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Rowohlt E-Book Monographie Friedrich II., der als «Friedrich der Große» in die deutschen Geschichtsbücher einging, wurde am 24. Januar 1712 geboren. Über dreihundert Jahre danach ist es an der Zeit, den Mythos des «Alten Fritz» neu zu hinterfragen: Was für eine Persönlichkeit war dieser Monarch, und woraus schöpfte er die Ideen und die Kraft für seine militärischen und politischen Taten? Zugleich wird die wechselvolle Wirkungsgeschichte von Friedrich II. dargestellt und kritisch durchleuchtet. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.
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Seitenzahl: 195
Veröffentlichungsjahr: 2014
Ewald Frie
Friedrich II.
Rowohlt E-Book
Geboren am 24. Januar 1712 in Berlin, gestorben am 17. August 1786 in Potsdam. Vater: Friedrich Wilhelm I. (1688–1740, König in Preußen 1713–1740; «Soldatenkönig»); Mutter: Sophie Dorothea von Braunschweig-Lüneburg (1687–1757).
König in Preußen seit 1740. Verheiratet seit 1733 mit Elisabeth Christine von Braunschweig-Bevern, getrennte Haushalte seit 1740, keine Kinder.
Vier: Erster Schlesischer Krieg 1740–1742, Zweiter Schlesischer Krieg 1744–1745 (beide sind Bestandteil des Österreichischen Erbfolgekrieges 1740–1748), Siebenjähriger Krieg 1756–1763, Bayerischer Erbfolgekrieg 1777–1778.
Zahlreiche Repräsentationsbauten, darunter Hofoper, Berlin (1741–1743); Schloss Sanssouci, Potsdam (1745–1747); Neues Palais, Potsdam (1763–1769).
Zahlreiche Bücher und Aufsätze (wenige davon zu Lebzeiten gedruckt) in französischer Sprache, darunter L’Antimachiavel (1739); Mémoires pour servir a l’histoire de la maison de Brandebourg; Histoire de mon temps; Histoire de la guerre de sept ans; umfangreiche Briefwechsel, darunter der mit dem französischen Philosophen Voltaire; großes, zu Lebzeiten weitgehend ungedrucktes poetisches Werk; musikalische Kompositionen.
Die Bibliographie «Friedrich der Große 1786–1986» (1988) stellt auf gut 400 Textseiten die deutschsprachige bibliographische Primär- und Sekundärliteratur zusammen; seitdem ist die Literaturproduktion eher angestiegen. Kritische Forschungsgeschichte von Peter-Michael Hahn (2007); Biographien unter anderem von Thomas Babington Macaulay (1842), Thomas Carlyle (1858–1865), Reinhold Koser (1893–1903), Arnold Berney (1934), Gerhard Ritter (1936), George Peabody Gooch (1947), Rudolf Augstein (1968), Ingrid Mittenzwei (1979), Theodor Schieder (1983), Christopher Duffy (1985), Jean-Paul Bled (2004), Johannes Kunisch (2004), Gerd Heinrich (2009).
Dieses Stück Geschichte, das ich schreiben will, ist vor allem deshalb schön, weil es reich an einer Fülle von Ereignissen ist, die sich durch Größe und Einzigartigkeit auszeichnen; ich wage sogar zu behaupten, dass es seit dem Untergang des Römischen Reiches keine so bemerkenswerte Epoche in der Geschichte gegeben hat wie die des Todes von Kaiser Karl VI., dem letzten männlichen Nachkommen des Hauses Habsburg, und der Ereignisse, die jene berüchtigte Liga oder eher jenes Komplott so vieler Könige hervorgebracht hat, die sich zum Untergang des Hauses Österreich verschworen hatten.[1]
Mit diesen Worten ordnete Friedrich II. 1746 die ersten Jahre seiner Regierungszeit in die allgemeine Geschichte ein, die er in einer Histoire de mon temps quellengestützt, unbestechlich und unparteiisch der Nachwelt überliefern wollte. 1775, in einem weiteren Vorwort der mittlerweile überarbeiteten und fortgeschriebenen Histoire de mon temps, fielen immerhin die Zeit Karls des Großen, Karls V., der Reformation, des Dreißigjährigen Krieges und des Spanischen Erbfolgekrieges in die gleiche Kategorie wie die Jahre seit 1740.[2]
Die Worte Friedrichs sind in mehrerlei Weise bezeichnend für ihren Autor. Er schrieb Französisch, eine Sprache, die er viel besser beherrschte als das Deutsche und die er auch für allein kunstfähig hielt – als ihm sein Vorleser Charles Étienne Jordan 1742 deutsche Gedichtverse schickte, antwortete Friedrich, das sei für ihn wie Hebräisch.[3] Deutsch, und zwar mundartliches Deutsch, sprachen in Friedrichs Umfeld die Dienerschaft, die Soldaten und der ihm lange Zeit verhasste Vater. Auf Deutsch war Friedrich in seiner Jugend in den Fächern Religion und Militär unterrichtet worden. Der Rest des Unterrichts war Französisch. Deutsch waren Akten und Verwaltungsarbeit, deutsch waren die oft groben Randbemerkungen Friedrichs. Französisch sprachen seine Gouvernanten, sein erster Lehrer, seine intellektuellen Freunde. Französisch waren seine Lektüre, seine intellektuelle Konversation, seine schriftstellerischen Äußerungen.[4] Französisch war die Sprache, in der er sich geistvoll mitteilen konnte. Weil seine Schriften im 19. Jahrhundert ins Deutsche übersetzt worden sind und seine Zitate als deutsche Zitate fortleben, kommt er uns heute deutsch vor. Doch Friedrich begriff sich in Sprache und Lebensweise eher als Mitglied einer hochadligen und einer intellektuellen Gemeinschaft, die die europäische Hochsprache – Französisch – beherrschte. An der Verbesserung seines Französisch arbeitete er beharrlich, ließ sich von Freunden korrigieren, verbesserte seinerseits die Aussprache seiner Vorleser.[5]
Die geistvolle Mitteilung seiner selbst war Friedrich ein Lebensbedürfnis. Auch darauf weisen die einleitenden Zeilen hin. Zeit seines Lebens hat er sich selbst, sein Schicksal, seine Zeit und die Themen, die ihn und seine Zeit bewegten, schriftstellerisch verarbeitet. Das ist nicht ungewöhnlich für eine Epoche, die dem Brief, dem Tagebuch, der Autobiographik eine hohe Bedeutung beigemessen hat und deren diesbezügliche Produktion noch heute beeindruckt. Nach Johannes Kunisch liegt «der einzigartige Rang» Friedrichs aber darin, dass er sich «so intensiv und grundsätzlich […] mit dem Wesen und den Grundprinzipien einer dem Zeitalter aufgeklärter Rationalität angemessenen Fürstenherrschaft auseinandergesetzt»[6] hat. Rationalität freilich ist nicht das einzige Zentrum, um das herum Friedrichs Schreiben sich bewegt. Sprache und Sprachkunst erscheinen in all ihren Ausdrucksformen als Lebensmittel. «Es sind aus seiner Feder etwa 50000 französische Verse, zwei große Geschichtswerke, zahlreiche philosophische Essays, unzählige kunstvolle Briefe, ein komisches Heldengedicht, zwei Komödien, ein Drama in drei Akten, Opernlibretti sowie Epigramme und Fabeln erhalten.»[7] Von seinen ersten Feldzügen schrieb Friedrich Verse an seinen Vorleser Jordan. Er bat um Verse, ohne die er den Krieg nur schwer aushalten könne.[8] Jordan wunderte sich, wie er – ebenfalls in Versform – mitteilte:
«Wie man, wenn man auf dem Thron sitzt
und im Universum Aufsehen erregt,
sich nur um Mars und Bellona kümmert,
geistreich sein kann und schöne Verse dichtet.»[9]
Ende 1757, mitten im Siebenjährigen Krieg, schrieb er Gedichte, die er seinem Vertrauten Marquis d’Argens zu vererben versprach, falls er im Krieg sterben sollte.[10] Zwei Jahre später, als Friedrich um die Jahreswende 1759/60 den Krieg verloren gab und für Preußen wie für sich selbst keine Zukunft mehr sah, berichtete er d’Argens: Wenn ich vom Schmerz niedergestreckt werde, dichte ich Verse, damit eine konzentrierte Beschäftigung mir zur Zerstreuung dient und mir Augenblicke einer vorübergehenden Sicherheit verschafft.[11] Um die gleiche Zeit entstand eine Ausarbeitung über König Karl XII., in der Friedrich die Differenz zwischen dem persönlich heroischen, für sein Land aber desaströs wirkenden Schwedenkönig und ihm selbst auszumessen versuchte. In der Kunst, poetisch und prosaisch, ließen sich Grundthemen des Lebens wie Herrschaft, Krieg, Tod, Religion, Sexualität spielerisch umgarnen, treffen und so verarbeiten. In der Kunst konnte er den Standesunterschied zu seinen intellektuellen Freunden, dessen sich alle Beteiligten stets bewusst waren und bewusst sein mussten, überbrücken.
Friedrich war selbstbezogen. Nur so konnte er 1746 auf die Idee kommen, zwischen seiner Zeit und der des Untergangs des Römischen Reiches liege nichts, das in gleicher Weise der Erzählung wert wäre. Nur deshalb konnte er auf den Gedanken kommen, «grandeur» und «singularité» seien es, die Ereignisse und Personen epochal machten. Nun war das 18. Jahrhundert und insbesondere seine zweite Hälfte insgesamt eine Zeit der Hochschätzung des Individuums und des Selbst. Doch dem Zeitgenossen und dem nachlebenden Historiker öffnet und entzieht sich Friedrich im selben Augenblick. Er hatte sein Selbst früh verschlossen. Nur im anspielungsreichen, auch mehrdeutigen philosophischen und künstlerischen Austausch und in wenigen Briefen ließ er Einblicke in sein Innerstes zu. Friedrich konnte menschenfreundlich und mitfühlend, rational und sachlich, er konnte auch menschenverachtend und bösartig sein. Er war immer auf einen innersten Kern bezogen, den seine Mitmenschen nicht ergründen konnten und der sich auch dem nachlebenden Historiker schwer erschließt. Symptomatisch seine Weigerung, sich malen zu lassen. Aus der Regierungszeit Friedrichs gibt es genau ein Porträt, für das er Modell gesessen hat. Das zeigt einen Friedrich, der uns fremd ist. Die uns vertrauten Friedrich-Bilder entstammen beinahe sämtlich dem 19. Jahrhundert, das Friedrich nicht nur deutsch, sondern auch heroisch und reichsbegründend gemacht hat.
François Marie Arouet (1694–1778), der sich seit 1718 Monsieur de Voltaire nannte, war der wohl bedeutendste französische Philosoph des 18. Jahrhunderts, das nicht zufällig auch als das «siècle de Voltaire» bezeichnet wird. Philosophie ist dabei nicht in einem engen disziplinären Sinn zu verstehen, sondern als Wissenschaft oberhalb aller Wissenschaft. «Im Deutschen nannte sie sich ‹Weltweisheit›, d.h. Weisheit in der Welt und für die Welt» (Stollberg-Rilinger: Europa, S. 180). Voltaire verfasste Gedichte, Theaterstücke, historische, politische, religionskritische und im engeren Sinne philosophische Werke. Er unterhielt Briefwechsel mit zahlreichen politischen und Geistesgrößen seiner Zeit, darunter auch mit Friedrich, der sich 1736 erstmals an ihn wandte. Die Jahre 1750–1753 verbrachte Voltaire am preußischen Hof. Der Aufenthalt endete im Streit, doch ab 1757 waren beide wieder in engem Briefkontakt, der bis zu Voltaires Tod anhielt.
Friedrich glaubte nicht an den Fortschritt im Bereich der Politik und nicht allzu sehr an die Macht der Planung. Auch wenn seine Geschichtsschreibung mit der aufklärerischen Zivilisations- und Fortschrittsgeschichte Voltaires eng verwandt ist, distanziert sie sich im Hinblick auf die politische Geschichte deutlich von ihr.[12] Im einleitend zitierten Geschichtsstück ist es der Tod, der die epochale Ereignisreihe anstößt, nicht das Handeln eines Menschen. In den Briefen Friedrichs spielen Schicksals- und Glücksmetaphern eine große Rolle. Das mag dazu gedient haben, die eigene Verantwortlichkeit für das Unglück seines Landes, benachbarter Territorien oder anderer Menschen zu verkleinern. Es verarbeitete aber auch Erfahrungen wie die mehrfache Wendung der russischen Politik 1761/62. Ich bin der Spielball des Zufalls, er macht sich über mich lustig, schrieb er an d’Argens. Aber was soll ich euch sagen? Das allwaltende Schicksal ist stärker als ich; ich bin genötigt, ihm zu gehorchen. Ich bin im Herzen bekümmert, meine Verlegenheit könnte größer nicht sein, aber was tun? Sich mit Geduld wappnen.[13] Vor allem nach dem Siebenjährigen Krieg hat Friedrich daraus die Konsequenz gezogen, sich mit immer sorgfältigerer Planung, mit immer größeren Vorsichtsmaßnahmen vor allen Launen des Schicksals zu schützen. Der Fürst müsse selbst regieren, schrieb er im Politischen Testament von 1768[14], er müsse an der Spitze aller Departements stehen, er müsse seine Truppen selbst lenken, wenn er Krieg führe, sein Interesse müsse das seines Volkes sein. Doch trotz dieser sich immer weiter steigernden Ordnungs- und Sicherungsobsession blieb er skeptisch, ob (Planungs-)Sicherheit je erreichbar sein würde.
Im Zentrum der Geschichte stand für Friedrich die Politik. Auf sie richtete sich sein primäres Interesse als Geschichtsschreiber, und für sie betrieb er Geschichtsforschung. Die Geschichte konnte politisches Handlungswissen bereitstellen. Ihm ging es daher um die Geschichte der Kriege, Verhandlungen und Friedensschlüsse, der Mächte und Militärs und der darauf bezogenen Ressourcen der einzelnen Territorien. Der Untergang des Römischen Reiches ließ sich aus diesem Blickwinkel durchaus mit dem möglichen Zusammenbruch des Habsburgerreiches parallelisieren. In der Histoire de mon temps stellte Friedrich einleitend die europäischen Mächte vor. Dabei ging es um Regierungssysteme, führende politische Persönlichkeiten und große Generäle, Charaktere der Nationen, geographische und ökonomische Strukturen, Steuereinnahmen, Heer und Flotte. Friedrich beendete das Kapitel mit einer bissigen Überleitung:
Dies ist die Übersicht darüber, was die Kräfte und Interessen der Höfe Europas um das Jahr 1740 waren. Diese Aufstellung war nötig, um ein klareres Licht auf die folgenden Memoiren zu werfen; uns bleibt nur noch übrig, Rechenschaft von den Fortschritten des menschlichen Geistes abzulegen, sowohl hinsichtlich der Philosophie als auch der Wissenschaften, der Künste, des Krieges und was unmittelbar gewisse eingeführte Gebräuche betrifft. Die Fortschritte der Philosophie, der politischen Ökonomie, der Kriegskunst, des Geschmacks und der Sitten sind wahrscheinlich ein interessanterer Reflexionsgegenstand als die Erinnerung an purpurgewandete Dummköpfe, Scharlatane mit der Tiara auf dem Kopf und jene nachgeordneten Könige, die man Minister nennt, von denen sehr wenige es verdienen, in den Annalen der Nachwelt herausgehoben zu werden. Wer auch immer die Geschichte mit Sorgfalt studieren will, wird bemerken, dass sich dieselben Szenen oft wiederholen und dass man dabei nur den Namen der Handelnden austauschen muss, statt die Entdeckung bislang unbekannter Wahrheiten zu verfolgen, die Gründe zu erfassen, die den Wechsel bei den Sitten hervorgerufen haben, und das, was ursächlich die Finsternis der Barbarei zerstreut hat, welche der Erleuchtung der Geister abträglich war – das sind gewiss die Themen, mit denen sich alle denkenden Lebewesen beschäftigen sollten.[15]
Doch mochten seine Sympathien auch der Philosophie, dem intellektuellen Spiel und den schönen Künsten gehören – den Bereichen, in denen es Fortschritt, Aufklärung gab –, was für die politische Geschichte allein zählte, waren politische Kräfteverhältnisse, militärische Stärke und ökonomische Ressourcen, die, über Steuern abgeschöpft, Politik und Krieg erst ermöglichten. Dementsprechend sind die politischen Testamente Friedrichs konzipiert. Die Regierung, schrieb er im Politischen Testament von 1752 einleitend, beruhe auf vier Hauptpunkten: Rechtspflege, Finanzen, Militär und Politik. Die Rechtspflege handelte er ganz kurz ab. Die Finanzen wurden länger vorgestellt, weil sie, wie Friedrich betonte, die Grundlage der Kriegsführung seien. Das Hauptaugenmerk aber lag auf Politik und Militär.[16] In einer späteren Ausarbeitung heißt es, Politik, Militär und Finanzen gehörten zusammen. Wenn man sie gleichzeitig nach den Grundregeln guter Politik betriebe, würden die größten Vorteile für den Staat daraus entstehen.[17]
In der kurzen Passage aus der Histoire de mon temps tritt uns eine markante Persönlichkeit entgegen: ein französischer Autor, dem Literatur und Philosophie Lebensmittel waren, ein hochadliger, selbstbezogener, areligiöser, schicksalsverliebter, politischer Mensch. Wie steht es um seine Wertung der Epoche, in der er lebte und aus der heraus er schrieb? Hatte Friedrich recht mit der hohen Einschätzung seiner Zeit?
Das Heilige Römische Reich konnte eigentlich nur einen König haben: den von den Kurfürsten gewählten Monarchen, der seit dem frühen 16. Jahrhundert den Kaisertitel auch dann trug, wenn er nicht nach Rom gezogen war. In aller Regel war das ein Habsburger, mit Ausnahme eben der frühen Regierungszeit Friedrichs, 1742–1745, als der Wittelsbacher Karl Albrecht von Bayern gewählt wurde. Doch einzelne Reichsfürsten erlangten die Königswürde außerhalb des Reiches und wurden so zu Spielern auf dem europäischen Mächteparkett: Der Kurfürst von Sachsen war seit 1697 König von Polen, der Kurfürst von Braunschweig-Lüneburg seit 1714 König von Großbritannien. Friedrich III. von Preußen brachte 1701 den Kaiser dazu, ihm für das außerhalb des Reichsverbandes gelegene Preußen den Königstitel zu verleihen. Seitdem war er als Friedrich I. König in Preußen. Friedrich II., sein Enkel, nannte sich seit der ersten polnischen Teilung 1772 König von Preußen und trat so, beglaubigt auch durch seine kriegerischen und diplomatischen Erfolge, als gleichberechtigter Monarch auf europäischer wie auf Reichsebene auf.
Das Jahr 1740 und sein chronologisches Umfeld lassen sich durchaus als eine Zeit großer Umwälzungen beschreiben. Es ist zunächst eine Zeit des Niedergangs. Schweden, die Siegermacht des Dreißigjährigen Krieges, verschwand nach einem grandiosen Finale im Großen Nordischen Krieg unter Karl XII. von der europäischen Mächtebühne. Polen, vor 1700 für Europa bedeutender als Russland, verlor an Macht und Einfluss und wurde zwischen 1772 und 1795 unter seinen Nachbarn aufgeteilt. Das Osmanische Reich, 1683 noch vor Wien stehend, verlor weite Teile seines europäischen Machtbereichs. Die Niederlande, in ihrem Goldenen Zeitalter eine europäische Großmacht, gerieten seit 1713 ins Schlepptau Englands und wurden immer weniger als eigenständiger Akteur auf der europäischen Bühne wahrgenommen. Auf der anderen Seite stehen große Aufstiegsgeschichten. Russland wuchs zu einer europäischen Großmacht heran. Preußen, Mitte des 17. Jahrhunderts auch im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation nur eine mittlere Macht, die hinter Sachsen und Bayern zurückstand, wurde zu einer Vormacht in Deutschland und neuer Akteur auf der europäischen Bühne.
Geschichten von Aufstieg und Fall kennzeichnen die europäische Staatenwelt des 18. Jahrhunderts. Sie verdichten sich in Biographien der Großen: Ludwig XIV., aus dem 17. in das 18. Jahrhundert hineinragend, Peter der Große, Karl XII. von Schweden, Katharina die Große, Friedrich der Große, Maria Theresia, Joseph II. Epische Dramen können hier erzählt und auch verfilmt werden. Geschichten von Aufstieg und Fall finden wir auch auf der Ebene von Adligen und Adelsfamilien innerhalb der Einzelstaaten. Im Dienst des Herrschers stiegen Familien wie die Palms[18] am Wiener Hof oder die Razumovskijs[19] am Zarenhof schnell auf. Sie versuchten sich im Zentrum der Macht zu etablieren – das gelang einigen, wie den Razumovskijs, gut, anderen, wie den Palms, gelang es nicht. Letztere brachen unter der Last ihrer Schulden beinahe zusammen. Wieder andere Familien starben aus, wanderten aus oder verschwanden spurlos. Von den 115 Familien, die in der brandenburgischen Prignitz zwischen 1700 und 1800 Rittergüter besaßen, ist nur für vierundzwanzig Familien über das ganze 18. Jahrhundert hinweg Besitz nachweisbar. Nur ein Drittel der Adelsfamilien, die im 18. Jahrhundert in der Prignitz (vorübergehend oder dauerhaft) Besitz hatten, sind dort bereits vor 1600 nachweisbar.[20] Lieselott Enders nennt als Gründe für die «existenziellen Instabilitäten», mit denen Gutsherren konfrontiert waren: die Belastung der Güter durch Erbfälle, durch Ausstattung heiratsfähiger Töchter, durch Versorgung der Witwen und Ausstattung der Söhne für den Militärdienst, Kriegsanleihen und Kriegskontributionen sowie verschiedene landwirtschaftliche Aktivitäten, deren positive Folgen sich oft nicht sofort zeigten. Viele dieser Belastungen hingen mit Geburt und Tod zusammen und waren daher schwer planbar. Glück und Geschick mussten zusammenkommen, um einer Adelsfamilie Dauer zu verschaffen; und auch, wenn die Familien selbst lieber von Geschick erzählten, war das Glück meist von größerer Bedeutung.
Geschichten von Aufstieg und Fall lassen sich auch für Nichtadlige erzählen. Der Stuttgarter Waisenhauszögling Ludwig Ulrich Schnadow wurde 1786 Aufseher in seinem eigenen Waisenhaus und rückte nach mehreren Zwischenstationen bis in den Rang eines Generals der Infanterie vor.[21] In der ständischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts war Ungleichheit rechtlich verankert. Die rechtliche Stellung wurde vererbt – Menschen wurden als Adlige, Bürger, Bauern oder Unterbäuerliche mit spezifischen Rechten geboren –, was statische Verhältnisse über Generationen anzeigt. Doch auch ererbte Rechte mussten bewahrt, gegen die Launen des Schicksals verteidigt und durch individuelle Leistungen bestätigt werden. Der grundsätzlich wirkende Unterschied zur bürgerlichen und Klassengesellschaft des 19. Jahrhunderts war faktisch nur ein gradueller.
Auf der Ebene des Staatensystems wie einzelner adliger und nichtadliger Familien erscheint das 18. Jahrhundert also als eine sehr dynamische Zeit. Für einzelne Personen wie Familien war die Zukunft schwer berechenbar und sehr unsicher. Zukunftsgewissheit versprachen die christlichen Kirchen mit der jenseitigen, ewigen Welt, doch auch die verlor an Überzeugungskraft. Friedrich II. jedenfalls notierte im Politischen Testament von 1768 voller Radikalität und Boshaftigkeit, die Religion sei ein alter metaphysischer Roman, voll von Wundern, Widersprüchlichkeiten und Absurdität, geboren aus der glühenden Einbildungskraft der Orientalen, der sich auf Europa übertragen habe. Enthusiasten haben ihn vorgetragen, Ehrgeizige haben vorgegeben, davon überzeugt zu sein, Dumme haben ihn geglaubt, und das Gesicht der Welt hat sich durch diese Religion verändert.[22] Die aufklärerische Geschichtsphilosophie insgesamt sprengte den Rahmen der Heilsgeschichte, verlegte aber das Heil ins Diesseits, «in den innerweltlichen Geschichtsverlauf und in eine offene Zukunft»[23]. Doch weil Friedrich an den Fortschritt im Bereich der Politik nicht glauben mochte, von der doch gerade Wohl und Wehe der aufsteigenden Macht Preußen abhängig waren, sah er sich umso mehr einer grundlegenden Unsicherheit ausgesetzt.
1740 als Epochendatum – das 18. Jahrhundert als eine von Beben und Brüchen zerklüftete Zeit? Dem steht die Wertung der Epoche in Historiographie und Geschichtsbewusstsein entgegen. Die Zeit zwischen Dreißigjährigem Krieg (1618–1648) und Französischer Revolution (1789) erscheint hier vergleichsweise unbewegt. Historiker sprechen vom langen und vom kurzen 18. Jahrhundert – 1740 liegt jeweils in der Mitte.[24] Keine Epochenzäsur setzt hier an. Noch habe die Industrialisierung nicht eingesetzt, noch sei Europa betroffen von immer wiederkehrenden Hungerkrisen, noch sei der Gedanke der Volkssouveränität nicht praktisch geworden. Zwar wiesen der Aufstieg des Bürgertums, die Ideen der Toleranz und der Vernunft, wiesen Staatsreformen, Manufakturen und Protoindustrialisierungsphänomene auf die Französische Revolution, die Industrielle Revolution und das ihnen folgende 19. Jahrhundert hin, in dem Wachstum und Gleichheit zu beherrschenden Tendenzen würden.[25] Doch all diese Tendenzen scheinen das 18. Jahrhundert im Ganzen zu umgreifen und es auf die kommende Zeit auszurichten, die dann den Bruch mit allem Vorherigen vollzieht. Maßgebend zur Erfassung des 18. Jahrhunderts sind die Französische und die Industrielle Revolution. Sie ändern politische und ökonomische, soziale und kulturelle Spielregeln im Ganzen. Sie führen die Moderne herauf. Das 18. Jahrhundert heißt «Europa am Vorabend der Moderne»[26], die große Veränderung still vorbereitend.
Friedrich II. erscheint daher wie seine großen Zeitgenossen als König «der Widersprüche». In ihnen ließen sich, schreibt Theodor Schieder, «die Gegensätze der Zeiten erkennen, in denen er lebte und wirkte. In zahlreichen seiner Eigenschaften bleibt er den traditionalen Lebensformen Alt-Europas verhaftet, während er bereits dazu beigetragen hat, eben diese Lebensformen von Grund auf zu erschüttern. Das, was er unter Aufklärung verstand, war immer ein Vorgriff auf etwas noch nicht Existierendes, erst Kommendes, von dem er wie bei der deutschen Literatur sagen konnte, er sehe das gelobte Land von ferne, aber er werde es nicht betreten.»[27]
Doch diese Moderne-Interpretation, die das 18. Jahrhundert an der Aufbruchsgrenze einer Zeit alteuropäischer Ruhe verortet, sich selbst aber als Zentrum der Bewegung versteht, ist ins Gerede gekommen. Politikwissenschaftler und Soziologen argumentieren derzeit mit Rekursivmetaphern, wenn sie aktuelle Entwicklungen begrifflich fassen wollen. Der Krieg ziehe aus dem Gehäuse der Staatlichkeit aus, mit asymmetrischen Kriegen und Terrorismus kehrten die Warlords der Zeit des Dreißigjährigen Krieges nach Europa zurück. Der Staat, ein Produkt vor allem des 19. Jahrhunderts, höre in Zeiten von «failing states», Nichtregierungsorganisationen und UNO-Interventionen auf, die zentrale Institution der Politik zu sein. Die Nation, ebenfalls ein Produkt des 19. Jahrhunderts, verliere in Zeiten supranationaler Zusammenschlüsse und neuer Regionalismen, die beide an das Alte Reich vor 1806 erinnerten, an Bedeutung. China, Japan, Indien, Brasilien und Südafrika sind offenbar ebenso modern wie die lange Zeit maßgebenden westeuropäischen und nordamerikanischen Länder, doch unterscheiden sich ihre Modernen deutlich von dem, was begrifflich bislang als Moderne erfasst wurde.
Dieser gegenwärtige Diskussionsstand ermöglicht es, in neuer Weise auf das 18. Jahrhundert zu schauen. Wenn wir aufhören, eine mit Max Weber und Karl Marx sehr eng definierte Moderne als Messlatte an Menschen des 18. Jahrhunderts anzulegen, können wir davon ablassen, Widersprüche zu entdecken, wo Zeitgenossen gar keine sahen, und bewegungslose Tradition zu diagnostizieren, wo Zeitgenossen unter dramatischer Bewegung litten. Wir gewinnen dann einen neuen Beobachtungspunkt. Wir können das 18. Jahrhundert als eine unsichere Zeit wahrnehmen, in der der Fortschritt als regulative Idee diskutiert wurde, aber noch nicht etabliert war. Gerade Friedrich erscheint als ein Mensch, der dem Fortschritt nicht traute, sich aber auch, anders als sein Vater, der göttlichen Vorsehung nicht mehr anvertrauen mochte. Er begriff sich als ein auf sich selbst gestellter, den Launen der Fortuna, des Schicksals, ausgesetzter Mensch. Das befähigte ihn zu einem virtuosen Umgang mit Geschichte, Wissenschaft, Dichtkunst und Politik, der nicht in dem Schieder’schen Gegensatz von Tradition und Moderne aufgeht, sondern ein von Person und Situation her zu begreifendes Ganzes ergibt. Insofern ist uns Friedrich näher als viele Menschen des 19. und 20. Jahrhunderts.
Mein lieber Papa,