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Wie funktioniert geisteswissenschaftliche Forschung? Der Historiker Ewald Frie und der Soziologe Boris Nieswand erklären, wie der Drang nach Prestige, der Wettbewerb um Forschungsförderung, die Suche des Nachwuchses nach Stellen und der Spaß an neuen Ideen und Einsichten eine kritische Masse bilden, aus der tatsächlich neues Wissen hervorgeht. Ein ungewöhnlicher, scharfer, geradezu verführerischer Blick in den Maschinenraum des Geistes. Weltfremde Männer vor verstaubten Folianten, deren Bücher niemand liest: Das Image von Geisteswissenschaftlern könnte besser sein. Dabei hat sich geisteswissenschaftliche Forschung in den letzten Jahrzehnten grundlegend geändert. Immer mehr Frauen bekommen eine Chance. Die Digitalisierung hat das Suchen, Lesen, Auswerten und Schreiben beschleunigt. Teamarbeit ersetzt das stille Kämmerlein. Zugleich ist der Druck gestiegen, sich im Wettbewerb zu behaupten. Ewald Frie und Boris Nieswand haben zwölf Jahre lang in einem Sonderforschungsbereich zum Thema «Bedrohte Ordnungen» gearbeitet. Die Tübinger Keplerstraße 2 wurde für viele Forschende Anlaufpunkt und Arbeitsplatz. Auf der Grundlage ihrer eigenen Erfahrungen und von Interviews mit Beteiligten berichten die Autoren, wie von ersten Ideen und Theorien über Planungen und Anträge, Präsentationen und Evaluationen das Wunder vollbracht wird, dass man neue Erkenntnisse nicht planen kann, es aber trotzdem tun muss und damit auch noch Erfolg hat – jedenfalls meistens.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Ewald Frie & Boris Nieswand
KEPLERSTRASSE 2
Innenansichten geisteswissenschaftlicher Forschung
C.H.Beck
Cover
INHALT
Textbeginn
Titel
INHALT
1.
ERFAHREN
Häuser
Gelder
Strukturen
Menschen
2.
PLANEN
Ein Catchword
«Bedrohte Ordnungen» planen
«Bedrohte Ordnungen» navigieren
Teilprojekte planen
3.
PRÄSENTIEREN
Der Vorantrag
Die Begehung
Schwierige Entscheidungen
Kritik als Diagnoseinstrument
Ein Leben danach
Erzählen und erinnern
Der unversöhnliche Gutachter
Mehr als die Summe der Teile
Realsatire
Die geprellte Zeche
4.
ARBEITEN
Arbeitsalltag
Arbeiten im Teilprojekt
Mitarbeiten im
SFB
: Doktorierende und PostDocs
Mitarbeiten im
SFB
: Teilprojektleitende
Mitarbeiten im
SFB
: Der Maschinenraum
5.
BEWERTEN
Interdisziplinarität als Praxis
Wettbewerb im Wandel
Leistungsbewertung von Doktorierenden
Leistungsbewertung von PostDocs
Leistungsbewertung von Teilprojektleitenden
6.
VOLLENDEN
Dissertationen
Publikationen
Outreach
7.
BILANZIEREN
DANK
ANMERKUNGEN
1. Erfahren
2. Planen
3. Präsentieren
4. Arbeiten
5. Bewerten
6. Vollenden
7. Bilanzieren
Zum Buch
Vita
Impressum
Aus dem Kopfsteinpflaster- und Fachwerkhäusergewirr der Tübinger Altstadt führt die Wilhelmstraße schnurgerade nach Nordosten. Dann knickt sie nach Osten ab, um die Vororte Lustnau, Pfrondorf und Bebenhausen sowie die autobahnmäßig ausgebaute Bundesstraße 28 Richtung Stuttgart zu erreichen. Drei Spuren gibt es auf dem ersten, innerstädtischen Teilstück: eine für Busse, eine für Fahrräder und eine für Autos. Wie die meisten Studierenden nehmen wir das Rad. Unser Ziel: die Geschichte der Universität erfahren.
Am Lustnauer Tor aus der Altstadt kommend, sehen wir links zunächst den Alten Botanischen Garten, 1805 angelegt. Der Jugendsprech nennt ihn «Bota» und gibt auch einem benachbarten Café den Namen. Es folgt ein Ensemble aus drei Repräsentationsbauten der Universität aus den 1840er Jahren: die Neue Aula, flankiert vom Botanischen und vom Chemischen Institut. Ein wenig weiter die Wilhelmstraße hinauf stand die Akademische Reithalle, im 19. Jahrhundert ein zwingend gebotenes, inzwischen ein aus der Mode gekommenes Universitätsgebäude. Seit den 1970er Jahren wartet dort die Mensa auf hungrige junge Leute. Gegenüber zwei Bibliotheksgebäude, 1912 und 1963 fertiggestellt, dann der Hegelbau aus der Zeit um 1960. In ihm arbeiten die beiden Autoren dieses Buches. Hinter dem Hegelbau verläuft die Keplerstraße. Wir überqueren fast unmerklich die Ammer, einen Bach, der für das Tal verantwortlich ist, durch das die Wilhelmstraße uns führt. Dahinter: Keplerstraße 2, das Gebäude, um dessen forschende Bewohnerinnen und Bewohner in den Jahren 2012 bis 2022 es in diesem Buch geht. Die Forschung des 21. Jahrhunderts ist Teil einer jahrhundertealten Wissenschaftsgeschichte.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Johannes Kepler sind nicht die einzigen Wissenschaftler mit Weltruhm, denen wir beim Radeln über die Wilhelmstraße begegnen. Auf die Keplerstraße folgt die Melanchthonstraße. Zuvor konnten wir an der Silcher- und der Gmelinstraße eher württembergischer und Tübinger Geschichte gedenken. Am Bibliotheksgebäude von 1912 prangen Medaillons, die an große Dichter und Denker der Weltgeschichte erinnern sollen: rechts vom Eingang Homer, Dante Alighieri, William Shakespeare, Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller und Ludwig Uhland; links Plato, Leonardo da Vinci, Martin Luther, Gottfried Wilhelm Leibniz, Immanuel Kant und Otto von Bismarck.[1] Beide Reihen wirken heute zusammengewürfelt, ebenso wie die Auswahl der Straßennamen. Lokalpatriotismus, Nationalismus und stolzes europäisches Bildungsverständnis schoben sich rund um die Wilhelmstraße ineinander. Stadtplaner, Architekten und Bildungspolitiker des langen 19. und des kurzen 20. Jahrhunderts senden ihre Botschaften in die Welt des 21. Jahrhunderts hinein. Ob sie verstanden werden?
Die Wilhelmstraße ist nicht nach einem deutschen Kaiser, sondern nach dem zweiten württembergischen König benannt. Während seiner Herrschaft 1816–1864 wurde die 1477 gegründete Universität Tübingen vor der Stadt neu errichtet. Die Alte Universität mit Burse und Aula hatte ihr Zentrum bei der Stiftskirche mitten in der Stadt gehabt und schaute von dort aus auf den Neckar. Die viel großzügigere Neue Aula blickte nun vom Fluss weg ins Land hinein. Die Planungseuphorie der 1840er und 1850er Jahre ist in der weitgehend rechtwinkligen Straßenführung, den unebenen Bodenverhältnissen trotzend, bis heute sichtbar. Rund um die Neue Aula entstanden bis in die 1930er Jahre zahlreiche Neubauten: naturwissenschaftliche Institute und Medizinische Kliniken vor allem, dazu Verwaltungsgebäude. Die Geisteswissenschaften blieben zunächst in der Altstadt.
Ab den 1970er Jahren expandierten Medizin und Naturwissenschaften erneut. Sie eroberten nun die Anhöhen vor der mittlerweile deutlich gewachsenen Stadt. Hier entstanden immer neue Forschungsinstitute und Kliniken und auch ein neuer Botanischer Garten. Die Gebäude rund um die Wilhelmstraße wurden nach und nach von den Geistes- und Sozialwissenschaften sowie der Universitätsverwaltung besiedelt. Die Theologen eroberten die Medizinische Klinik, das Rektorat das Botanische Institut. Die Studierenden ließen sich im Alten Botanischen Garten nieder. Aber auch neue Gebäude sind entstanden: Die Mensa, die Universitätsbibliothek und der Hegelbau wurden schon genannt. Etwas weiter die Wilhelmstraße hinauf wurde eine Betontrutzburg der Literaturwissenschaften errichtet, der Brechtbau aus dem Jahr 1974. Ein wenig älter und etwas menschenfreundlicher wirkt der Lothar-Meyer-Bau, bezogen Ende der 1950er Jahre.
Die immer raumhungrige Universität mietet oder kauft auch Gebäude im Ammertal an, die zuvor keinen universitären Zwecken gedient haben. Heruntergewirtschaftete Wohnhäuser gehören dazu, aber auch der zwei- bzw. dreigeschossige Dreiflügelbau an der Keplerstraße 2, in dem unsere Geschichte spielt. Das Gebäude war 1936 als Reichssanitätsschule der SA eingeweiht[2] und nach dem Krieg vom Landwirtschaftsministerium Württemberg-Hohenzollern übernommen worden. Teile des Gebäudes mietete von 1947 bis 1950 die Württembergische Schwesternschaft vom Roten Kreuz,[3] außerdem gab es einen Gottesdienstraum für die Martinskirchengemeinde.[4] 1952 wollte die Universität ein erstes Mal das Gebäude nutzen, um die Zahnmedizin dort unterzubringen.[5] Stattdessen zogen Amtsgericht und Staatsanwaltschaft für ein paar Jahre ein, bis die französische Besatzungsmacht das Justizgebäude 1956 wieder freigab.[6] Erneut zeigte die Universität Interesse. Diesmal erhielt sie immerhin den Sitzungssaal des Amtsgerichts, der zum Hörsaal umfunktioniert wurde. Den weit überwiegenden Teil des Gebäudes nutzte aber nun das Regierungspräsidium Tübingen mit dem Oberschulamt. Dessen Name ging auf das Gebäude über. «Das Oberschulamt» war bestimmt von langen Fluren im zweigeschossigen Mitteltrakt und drei Treppenhäusern: in der Mitte des mittleren Traktes sowie an den Übergängen zu den dreigeschossigen Flügelgebäuden. Durch die Flure und über die Stufen hinweg hallten die Schritte. Umgeben war das Gebäude von Parkplätzen. Dahinter im Nordwesten die Ammer und der Brechtbau, an den übrigen Seiten ruhige Anwohnerstraßen.
2012 zog das Oberschulamt wieder aus. Sechzig Jahre nach dem ersten Versuch übernahm die Universität Tübingen das Haus mit seinen fast 2700 Quadratmetern Nutzfläche.[7] Nach einer gründlichen Renovierung bezogen nicht die Zahnmediziner, sondern zahlreiche sogenannte Drittmittelprojekte das Gebäude.
Der Sonderforschungsbereich 923 «Bedrohte Ordnungen», um den es in diesem Buch geht, hatte den größten Raumbedarf. Aber auch das Graduiertenkolleg «Religiöses Wissen 800–1800», in dem die Theologien federführend waren, fand ein Zuhause, daneben das literaturwissenschaftlich geprägte Graduiertenkolleg «Ambiguität. Produktion und Rezeption». Und dann waren da die vielen kleineren Projekte aus Geschichtswissenschaft, Germanistik, Anglistik, Romanistik, Rhetorik, Medienwissenschaft, Soziologie, Politikwissenschaft und Erziehungswissenschaft. Gemeinsam machten sie die Keplerstraße 2 eine Zeit lang zu einem Vorzeigebau Tübinger Erfolge bei der Einwerbung von Drittmitteln.
Mittlerweile ist davon nicht mehr viel übrig. Der Sonderforschungsbereich und die Graduiertenkollegs sind ausgelaufen und haben die Keplerstraße verlassen. An ihre Stelle sind universitäre Institute getreten. Das kommt häufiger vor. Drittmittelprojekte sind Entdecker, Erstnutzer. Wenn Gebäude sich als wenig geeignet erweisen, stößt sie die Universität nach Ende der Förderung wieder ab. Bewähren sie sich, verdrängt Dauernutzung durch Institutionen die temporäre Besetzung durch Projekte. Gebäude wirken statisch. Doch sie verändern sich und andere ständig.
Straßen-, Bau-, Gebäude- und Gebäudenutzungsgeschichte bilden in Tübingen den Wandel der Universität seit dem beginnenden 19. Jahrhundert ab, mit charakteristischen Schüben. Wir sind an der Neufundierung des Universitätswesens nach 1800 vorbeigeradelt, am Botanischen Garten und der Neuen Aula. Die Expansion um 1900 konnten wir bestaunen. Seit den 1960er Jahren ist Universitätsbildung zu einem Ziel für einen immer größeren Teil der Jugend geworden. Den Andrang zu bewältigen, davon zeugen die Zweckbauten aus Beton und Glas, etwas weiter die Wilhelmstraße hinauf, und die Neubauten der Naturwissenschaften und der Medizin auf den Höhen oberhalb der Altstadt. Seit den 2000er Jahren haben zeitlich befristete Projekte den Raumhunger der Universität im Ammertal verstärkt. Das brachte uns zur Keplerstraße 2. In der Universitätsstadt Tübingen kann Wissenschaftsgeschichte erwandert und erradelt werden. In ihr spiegelt sich allgemeine Geschichte.
Um Drittmittel und Forschungsprojekte geht es in diesem Buch. Der Begriff Drittmittel, der für das Ansehen von Universitäten in den letzten Jahrzehnten eine immer wichtigere Bedeutung erlangt hat, legt eigentlich eine falsche Fährte aus. Es handelt sich nämlich keineswegs um Mittel, die Wissenschaftler:innen von dritter Seite wie Unternehmen oder wohlhabenden Einzelpersonen zur Verfügung gestellt werden. Insbesondere in den Geisteswissenschaften geht es vor allem um Steuergelder. Sie werden aber nach anderen, stärker auf Wettbewerb ausgerichteten Verfahren und von anderen Organisationseinheiten verteilt als jene Mittel, die den Universitäten als Grundausstattung und als Personalkosten für Dauerstellen von den Bundesländern zugewiesen werden. Sonderforschungsbereiche, die sogenannten SFBs, um die es in diesem Buch gehen soll, werden wie die meisten geisteswissenschaftlichen Forschungsprojekte in Deutschland von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert. Sie wird zu zwei Dritteln aus Bundesmitteln und zu einem Drittel aus Landesmitteln finanziert.
SFBs sind teuer und renommiert. Sie verursachen in den Geistes- und Sozialwissenschaften den größten Raumhunger. Aufgrund ihrer Größe und ihres Ansehens definieren sie nationale und internationale Forschungsschwerpunkte. SFBs gibt es in Deutschland seit den späten 1960er Jahren. Reformeifer und Planungseuphorie der ersten Großen Koalition hatten große Hoffnungen auf die wissenschaftsbasierte Lösung von Gegenwartsproblemen geweckt.[8] Die ersten siebzehn SFBs wurden 1968 ziemlich eilig aus der Taufe gehoben. Sie hießen «Kardiologie» (in Düsseldorf angesiedelt), «Spätmittelalter und Reformation» (Tübingen) oder «Südostasienforschung» (Heidelberg). Der Wissenschaftsrat hatte in Kooperation mit der DFG und den Universitäten Themenfelder definiert, um, so jedenfalls die optimistische Ausgangsannahme, die möglichen Gegenstände wissenschaftlicher Forschung abzudecken. Die Aufgaben sollten auf Standorte verteilt werden, an denen bereits Expertise vorhanden war. An diesen Standorten sollten mithilfe gezielt eingesetzter Bundes- und Landesmittel Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Fächer sowie das für sie erforderliche technische Gerät weiter konzentriert werden. Schwerpunktbildung in der Forschung sollte die Universitäten in der Konkurrenz mit außeruniversitären Forschungsinstitutionen und im internationalen Wettbewerb stärken. Die Förderung, durch Evaluation und Weiterbewilligung strukturiert, war zunächst zeitlich unbegrenzt. Im Extremfall, wie dem «Tübinger Atlas des Vorderen Orients», konnte 25 Jahre lang Geld fließen.[9]
In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre wurden kaum SFBs neu bewilligt, weil die bereits eingerichteten Verbünde die Mittel absorbierten und Veränderung der geschaffenen Struktur kein vorrangiges Förderziel war. In den 1980er Jahren lief die erste Generation der SFBs allmählich aus. Forschungsthemen veränderten sich, Führungspersönlichkeiten des Anfangs wurden emeritiert. Eine zweite Generation von SFBs wurde aufgelegt, die «Teilchenbewegungen in Kristallen» (Hannover) hießen oder «Sozialgeschichte des neuzeitlichen Bürgertums» (Bielefeld). Ein dynamischeres Verständnis von Forschungsförderung wurde sichtbar. Es ging nicht mehr um Themenfelder, sondern um Projekte. Das Ziel, alle Gebiete der Wissenschaft durch SFBs abzudecken, wurde aufgegeben. Parallel zu einem veränderten Verständnis von Planung sollten nun Universitäten bzw. Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen Forschungsgegenstände selbst definieren und in Konkurrenz zu anderen durchsetzen. Selbststeuerung der Wissenschaft «von unten nach oben» durch Wettbewerb und Selbstorganisation trat an die Stelle ganzheitlicher, langfristiger staatlicher Planung.[10] SFBs orientierten sich nun an Fragestellungen, konkreten Zielsetzungen und unterwegs zu erreichenden Meilensteinen. Der Auswahl- und Genehmigungsprozess wurde stärker von Wissenschaftlern selbst geprägt. Seither wird das Programm bei laufendem Betrieb weiterentwickelt. Aus den anfänglichen SFB-Generationen ist ein kontinuierlicher Bewilligungs-, Ablehnungs- und Auslaufbetrieb geworden. Seit 2002 dauern die einzelnen Förderperioden vier Jahre, die Förderung läuft spätestens nach drei Bewilligungen, nach zwölf Jahren also, aus. Die Fördersumme insgesamt stieg. 2010 wurden pro SFB jährlich 1,67 Millionen Euro ausgegeben. Für die 250 SFBs insgesamt lag der Finanzbedarf 2011 bei 540 Millionen Euro.
Die Umstellung der SFB-Förderung von Wissenschaftsgebieten auf Projekte war Teil eines Neuansatzes der Wissenschaftspolitik insgesamt. Er wird mit dem Begriff «New Public Management» umschrieben und kam in Tübingen spät, dann aber umso durchgreifender an.[11] Deutschlandweit wollte die Wissenschaftspolitik seit den 1990er Jahren Konkurrenz stärken, den Fortschritt nicht durch Direktiven von oben, sondern durch Selbstoptimierung von unten herbeiführen. Die Besoldung der beamteten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wurde abgesenkt (W- statt C-Besoldung), um mit den gesparten Mitteln höhere Spitzengehälter zahlen und finanzielle Anreize für bestimmte Aktivitäten wie Drittmittelbeschaffung oder Publikationen setzen zu können. Indikatoren der Leistungsmessung bei der Einwerbung von Drittmitteln und bei Publikationen wurden standardisiert. Rankings auf nationaler und internationaler Ebene machten Unterschiede zwischen Universitäten, Fächern und Forschenden sichtbar. 2005 lief die erste Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder an, mit dem erklärten Ziel, der prinzipiellen Gleichrangigkeit der deutschen Universitäten ein Ende zu machen. Im globalen Wettbewerb der besten Universitäten könnten nur wenige mithalten. Diese zu finden und besonders zu fördern, müsse Ziel zukunftsorientierter Wissenschaftspolitik sein. Universitäten konnten sich mit Anträgen auf ausbildungsorientierte Graduiertenschulen, fachlich verankerte Exzellenzcluster (mit Fördervolumina, die mehr als doppelt so hoch waren wie die für SFBs) und einem gesamtuniversitären Zukunftskonzept bewerben, das im Erfolgsfalle für ein paar Jahre den Titel «Exzellenzuniversität» einbrachte.
In Tübingen gingen die Verantwortlichen davon aus, so erzählen ältere Kolleginnen und Kollegen, dass die ruhmreiche Geschichte der Universität und ihrer herausragenden Einzelkönner vor allem in den Geisteswissenschaften die Gutachtenden der Exzellenzinitiative schon überzeugen würde. Doch der Wettbewerb folgte anderen Gesetzen. Tübingen gewann 2006/07 nur ein Exzellenzcluster und scheiterte mit dem Antrag auf Förderung der Universität insgesamt. Die baden-württembergischen Universitäten Karlsruhe, Heidelberg, Freiburg und Konstanz durften sich fortan Exzellenzuniversitäten nennen. Tübingen bildete mit Ulm, Mannheim, Stuttgart und Hohenheim eine Art zweite baden-württembergische Liga. In keinem anderen Bundesland wirkte die Exzellenzinitiative derart klassenbildend. Der Schock saß tief. Ende der 2000er Jahre war der akademische Small Talk in Tübingen tief geprägt von sarkastischen Witzen über den Abstieg der eigenen Institution, die Lächerlichkeit des Exzellenzbegriffs und die Ungerechtigkeit und Ahnungslosigkeit der deutschen Wissenschaftspolitik. Der Amerikanist Bernd Engler, nach dem Scheitern der Tübinger Exzellenzinitiative zum Rektor gewählt, bekannte sich in seiner Antrittsrede am 17. November 2006 ein wenig trotzig zur Volluniversität und zu den Geisteswissenschaften als einer für Tübingen spezifischen Ansammlung ausgezeichneter, aber weniger drittmittelstarker und ökonomisch nicht sehr einträglicher Disziplinen. Jedoch beließ er es nicht bei Nachdenklichkeit und Klage. Er redete auch vom «akademischen Dornröschenschlaf», der beendet werden müsse, vom inneruniversitären Wettbewerb, dem Bündeln der Kräfte und von Effizienzreserven. Die Universität müsse darauf achten, dass ihr das Gesetz des Handelns nicht entgleite.[12] Bernd Engler verpasste der Universität binnen weniger Jahre eine neue Struktur: wenige große Fakultäten mit hauptamtlichen Dekanen, stärkere Steuerung von der Spitze her, Orientierung an Drittmittelerfolgen, Internationalität und Rankings. Die Reformen des New Public Management wurden in Tübingen nun erstaunlich schnell durchgesetzt, legitimiert auch durch die Überzeugung, dass sich das Scheitern von 2006 nicht wiederholen dürfe.
Die Bewilligung eines SFB stabilisierte unter diesen Bedingungen nicht mehr nur wie in den 1990er Jahren den Ruf eines Faches, national und international vorzeigbar zu sein, sondern auch den der Universität insgesamt. Noch 1993 hatte der Germanist Jörg Schönert SFBs in eine Gruppe von Kollegialforschungen eingeordnet, zu der er auch das Schreiben von Handwörterbüchern und das Edieren von Gesamtausgaben rechnete. Die «Karriere des Sammelbandes» zeigte für ihn die Zunahme von Teamforschung in den Geisteswissenschaften an.[13] Sich an Teamforschung zu beteiligen, war für bestimmte Forschungsprobleme nützlich und diente der Vernetzung der Forschenden. In den 1990er und 2000er Jahren aber gewöhnten sich die Geisteswissenschaften an Wettbewerb nicht nur zwischen Forschenden, sondern auch zwischen Instituten, Disziplinen und Hochschulen.[14] Die Kriterien dieses Wettbewerbs näherten sich fächerübergreifend an, und die Arbeit an Handwörterbüchern, Gesamtausgaben oder Sammelbänden gehörte nicht mehr dazu. Auch wenn in Tübingen, wie Engler bei seinem Amtsantritt programmatisch verkündet hatte, die Geisteswissenschaften in ihrer Breite unangetastet blieben, bedeutete die Beteiligung an einem SFB nicht mehr nur, ein Thema zu setzen und Teil einer inspirierenden Gruppe zu werden. Es bedeutete auch, in der Währung der neuen Wettbewerbskultur zahlen und damit sein Fach bei Kürzungsrunden schützen, sein persönliches Ansehen, seine Arbeitsmöglichkeiten und möglicherweise sogar sein Gehalt an der Universität verbessern zu können. Die Universität selbst kletterte durch die Einwerbung von SFBs in nationalen und internationalen Rankings nach oben.
Die universitäre Strategie, bei der Einführung des New Public Management auch auf die Geisteswissenschaften zu setzen, zahlte sich aus. Der SFB «Bedrohte Ordnungen» wurde Teil einer größeren Tübinger Erfolgsgeschichte. Die neue Wettbewerbskultur und die Bereitschaft der Geistes- und Sozialwissenschaften, an ihr teilzuhaben, brachte wohl auch deswegen erstaunlich schnell Erfolge, weil Tübingens traditionelle Hochschätzung als geisteswissenschaftlicher Standort bei den Wettbewerbsbedingungen informell berücksichtigt werden konnte. 2009 hatte die Tübinger Linguistik bereits einen SFB «Bedeutungskonstitution. Dynamik und Adaptivität sprachlicher Strukturen» eingeworben. 2013 gewannen Archäologie und Ethnologie den SFB «RessourcenKulturen. Sozio-kulturelle Dynamiken im Umgang mit Ressourcen». 2019 kam «Andere Ästhetik» mit Schwerpunkt in der vormodernen Germanistik hinzu. Außerdem sind mehrere Graduiertenkollegs in den Tübinger Geisteswissenschaften angesiedelt, denen wir eben an der Keplerstraße bereits begegnet sind. Im DFG-Förderatlas 2021, der die Mittelverteilung der Jahre 2017–2019 verzeichnet, liegt die Universität Tübingen in den Geistes- und Sozialwissenschaften deutschlandweit auf Platz drei.[15] Platz eins und zwei wechseln in Abhängigkeit von den Kriterien: Je nachdem, ob die absoluten Zahlen, die Bewilligungen pro Professur oder pro Mitarbeitendem herangezogen werden, liegen die Münchener Ludwig-Maximilians-Universität, die beiden Berliner Volluniversitäten und die Universität Konstanz vorn. Platz drei belegt in jeder Statistik Tübingen. Würden nur die Philosophischen Fakultäten verglichen, würde sich wahrscheinlich im Berichtszeitraum 2017–2019 keine andere deutsche Universität mit so vielen DFG-geförderten Großprojekten finden.
Gerade in den Geisteswissenschaften vergrößert das Förderinstrument SFB die Unterschiede zwischen den Standorten. Im Sommer 2022 förderte die DFG insgesamt 276 Sonderforschungsbereiche, von denen 114, und damit die relativ meisten (41,3 Prozent), den Lebenswissenschaften zuzuordnen sind. 80 SFBs (29 Prozent) sind in den Naturwissenschaften, 47 (17 Prozent) in den Ingenieurwissenschaften angesiedelt. Die Geistes- und Sozialwissenschaften spielen mit 35 SFBs (12,7 Prozent) im Vergleich der wissenschaftlichen Disziplingruppen eine untergeordnete Rolle,[16] und das war seit Beginn der Förderung so gewesen. Dafür liegt die Fördersumme sehr deutlich über dem Bereichsüblichen. Wer in den Geisteswissenschaften einen SFB einwarb, ragte heraus. In der Geschichtswissenschaft sind laut einer neueren Untersuchung die Unterschiede zwischen verschiedenen Universitäten in Bezug auf Drittmittelerfolge besonders hoch. 20 Prozent der Einrichtungen werben 71 Prozent der Drittmittel ein. Mehr als 15 Prozent der Einrichtungen erhalten gar keine Drittmittelförderung.[17] In den zum Vergleich herangezogenen Fächern Psychologie, Maschinenbau und Physik ist die Drittmittelverteilung innerhalb des Faches deutlich ausgeglichener. Der Erfolg mit geistes- und sozialwissenschaftlichen SFB-Anträgen verbesserte die Arbeitsmöglichkeiten in Tübingen erheblich und erneuerte den Ruf der etwas abgelegenen Kleinstadt, ein attraktiver Wissenschaftsstandort zu sein.
Im Blick auf Förderinstrumente und Forschungsgelder zeigen sich die späten 1960er und 1970er sowie die 2000er Jahre als Zeiten beschleunigten Wandels. Auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften Tübingens haben diese Jahrzehnte ihre Spuren hinterlassen. Zum Wandel der 2000er Jahre mussten die traditionsbewussten Schwaben gedrängt werden. Dann aber lernten sie schnell, umfassend und erfolgreich. Auch das wird dieses Buch zeigen.
Die Dynamiken von Bauen und Nutzen, von Beantragen und Finanzieren sind mit strukturellen Entwicklungen der Jahrtausendwende verbunden:
Ausbau: Etwas weniger als 6000 Professoren haben 1966 an deutschen Universitäten gelehrt – der Frauenanteil lag bei 3,1 Prozent. Gut 30 Jahre später, im Jahr 2000, gab es rund 37.800 Professuren, 11,8 Prozent von ihnen waren mittlerweile von Frauen besetzt. Weitere 20 Jahre später arbeiteten knapp 49.300 Professor:innen an deutschen Hochschulen, ein gutes Drittel (35,6 Prozent) war weiblichen Geschlechts.[18] 2020 waren insgesamt 759.000 Menschen an deutschen Hochschulen beschäftigt, mehr als 400.000 von ihnen waren wissenschaftlich oder künstlerisch tätig. Sie haben knapp 3 Millionen Studierende unterrichtet.[19] Binnen einer Generation ist die deutsche Universität von einem eher elitären Reservat bürgerlicher Männer zu einer Bildungsanstalt und einem Arbeitsfeld für viele geworden. Im Zuge dieser schnellen Ausbreitung, die immer mehr Personen, Bereiche und Milieus erfasst, rücken Gesellschaft und Wissenschaft näher aneinander.[20]
Digitalisierung: Über die Digitalisierung von Informationen, algorithmenbasierte Suchmaschinen und künstliche Intelligenz werden immer mehr Informationen gleichzeitig für jede und jeden zugänglich – sofern die Inhalte gemeinfrei sind oder öffentliche Einrichtungen wie Universitätsbibliotheken Lizenzen erworben haben. Die Bayerische Staatsbibliothek hat ihren gesamten Buchbestand der Erscheinungsjahre vor 1900 digitalisiert. Für das 20. Jahrhundert steht die Digitalisierung aufgrund urheberrechtlicher Schranken noch aus. Bibliotheken werden zusehends zu Portalen in ein digitales Informationsuniversum. In ihren Lesesälen sind immer weniger Gelehrte alter Schule anzutreffen, die dicke Bücher wälzen. Stattdessen sitzen dort immer mehr Studierende, die einen für Neuerungen offenen Lernort erwarten. Mit ihren Laptops, Tablets und Smartphones sind sie vor Ort präsent und gleichzeitig mit dem digitalen Datenuniversum des Internets verbunden. Über Suchmaschinen, Homepages und automatisierte Indexe und Maßzahlen können Wissenschaftler:innen Publikationen, Patente, Lehrveranstaltungen jederzeit mit den Ergebnissen anderer vergleichen. Die wissenschaftliche Welt ist gläsern geworden. Milchglas kommt auch vor, fällt aber auf.
Finanzierung: Universitätsprofessuren werden im 21. Jahrhundert anders vergütet als im 20sten. An die Stelle der einheitlichen und für jeden einsehbaren C-Besoldung ist die von einem Basistarif ausgehende W-Besoldung getreten. Sie erlaubt Zulagen für individuelle Leistungen oder Handlungen, die im Interesse der besoldenden Universität liegen. Die Universität selbst ist in immer stärkerem Maße von der Einwerbung von Forschungsgeldern abhängig geworden, die in den Geistes- und Sozialwissenschaften meist vom Bund, aber auch von der EU, den Ländern und verschiedenen Stiftungen stammen. Sie belohnt die Professorinnen und Professoren daher, wenn sie solche Mittel einwerben. Zwischen 1995 und 2020 sind die staatlichen Ausgaben für Lehre und Forschung um gut die Hälfte (56,9 Prozent) gestiegen, die an den Universitäten verausgabten Drittmittel aber um knapp drei Viertel (74,6 Prozent). Der Anteil der Drittmittel an den Ausgaben für Lehre und Forschung stieg 1995 bis 2010 von 12,1 auf 21,1 Prozent.[21] Würden wir nur die Forschungsausgaben in den Blick nehmen, wäre der Drittmittelanstieg noch deutlicher zu sehen. In der Praxis zeigt sich vor allem ein Auseinanderdriften zwischen der oft unterfinanzierten personellen Grundausstattung und der teilweise heruntergekommenen Infrastruktur der Universitäten, die von den relativ klammen Bundesländern finanziert werden und einer deutlich großzügigeren, aber in aller Regel nur befristetet und projektbezogen gewährten Forschungsförderung, die vor allem aus Bundesmitteln bestritten wird.
Berufsbild: Aufgrund ihres Wachstums hat sich die Wissenschaft von einem exotischen Betätigungsfeld weniger Personen mit einem elitären Selbstverständnis zu einem mehr oder weniger gewöhnlichen Arbeitsort für viele gemausert. Dies hat auch die Entstehung einer größeren Anzahl spezialisierter Tätigkeitsbereiche um die wissenschaftliche Kernarbeit herum angeregt: Ausbau der Hochschuldidaktik, Aufbau von Kommunikationsabteilungen, Programmierung von Wissenschaftssoftware. Die Qualitätsstandards dieser teils neuen, teils aufgewerteten Berufsfelder wirkten auf die wissenschaftliche Praxis zurück. Es entstand ein Professionalisierungsdruck auf Aktivitäten, die bislang eher als Nebentätigkeiten gegolten hatten. Wissenschaftler besuchen hochschuldidaktische Kurse bei spezialisierten Lehrkräften, um ihre Lehre zu verbessern, deren Qualität nun mittels standardisierter Evaluationsverfahren gemessen wurde. Professor:innen absolvierten Fortbildungen für Führungskräfte in der Wissenschaft oder ließen sich im Projektmanagement schulen. Es gab Coachings und Mentoratsprogramme, um Karrierewege und Selbstpräsentation des wissenschaftlichen Nachwuchses zu optimieren.[22] Universitäre Diversitätszentren sorgten dafür, dass die Belegschaft der Wissenschaft den modernen Heterogenitätskriterien des öffentlichen Dienstes genügte. Kommunikationsabteilungen kümmerten sich darum, dass Wissenschaftler:innen professionelle Öffentlichkeitsarbeit betreiben. Universitätsinstitute gaben Image-Filme bei Werbeagenturen in Auftrag, die auf Wissenschaftskommunikation spezialisiert sind.
Weil Wissenschaft im Prozess ihrer Ausdehnung weniger als individuelle Berufung einzelner Geistesgrößen, sondern stärker als eine Karrieremöglichkeit neben anderen wahrgenommen wird, sind auch profane Aspekte wie das Arbeitsrecht und die Arbeitsbedingungen von Wissenschaftler:innen stärker in den Fokus der Berichterstattung geraten. So wurden das für Außenstehende wahnwitzig anmutende Befristungssystem wissenschaftlicher Tätigkeit kritisiert, Machtmissbrauch und Mobbing durch Professor:innen angeprangert sowie eine bessere Work-Life-Balance für die wissenschaftlichen Beschäftigten an Universitäten gefordert. Besonders prominent war die #IchBinHanna-Bewegung (dazu mehr im Kapitel «Bewerten»), in der Nachwuchswissenschaftler:innen sich weit über die Wissenschaft hinaus vernehmbar für eine Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen eingesetzt haben.
Die soziale Öffnung der Universität, ihre Digitalisierung, ihre veränderte Finanzierung, ihre Professionalisierungsdynamik und der auf ihr liegende Wettbewerbsdruck haben Spuren hinterlassen. Nicht nur in Universitätsgebäuden, sondern auch in der Art, wie wir forschen, reden, schreiben und uns im Alltag innerhalb und außerhalb der Universität bewegen. Das sollen die folgenden Innenansichten geisteswissenschaftlicher Forschung zeigen.
Dazu gehören auch Fragen der gendergerechten und genderneutralen Sprache, die innerhalb der Geistes- und Sozialwissenschaften seit Jahren in variierender Intensität diskutiert werden. Während in den Sozialwissenschaften Sprachformen wie «Professor:innen», «Studierende» oder «Projektleiter*innen» zum sprachlichen Standard geworden sind, wartet die Geschichtswissenschaft mit der ihr eigenen Gelassenheit im Hinblick auf die Phänomene des Zeitgeists erst einmal ab. Die beiden Autoren dieses Buches folgten während der Arbeit am Text ihren Fachkulturen. Dies führte zu sehr unterschiedlichen Sprachformen. Der Historiker hielt ausgeschriebene Formulierungen wie Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen für sehr gut geeignet, ertrug aber auch geschlechtsneutrale Partizipien wie Studierende. Doppelpunkte im Wort oder Gendersternchen störten hingegen seinen ästhetischen Sinn für Sprache. Als die Arbeit am Manuskript sich dem Ende zuneigte und Entscheidungen getroffen werden mussten, kapitulierte er vor einem einfachen Argument: Wenn es um «Innenansichten geisteswissenschaftlicher Forschung» gehen solle, dürfe das Gendern nicht fehlen. Der Lektor des Verlags C.H.Beck, der in seinem Leben schon viele sprachliche Eigentümlichkeiten gesehen hatte, ließ verschiedene Formen gendergerechter Sprache durchgehen, traf aber auch auf Lösungen, die ihm gänzlich unbekannt waren: «Das Wort ‹Doktorierende› ist mir fremd, ich sehe es in diesem Text das erste Mal, daher die unwillkürliche Korrektur», notierte er am Rand des Manuskripts. «Aber nun stelle ich fest, dass es 56 Mal vorkommt. Kann man es wirklich verwenden?»