0,00 €
Wer sucht, der findet oder halt erfindet. Die Freudmatt: Gartenzwerge haben sie gefunden. Sie liegt abgelegen zwischen Wiesen und Reben in der westlichen Schweiz. Damals hiess sie offiziell noch Kantonale Nervenheilanstalt. Damals: nämlich zur Zeit unserer gelegentlichen Besuche. Diese beginnen kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und enden mit der Schliessung der Anstalt sieben Jahre später. Der ’Anschluss’ Österreichs und die Alliierte Invasion finden weniger Beachtung bei den Patienten als die Rationierung von Fleisch und Butter. Aber da ist einer, der meint er sei Hitler, und die magere Kriegsküche setzt auf Psychologie. Im sog von Pazifismus und Sozialismus hat Wilhelm Tell der Patriot keine Chance. Besser fährt die Liebe, mit einer Begegnung voll Romantik und Herzeleid, und die Gartenzwerge findet, wer sie sucht. Unsere Klinik ist fiktiv, und so sind ihre Bewohner. Ein paar historische Charaktere schauen unbetroffen zum Fenster herein.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2021
Der angstvoll erwartete Tag war da. Wenigstens brachte er das Ende der Quälerei, die ihr die letzten Wochen vermiest hatte. Mutter konnte sich klar nicht vorstellen — dabei war sie ja auch mal vierzehn gewesen — wie elend, wie verunsichert ein Mädchen dieses Alters sein kann, wenn man es zu einem öffentlichen Auftritt zwingt. Nun war es soweit. Vor versammelten Gästen, zwanzig etwa, alle steif auf ihren Stühlen, stand Julia beim Flügel direkt vor den pompösen Fauteuil, in den man den Jubilar gesetzt hatte. Mutter sass am Klavier und startete die Zeremonie mit einem schallenden Akkord, fortissimo. Jetzt war Julia dran. Blumenbukett in Hand, schickte sie sich an, das Huldigungsgedicht zu rezitieren. Da stoppte sie die vorgestreckte Linke der gefeierten Greises, während er mit der Rechten in eine Tasche griff, die er neben sich in das Polster gezwängt hatte, und eine Hörtrompete hervor zog, ein Rohr, das sich von der Mundschale her bis zum Ohrkanal konisch verengerte, eine Hörhilfe, wie sie zu Zeiten Beethovens im Gebrauch stand, lange bevor elektrische Hörgeräte aufkamen. Er hielt sich das schmale Ende ans Ohr und bedeutete Julia, direkt in die Schale zu sprechen. Sie fühlte, dass sie errötete, aber sie nahm sich zusammen und begann ihre Rezitation. Die Reimerei war eine Banalität, von Mutter selbst zusammengekoppelt. Jede Strophe endete mit dem Refrain:
Achtzig Jahre jung, wen wundert’s,
Der grösste Dichter unseres Jahrhunderts!
Letzter Vers. Ihn anlächeln, mit einem Knicks die Blumen überreichen. Alle klatschten Beifall. Noch ein paar direktoriale Willkommensworte ihres Vaters und eine weitere Klavierfanfare. Dann darf Julia endlich verschwinden, während die Gäste sich erhoben und unter dem obligaten Gerede dem hinteren Teil des Raumes zusteuerten, wo Trank und Speise bereit standen.
Der Gefeierte — gross, aber gebrechlich, dünnes weisses Haar — blieb vorerst sitzen, den riesigen Strauss auf seinem Schoss, weil Gratulanten ihn umringten. Sein Lächeln wirkt wie Grinsen. Sagen tut er selbst nichts. Auch geschrieben hat er in letzter Zeit nicht mehr. Dreissig Jahre sind es her, dass er den Nobelpreis für Literatur erntete; zwanzig, seit er sich erstmals eine Entrostungskur in der Freudmatt verschrieb. Die Freudmatt, einst würdiges Patriziergut, lag locker zwischen sanften Hügeln — Getreidebau oder Weide — und niedlichen kleinen Waldungen oberhalb der Weinberge, die bis zum See hinunter reichten. Das Herrschaftshaus war im siebzehnten Jahrhundert erbaut und vor zwanzig Jahren einer gründlichen Renovation unterzogen worden, die dieses Schmuckstück provinziellen Barocks wieder voll zur Geltung kommen liess. Gleichzeitig wurde ein Neubau errichtet, der neben dem zierlichen Barockvilla brutal modern wirkte, aber halt nötig war, denn das Ganze wurde, wie man jetzt sagt, die Kantonale Klinik für Psychiatrie. Damals, in den 1930ger Jahren, war es die Kantonale Pflegeanstalt für Geisteskrankheiten. Jetzt im Kreis der Mitarbeiter hiess sie einfach Klinik, während man die Villa, respektvoll Schloss nannte. Die Klinik umfasste eine geschlossene und eine offene Abteilung, sowie die Behandlungs- und Wirtschaftsräume, auch Personalzimmer. Das Schloss beherbergte, neben der Wohnung des Chefs, Räumlichkeiten für Vorträge, Konferenzen und Anlässe wie der eben beschriebene, und Zimmer für spezielle (und betuchte) ‚Gäste’, wie den weltbekannten Schriftsteller Siegfried Jannen, dessen Geburtstagsfeier mit dem allmählichen Aufbruch der Gäste nun zu Ende ging.
Erst jetzt kam Frau Luise dazu, sich um ihre Tochter zu kümmern. Sie fand Julia in ihrem Zimmer, und natürlich kamen sie auf die mysteriös erschienene Hörtrompete zu sprechen.
„Er hat ja einen modernen Hörapparat” sagte Luise „und schimpft häufig, er funktioniere nicht recht. Also glaube ich nicht, dass er mich blossstellen und dich aus dem Konzept bringen wollte. Im Gegenteil, er wollte der ganzen Gesellschaft zeigen, wie viel ihm daran lag, unsere Huldigung voll und ganz mitzubekommen. Wenn er dich anschaut, was er gerne tut, ist offensichtlich, wie es ihm warm wird ums Herz. Wenn du fertig bist mit der Schule, könntest du ihm ein Jahr lang Gesellschaft leisten in seinem Haus bei Ascona und gleichzeitig Italienisch lernen.” Einen wagehalsigen Plan hatte Luise ausgeheckt: eine familiäre Verbindung mit der Koryphäe, befestigt durch eine formelle Heirat, aber damit hielt sie wohlweislich hinter dem Berg.
Das Gesagte genügte, um Julia händeverwerfend aufbrausen zu lassen. „Aber Mutter, komm mir nicht wieder mit diesem Hirngespinst. Mein Leben nach der Schule muss ich in meine eigenen Hände nehmen. Dein seniler Mummelbarde geht mich nichts an. Den Abglanz seines Ruhmes kannst du für dich selbst behalten!” Luise liess den Kopf hängen. Weshalb liess man ihr nicht gelten, dass ihre Verehrung für den Dichter ehrlich war, dass sein Werk, die grossen Romane, die er vor Jahrzehnten verfasst hatte, ihr immer wieder in die Seele griff? Ihr Mann gab Julia recht. Die Blütezeit des Nobelpreisträgers war vorbei. Sein Talent war verdorrt. Nur für erratische Geistesblitze reichte seine Phantasie noch, wie heute Nachmittag der bizarre Akt mit der Hörtrompete.
Ja, Jannen, Siegfried Jannen. Wir werden ihm im Verlauf dieser Geschichte immer wieder begegnen. Er verdient vorgestellt zu werden. Langbeinig, mager, die unappetitliche Rasur von einem blendend weissen Schopf aufgewogen. Am besten kleiden wir ihn in seinen abgetragenen, nicht übermässig sauberen Manchester Samtanzug. Ein gebürtiger Leipziger, wartet er auf Wunsch sofort mit einem Muster seiner sächsischen Muttersprache auf. Auch Julia Merian wird uns wiederholt begegnen, kurz belichtet, aber wichtig, in ihrem Progress von der Gymnasiastin zur Germanistikstudentin. Schlank, mittelgross, goldbraunes Haar, minimaler Make-up. Dass sie keine Schönheit war, bekümmerte sie wenig. Sie war hübsch, beweglich. Jannen war nicht allein, wenn er sie gerne ansah. Ihre Eltern hingegen, Martin Merian, Leiter und Chefarzt der Freudmatt, und seine Frau, Luise, tauchen bei den hier beschriebenen Ereignissen nur am Rande auf. Es sei daher willigen Lesern überlassen, sie nach eigenem Gutdünken zu beschreiben.
Prof. Dr. Martin Merian hatte seine Chefvisite rund durch alle Patientenzimmer der Anstalt beendet und war dann zu seinem Büro im angrenzenden Schloss zurückgekehrt. Er erwartete Besuch, genauer gesagt, zwei Besucher. Vor ein paar Tagen hatte ihn sein Freund und finanzieller Berater, Jacques Cahen, Partner in der Genfer Privatbank De Palézieux, angerufen und um einen Termin gebeten. Er wolle ihm zwei Kunden aus Deutschland schicken, die sich für eine Kur in der Freudmatt interessierten. Ihre Namen? Sie sollten sich selbst vorstellen, wenn Martin sie empfange. Vermutlich, dachte Merian, zwei deutsche Juden auf der Flucht vor Hitler, die hier untertauchen wollen, während man ihnen mit ihrem Geld eine Zukunft in Amerika organisiert. Seine Hypothese erwies sich als unzulänglich, sobald die beiden Besucher ihm gegenüber sassen. Ihr Alter schätzte er auf Mitte Dreissig, Mittelstandskleidung. Sie hatten bei der Begrüssung ihre Pässe vorgezeigt Der obligate „J” Stempel für Bürger des Deutschen Reiches jüdischen Stammes fehlte. Der Ankunftstempel bewies, dass sie die Grenze zur Schweiz legitim passiert hatten. Allerdings baten sie um Anonymität. Man solle sie einfach Heinrich und Friedrich heissen. (Aus unsrer Geschichte verschwinden sie bald.) Es war klar, dass die Freudmatt ihnen als Versteck dienen sollte. Von der Erschöpfung und den akuten Depressionen, die sie anführten, war nichts zu merken. Offensichtlich hatten sie Geld; ob es ganz sauberes Geld war? Wo hörte ‚sauber’ auf? Das war Ermessensfrage. Jedenfalls Gangster waren sie nicht, dafür bürgte Cahens Empfehlung. Eindeutig waren sie Gegner des Naziregimes, was Merian moralisch dazu verpflichtete, sie aufzunehmen, wiewohl er es übel zufrieden war, seine Klinik in politische Treibereien verwickelt zu sehen.
Das Land zwischen Anstalt und Schloss war von einer leichten Senke durchkreuzt, der entlang ein friedliches Bächlein rieselte. Auf der Seite zum Schloss lief ein Drahtgitterzaun, hoch genug dass seine Überkletterung ungewöhnliche athletische Fähigkeiten erfordert hätte. Überdies war das obere Ende mit einem Stacheldraht gesichert. Auf beiden Seiten des Zaunes lief eine hohe Lorbeerhecke, so dass die grimmige Drahtsperre einigermaßen versteckt blieb. Zwischen Zaun und Anstalt erstreckte sich ein gepflegter Garten. Rosenrabatten, Rhododendren, Hortensien, alles Sträucher, die der Frühling bald mit Blüten bedecken würde. Dazwischen ein Geflecht von kiesbestreuten Pfaden, die sich elegant herumschwangen, wenn sie den Zaun erreichten. Ein Pfad, allerdings, tat das nicht. Er führte geradlinig zu einer Pforte im Zaun. Jenseits der Pforte leitete ein ebenso direkter Fußweg zum Schloss. Die Pforte war verschlossen. Wer sie öffnen wollte, brauchte einen Schlüssel. Maja Laubscher hatte keinen bei sich. Sie wollte auch nicht hinüber zum Schloss. Sie liebte den Garten und ging sich dort gerne die Füße vertreten, wenn sie eine Denkpause brauchte. Jetzt saß sie auf der kleinen Granitbank neben der Pforte und genoss die Mittagssonne. Ihren langen bunten Wollschal hatte sie abgelegt und um die Rücklehne gewickelt. Die beiden Enden bauschten sich neben ihr auf der Sitzfläche des Bankes. Wie ein Tier war der Schal. Ein Schaf? Ein Hund, ein Terrier! Ihr Tier. Sie kraulte seinen Pelz und sagte ihm Koseworte.
Dr. Maja Laubscher steht vor dem Abschluss ihrer Fachausbildung in Psychiatrie. Sie kommt regelmässig in die Freudmatt, um eine kleine Anzahl ausgewählter Patienten zu beobachten und ein möglichst vollständiges Bild vom Verlauf ihrer Krankheit zu erlangen. Die Granitbank fühlte sich warm an. Maja hielt Ausschau nach dem Frühling. Schneeglöcklein, Krokusse, war da sonst schon etwas, das blühte? Wie sie sich umschaute, gewahrte sie etwas Ungewöhnliches: auf dem Pfad vom Schloss her näherten sich ihr zwei Männer. Einer mochte Ende Dreissig sein, auffällig gross, wohlgestaltet, sicher auch kräftig, Typ Eichendorffsches Postwagenpferd. Der andere war eher klein, aber sehnig, schmalbrüstig, elastisch trotz leichtem Bauch und älter, Typ Känguruh. Jetzt standen sie vor der verschlossenen Gittertür und wussten nicht weiter. Maja nickte ihnen zu und, mit Blick auf ihre Terrierattrappe, bellte sie munter wau, wau. Es fiel ihr ein, dass die Zwei sich verlegen fragen mussten, ob sie es mit einer Patientin oder einer Betreuerin zu tun hatten.
„Ich kann Ihnen nicht auftun”, sagte sie. „ich habe keinen Schlüssel dabei. Sonst hätten Sie meine Bank erben können. Ich muss zurück zu meiner Arbeit. Aber ich komme wieder. Ich habe zwei artige Patienten, denen ein bisschen Frühlingssonne die Zwangsvorstellungen in ihrem Gehirn auflockern soll.”
Frühling? Das war vorgestern. Heute regnet es Bindfäden. Maja schüttelt ihren halbgeöffneten Schirm; grosse Tropfen schwirren umher. Sie nickt Franz, dem Securitymann beim Eingang zu und steuert auf ihren Arbeitsraum hin. Er ruft ihr nach: „die Patientin Heidi will dringend mit Ihnen sprechen.” Maja ist erstaunt. Mit dieser Heidi hat sie bisher nur ein paar Worte gewechselt. Ihr Arzt ist der Neue, Peter Wild. Heidi ist eine der Patienten, die er sich zur intensivem Langzeitbeobachtung ausgelesen hat. Maja geht zum Archivzimmer und schliesst den Metallschrank mit den alphabetisch geordneten Krankengeschichten auf.