklung und gibt die Richtung vor …
Was genau weiß Frère Roger über seinen Großvater, diesen ehemaligen katholischen Seminaristen, der erst altkatholischer und dann evangelischer Pfarrer sowie Mitglied einer Freimaurerloge war, ein großes soziales und pazifistisches Engagement bewies und sogar ein Freund des ersten Friedensnobelpreisträgers Frédéric Passy16 war? Hat er einige seiner Artikel mit oft so vielsagenden Titeln gelesen wie zum Beispiel Arbeiterkreise, Der Lohn und die Arbeitslosigkeit, Weihnachtsgrüße an die Herren Wirtschaftsbosse und Das internationale Arbeitsrecht oder seine Lobeshymnen auf das politische System seiner Wahlheimat, der Schweiz? Hat vielleicht Tante Adèle diese besondere Persönlichkeit erwähnt, die sie selbst in Paris und in Neuchâtel kennen und schätzen gelernt hatte? Kaum vorstellbar, dass ein Kind oder ein Heranwachsender nicht versucht haben könnte, mehr darüber zu erfahren!
In Taizé fällt Frère Roger Jahre später, als er mit einem Bruder der Communauté alte Unterlagen aussortiert, ein Ausweis seines Großvaters in die Hände, auf dem als Beruf altkatholischer Priester steht. Er fragt noch: »Zerreißen?«, hat aber sein Vorhaben bereits in die Tat umgesetzt. Frère Roger hatte ähnliche Fragen wie sein Großvater und erhoffte ebenfalls eine Umkehr der Kirche, aber nicht nur der katholischen, sondern auch der reformierten und orthodoxen Kirchen. Der Weg seines Großvaters, der von der einen zur anderen Kirche übergetreten war, wird nie der seine sein. Aber das gütige Gesicht hat Frère Roger – genauso wie seine Mutter – von seinem Großvater geerbt und ebenso den brennenden Wunsch nach der Versöhnung der Kirchen, verbunden mit einem großen sozialen Engagement.
Auf seiner Suche, die Dinge immer einfacher auszudrücken und zum Wesentlichen vorzudringen, kommt Frère Roger im Laufe der Jahre zunehmend zu seinen Ursprüngen zurück: Der Glaube seiner Urgroßmutter Delachaux-Kullmann, der Mut und die Heiterkeit seiner Großmutter Marsauche-Delachaux sowie die Gastfreundschaft seines Großvaters Schütz sind für ihn Orientierungspunkte, die von einer starken Verbundenheit mit der eigenen Familie zeugen – eine Verbundenheit, die bewusst gepflegt wird. Als Mann der Kirche verleiht er in seinem späteren Leben diesen Gestalten eine große Bedeutung. Es ist, als ob er seine Familie für alle öffnen möchte, damit jeder für sich eine Großmutter Courage oder einen gütigen Großvater entdecken kann.
1 Am 9. September 1981 zu Jugendlichen in der slowenischen Zisterzienserabtei Stična.
2 Frère Roger, Fleurissent les déserts du cœur, 1982, S. 41; dt. Blühen wird deine Wüste, 1984, S. 38.
3 Mündlicher Bericht, 1974.
4 Frère Roger, Vivre l’inespéré, 1976, S. 138f; dt. Aufbruch ins Ungeahnte, 1977, S. 111.
5 Frère Roger, Lutte et Contemplation, 1973, S. 100f; dt. Kampf und Kontemplation, 1974, S. 74.
6 Frère Roger, Pressens-tu un bonheur?, 2005, S. 85; dt. Eine Ahnung von Glück, 2006, S. 63.
7 Marie-Louise Marsauche an das Ehepaar Schutz, 24. November 1912, DPD.
8 [Siehe Anm. 5, S. 38); deutsche Ausgabe: S. 30.
9 In der katholischen Kirche ist mit der Subdiakonatsweihe das Zölibatsversprechen verbunden.
10 Louise Marsauche an E. Michaud, 25. Juni 1878, in: Fabien Gaulue, Louis Marsauche. 1846–1912. Ein Reformist im öffentlichen Raum, Forschungsarbeit, 2007, S. 21.
11 Nachruf, in: Agenda pastoral des Églises Protestantes de Suisse, Basel, 1914, zitiert von: Yves Chiron, Frère Roger, le fondateur de Taizé, Paris, 2008, S. 16; dt. Frère Roger – Gründer von Taizé, 2009, S. 23.
12 Le Moniteur des syndicats ouvrières de France, Journal républicain socialiste, 10. Juli 1887, Nr. 234, S. 1, in: F. Gaulué, (s. Anm. 10, S. 4).
13 Louis Marsauche, La confédération helvétique d’après sa constitution ou étude d’économie sociale et politique. Neuchâtel, 1890.
14 Le Moniteur, 14. August1897, in: F. Gaulué, (s. Anm. 10, S. 3–4).
15 Louis Marsauche, L’Histoire de la Reformation à Montdidier, 1547–1760 (Die Geschichte der Reformation in Montdidier, 1547–1760), Argenteuil, 1902.
16 Frédéric Passy (1822–1912): antiklerikaler französischer Hochschullehrer und Politiker mit katholischen Wurzeln, der zur reformierten Kirche übergetreten war. Als überzeugter Pazifist zeigt er, ähnlich wie Louis-Hippolyte Marsauche, ein großes Interesse für soziale Fragen. 1901 erhält er zusammen mit Henri Dunant, dem Gründer des Roten Kreuzes, den Friedensnobelpreis.
Von Christus das Unergründliche ergründen lassen heißt,
immer wieder zum Geist des Kindseins zurückzukehren.
Das ist kein Hindernis zum Erwachsen-Werden;
das bedeutet auch nicht, kindisch zu sein, sondern so zu sein,
wie man ist, ohne sich geschickt zu verstellen.
Nichts untergräbt so sehr eine Gemeinschaft und
nichts zerstört so sehr die Integrität einer Person
wie das Tragen von Masken.
Frère Roger, 19681
Wenn Frère Roger aus seinem Leben erzählt, dann lassen seine Mimik und seine Gestik, seine lautmalerische Ausdrucksweise und seine Freude an bestimmten Geschichten erahnen, wie gut er sich in die Welt eines Kindes hineinversetzen kann. Vielleicht liegt es daran, dass er seine eigene Kindheit als eine sehr glückliche Zeit in Erinnerung hat: »Jedes Mal, wenn ich vor vielen Menschen sprechen muss und mir vor Schüchternheit fast die Worte fehlen, sage ich mir: ›Sei wie ein Kind, wie das Kind, das du damals warst, als deine große Schwester dir Lesen und Schreiben beigebracht hat …‹«2
Roger Schutz-Marsauche hatte sein ganzes Leben lang eine vielschichtige Beziehung zu seiner Familie, geprägt von einer komplexen Mischung scheinbarer Gegensätze: Tiefe Zuneigung, Abhängigkeit und Strenge, Sorge und Verantwortungsbewusstsein bestehen nebeneinander. Allerdings scheint er nie das patriarchale Familienmodell als solches in Frage zu stellen. Es ist für ihn selbstverständlich. Er nimmt es an und trägt so zu seinem Fortbestehen bei.
Zu seinem Vater Charles hätte er gerne ein anderes Verhältnis gehabt. Gleichzeitig ahmt er ihn nach, insbesondere was seine Einstellung zur Autorität betrifft. Obwohl Roger das jüngste Kind ist, verhält er sich später oft wie das Familienoberhaupt. Er hilft seinen Geschwistern zum Beispiel bei der Arbeitssuche und macht sich Gedanken über deren Eheschließungen. Bereits vor dem Tod des Vaters im Jahr 1946 trifft er Entscheidungen in wichtigen Familienangelegenheiten.
Der Vater übt auf Roger seit frühester Kindheit einen starken Einfluss aus, distanziert und angsteinflößend zugleich. Er ist ein Mensch, dessen Erwartungen kaum zu erfüllen sind und den Roger gleichzeitig bewundert und verehrt. Bekannte der Familie haben den reformierten Pfarrer als einen eher strengen Mann beschrieben, der zwar nicht sehr mitteilsam, aber überaus warmherzig gewesen sei. Äußerlich ähnelt er den Darstellungen Calvins. Charles Schütz wird am 31. März 1877 in Neuchâtel geboren. Seine Kindheit verläuft traurig und unglücklich. Als drittes Kind und einziger Sohn eines erfolgreichen Kaufmanns erwartet man, dass er die Geschäfte des Vaters übernimmt. Stattdessen schreibt er sich an der Theologischen Fakultät von Neuchâtel ein und entzieht sich so dem Einfluss der Familie. Bei seiner Mutter und seinen Schwestern stößt er damit auf Unverständnis, dennoch beginnt er fest entschlossen sein Studium und beschäftigt sich besonders mit der Bibel. Auch für seine Abschlussarbeit wählt er ein exegetisches Thema: Die Quellen der ersten zwölf Kapitel der Apostelgeschichte3 und wird am 15. Mai 1902 in der Kollegiatskirche von Neuchâtel, die er oft mit seinem Vater besucht hat, zum Pfarrer ordiniert.
Aber anstatt sofort eine Pfarrstelle anzutreten, bewirbt er sich um einen Einsatz im Ausland und bekommt eine Stelle bei der Société évangélique de France, die ihm verschiedene Vertretungen anvertraut, u. a. in Maligny-Tonnerre bei Auxerre, in Paris in der Avenue Ledru-Rollin sowie in Brive und Treignac im Département Corrèze, in Zentralfrankreich. Seinem Freund Émile Lombard gesteht er: »Mir schaudert bei dem Gedanken, dass ich beinahe den Fehler gemacht hätte, zu Hause zu bleiben und nicht ins Ausland zu gehen.«4
Die kulturellen Unterschiede zu seiner Heimat sind gewaltig. Die Verhältnisse in Neuchâtel haben wenig mit der sozialen Wirklichkeit der Menschen zu tun, die in Paris oder im ländlichen Brive ihr Leben in Armut fristen. Das Elend der Bevölkerung macht ihn betroffen. Der Schmutz in den Häusern schockiert ihn. »Es ist schrecklich, schlimmer als beim Militär!« Er besucht die Menschen mit seinem Lieferwagen, der wie eine große Badewanne aussieht, und ist immer wieder fassungslos über das, was er da sieht! Als ihm die Gemeindemitglieder zum Abschied ein schönes Tintenfass schenken, ist er tief gerührt, wenngleich er nicht sicher war, ob das Geschenk überhaupt bezahlt worden ist.
Trotz seiner Betroffenheit hegt Charles Schütz eine große Sympathie für Frankreich: »Heute liebe ich Frankreich von ganzem Herzen, denn dort haben sich gewisse, für mich sehr wichtige Ereignisse zugetragen.« Diese vorsichtige Ausdrucksweise passt gut zu ihm. Hat er nicht in Paris, bei einem Tanzabend, Amélie Marsauche kennengelernt, um deren Hand er wenig später anhalten würde? Er erwählt sich seine zukünftige Frau selbst. Seine Mutter hätte ihm sicher keine Pfarrerstochter als Ehefrau gewünscht.
In der Familie Marsauche ist bekannt, dass sich bereits ein anderer junger Mann um Amélie bemüht und sie für seine royalistischen Überzeugungen gewonnen hat – Eugène Kühlmann, der spätere Gründer der Association Sully, einer protestantischen Bewegung, die der Action Française des rechtsextremen Publizisten Charles Maurras (1868–1952) nahesteht. Aber für die Eltern der beiden kommt eine Heirat nicht in Frage, denn bei dem jungen Mann handelt sich um einen Cousin Amélies. Vielleicht wäre Amélies Vater aber auch ein Schwiegersohn lieber, der seine sozialistischen Vorstellungen teilt. Amélie hat ihren Enkeltöchtern später oft erzählt, wie sehr sie unter der Situation gelitten habe. Aber eine Auflehnung gegen ihre Eltern bzw. gegen die Bräuche jener Zeit kommt für sie nicht in Frage. Sie vertraut auf die Devise: »Die Liebe kommt mit der Zeit.« Ihr Cousin hat auch später nie geheiratet, besucht Amélie aber jedes Jahr – mit der Zustimmung von Charles, der großes Vertrauen in seine Frau hat. Roger versteht erst später, warum er während der Besuche von Eugène Kühlmann nicht zum Spielen nach draußen durfte, sondern im Haus bleiben musste.
Charles heiratet im Februar 1903 in kleinem Kreis bei seinen Eltern in Neuchâtel. Seine Schwester Cécile Schütz berichtet in einem langen Brief über das Fest, erwähnt die kirchliche Feier aber nur am Rand. Ihre Zeilen sind voller Anspielungen: »Die Feier findet am Mittag statt. Monsieur Marsauche, der Vater der Braut, segnet die Ehe … – kein Kommentar!«5 Sie ist verärgert über die Entscheidung ihres Bruders, Pfarrer zu werden, und jetzt heiratet er auch noch die Tochter eines Pfarrers! Zu seiner Hochzeit hat Charles nur zwei Freunde eingeladen. Einer von ihnen, Walter Schinz, gehört fast schon zur Familie: Am selben Tag gibt er seine Verlobung mit Berthe Marsauche, der Schwester der jungen Braut, bekannt.
Die Eltern Charles und Amélie Schütz
Das junge Ehepaar Schütz zieht nach Treignac in Frankreich. Viele schöne Erinnerungen stammen aus dieser Zeit. Allerdings ist die junge Frau, die ihre Ausbildung in der Schweiz erhalten und bei Vincent d’Indy an der Schola Cantorum6 in Paris Gesangsunterricht genommen hat, in keinster Weise auf das Leben in einer Umgebung vorbereitet, die evangelischen Christen gegenüber sehr voreingenommen ist. Als ihr erstes Kind, Andrée, geboren wird, bestaunen die einfachen Landfrauen das hübsche Baby, das gar nicht wie ein Kind des Teufels aussieht, sondern eher ihren eigenen Kindern ähnelt!
Bereits seit längerer Zeit hatte Charles begonnen, seine Rückkehr in die Schweiz vorzubereiten. Er beantragt die Aufnahme in die Pfarrerschaft des Kantons Waadt. Der zuständige Ausschuss stimmt dem Antrag einstimmig zu. Allerdings muss Charles bis zum Jahr 1904 warten, um eine vorläufige Stelle in Thierrens antreten zu können, und erst 1905 wird er Pfarrer der Gemeinde von Ressudens.
Als seine Ehefrau, Amélie Schutz7, im Jahr 1911 plötzlich Anzeichen einer Lungenerkrankung zeigt, nimmt er dies sehr ernst; sowohl Amélies Großvater als auch ihre Onkel waren an Tuberkulose gestorben. Rogers Vater erfährt, dass die Pfarrstelle von Provence, einem Dorf am Rand des Jura in mittlerer Höhenlage (777 Meter Meereshöhe), zur Besetzung ausgeschrieben ist.8 Er bewirbt sich und erhält 55 von 68 Stimmen. Zu Schuljahresbeginn zieht die Familie dorthin.
Provence hat zu diesem Zeitpunkt etwa 700 Einwohner, aber die Landflucht ist ein großes Problem. Bis 1927 geht die Bevölkerung auf 500 Einwohner zurück, die auf zahlreiche Weiler um die kleine Ortschaft verstreut leben. Zwar ist die Gemeinde seit 19029 ans Stromnetz angeschlossen, aber ihre Lage abseits der großen Verkehrswege hemmt die wirtschaftliche Entwicklung. Aus diesem Grund sind viele Familien immer wieder gezwungen, wegzuziehen. Die Pfarrersfamilie hilft so gut sie kann. Die Armut im Dorf geht einher mit einem starken Alkoholkonsum. Die Folge sind eine weiter zunehmende Verarmung und Gewalt in den Familien: Noch am Tag vor der Ankunft der Familie Schutz hat es in der Gemeinde einen Toten gegeben.
Die Familie hat sich gut in Provence eingelebt, als am 12. Mai 1915, am Tag vor Christi Himmelfahrt, die sieben Töchter ins Wohnzimmer gerufen werden, wo ihnen die Geburt ihres jüngeren Bruders mitgeteilt wird. Der Neugeborene wird hereingebracht, und die Schwestern werden gefragt, wie er heißen soll. Nach längerer Beratung schlagen sie den Namen Roger vor. Er erhält außerdem die Vornamen seiner beiden kurz zuvor verstorbenen Großväter Ulrich und Louis. Der Umstand, dass er seinen Vornamen eher seinen Schwestern als seinen Eltern verdankt, mag mit zu der besonderen Beziehung beigetragen haben, die sich zwischen den Geschwistern entwickeln wird.
Diese Beziehung wird auch dadurch gefördert, dass die älteren Schwestern in die anfallende Hausarbeit und die schulische Betreuung ihres kleinen Bruders eingebunden sind. Frère Roger bezeichnet diese Zeit später als eine Phase »eigenständigen Lernens«.10 So bringt ihm zum Beispiel seine älteste Schwester Andrée schon früh das Lesen bei. Eine andere Schwester ist verantwortlich für die Haushaltskasse, auch wenn der besorgte Vater die Finanzen der Familie fest unter Kontrolle hat. Charles leidet unter den finanziellen Einschränkungen, ja, es beschämt ihn, dass er nicht besser für seine große Familie aufkommen kann, denn sein Gehalt als Pfarrer reicht zur Deckung der Lebenshaltungskosten kaum aus. Zeitweise kann sich die Familie weder Hauspersonal noch Hauslehrer für die Kinder leisten, und auch keine Gäste empfangen oder Bedürftigen helfen. Diese Sorge lässt den Vater nicht los. Er ist hin- und hergerissen zwischen der Sehnsucht nach einem einfachen Leben einerseits, einer gewissen Sparsamkeit und dem Bedürfnis, den Ärmsten nahe zu sein, und andererseits dem Wunsch, seiner Familie gewisse Annehmlichkeiten zu bieten und ihr einen bestimmten sozialen Status zu ermöglichen. Außerdem soll die Familie offen sein für Gäste, so wie er es aus seinem Elternhaus kannte.
Ein Ereignis ist bezeichnend: Da die Gemeinde sehr weitläufig ist, kauft der Pfarrer für sich und seine Familie einen kleinen Fiat. Roger weiß damals nicht, dass die Familie diese Anschaffung seiner Großmutter zu verdanken hat, sondern fragt sich, ob sich sein Vater mit diesem Kauf nicht übernommen habe; schließlich ist es eines der ersten Autos in der Gegend. Einige Zeit später bemerkt jemand aus der Gemeinde im Vorbeigehen: »Herr Pfarrer, man sieht Sie ja gar nicht mehr!« Charles ist überrascht, doch dann wird ihm klar, dass das Auto eine Distanz zwischen ihm und den Menschen schafft, denen er bisher auf der Straße begegnet ist. Also lässt er das Auto stehen und geht innerhalb des Dorfes wieder zu Fuß oder nimmt das Fahrrad. Das Auto steht allen zur Verfügung, die es brauchen.
Das Elternhaus in Provence im Kanton Waadt
Die Familie wohnt in einem geräumigen Haus, etwas oberhalb der Kirche. Die Fensterläden sind in den Farben des Kantons gestrichen: Grün und Weiß. Es bietet der Familie viel Platz und hat einen leicht abfallenden Garten mit Obstbäumen, in deren Mitte sich ein Rosenbeet befindet.
Für den kleinen Roger ist dieser Garten wie ein großer Park. Hier ist sein Reich, und hier hält er sich am liebsten auf. Für seine kontemplative Kinderseele ist es ein Paradies. Er erkundet jeden Winkel, beobachtet jeden Grashalm und erwartet jedes Jahr mit Spannung das Treiben der Knospen an den Obstbäumen. Noch im hohen Alter erinnert sich Frère Roger oft an seine Vorfreude und Ungeduld, wenn im Mai »sein Fest« nahte. Er konnte es kaum erwarten, an diesem Tag die Pfingstrosen im Garten aufgehen zu sehen. Bisweilen half er auch etwas nach, wenn der Frühling noch nicht so weit vorangeschritten war. Im Jahr 1969 schreibt er: »Heute Morgen sah ich nach den Pfingstrosen, so wie früher. Die Blüten hatten sich noch nicht geöffnet. Nach dem Morgengebet … umringten mich die Brüder und meine Aufregung belustigte sie. Ich freute mich wie ein kleines Kind über diesen Tag, meinen 54. Geburtstag.«11
So ist seine Kindheit geprägt von einer fast uneingeschränkten Weite. Es ist eine glückliche und heitere Zeit, selbst wenn er als Jüngster bisweilen das Gefühl hat, zu kurz zu kommen. Eines Abends kommt die Mutter in sein Zimmer, um ihm einen Gutenachtkuss zu geben, aber er ist nicht da. Sie sucht ihn überall und findet ihn schließlich im Garten: Er liegt friedlich schlafend in seinem Kinderwagen; sie hatten ihn dort vergessen. Die Angst, verlassen zu werden, begleitet Roger sein Leben lang, obwohl es ihm nie an der Zuneigung seiner Familie gefehlt hat.
Sein Bruder Charly ist fast zehn Jahr älter als er. Er kümmert sich um Roger, auch wenn die beiden fast keine gemeinsamen Interessen haben. Als während des Ersten Weltkriegs das Brot rationiert wird, verteilt Vater Schutz die zugeteilte Menge zu gleichen Teilen unter den Kindern, aber der Älteste ist der Meinung, ihm stünde mehr zu. Diese Erfahrung veranlasst ihn zu dem Entschluss, Landwirt zu werden, um nie wieder Hunger zu leiden. Für seine Ausbildung verlässt Charly das elterliche Haus schon recht früh. Während der Ferien arbeitet er auf verschiedenen Bauernhöfen. So wächst Roger in einer Welt auf, die stark von Frauen geprägt ist.
Die Geschwister Roger, Geneviève, Noémi, Yvonne, Lily, Marie-Louise, Charles, Renée, Andrée (von links nach rechts)
Die älteren Schwestern lieben ihren kleinen Bruder, aber sie haben nur wenig Verständnis für seine sprühende Fantasie, seine sensible Art und seine Ängstlichkeit. Stattdessen treiben sie ihre Späße mit ihm. Eines Tages erzählen sie ihm, »dass in bestimmten Ländern der Welt, wenn dort Zwillinge zur Welt kommen, einer von ihnen in einem Topf zerstampft wird«. Roger erschrickt: »Jedes Mal, wenn ich an unserem Tisch ein unbekanntes Gesicht entdeckte, fragte ich mich, ob mich dieser Fremde für den Zwilling einer meiner Schwestern halten und mir etwas Böses antun könnte. Ich wusste mir dann nicht anders zu helfen, als mich unter dem Tisch zu verstecken. Meine Eltern versuchten mich zu beruhigen, aber sie zwangen mich nie dazu, unter dem Tisch hervorzukommen. Da ich immer neben meiner Mutter saß, stellte sie mir dann den Teller auf meinen Stuhl, und so aß ich hockend, halb unter dem Tischtuch versteckt.«12
Die Träumereien und Ängste des Jungen beunruhigen seine Eltern nicht. Sie lassen ihm Zeit. Wegen seines ungestümen Wesens gilt er bisweilen als etwas »zurückgeblieben«. Dennoch ist seine Mutter wegen seiner Überempfindlichkeit besorgt. Sie fragt sich, ob sie ihn nicht vielleicht zu sehr behütet. Andererseits berichtet er später davon, dass seine Mutter ihn immer wieder aufgefordert habe, Verständnis zu zeigen für andere, besonders für seine älteren Schwestern, als diese nicht mehr im Haus lebten.
An der unerschütterlichen Liebe seiner Mutter zweifelt der kleine Roger nie, aber immer wieder hat er das Gefühl, dass sie – trotz aller Unterstützung im Haushalt – wenig Zeit für ihn hat. Sie überlässt es auch ihrem Mann, sich um die schulischen Angelegenheiten ihrer Kinder zu kümmern. Allerdings achtet sie darauf, dass ihr Sohn seine Zeit nicht vergeudet, sondern sich mit Spielen, Lesen oder anderweitig beschäftigt.
Sie ist von der Führung des Haushalts stark in Anspruch genommen; außerdem singt sie jeden Tag und spielt Klavier, sie liest viel und hält das gesellschaftliche Leben der Familie auch in der Abgeschiedenheit dieser kleinen ländlichen Gemeinde aufrecht. In ihrer heiteren und fröhlichen Art liebt sie es, Feste zu feiern.
Als Pfarrersfrau gehört es zu ihren Aufgaben, die Gemeinde zu bestimmten Anlässen zu bewirten und in der Kirche Harmonium zu spielen. Ihrem Sohn graut es vor dem Klang dieses Instruments, denn er hat in einem Nachbarort erlebt, wie schön Kirchenmusik sein kann. Und wenn er von einer richtigen Orgel träumt, antwortet seine Mutter stets: »Später wirst du einmal eine eigene Orgel haben!«13 Dies sagt sie mit solcher Überzeugung, dass er es glaubt. Ihre Gewissheit ist ansteckend, und so lernt er schon früh, was es heißt, Vertrauen in die Zukunft zu haben.
Amélie Schutz unterhält einen regen Briefverkehr, vor allem mit ihren Kindern.14 Darin erzählt sie nicht nur von ihren eigenen Sorgen, sondern erkundigt sich auch nach dem Befinden ihrer Adressaten, interessiert sich für alles und stellt jede Menge Fragen. Sie fördert den Kontakt der Familienmitglieder untereinander, freut sich, wenn sie gebraucht wird, und ist in Unruhe, wenn sie von dem einen oder anderen längere Zeit nichts hört. Ihre eigene Familie kommt oft zu Besuch. Ihre einzigen Neffen sind die beiden Söhne ihres Bruders Louis, der Militärpfarrer ist: Pierre ist etwas jünger als Roger und Jacques der Jüngste. Ihr Bruder René hat seine einzige Tochter bei einem Unfall verloren. Ihre Schwester Berthe, die mit Walter Schinz, dem Freund von Charles aus Kindertagen, verheiratet ist und in Paris lebt, sowie ihr Bruder Albert in Lausanne sind kinderlos. Sie nehmen regen Anteil am Leben ihrer Schwester und deren Kindern. Dennoch verhehlen sie gegenüber dem Schwager nicht ihre Meinung, dass die zahlreichen Schwangerschaften Amélie geschwächt hätten.
Von Großvater Schutz hat Roger einen gewissen Sinn für schönes Geschirr und eine Faszination für alte Möbel, während seine Urgroßmutter Delachaux-Kullmann ihm wohl ihre gestalterische Kreativität vererbt hat. Die Liebe zur Musik wird im Elternhaus auf anspruchsvolle Weise gepflegt. Begabung allein genügt nicht, sie will gefördert werden. Amélie Schutz geht durch ihr tägliches Üben mit gutem Beispiel voran.
Hierbei spielt Tante Caroline, eine Schwester der geliebten Großmutter, eine wichtige Rolle. Caroline Delachaux, eine anerkannte Konzertpianistin, möchte das Beste von dem weitergeben, was sie bei ihrem berühmten Lehrer Hans von Bülow gelernt hat. Oft erzählt sie von ihrer Abschlussprüfung, die sie im Beisein von Franz Liszt in Weimar abgelegt hat.
Sie ist eine gute Pädagogin. Alle sieben Mädchen erhalten bei ihr Unterricht. Schon bald erkennt sie das Talent von Geneviève, der jüngsten, unmittelbar vor Roger geborenen Tochter, die später sogar mit dem Gedanken spielt, die Musik zum Beruf zu machen. Es gibt drei Klaviere im Haus, sodass es bisweilen wie in einem Konservatorium zugeht! Nur an den Gesangsstunden nimmt auch der Jüngste teil und lernt, Noten zu lesen. Der Junge verfolgt oft vom Bett aus fasziniert die Musikabende im Haus, wenn sein Vater Geige spielt und seine Frau ihn am Klavier begleitet oder wenn beide singen. Aus jener Zeit stammt wohl seine Vorliebe für Barockmusik und für Johann Sebastian Bach, von dem er einige Werke immer und immer wieder hört.
Kaum hat Roger Lesen gelernt, als er sich schon ein Bücherregal für sein Zimmer wünscht. Dort will er die schönen alten Bücher von Großvater Schutz einstellen, die auf dem Speicher liegen, darunter eine Ausgabe der Encyclopédie von Diderot und einige Jahrgänge der französischen Wochenzeitung L’Illustration. Als seine Mutter das sieht, protestiert sie: Die Bücher seien staubig und außerdem sei er noch viel zu jung für eine solche Lektüre. Worauf sein Vater erstaunlicherweise antwortet: »Wenn die Kindheit glücklich ist, wird auch das ganze Leben glücklich sein.«15
Weniger glücklich verlaufen die täglichen Mahlzeiten. Wenn die ganze Familie versammelt ist, übernehmen die Eltern den Vorsitz. Jeder darf das Wort ergreifen, aber die Gespräche richten sich in erster Linie an die Größeren. Da es dabei oft recht lebhaft zugeht und der Vater seinen Kindern eine gewisse Disziplin beibringen will, liest er ihnen oft etwas vor.
Auch am Sonntagnachmittag oder während des Sommers kommt die Familie oft im Wohnzimmer zusammen, wo vorgelesen wird. So lernen sie Romane kennen wie Der Kurier des Zaren von Jules Verne oder die Werke von Charles Dickens – bei denen keine Träne vergossen werden durfte – oder auch Die Geschichte von Port Royal von Charles Augustin Sainte-Beuve. Auszüge daraus werden immer wieder gelesen. Dieses Ritual prägt die Kinder, macht sie mit dem kulturellen Erbe vertraut und regt sie zum Weiterlesen an.
Als Roger sieben Jahre alt ist, schickt ihn sein Vater auf die Schule im Dorf und nimmt ihn damit aus dem überwiegend weiblich geprägten Universum heraus. Aber als Sohn des Pfarrers fühlt er sich ausgegrenzt. Außerdem trinkt die Lehrerin und behandelt die Kinder schlecht. Es gibt sogar eine Art »Schulgefängnis«! Zwar wird Roger selbst nie eingesperrt, aber er erträgt die herrschende Atmosphäre nur schwer. Für ihn bedeutet Schule etwas Unheilvolles. Er besucht den Unterricht etwa zwei Jahre lang, bis Vater Schutz – so wie er es bei seinen Töchtern auch gemacht hat – die Ausbildung seines Sohnes selbst in die Hand nimmt. Zwei gleichaltrige Jungen aus dem Dorf nehmen ebenfalls an diesem Hausunterricht teil. Mit einem von ihnen, André Gaille, ist Roger damals bereits befreundet. Die beiden führen lange Gespräche, oft über hochgeistige Themen. Doch bei einer so wenig akademisch geprägten Schulbildung kommt manches zu kurz und Roger fühlt sich wegen seiner mangelnden Sprachkenntnisse zeit seines Lebens benachteiligt.
Die Wesensart seines Vaters erträgt Roger nur schwer. In seiner Gegenwart fühlt er sich unfrei. Er weigert sich, im Unterricht mitzuarbeiten. Zwar wird selten geschimpft, doch wächst er mit dem Gefühl auf, den Erwartungen seines Vaters nicht zu genügen und ihn zu enttäuschen. Dies hemmt und verunsichert ihn, auch weil sich seine Eltern oft lobend über die intellektuellen Fähigkeiten anderer Kinder äußern. Er kann sich nur an ein einziges Mal erinnern, an dem der Vater ihn lobte, und dieses Lob bekommt er auch nur zufällig mit. Monsieur Schutz erzählte Freunden von seinem Sohn und sagte, wie glücklich er über diesen intelligenten Schüler sei.
Als er alt genug ist, hilft Roger beim Zählen der Gottesdienstkollekte. Um die Aufmerksamkeit seines Vaters zu gewinnen, beschäftigt er sich schon sehr früh mit wirtschaftlichen Themen. Als 14-Jähriger erlebte er 1929 den Börsenkrach und während der Wirtschaftskrise verfolgt er per Kopfhörer im Radio den Kursverlauf des Französischen Franc.
Nur in der Natur fühlt sich Roger wirklich wohl, insbesondere beim Skifahren. Das war damals etwas für Männer; hier kann er seine Mutter mit Sprüngen von der Schanze beeindrucken.
Während der warmen Jahreszeit nimmt der Pfarrer so oft wie möglich eines der Kinder auf seine Besuche in einen der entlegenen Teile der Gemeinde mit. Im Sommer mietet die Familie ein Ferienhäuschen am Ufer des Thuner Sees. Roger liebt die Ausflüge in die Berge; er genießt den Duft der Blumen und kann sich nicht sattsehen an Wiesen und Wäldern. Auch fasziniert ihn das endlose Spiel der Wolken. Wenn ihm auf den Wanderungen die Kraft ausgeht und er müde wird, sagt sein Vater nur, er solle nicht darauf achten. Auch wenn es heiß ist und er Durst bekommt, wird nicht angehalten, denn er soll lernen, sich zu beherrschen. Der Vater erinnert ihn dann an die Spartaner ... Aber der Junge kann nicht recht glauben, dass es genügt, die körperlichen Bedürfnisse einfach zu leugnen, um nicht mehr darunter zu leiden.
Manchmal bleibt Roger nichts anderes übrig als zu schweigen. Er wagt es dann nicht, die Gedanken des Vaters zu unterbrechen, und träumt von einem Hauslehrer, der nur für ihn da ist. Aber er stellt auch viele Fragen. Sein Vater erklärt ihm gerne die Natur, die er selbst sehr liebt. Je nach Jahreszeit halten sie gemeinsam Ausschau nach den ersten Schlüsselblumen, den zart duftenden roten Primeln, dem wohlriechenden Knabenkraut oder den Herbstzeitlosen.
Als Roger fünf oder sechs Jahre alt ist, fragt ihn einmal ein Erwachsener, was er später werden wolle. Er antwortet: »Pfarrer, so wie Papa!«, eine spontane Antwort und Ausdruck der Bewunderung für seinen Vater.
Roger weiß, mit wie viel Mut sein Vater gegen den Alkoholismus in der Gemeinde vorgegangen ist. Der Pfarrer hat bei seiner Ankunft in Provence nicht nur darauf bestanden, dass die Schankwirtschaften sich an das Verbot von Absinth hielten16, sondern auch, dass außer Wein überhaupt keine alkoholischen Getränke verkauft würden. Dies stieß bei der Bevölkerung auf Widerstand und einige schreckten auch vor Gewalt nicht zurück.17 Am Abend, an dem dieser Beschluss in Kraft tritt, fliegt ein Stein durch eine Fensterscheibe des elterlichen Hauses. Er landet auf dem Bett, in dem normalerweise Tante Caroline schläft, die aber wegen des Gejohles auf der Straße in dieser Nacht in ein anderes Zimmer umgezogen war. Erst allmählich gelingt es dem Pfarrer, durch viel Zuhören und dank seiner verständnisvollen Art von allen Gemeindemitgliedern akzeptiert zu werden.
Sein Engagement findet jetzt Anerkennung: Er setzt sich für die Jugendlichen ein und organisiert Aktivitäten, die auch pädagogisch von Nutzen sind. So treibt er unter anderem einen Projektor und Filme auf, die er zunächst zu Hause anschaut und gegebenenfalls mit Schere und Klebstoff kürzt, bevor er sie den Jugendlichen vorführt. Dies kommt auch seinen eigenen Kindern zugute, die auf diese Weise die moderne Technik kennenlernen. Darauf wird genauso viel Wert gelegt wie auf die gemeinsame Lektüre.
Wenn die Familie in der Weite der Berglandschaft unterwegs ist, kann man über Themen aller Art, die Evangelien oder biblische Geschichten sprechen. Aber wenn der Vater zu Hause oder in der Kirche aus der Bibel vorliest und sie auslegt, langweilt sich Roger zu Tode. Das gemeinsame Abendgebet in der Familie kann er kaum ertragen, besonders wegen des schlechten Gesangs. Jeder Zwang ist ihm zuwider und der gemeinsame sonntägliche Kirchgang widerstrebt ihm. Die jüngeren Geschwister müssen in der Kirche alle auf derselben unbequemen Bank sitzen, während sich die Älteren einen Platz aussuchen dürfen.
An Sonn- und Feiertagen predigt der Pfarrer von der Kanzel, direkt gegenüber. Zwischen ihnen ragt das große Kreuz in den Raum. Der Pfarrer hat es direkt über der alten, zum Kirchenraum hin aufgeschlagenen Bibel anbringen lassen. Roger will von all dem nichts wissen. Also lenkt er sich ab, dreht sich zu seiner Mutter um, die am Harmonium sitzt, und betrachtet einen der Bibelsprüche, die in brauner Farbe auf die weißen Wände gemalt sind: Hab Mut, er ruft dich, Gott ist Liebe, Meine Gnade genügt dir18 usw. Im Laufe der Zeit prägen sich ihm diese Verse unwillkürlich ein. Was er dann von der Predigt mitbekommt, macht ihm klar, wie groß die Diskrepanz ist zwischen den ermahnenden Worten des Vaters und den Schwierigkeiten, diese im Alltag zu befolgen. Schon bald kommt er zu dem Schluss, dass man nur das predigen dürfe, was man auch selbst verstanden hat. Diese Einsicht hemmt ihn später, selbst zu predigen.19
Sein Vater steht jeden Morgen sehr früh auf, um in der Kirche allein zu beten, ungewöhnlich für einen evangelischen Christen, für den die Kirche ein Ort des Gottesdienstes und des gemeinschaftlichen Lebens der Gemeinde ist, aber kein Ort des persönlichen Gebets. Seine Mutter erklärt Roger einmal: »Dein Vater ist ein Mystiker.« Dieser kurze Satz zeigt, wie sehr sie das Leben ihres Mannes und seine Suche nach einer innigen Vertrautheit mit Christus achtet. Er selbst spricht so gut wie nie darüber, aber er findet Stärkung im Umgang mit dem Wort Gottes und in der Lektüre der Nachfolge Christi.20 Seine innere Haltung kommt in seinem Mitgefühl für die Ärmsten zum Ausdruck.
Charles Schutz bewundert den katholischen Orden der Schulbrüder. Er ist ein sehr offener Mensch und stellt sich viele Fragen. Im Jahr 1926 wendet er sich im Zusammenhang mit einer Arbeit über die evangelische Landeskirche im Waadtland an den katholischen Bischof von Fribourg. Dabei erwähnt er seine Begegnungen mit Gemeindepriestern, die ihre Berufung sehr überzeugend leben: »Ich denke oft an die Freude und heitere Gelassenheit dieser Männer.«21 In diesem Zusammenhang fragt er den Bischof auch, wie Ernennungen in der katholischen Kirche vorgenommen werden, er selbst stünde nämlich kurz davor, um eine Versetzung zu bitten.
Während eines Ausflugs mit Gleichaltrigen ins Wallis beobachtet Roger, wie sein Vater die kleine katholische Kirche von Saint-Luc betritt. Er tut dies ganz offen und verweilt lange in dem Gotteshaus, was bei Roger einen bleibenden Eindruck hinterlässt. Zu diesem Zeitpunkt kennt Roger bereits die üblichen Vorurteile gegen die katholische Kirche.
Frère Roger erzählte auch oft von einer Fahrt mit seinen Schwestern über den Neuchâteler See nach Estavayer, wo die Mehrheit der Bevölkerung katholisch ist. Gemeinsam betreten sie dort eine Kapelle, in der das rote Licht vor dem Tabernakel durch das Halbdunkel leuchtet. Er ist ergriffen von der geheimnisvollen Stimmung dieses Ortes und vergisst nie den Eindruck, den das dezent beleuchtete Marienbild in ihm hinterlässt.