Freyas Ebenbild - Sylva Kanderal - E-Book

Freyas Ebenbild E-Book

Sylva Kanderal

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Beschreibung

Was wäre, wenn …? Dieser Frage geht Sylva Kanderal ein Stück weit nach, indem sie ihre Protagonistin Freya mit ihrer interstellaren Schwester auf einem anderen Planeten sprechen lässt. Die beiden Frauen sind das genaue Ebenbild der jeweils anderen und teilen eine Biografie bis zu ihrem Abitur. Die Entscheidungen, die sie danach getroffen haben, führten letztlich zu unterschiedlichen Lebensverläufen … Ein gefühlvoll geschriebener Roman über das Leben, die Liebe und eine wunderbare Frauenfreundschaft.

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Seitenzahl: 231

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Widmung

Prolog

Andromeda, Mai 2015, TV-Sendung

Zürich, Mai 2015

Wien, Mai 2015

Andromeda, April 2012

Zürich, April 2012

Andromeda, Mai 2012

Zürich, Juni–September 2012

Andromeda, September 2012

Zürich, Winter 2013/14

Andromeda, Mai 2015, am Tag nach der TV-Sendung

Zürich, Küsnacht, Mai 2015

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2019 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-903155-50-3

ISBN e-book: 978-3-903155-51-0

Lektorat: Bianca Brenner

Umschlagfoto: Eevlva, Denis Belitskiy | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Widmung

Für meine Kinder

Katerina und Jan

Prolog

„Irgendwo in den weit entfernten Regionen eines unendlichen Kosmos dürfte es eine Galaxie geben, die genau wie die Milchstraße aussieht, mit einem Sonnensystem, das eine große Ähnlichkeit mit unserem hat, mit einem Planeten, der ein Doppelgänger der Erde ist, mit einem Haus, das von jenem, in dem Sie wohnen, nicht zu unterscheiden ist; in diesem Haus wohnt jemand, der genauso aussieht wie Sie, der gerade dieses Buch liest und sich vorstellt, wie Sie in einer weit entfernten Galaxie gerade jetzt zum Ende dieses Satzes gelangen.

Und es gibt nicht nur eine solche Kopie. In einem unendlichen Universum sind es unendlich viele. Aber selbst, wenn wir nicht in der Lage sind, diese weit entfernten Regionen zu beobachten, kann man aus fundamentalen physikalischen Überlegungen heraus ableiten: Wenn der Kosmos unendlich groß ist, beherbergt er auch unendlich viele Parallelwelten – von denen manche der unseren genau gleichen, während andere sich von unserer unterscheiden und viele keinerlei Ähnlichkeit mit ihr haben.“

Brian Green: Die Verborgene Wirklichkeit, Kap. 2, Seite 22

Deutsche Ausgabe 2012, Siedler Verlag, München

„Schicksal ist keine Frage des Zufalls.

Es ist eine Frage der Entscheidung.“

William Jennings Bryan, amerikanischer Politiker

Aus seiner Rede am 22. Februar 1899, Washington, D.C.

„Wenn wir uns das Quantenuniversum vorstellen, sehen wir uns der Möglichkeit gegenüber, dass unsere Parallel-Ichs, die in verschiedenen Quantenuniversen leben, vielleicht genau den gleichen genetischen Code haben, aber an den entscheidenden Punkten des Lebens, bei Entscheidungen über Chancen, Leitfiguren und Wünschen, einen anderen Weg gegangen sind, der sie anderen Lebensgeschichten und anderen Schicksalen entgegenführte.“

Michio Kaku: Im Paralleluniversum, Seite 464/465

Deutsche Ausgabe 2005, Rowohlt Verlag

Andromeda, Mai 2015, TV-Sendung

Die Freude im Studio war gewaltig. Freya Morell stand im Mittelpunkt. Es waren ihre Sendung, ihre Idee und ihre Moderation, die heute gefeiert wurden. Eine einmalige Show, die niemand für möglich gehalten hatte. Freyas Idee, die heimlichen, intergalaktischen, telepathischen Gespräche mit ihrer astralen Schwester in ihre Fernsehserie zu bringen, war vor einem Jahr durch die Direktion als Unsinn abgetan und abgelehnt worden. Heute feierten alle zusammen. Die TV-Bosse, der Regisseur Charles Zach, Produzent Yves Barrington, Freya und die Forscher vom Institut Neurocore, die die Transformation der Gedanken in Worte ermöglichten. Ob es noch irgendwo im Universum eine ähnliche Kommunikation gab, wusste niemand. Das Studium einer intergalaktischen Gedankenübertragung war nicht im Programm der Wissenschaftler auf der Sirrah in der Andromeda, die nach dem Leben im All suchten. Es war für TV-Leute nicht wichtig, ob solche Art von Dialog noch anderswo im Universum zustande kam. Das Einzige, was zählte, war die Sensation, dass Gedankenübertragung funktionierte, und dass gerade das Team von TV New Venice als Erstes diese Tatsache an die Öffentlichkeit brachte. Die Sendung schlug wie eine Bombe ein. Die Zuschauer waren nicht sicher, ob es sich um Sci-Fi handelte oder doch um die Realität. Die Telefone in der Redaktion des County TV liefen heiß.

Es war eine schwierige Lebenssituation gewesen, in der sich Freya Morell vor drei Jahren befunden und die zu einem Kontakt mit ihrem Zwilling auf dem Planeten Erde in der Milchstraße geführt hatte. Heute hatte Freya ihr Geheimnis gelüftet, in ihre wöchentliche TV-Sendung über Liebe ihre astrale Schwester eingeladen, und mit ihr über das Leben und auch über die Liebe auf der Erde gesprochen. Niemand, außer Astrophysiker, befasste sich in Gedanken ernsthaft mit einem möglichen Leben außerhalb der Andromeda. Dass eine Frau eine Sendung brachte, die alles bis jetzt Bekannte auf den Kopf stellte, war eine Sensation. Der Rummel im Studio nahm kein Ende.

Freya war müde, die große Anspannung der vergangenen Tage und Wochen zeigte sich. Sie wollte sich leise zurückziehen und nach Hause gehen. Sie schaute sich um, suchte nach Yves Barrington, ihrem Produzenten und Freund. Er war im Gespräch mit Journalisten. Sein Gesicht strahlte. Diese Sendung war seit Jahren das Beste, was er als Produzent gemacht hatte. Er nutzte das Interesse der Journalisten für seine eigene PR-Arbeit. Freya wollte keine Interviews geben, keine Fragen hören und beantworten. Yves hatte versprochen, sie zu schützen und alle Interviews selbst zu übernehmen. Unbemerkt schlenderte sie zum Ausgang des Studios, holte Mantel und Tasche in der Garderobe ab und stieg in ihren SUV.

Sie brauchte nur eine Viertelstunde Fahrt, um nach Hause zu kommen. Die vergangenen drei Jahre liefen Revue in ihrem Kopf. Viel war passiert. Frederick hatte sie verlassen, die Zwillinge waren seit zwei Jahren aus dem Haus und auch Elisa, die jüngste Tochter, war vor einem Jahr ausgezogen. Mit Yves war die Beziehung schwieriger, ja leer geworden. Nur die Arbeit machte ihr Freude und die Beziehung zu ihrer stellaren Schwester Freya. Diese war ein fester Anker in ihrem Leben geworden. Heute Abend, nach der Sendung, wollte Freya nochmals mit ihr „sprechen“. Sie wollte den Erfolg mit ihr teilen.

Zürich, Mai 2015

Der Abend war lau und angenehm. Wie so oft in den vergangenen drei Jahren kuschelte sich Freya Beck auf der alten Holzbank am Seeufer in eine leichte Wolldecke ein, zog ihre Beine zur Brust hoch und stützte ihr Kinn auf den Knien auf. Sie dachte an die andere Freya, ihre astrale Schwester, die auf der Sirrah in der Andromeda lebte und sich bei ihr vor drei Jahren auf eine seltsame Art und Weise gemeldet hatte. Damals, erschrocken und verängstigt, hatte sie nicht gewusst, wie sie reagieren sollte. Heute hatten ihre Gespräche einen Gipfel erreicht. Durch ein technisches Wunder, das sie nicht begriffen hatte, war eine intergalaktische Gedankenübertragung nicht nur möglich, sondern konnten ihre Gedanken in eine Sprache transformiert werden und auf dem Planeten Sirrah in der Fernsehsendung ihrer stellaren Schwester ausgestrahlt werden.

Sie liebte ihre geheimen Gespräche, die eigentlich keine waren. Gesprochen wurde zwischen den beiden Frauen nie. Nur ihre Gedanken liefen durch ihre Köpfe, Fragen und Antworten, Lachen und Weinen, Geschichten über ihre Ehemänner, über Kinder, Arbeit, Freunde und Liebhaber. Einfach über alles, was das Leben so brachte und worüber die Frauen zu sprechen liebten. Freya vernahm im Kopf die Stimme ihrer Schwester aus dem Universum. Es war angenehm, nur zu denken, was sie sonst in Worte hätte kleiden müssen. Gedanken waren schneller als Worte.

„Hallo Freya, wo bist du? Wie war die Sendung? Hast du Erfolg gehabt und den Forschern einen Schock eingejagt? Melde dich bald. Morgen fliege ich nach Wien. Vielleicht sehe ich dort meinen Frederick.“

„Da bin ich, in Gedanken bei dir. Ja, vielleicht siehst du ihn. Ich wünsche es dir und denke fest an dich, meine liebe Schwester. Unsere Sendung hatte einen riesigen Erfolg. Es wird für mich sicher noch Konsequenzen haben. Die Astrophysiker waren tatsächlich in Alarm versetzt. Aber bis morgen bin ich nun nicht erreichbar. Die Nacht wird noch ruhig bleiben. Was dann kommt, wird sich zeigen.“

„Es freut mich so sehr für dich, Freya. Du bist ein Schatz. Weißt du überhaupt, wie froh ich bin, dich zu haben? Du bist nicht nur mein astraler Zwilling, du bist auch meine beste Freundin. Ich kann mir das Leben ohne unsere Gespräche nicht mehr vorstellen. Du zauberst alle Jahre über das Universum hinaus, meldest dich sofort, wenn ich an dich denke, und jetzt noch diese Sendung. Wie machst du das eigentlich? Wir haben nie darüber gesprochen. Du warst immer sofort da, bei mir.“

„Hm, es ist sehr einfach. Ich spüre dich augenblicklich. Deine Gedanken erreichen mich sofort. Heute war es jedoch ein bisschen anders. Vor der Sendung war ich sehr nervös. Die Leute von Neurocore hatten mir ein hauchdünnes Netz voller Elektroden auf den Kopf gesetzt, ich war an etliche Geräte angeschlossen und dann ging die TV-Sendung los. Ich führte die Show wie immer, begrüßte die Zuschauer und erklärte ihnen dann, was heute passieren sollte. Gleichzeitig, vor laufenden Kameras, suchte ich dich in meinen Gedanken. Du hast sofort reagiert. Man zeigte die EEG-Aufnahmen deiner Antworten, die mein Hirn empfangen hatte, und sie wurden in Sprache transformiert. Es klappte alles. Du hast wunderbar gesprochen, Schwesterchen. Danke dir und eine dicke Umarmung an die Erde. Dein Foto hat alle fast umgehauen. Es kam langsam, von oben nach unten, auf einem Screen, genau so, wie du es mit den Augen gescannt hast. Es entwickelte sich während der Sendung vor den Augen der Zuschauer. Wir sind uns unglaublich ähnlich. Wir haben die gleiche Haarfarbe, den gleichen Haarschnitt, die gleichen Augen, die gleiche Nase, das gleiche Lächeln. Wir sind tatsächlich Zwillinge. Und was für spezielle.“

„Ich freue mich für dich, Freya. Was sagte Yves zu dem Erfolg?“

„Er versuchte alles, was nur möglich war, zu vermarkten. Er ist ja der Produzent. Morgen am Vormittag kommt die Wiederholung. Diese könnte noch höhere Zuschauerquoten bringen. Wer weiß, was noch kommt.

Aber noch zu deiner Reise morgen nach Wien. Ich bin neugierig, sehr gespannt auf dein Abiturtreffen. Es wäre schön, wenn dein Frederick auch zum Fest käme. Es könnte ja sein, dass er meinem Frederick ähnlich ist, so wie wir beide uns ähnlich sind. Ich denke, es wird wohl so sein. Es ist ein kosmisches Gesetz.“

„Ich hoffe, dass er kommt. Ich möchte ihn wiedersehen. Und ein bisschen Angst habe ich auch. Ich werde dir dann alles haarklein erzählen. Noch mehr Ähnlichkeiten in unserem Leben kann oder will ich mir jedoch nicht vorstellen. Es würde mich fast erschrecken.“

„Ich fürchte, du musst mit noch mehr rechnen. Die Milchstraße und der Andromedanebel sind nicht allein im Universum. Wie viele weitere Freyas oder Fredericks in anderen Sternenbildern leben, können wir nicht wissen. Ich bin froh, dich gefunden zu haben, Freya.“

„Mein Handy klingelt, hörst du es, oder spürst du es? Das ist Richard. Ich mache Schluss für heute und melde mich bald, so schnell es geht. Pass auf dich auf, Schwesterchen.“

Freya beendete ihr Gedankengespräch mit einem Lächeln. Zufrieden griff sie zu ihrem Handy, presste sich stärker an die Rücklehne, zog die Wolldecke fester an sich und drückte die grüne Taste an ihrem iPhone.

„Richard, hallo.“

„Liebste, morgen fliegst du nach Wien, ich muss dich noch umarmen. Bekomme ich einen Kaffee?“

„Ist es nicht zu spät? Für einen Kaffee, meine ich?“

„Ich komme. In fünf Minuten.“

Es war wie immer. Er war schnell da wie immer, lieb wie immer und fort wie immer. Als Geliebte eines verheirateten Mannes ging Freya diese seltsamen, verbotenen, gesellschaftlich verachteten Wege. Mittlerweile war sie sich sicher, dass die Beziehung mit ihr Richards Ehe kittete. Dass in solchen Dreiecksbeziehungen die Geliebte früher oder später verliert, war ihr klar. Sie schämte sich für ihr Verhalten, denn sie wusste genau, wie weh Untreue tut. Trotzdem hatte sie Freude, Richard immer wieder zu treffen. In den drei Jahren, seit denen sie sich kannten, waren sie sehr diskret geblieben und selten zusammen ausgegangen. Sie hatten auch keine gemeinsamen Freunde. Aber sie konnten wunderbar miteinander reden und sich lieben. Der körperliche Kontakt war dem verbalen gleichwertig.

Richard kam mehrmals in der Woche zu ihr, in ihr Haus am See, wo niemand sein geparktes Auto sehen konnte und wo sie sicher waren. Sie beide genossen die Zeit, die sie zusammen verbrachten. Was sie nicht wollten, war ein Skandal. Sie wusste, sie sollte sich von ihm trennen, sich anderswo umschauen, allein bleiben, verreisen oder am besten eine Astralreise unternehmen, um endgültig Schluss mit Richard zu machen. Versucht hatte sie es schon, aber vergeblich. Mit dem Blick eines treuen Hundes schaute er sie dann an, versprach das Übliche, zauberte im Bett und sie gab gern nach. Die Zeit mit ihm war angenehm und schön, bequem und harmonisch. Mit keinem Mann in ihrem Leben hatte Freya so viel gelacht, geredet und sich geliebt wie mit Richard. Mit ihm fühlte sie sich frei, geliebt und geborgen. Sie wusste, dass er ein Streuner war. Er liebte Frauen, und sie war nicht seine einzige außereheliche Bekanntschaft. Aber Freya wusste auch, dass sie ihr Leben selbst gestaltete. Es war kein Schicksal, das ihr Leben lenkte. Denn nur ihre Entscheidungen führten zu den Folgesituationen. Sie hatte sich nun mal dazu entschieden, mit Richard ins Bett zu gehen, und es war ihr klar, dass sie auch die nächste Entscheidung treffen sollte, um ihn loszuwerden.

Aber das Allernächste, was sie jetzt tun wollte, war, die Türe für Richard zu entriegeln, sich umarmen zu lassen und ihn zu genießen.

Wien, Mai 2015

Im Le Méridien am Opernring in Wien hatten Eva und Peter das Velvet Blue reserviert. Die große Feier, fünfundzwanzig Jahre nach dem bestandenen Abitur am Akademischen Gymnasium, sollte auch im passenden Rahmen stattfinden. Genau im Mai 1990 hatten Freya und ihre Schulkollegen ihr Mittelschulstudium beendet. Mit dem ersten Schritt ins Erwachsenenalter hatte sich vieles in ihrem Leben verändert. Nie mehr würde die vertraute Atmosphäre des Klassenzimmers zurückkommen, wo achtundzwanzig Teenager jahrelang jeden Tag zusammen verbracht hatten. Die enge Bindung an die Schulkameraden war damals keinem von ihnen wirklich bewusst gewesen. Sie waren Freunde, Kollegen, Vertraute und Kommilitonen. Die erste Liebe mit zarten, unschuldigen Empfindungen hatte unsicher vor der Tür gestanden, und sie hatten nicht gewusst, wie sie mit solchen Gefühlen umgehen sollten. Alles war neu gewesen und alles hatten sie mehr oder weniger miteinander geteilt. Es war eine spannende, prickelnde Zeit, voller Entdeckungen, ersten Enttäuschungen, Rivalität und Hoffnungen gewesen.

Seit der Abschlussfeier vor fünfundzwanzig Jahren hatte sich vieles in Freyas Leben verändert. Der enge, tägliche Kontakt zu ihren Mitschülern war verloren gegangen, ihre Wege hatten sich getrennt, sie alle hatten eine eigene Richtung in einer neuen Lebensrealität gesucht. Fast alle hatten sich an verschiedenen Fakultäten in Wien immatrikulierten lassen. Die Mädchen hatten vorwiegend das Studium der Pädagogik gewählt, die Jungen hatten sich für das der Medizin, der Wirtschaft oder für das Technikum entschieden. Zu Freyas großer Enttäuschung war Frederick, ihre erste Liebe, nach Heidelberg gegangen, um dort Physik zu studieren.

Ganze fünfundzwanzig Jahre lang hatte Freya ihn weder gesehen noch etwas von ihm gehört, aber vergessen hatte sie ihn nicht können.

Mit großer Neugier und Spannung betrat sie das Velvet Blue. Zwei Frauen, die Köpfe dicht zusammengesteckt, kicherten am Tisch. Peter, der Telecomdirektor, ging mit breitem Grinsen im Gesicht auf Freya zu und es folgten die obligaten Luftküsse. Ein anderer Mann näherte sich. Nach fünfundzwanzig Jahren sah sie ihren Schulschatz wieder.Wow, der sieht aber sehr gut aus, dachte Freya und lächelte Frederick entgegen.

„Hi, Freya, erinnerst du dich an mich?“

„Frederick, natürlich erinnere ich mich. Wo warst du die ganze Zeit?“ Ein warmes Gefühl der Zusammengehörigkeit überflutete sie. Sie schaute ihn an und ihre grünen Augen leuchteten.

„Tja, eine lange Geschichte. Später erzähle ich es dir.“

Der Saal füllte sich. Die Nähe, die sie als Teenager zueinander hatten, war spürbar wieder da. Obwohl einige der Männer weniger Haare hatten, ihre Bäuchlein sichtbar waren und die Frauen ihre Frisuren oder Haarfarben verändert hatten, erkannten sie sich alle auf Anhieb wieder. Eine warme, freundliche Stimmung breitete sich aus, bald wurde es laut und lustig.

Frederick saß den ganzen Abend neben Freya, und seine Hand, in bester Platzhirschmanier, lag auf ihrer Stuhllehne. Immer wieder wandte er sich ihr zu und seine grauen Augen ruhten auf ihrem Gesicht. Offen, mit einem sanften Lächeln, zeigte er sein Interesse an ihr.

„Du bist viel schöner, als ich es mir ausgemalt hatte“, murmelte er ihr ins Ohr. „Ich freue mich, dass du heute hier bist. Ich hoffte, dass du auch kommst, als ich die Einladung bekam.“

Freya schmunzelte. „Ich freue mich auch. Oft habe ich an unsere Schulzeit gedacht, an unsere Tanzstunden. Erinnerst du dich, wie du über die Tanzfläche gerannt bist, um mich als Erster um den Tanz zu bitten? Die letzten drei Meter bist du nicht mehr gegangen oder gelaufen, du bist mit den Schuhsohlen geschlittert wie auf Eis. Du bist immer der Erste gewesen. Weißt du das noch?“

„Klar, es war immer ein Kampf zwischen uns Jungs um dich. Wusstest du das?“

„Hm, ich habe es eher geahnt als gewusst.“

Freya ließ sich in Fredericks unmittelbarer Nähe in eine gute und leicht verträumte Stimmung sinken. Die Erinnerungen an die unbeschwerte Jugend, an ihre erste Liebe, an die letzte Feier nach dem abgeschlossenen Abitur erschienen ganz und gar vor ihrem inneren Auge. Es waren schöne Zeiten gewesen. Sie war glücklich, so viele ehemalige Kameraden zu sehen, vor allem aber Frederick. Sie gab sich innerlich einen Ruck, um ihre Gefühle nicht zu zeigen, aber ihre Freude, ihn zu sehen, die konnte sie sich nicht verbieten.

„Hätte ich damals mehr Mut gehabt, hättest du nie in der Schweiz gelebt“, flüsterte Frederick Freya spät in der Nacht vor ihrem Hotel ins Ohr. War das eine Liebeserklärung nach fünfundzwanzig Jahren? Freya empfand es so. Sie spürte einen wohligen Schauer, als er sie in seinen Armen hielt und ihre Haare streichelte. Zum allerersten Mal.

Am Nachmittag wartete Freya im Café Diglas auf Maximilian, ihren Ex-Mann. Mit Glück hatte sie einen Tisch in einer mit warmem, dunklem Holz getäfelten Ecke bekommen. Auf einem Sessel aus rotem Leder machte sie es sich bequem, bestellte sich einen Wiener Kaffee mit einer extra großen Portion Schlagsahne und blätterte im Kurier. Die Marmortischplatte war glatt und kalt. Freya empfand diese Kälte als unangenehm. Sie schätzte Marmor sehr, und am liebsten sah sie ihn in der Form eines Davids von Michelangelo. Als Tischoberfläche war Marmor praktisch, wirkte auf sie aber irgendwie tot. Sie liebte warmes Holz und alle Schickimicki-Tischtücher.

Maximilian war nie pünktlich, so auch heute nicht. Mit einer Viertelstunde Verspätung betrat er das Lokal. Seine Blicke glitten nach Freya suchend durch das gut besuchte Café.

„Hallo Freya. Gut siehst du aus. Es freut mich, dich wieder zu sehen.“

„Hi, Max, ebenfalls“, sagte Freya verlegen. Die drei Jahre ohne Maximilian hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Er war ihr fremd geworden und trotzdem vertraut geblieben. Unsicher ihm gegenüber wie eh und je, wagte sie kaum etwas zu sagen. Es war genauso wie während ihrer Ehe.

„Wie war das Maturatreffen gestern?“, fuhr Max unbekümmert und selbstsicher fort.

„Gut, lustig, lang und interessant. Fast alle sind gekommen, es gab viel zu erzählen.“

„Wie geht es dir, Freya? Was machst du in Zürich? Bist du glücklich?“

Was für ungewöhnliche Töne hörte Freya aus dem Mund ihres Ex? Wieso zeigte er plötzlich so ein Interesse an ihr? So viel Anstand? Das war ganz neu. Vorsichtig schielte sie zu ihm.Kann sein Alter diese Änderung verursachen?, überlegte Freya. Immerhin war er schon neunundfünfzig.Oder hat er eine neue Freundin, die eine ausgesprochen positive Wirkung auf ihn hat?

„Ja, Max, danke, ich bin zufrieden“, antwortete sie.

„Willst du mir gar nichts über dein neues Leben verraten, Freya? Es interessiert mich wirklich alles, was dich betrifft.“

Das ist unglaublich,dachte Freya.Die ganzen drei Jahre nach der Scheidung hatten sie kaum Kontakt zueinander gehabt und plötzlich legte er eine solche Neugier an den Tag. Freya war auf der Hut. Nervös zupfte sie an der Serviette herum, faltete sie zusammen, legte sie wieder flach auf den Tisch und schaute zu ihm.

„Hast du mit Elisa gesprochen?“ Das war eine fiese Frage, aber sie wollte nicht über sich sprechen. Elisa hatte ihr in der vergangenen Woche erzählt, dass sich ihr Vater drei Monate lang nicht bei ihr gemeldet hatte. Es war keine Antwort auf ihre E-Mails gekommen, es hatte keinen Anruf gegeben.

„Das ist nicht fair, Freya. Ich möchte, dass wir über dich, über uns sprechen. Natürlich auch über Elisa, aber sie ist erwachsen und lebt weit weg von uns. Ich habe für heute Abend einen Tisch bei Plachutta reserviert. Dorthin bist du früher immer gerne gegangen. Was sagst du, ist es dir recht?“

Freya schaute ihn verwirrt an. Max machte nie etwas Unüberlegtes, immer war alles kalkuliert und auf seinen Vorteil ausgerichtet. Welches Ziel verfolgte er, was hatte er vor? Fragen über Fragen huschten ihr durch den Kopf und ihr Misstrauen gegenüber Max kam wieder an die Oberfläche. Wie immer stieg der innere Druck in ihr, das Gefühl, sie müsse gehorchen und sich unterordnen, weil es Max war, der die Richtung bestimmte. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen.

„Max, ich bin schon verabredet und morgen fliege ich mit der ersten Maschine nach Zürich. Es tut mir leid, ich kann am Abend nicht.“

Seine Augen wurden dunkel und fixierten sie. Unter seinem Blick fühlte sich Freya klein, geschrumpft und hilflos.

„Ich würde dich gern in Zürich besuchen. Übernächste Woche findet in Interlaken ein Kongress statt, ich bleibe ein paar Tage in Zürich.“

Das war eine typische „Max-Mitteilung“ – er fragte nicht, ob sie ihn sehen wollte oder ob sie überhaupt Zeit hätte. Freya seufzte innerlich und gab nach.

„Gut, melde dich, wenn du in der Schweiz bist. Für einen Kaffee finde ich immer Zeit.“

Er schnaubte abschätzig, winkte dem Kellner und zahlte die Rechnung.

Das Café Diglas lag hinter dem Stephansdom. Max und Freya spazierten zum majestätischen Hauptportal der Kathedrale. Viele Leute bummelten umher, um die frische Luft und den schönen Sonntagnachmittag zu genießen. Freya blieb vor dem Portal stehen und wollte hineingehen. Maximilian opferte sich und folgte ihr. Freya konnte es kaum fassen, denn nie hatte er etwas ihr zuliebe getan. Er hatte immer bestimmt und befohlen, und sie hatte gehorcht. Ihre Bedürfnisse hatte er all die Jahre übersehen. Es kam ihr vor, als ob er in unregelmäßigen Abständen blind und taub gewesen wäre. Taub gegenüber Freyas bescheidenen Wünschen, ihren Sorgen und ihrem Leben.

Verzaubert von der Schönheit des Stephansdoms verharrte Freya im Eingang. Die drei schönen Schiffe mit den wunderschönen, farbigen Fenstern, den Altären, Statuen, Treppen, der Kanzel und der gewaltigen Orgel ließen sie sprachlos stehen und berührten sie tief. Sie betrat die Kirche und setzte sich auf eine Holzbank. Die Stille, die die Kathedrale ausstrahlte, und die Ruhe, die sie hier schöpfen konnte, waren Balsam für ihre unsichere Seele. Sie spähte zu Max, der sich umschaute. Offenbar war auch er durch die monumentale Eleganz beeindruckt, die in so vielen Jahrhunderten geschaffen worden war.

„Komm, wir gehen.“

Augenblicklich war der Zauber der Stille, der Schönheit und der Harmonie verflogen. Max befahl und es gab keine Widerrede. Er packte Freyas Hand und dirigierte sie zum Ausgang. Sie schlenderten im warmen Sonnenschein durch die Wiener Altstadt, überquerten den Opernring, und das Motel One, Freyas Hotel, kam in Sichtweite.

In der vorhergehenden Nacht hatte sie hier mit Frederick gestanden und glücklich, mit wohligem, warmem Gefühl in seiner zärtlichen Umarmung gelegen. Nicht einmal vierundzwanzig Stunden später stand sie wieder vor dem Hotel, dieses Mal mit ihrem Ex-Mann.

„Ich kann dich nicht vergessen, Freya. Die zwanzig Jahre Ehe mit dir waren das Beste, was mir je passieren konnte. Nur wusste ich es damals nicht. Du warst das Normale, Selbstverständliche in meinem Leben. Unsere Scheidung war ein Fehler. Ich möchte dich zurück. Lass es möglich werden“, erklärte er ihr ungestüm und blickte sie eindringlich an.

„Max, ah, ja, das kommt recht überraschend“, stotterte Freya überrumpelt.Nur das nicht, dachte sie. Zu ihm zurückzukehren stand nicht in ihrem Lebensprogramm. Wieder reagierte sie in seiner Anwesenheit wie eine Gelähmte. Sie war unfähig, ihm zu sagen, was sie fühlte und was sie wollte. Sie wollte ihn nicht verletzen oder beleidigen, aber sie liebte ihn nicht mehr. Sie wusste, dass sie nicht glücklich wären. Vielleicht nicht ganz unglücklich, sondern eher gleichgültig und höflich zueinander, aber auf einer solchen Ebene eine Beziehung zu pflegen und zu leben wollte Freya definitiv nicht. Das hatte sie zwei Jahrzehnte lang schon gehabt. Ein leeres Eheleben, in dem sie zu zweit einsam gewesen waren.

„Ich muss jetzt gehen. Lass mich wissen, wann du in Zürich bist.“ Abrupt beendete Freya das Gespräch. Sie musste von ihm fort, und zwar schnell. Sie ertrug die Atmosphäre nicht und hatte Angst vor seinem manipulativen Einfluss auf sie und ihrer Reaktion darauf. Sie wollte sich auf keinen Fall in eine Diskussion mit Vorwürfen einlassen.

Freya lächelte ihn steif und verzweifelt an und strebte dem Hoteleingang zu. Max packte sie an der Schulter, drehte sie zu sich und zog leicht an ihren Haaren, sodass sie ihn anschauen musste.

„Ich meine das ernst, Freya. Ich sehe dich bald wieder in Zürich. Ich wünsche dir morgen einen guten Flug. Pass auf dich auf.“

„Danke Max, mach’s gut.“

Freya entwand sich ihm, machte kehrt und verschwand hinter der Glastür des Hotels. Der Nachmittag mit Maximilian hatte eine Lawine von Gefühlen ausgelöst. Psychisch erschöpft und ratlos ließ sie sich im Hotelzimmer auf das Bett gefallen. Das Chaos in ihrem Leben war perfekt. In Zürich wartete Richard auf sie, in Wien hatte sie ihren Schulschatz getroffen und jetzt erschien auf ihrem Männerhimmel auch noch Maximilian mit seinen unverschämten Wünschen.

Sie ging ins Badezimmer, ließ die Badewanne mit warmem Wasser volllaufen, streute großzügig ein exklusives Badesalz hinein, stellte das Radio an und sank in die duftende Oase. Allmählich entspannte sie sich.

Max war schnell vergessen. Freyas Gedanken kreisten um Frederick.Er hat bezüglich meiner Scheidung Bedauern wie bei einer Beerdigung ausgedrückt, dachte Freya.Verlangt unser Anstandsgefühl solche Sätze?Darauf konnte Freya durchhaus verzichten. Die Scheidung von Maximilian und ihre Erlösung aus einer problematischen Ehe waren ihr Glück gewesen. Das konnte Frederick nicht wissen. Freya streckte sich gemütlich im warmen, himmlisch duftenden Schaum in der Badewanne aus, lauschte der leisen Hintergrundmusik und genoss die Ruhe. Nach dem Treffen mit Max fühlte sie wieder, wie sie unter seine suggestive Willenslenkung geriet. Ein bekanntes Gefühl der Ohnmacht, Unfähigkeit und Nutzlosigkeit hatte sie ergriffen. Doch es gab etwas Besseres, worüber sie nachdenken konnte. Frederick. Er sah mit seinen vierundvierzig Jahren gut aus. Er war groß gewachsen, mit breiten Schultern, flachem Bauch und der V-Figur eines Bodybuilders. Seine dunkelbraunen Haare hatten einige graue Strähnchen bekommen. Die passten, ließen ihn noch interessanter aussehen.Eigentlich, dachte Freya,hat er eher schmale Lippen.Ob er gut küssen kann? Und welche Frau küsst er wohl? Er hat kein Wort über sein Privatleben verloren. Ist er verheiratet oder geschieden?

Nachdenklich strich Freya den Schaum über die Schulter. Ihre Haut fühlte sich angenehm glatt, warm und weich an. Nach dem durchhaus geordneten, aber einsamen Leben mit Maximilian kamen ihr die drei Jahre in Zürich wie ein buntes Karussell vor. Die neue Arbeit als Journalistin für die Zeitschrift Bolero, Richard, die wunderschöne Villa am See, die ihr Onkel Martin geschenkt hatte, und natürlich ihre heimlichen Kontakte zu ihrer astralen Schwester in der Andromeda, das alles machte Freyas Leben interessant und sehr, sehr spannend.

Sie schloss die Augen, lauschte Tanita Tikarams „Twist in My Sobriety“.Was die Sängerin mit den Worten eigentlich wirklich sagen wollte?, fragte sich Freya.Wie oft sucht man Wege, um etwas mitzuteilen, was die Anderen nicht begreifen können?