Frost - Thomas Bernhard - E-Book

Frost E-Book

Thomas Bernhard

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Beschreibung

Ein Medizinstudent nimmt den Auftrag an, den Kunstmaler Strauch zu beobachten, der sich in das Gebirgsdorf Weng zurückgezogen hat. In seinen Aufzeichnungen hält er die Monologe und Visionen Strauchs fest, bis er entdeckt, daß diese Begegnung, die er bewältigen zu können glaubte, ihn selbst überwältigt.

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Ein Medizinstudent nimmt den Auftrag an, den Kunstmaler Strauch zu beobachten, der sich in das Gebirgsdorf Weng zurückgezogen hat. In seinen Aufzeichnungen hält er die Monologe und Visionen Strauchs fest, bis er entdeckt, daß diese Begegnung, die er bewältigen zu können glaubte, ihn selbst überwältigt.Frost ist Thomas Bernhards erster Roman; er erschien 1963. Schon in diesem Prosatext kommt er zu seinem Thema: der ausweglosen, weil exzentrischen Situation; findet er seine Sprache und Form: das unablässig bohrende Ausschreiten einer erstarrten Sprach- und Gedankenwelt. In all seinen Werken stellt Bernhard die tödliche Vereinsamung des Menschen dar. Thomas Bernhard, 1931 geboren, starb im Februar 1989 in Oberösterreich.

Thomas Bernhard

Frost

Suhrkamp

Umschlagfoto: Otto Breicha

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012

© Insel Verlag Frankfurt am Main 1963

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski

eISBN 978-3-518-78470-9

www.suhrkamp.de

»Was reden die Leute über mich?« fragte er.

»Sagen sie: der Idiot? Was reden die Leute?«

ERSTER TAG

Eine Famulatur besteht ja nicht nur aus dem Zuschauen bei komplizierten Darmoperationen, aus Bauchfellaufschneiden, Lungenflügelzuklammern und Fußabsägen, sie besteht wirklich nicht nur aus Totenaugenzudrücken und aus Kinderherausziehen in die Welt. Eine Famulatur ist nicht nur das: abgesägte ganze und halbe Beine und Arme über die Schulter in den Emailkübel werfen. Auch besteht sie nicht aus dem ständig hinter dem Primarius und dem Assistenten und dem Assistenten des Assistenten Dahertrotteln, aus dem Schwanzdasein der Visite. Aus dem Vorspiegeln falscher Tatsachen allein kann eine Famulatur auch nicht bestehen, nicht aus dem, daß ich sage: »Der Eiter wird sich ganz einfach in Ihrem Blut auflösen, und Sie sind wieder gesund.« Und aus hunderterlei anderen Lügen. Nicht nur daraus, daß ich sage: »Es wird schon!« – wo nichts mehr wird. Eine Famulatur ist ja nicht nur eine Lehrstelle für Aufschneiden und Zunähen, für Abbinden und Aushalten. Eine Famulatur muß auch mit außerfleischlichen Tatsachen und Möglichkeiten rechnen. Mein Auftrag, den Maler Strauch zu beobachten, zwingt mich, mich mit solchen außerfleischlichen Tatsachen und Möglichkeiten auseinanderzusetzen. Etwas Unerforschliches zu erforschen. Es bis zu einem gewissen erstaunlichen Grad von Möglichkeiten aufzudecken. Wie man eine Verschwörung aufdeckt. Und es kann ja sein, daß das Außerfleischliche, ich meine damit nicht die Seele, daß das, was außerfleischlich ist, ohne die Seele zu sein, von der ich ja nicht weiß, ob es sie gibt, von der ich aber erwarte, daß es sie gibt, daß diese jahrtausendealte Vermutung jahrtausendealte Wahrheit ist; es kann durchaus sein, daß das Außerfleischliche, nämlich das ohne die Zellen, das ist, woraus alles existiert, und nicht umgekehrt und nicht nur eines aus dem andern.

ZWEITER TAG

Ich bin mit dem ersten Zug gefahren, mit dem Halbfünfuhrzug. Durch Felswände. Links und rechts war es schwarz. Mich fröstelte, als ich einstieg. Dann wurde mir langsam warm. Dazu die Stimmen von Arbeitern und Arbeiterinnen, die aus der Nachtschicht heimkehrten. Ihnen galt sofort meine Sympathie. Frauen und Männer, jung und alt, aber gleichgestimmt, vom Kopf bis über die Brüste und über die Hoden bis zu den Füßen übernächtig. Die Männer mit grauen Kappen, die Frauen mit roten Kopftüchern. Ihre Beine haben sie in Lodenfetzen eingewickelt, das ist die einzige Möglichkeit, der Kälte einen Strich durch die Rechnung zu machen. Ich wußte gleich, daß es sich um eine Schneeschauflergruppe handelt, die in Sulzau zugestiegen war. Es war wie in einem Kuhbauch so warm: die Luft so, als pumpte sie sich selber fortwährend unter ungeheueren Herzmuskelstößen aus den Menschenkörpern wieder in dieselben Menschenkörper hinein. Man darf nicht nachdenken! Ich drückte mich mit dem Rücken an die Waggonwand. Weil ich die ganze Nacht nicht geschlafen hatte, nickte ich ein. Als ich aufwachte, sah ich wieder die Blutspur, die auf dem nassen Waggonboden ziemlich unregelmäßig verlief, wie ein von Gebirgsmassiven immer wieder abgedrängter Strom auf einer Landkarte, und zwischen Fenster und Fensterrahmen unter der Notbremse endete. Sie war von einem zerquetschten Vogel ausgegangen, den das plötzlich emporgesauste Fenster in der Mitte abgedrückt hatte. Vielleicht schon vor Tagen. So fest, daß kein Luftzug hereinkam. Der Schaffner, der in Ausübung seines trostlosen Amtes vorübergekommen war, hatte von dem toten Vogel gar nicht Notiz genommen. Aber er mußte ihn schon gesehen haben. Das merkte ich. Plötzlich hörte ich die Geschichte von einem im Schneetreiben erstickten Strekkenwärter, die so schloß: ›Der hat sich um nichts gekümmert.‹ War es mein Äußeres, mein Inneres, das sich dort ausdrückte, wohin man sehen kann, die Ausstrahlung meiner Gedanken, meines Auftrags, der sich in mir energisch vorbereitete – zu mir setzte sich niemand, obwohl jeder Platz mit der Zeit kostbar wurde.

Der Zug ächzte durch das Flußtal. In Gedanken war ich kurz einmal zu Hause. Dann weit fort, in irgendeiner einmal durchkreuzten Großstadt. Dann sah ich Staubpartikelchen auf meinem linken Ärmel, die ich mit dem rechten Arm abzuwischen versuchte. Die Arbeiter zogen Messer heraus und schnitten Brot. Große, dicke Brotbrocken würgten sie hinunter, dazu aßen sie Fleischstücke und Wurst. Brocken, die man an keinem Tisch essen würde. Nur auf dem Schoß. Alle tranken sie eiskaltes Bier und waren offenbar zu schwach, um über sich selbst zu lachen, die sie sich zum Lachen vorkamen. Ihre Müdigkeit war so groß, daß sie gar nicht daran dachten, ihre Hosentüren zuzumachen, ihre Mundwinkel abzuwischen. Ich dachte: wenn sie aussteigen, fallen sie gleich ins Bett. Und um fünf Uhr am Abend, wenn die andern aufhören, fangen sie wieder an. Der Zug polterte und stürzte, wie der Fluß neben ihm, hinunter. Immer düsterer wurde es.

Das Zimmer ist so klein und so ungemütlich wie mein Famulantenzimmer in Schwarzach. Rauschte dort der Fluß neben ihm unerträglich, ist es hier unerträglich still. Auf meinen Wunsch hat die Wirtin die Vorhänge heruntergenommen. (Es ist immer dasselbe: ich mag keine Vorhänge in Räumen, die mich abschrecken.) Mich ekelt vor der Wirtin. Es ist derselbe Ekel, der mich als Kind vor offenen Schlachthaustüren hat erbrechen lassen. Wäre sie tot, würde mich – heute – nicht vor ihr ekeln – die toten Sezierkörper erinnern mich nie an lebendige Körper –, aber sie lebt, und sie lebt in einem faulen, uralten Gasthausküchengeruch. Anscheinend hat sie Gefallen an mir gefunden, denn sie hat meinen Koffer heraufgeschleppt und sich erbötig gemacht, mir jeden Morgen ein Frühstück ins Zimmer zu bringen, ganz gegen ihre Regel, die ein ins Zimmer gebrachtes Frühstück nicht kennt. »Der Herr Kunstmaler ist eine Ausnahme«, sagte sie. Er sei auch ein Stammgast, und Stammgäste hätten Vorrechte. Und »mehr Nachteile als Vorteile« seien sie für die Wirtsleute. Wie ich denn auf ihr Gasthaus gekommen sei? »Durch Zufall«, sagte ich. Ich wolle mich rasch erholen und wieder nach Hause zurückfahren, wo ein Berg ungetaner Arbeit auf mich warte. Sie zeigte Verständnis. Ich sagte ihr meinen Namen und gab ihr meinen Paß.

Bis jetzt habe ich noch niemand außer der Wirtin gesehen, obwohl in der Zwischenzeit einmal viel Lärm im Gasthaus gewesen ist. Zur Essenszeit, die ich in meinem Zimmer zubrachte. Ich fragte die Wirtin nach dem Maler, und sie sagte, er sei im Wald. »Er ist fast immer im Wald«, sagte sie. Vor dem Nachtmahl werde er nicht zurückkommen. Ob ich den ›Herrn Kunstmaler‹ kenne, fragte sie. »Nein«, sagte ich. Stillschweigend schien sie mich, noch im Türrahmen, etwas zu fragen, das nur eine Frau einen Mann blitzschnell fragen kann. Ich war überrumpelt. Es gab keinen Irrtum. Ich schlug ihr Angebot, ohne ein Wort zu sagen und nicht ohne plötzliche Übelkeit, aus.

Weng ist der düsterste Ort, den ich jemals gesehen habe. Viel düsterer als in der Beschreibung des Assistenten. Der Doktor Strauch hatte ihn angedeutet, wie man ein gefährliches Wegstück andeutet, das ein Freund zu gehen hat. Alles, was der Assistent gesagt hat, waren Andeutungen. Unsichtbare Stricke, mit denen er mich von Sekunde zu Sekunde fester an den Auftrag fesselte, den er mir gegeben hatte, erzeugten eine schier unerträgliche Spannung zwischen ihm und mir, der ich die Argumente, die er in mich hineintrieb, rücksichtslos, wie in mein Hirn hineingetriebene Nägel empfand. Er vermied es aber, mich zu irritieren. Beschränkte sich auf die von mir streng einzuhaltenden Punkte. Tatsächlich erschreckt mich diese Gegend, noch mehr die Ortschaft, die von ganz kleinen, ausgewachsenen Menschen bevölkert ist, die man ruhig schwachsinnig nennen kann. Nicht größer als ein Meter vierzig im Durchschnitt, torkeln sie zwischen Mauerritzen und Gängen, im Rausch erzeugt. Sie scheinen typisch zu sein für das Tal.

Weng liegt hoch oben, aber noch immer wie tief unten in einer Schlucht. Über die Felswände zu kommen ist unmöglich. Allein die Bahn unten schafft einen Ausweg. Es ist eine Landschaft, die, weil von solcher Häßlichkeit, Charakter hat, mehr als schöne Landschaften, die keinen Charakter haben. Alle haben sie da versoffene, bis zum hohen C hinaufgeschliffene Kinderstimmen, mit denen sie, wenn man an ihnen vorbeigeht, in einen hineinstechen. Zustechen. Aus Schatten zustechen, muß ich sagen, denn in Wahrheit habe ich bis jetzt nur Schatten von Menschen gesehen, Menschenschatten, in Ärmlichkeit und in wie tobsüchtig zitternder Schwüle. Und diese Stimmen, die aus diesen Schatten zustechen, haben mich zuerst verwirrt, zum Weiterhetzen gezwungen. Diese Wahrnehmungen machte ich aber trotzdem ziemlich nüchtern, sie zersetzten mich nicht. Eigentlich war mir nur alles lästig, weil grenzenlos unbequem. Noch dazu mußte ich meinen Pappkoffer schleppen, in dem der Inhalt kreuz und quer durcheinanderpolterte. Den Weg von der Bahnstation unten, wo die Industrie ist und wo das große Kraftwerk gebaut wird, hinauf nach Weng kann man nur zu Fuß hinter sich bringen. Fünf Kilometer, die man nicht abkürzen kann, jedenfalls nicht in dieser Jahreszeit. Überall bellende, heulende Hunde. Ich kann mir vorstellen, daß auf die Dauer Menschen verrückt werden, die ununterbrochen Wahrnehmungen machen, wie ich sie bis jetzt auf dem Weg nach Weng herauf und in Weng gemacht habe, wenn sie sich nicht durch Arbeit oder Vergnügen oder andere dementsprechende Tätigkeiten ablenken, wie Huren oder Beten oder Saufen oder alle diese Tätigkeiten gleichzeitig. Was zieht einen Menschen wie den Maler Strauch in eine solche Gegend, und zu dieser Zeit in eine solche Gegend, die ihm ja fortwährend ins Gesicht schlagen muß?

Mein Auftrag ist streng geheim, und er ist mir absichtlich, wohlberechnet so überraschend von einem auf den anderen Tag gegeben worden. Dem Assistenten war sicher schon vor längerer Zeit der Einfall gekommen, mich mit der Beobachtung seines Bruders zu beauftragen. Warum mich? Warum nicht einen von den andern, die ebenso Famulanten sind wie ich? Weil ich ihm oft mit bestimmten schwierigen Fragen gekommen bin und die andern nicht? Er hat mir eingeschärft, daß ich unter gar keinen Umständen im Maler Strauch den Verdacht erwecken dürfe, ich stünde mit ihm, dem Chirurgen Strauch, seinem Bruder, in irgendeinem Zusammenhang. Deshalb werde ich auch sagen, wenn man mich fragt, ich studiere Jus, um radikal von der Medizin abzulenken. Der Assistent übernahm die Reise- und Aufenthaltskosten. Er gab mir einen Geldbetrag, der ihm reichlich erschien. Er verlangt von mir eine präzise Beobachtung seines Bruders, nichts weiter. Beschreibung seiner Verhaltensweisen, seines Tagesablaufs; Auskunft über seine Ansichten, Absichten, Äußerungen, Urteile. Einen Bericht über seinen Gang. Über seine Art, zu gestikulieren, aufzubrausen, »Menschen abzuwehren«. Über die Handhabung seines Stockes. »Beobachten Sie die Funktion des Stockes in der Hand meines Bruders, beobachten Sie sie genauestens.«

Der Chirurg hat den Maler schon zwanzig Jahre nicht mehr gesehen. Seit zwölf Jahren kommen sie ohne Briefverkehr aus. Der Maler bezeichnet das Verhältnis zwischen ihnen offen als Feindschaft. »Trotzdem mache ich, als Arzt, einen Versuch«, sagte der Assistent. Dazu brauche er meine Hilfe. Meine Beobachtungen seien ihm nützlicher als alles andere, auf das er schon gekommen sei. »Mein Bruder«, hat er gesagt, »ist wie ich unverheiratet. Er ist, wie man sagt, ein Gedankenmensch. Aber heillos verwirrt. Verfolgt von Lastern, Scham, Ehrfurcht, Vorwürfen, Instanzen – mein Bruder ist ein Spaziergängertypus, also ein Mensch, der Angst hat. Rabiat. Und ein Menschenhasser.«

Dieser Auftrag ist eine Privatinitiative des Assistenten, und er gehört zu meiner Schwarzacher Famulatur. Es ist das erste Mal, daß ich Beobachten als eine Arbeit anschaue.

Ich hatte vorgehabt, das Buch über die Gehirnkrankheiten von Koltz mitzunehmen, das eingeteilt ist in ›erhöhte Tätigkeit‹ (Reizerscheinungen) und in ›herabgesetzte Leistung‹ (Lähmungen) des Gehirns, habe es aber liegenlassen. Dafür habe ich ein Buch von Henry James mit, das mich schon in Schwarzach abgelenkt hat.

Um vier Uhr verließ ich das Gasthaus. In der plötzlichen groben Ruhe erfaßte mich, nicht nur bis in die Gelenke hinein, eine ungeheuere Unruhe. Das Gefühl: ich habe das Zimmer wie eine Zwangsjacke angezogen, und ich muß es jetzt ausziehen, ließ mich hinunterstürzen. Ich ging ins Gastzimmer. Da sich auf mehrmaliges Rufen niemand meldete, ging ich ins Freie hinaus. Ich stolperte über einen Eisklumpen, richtete mich aber gleich wieder auf und machte mir ein Ziel aus: einen Baumstumpf in zwei Dutzend Meter Entfernung. Vor dem Baumstumpf blieb ich stehen. Jetzt sah ich lauter solche Baumstümpfe aus dem Schnee herausragen, wie von Geschossen zerfetzt, Dutzende und aber Dutzende. Daß ich, länger als zwei Stunden auf dem Bett sitzend, geschlafen hatte, fiel mir jetzt ein. Die Ankunft und das neue Milieu waren schuld an meiner Erschöpfung. Der Föhn, dachte ich. Da sah ich aus dem Waldstück, keine hundert Meter von mir entfernt, einen Mann herausstapfen, ohne Zweifel den Maler Strauch. Für mich trat nur sein Oberkörper heraus, seine Beine waren hinter gewaltigen Schneehaufen versteckt. Sein großer schwarzer Hut fiel mir auf. Widerwillig, wie ich glaubte, bewegte sich der Maler von einem Baumstumpf zum andern. Stützte sich auf seinen Stock, mit dem er sich dann antrieb, so, als wäre er Viehtreiber, Stock und Schlachtvieh in einem. Aber dieser Eindruck verflüchtigte sich augenblicklich, und übrig blieb die Frage, wie ich so schnell als möglich und am besten an ihn herankomme. Wie stelle ich mich ihm vor? dachte ich. Gehe ich auf ihn zu und frage ihn etwas, wende ich also die bewährte, wenn auch simple Methode des nach Zeit oder Ort Fragenden an? Ja? Nein? Ja? So ging es hin und her. Ja. Ich entschloß mich, ihm den Weg abzuschneiden.

»Ich suche das Gasthaus«, sagte ich. Und alles war gut gegangen. Er musterte mich, denn mehr unheimlich als vertrauenerweckend war mein plötzliches Auftauchen – und nahm mich mit. Er sei ständiger Gast im Gasthaus, sagte er. Es müsse sich wohl um Exzentrik oder um einen Irrtum handeln, wenn einer in Weng absteige. Hier Erholung suche. »In dem Gasthaus dort?« So jung könne man gar nicht sein, daß man nicht gleich sehe, daß das unsinnig sei. »In dieser Gegend?« Eine derartig ausgefallene Idee habe nur ein Dummkopf. »Oder ein Selbstmordkandidat.« Er fragte, was ich sei, was ich studierte, denn ich studierte doch sicher »noch etwas«, und ich sagte, als sagte ich das Selbstverständlichste von der Welt: »Jus.« Das genügte ihm. »Gehen Sie ruhig voraus. Ich bin ja ein alter Mann«, sagte er. Wie er ausschaut, das hat mich für Augenblicke so erschreckt, daß ich mich ganz in mich zurückzog, als ich ihn zum ersten Mal sah, so hilflos.

»Wenn Sie in dieser Richtung, die ich Ihnen da mit meinem Stock anzeige, wandern, kommen Sie in ein Tal, in dem Sie stundenlang hin und her gehen können, ohne die geringste Angst haben zu müssen«, sagte er. »Sie brauchen keine Angst haben, entdeckt zu werden. Es kann Ihnen nichts passieren: alles ist gänzlich ausgestorben. Keine Bodenschätze, kein Getreide, nichts. Etliche Spuren aus dieser oder jener Zeit finden Sie, Steine, Mauerbrocken, Zeichen, von was, weiß niemand. Ein bestimmtes, geheimnisvolles Verhältnis zur Sonne. Birkenstämme. Eine verfallene Kirche. Skelette. Spuren von eingedrungenem Wild. Vier, fünf Tage Einsamkeit, Schweigsamkeit«, sagte er. »Die Natur ganz unbelästigt von Menschen. Vereinzelte Wasserfälle. Es ist wie der Gang durch ein vormenschenwürdiges Jahrtausend.«

Der Abend kommt hier ganz plötzlich, wie auf einen Donnerschlag. Wie wenn auf Kommando ein riesiger eiserner Vorhang heruntergelassen würde, die eine Hälfte der Welt abtrennend von der andern, durch und durch. Jedenfalls: die Nacht kommt zwischen zwei Schritten. Die heillosen stumpfen Farben erlöschen. Alles erlischt. Kein Übergang. Daß es in der Finsternis gar nicht kälter wird, macht der Föhn. Eine Atmosphäre, die die Herzmuskulatur zumindest einschränkt, wenn nicht abstellt. Die Krankenhäuser können ein Lied von dieser Luftströmung singen: gesund geglaubte Patienten, in welche die medizinische Kunst bis zum Exzeß hineingestopft worden ist, bis wieder Hoffnung war, fallen in Ohnmacht und können durch keine wie auch immer geschickt gehandhabte Menschentheorie mehr lebendig werden. Emboliefördernde Witterungseinflüsse. Rätselhafte Wolkenzusammensetzungen, irgendwo weit weg. Die Hunde jagen sinnlos durch Gassen und Höfe und fallen auch Menschen an. Flüsse atmen den Geruch der Verwesung ihres ganzen Flußlaufes aus. Die Berge sind Gehirngefüge, an die man stoßen kann, sind bei Tag überdeutlich, bei Nacht überhaupt nicht wahrnehmbar. Fremde reden sich plötzlich an Wegkreuzungen an, stellen Fragen, geben Antworten, nach denen nie gefragt worden ist. Als sei im Augenblick alles geschwisterlich: das Häßliche wagt sich an das Schöne heran und umgekehrt, das Rücksichtslose an das Schwache. Uhrschläge tropfen auf Friedhof und Dachabstufungen. Der Tod lenkt sich geschickt in das Leben herein. Unvermittelt fallen auch Kinder in Schwächezustände. Schreien nicht, aber laufen in einen Personenzug. In Gasthäusern und auf Bahnstationen in der Nähe von Wasserfällen werden Beziehungen angeknüpft, die keinen Augenblick halten, Freundschaften geschlossen, die nicht einmal erwachen; das Du wird bis zur Tötungsabsicht hinauf gefoltert und dann rasch erstickt in einer kleinen Gemeinheit.

Weng liegt in einer Grube, von riesigen Eisblöcken jahrmillionenlang gegraben. Die Wegränder verführen zur Unzucht.

DRITTER TAG

»Ich bin kein Maler«, hat er heute gesagt, »ich bin höchstens ein Anstreicher gewesen.«

Zwischen ihm und mir ist jetzt eine Spannung, die unter und über uns ihr Verhältnis zwischen uns herstellt. Wir waren im Wald. Wortlos. Allein der nasse, die Füße mit seinen Kilogewichten belastende Schnee redete, unverständlich zwar, doch dauernd, dazwischen. In das Schweigen. In die unhörbaren Wörter, die, gedacht, da und doch nicht da waren. Immer wieder will er, daß ich vorausgehe. Er hat Angst vor mir. Aus Geschichten und aus Erfahrung weiß er, daß einen junge Leute von hinten anfallen, ausrauben. Die Physiognomie täuscht oft über Mord- und Raubwerkzeuge hinweg. Die Seele, insofern man diese »Durchwanderin aller Gesetze« so zu bezeichnen aufgelegt ist, weil man einmal an sie glaubt, schreitet aus, aber der Verstand, aus Mißtrauen, Furcht und Argwohn zusammengesetzt, bleibt zurück, macht eine Falle unmöglich. Obwohl ich sage, ich kennte mich überhaupt nicht aus, läßt er mich vor sich her gehen. Ab und zu räumt ein Kommando wie ›links‹ oder ›rechts‹ mit meiner Meinung auf, er wäre allzuweit fort, in Gedanken. Diese Befehle führe ich völlig im dunkeln tappend und in Ungeduld aus. Merkwürdig war, daß ich überhaupt kein Licht sah, an dem ich mich hätte orientieren können. Es war wie ein Dahinrudern, auch des Geistes, und das Gleichgewicht ist da überall und auch nirgends. Was täte ich, wenn ich jetzt allein wäre? Das war so ein Gedanke, der plötzlich aufgetaucht ist. Der Maler ging hinter mir her wie eine ungeheuere Belastung meines Nervensystems: als zöge er hinter meinem Rücken fortwährend Konsequenzen. Er keuchte dann wieder und forderte mich auf stehenzubleiben. »Diesen Weg gehe ich täglich«, sagte er, »ich gehe ihn schon jahrzehntelang. Ich könnte ihn im Schlaf gehen.« Ich machte den Versuch, Näheres über den Grund, warum er jetzt in Weng ist, zu erfahren. »Meine Krankheit und alle Gründe zusammen«, sagte er. Ich hatte mir keine ausführlichere Auskunft erwartet. Ich beschrieb ihm, so gut ich konnte, in Stichworten, an die ich Lichtblicke oder auch etwas Trauriges heftete, mein Leben, wie es mich, meiner Ansicht nach, zu dem gemacht hat, was ich jetzt bin – ohne zu verraten, wer ich, im Augenblick, wirklich bin –, und mit einer Offenheit, die mich selber überraschte. Aber es interessierte ihn gar nicht. Er interessiert sich nur für sich.

»Wenn Sie wüßten, wie alt ich dem Kalender nach bin, Sie würden erschrecken«, sagte er. »Sie stellen sich sicher vor, ich sei ein alter Mann, womit die Jungen ja schnell zur Hand sind. Es würde Sie vor den Kopf stoßen.« Es schien, als verfinstere sich sein Gesicht noch um einige Grade der Hoffnungslosigkeit. »Die Natur ist grausam«, sagte er, »am grausamsten aber ist sie gegen ihre schönsten, erstaunlichsten, von ihr selbst erwählten Talente. Sie zerstampft sie, ohne mit der Wimper zu zucken.«

Er hält nicht viel von seiner Mutter, noch weniger von seinem Vater, und seine Geschwister seien ihm mit der Zeit so gleichgültig geworden, wie er ihnen, glaubt er, immer gleichgültig gewesen ist. Wie er das aber vorbringt, das macht klar, wie sehr er seine Mutter geliebt hat und seinen Vater und seine Geschwister. Wie er an ihnen hängt! »Alles ist immer düster gewesen für mich«, sagt er. Ich führte ihn ein Stück meine Kindheit entlang. Er sagte darauf: »Jede Kindheit ist gleich. Nur erscheint die eine in einem alltäglichen, die andere in einem milden, die dritte in einem teuflischen Licht.«

Im Haus begegnen sie ihm, wie mir scheint, mit der nötigen Hochachtung. Hinter ihm aber schneiden sie alle Gesichter.

»Man weiß von ihren Exzessen. Man riecht ihre Geschlechtlichkeit. Man fühlt, was sie denken, vorhaben, diese Menschen, man fühlt, was Unerlaubtes in ihnen sich ständig zusammenzieht. Ihre Betten stehen unter dem Fenster oder hinter der Tür, oder es handelt sich überhaupt nicht um Betten: in ihnen bringen sie sich von einem auf das andere Fürchterliche ... Wie mit einem gut zugeschlagenen Fleisch gehen die Männer mit ihren Frauen um und umgekehrt, die einen mit den anderen, wie mit untergeordnetem Schwachsinn. Das könnte man alles als große Verbrechen verrechnen. Das Primitive ist Allgemeingut. Manche reagieren auf Absprache, andere wissen alles so gut wie von Natur aus ... die Hosen, die ihnen zu eng sind, die Röcke machen sie wild in sich selber. Die Abende ziehen sich in die Länge: das geht nicht! Ein paar Schritte hinein, heraus, dahin, dorthin, um nicht erfrieren zu müssen ... Der Mund wird gehalten, das andere tobt sich aus ... der Morgen zieht einem übers Gesicht, daß man gar nicht mehr weiß, wo oben und unten ist. Das Geschlechtliche ist es, das alle umbringt. Das Geschlechtliche, die Krankheit, die von Natur aus abtötet. Früher oder später ruiniert es selbst tiefste Innigkeit ... bewirkt die Umwandlung von dem einen ins andere, von Gut in Böse, von da in dort, von oben in unten. Gottlos, weil der Ruin vor allem eintritt ... aus dem Moralischen wird dann ein Amoralisches, ein Modell für alles jemals Untergegangene. Doppelzüngigkeit der Natur, kann man sagen. Die Arbeiter, wie sie hier herumlaufen«, sagte er, »leben allein vom Geschlechtlichen, wie die meisten Menschen, wie alle Menschen ... leben einen fortwährenden bis an ihr Ende hinausgezogenen wilden Prozeß gegen Scham und Zeit und umgekehrt: der Ruin. Die Zeit versetzt ihnen Schläge, da ist dann ihr Weg nur mit Unzucht gepflastert. Die einen unterdrücken, bemänteln es besser, die anderen weniger gut. Wer geschickt ist, dem kommt man erst darauf, wenn schon alles umsonst ist. Es ist aber immer alles umsonst. Alle leben sie ein Geschlechtsleben, kein Leben.«

Wie lang ich in Weng bliebe, fragte er mich. Ich müsse, um mich auf einige im Frühjahr fällige Prüfungen vorzubereiten, schon bald nach Hause zurück, sagte ich. »Da Sie Jurisprudenz studieren«, sagte er, »ist es sicher ein leichtes für Sie, einmal eine Stellung zu finden. Juristen werden immer und überall angestellt. Ich hatte einen Neffen, der Jurist war, nur ist er verrückt geworden über Bergen von Akten und hat seine Staatsstellung liquidieren müssen. Er endete in Steinhof. Wissen Sie, was das ist?« Ich sagte, daß mir die Anstalt ›Am Steinhof‹ ein Begriff sei. »Dann wissen Sie ja, wie mein Neffe geendet hat«, sagte er.

Ich war auf einen schwierigen Fall vorbereitet, nicht auf einen hoffnungslosen. ›Charakterstärke, die zum Tod führt‹, dieses Wort aus einem schon früh gelesenen Buch fiel mir ein, leitete die Gedanken ein, die ich nachmittags über die Person des Malers anstellte: wie kommt es, daß ihn nur der Selbstmord beschäftigt? Darf Selbstmord einem Menschen soviel wie geheime Lust sein, ihm so zusetzen, wie er will? Selbstmord, was ist das? Sich auslöschen. Mit Recht oder nicht. Mit welchem Recht? Warum nicht? Alle meine Gedanken versuchten sich an einem Punkt zu vereinigen, wo Antwort ist auf die Frage: ist Selbstmord erlaubt? Ich fand keine Antwort. Nirgends. Denn die Menschen sind keine Antwort, können keine sein, nichts, was lebt, auch nicht die Toten. Ich vernichte etwas, an dem ich nicht schuld bin, indem ich Selbstmord begehe. Das mir anvertraut ist? Von wem anvertraut worden? Wann? War ich mir damals bewußt, daß das geschah? Nein. Aber eine Stimme, die einfach unüberhörbar ist, sagt mir, daß Selbstmord Sünde ist. Sünde? So einfach? Todsünde? So einfach wie Todsünde? Daß es etwas ist, das alles einstürzen läßt, sagt die Stimme. Alles? Was ist denn ›alles‹? Sein Losungswort, ob er wach ist oder in Schlaf versunken: Selbstmord! Darin erstickt er. Ein Fenster nach dem andern mauert er zu. Bald hat er sich eingemauert. Dann, wenn er nichts mehr sieht, weil er nicht mehr einatmen kann, ist er überzeugend: weil er tot ist. Mir kommt es vor, als stände ich im Schatten eines mir nahen Gedankengangs, des seinen: seines Selbstmords.

»Ein Gehirn ist ein Staatsgebilde«, sagte der Maler. »Plötzlich herrscht Anarchie.« Ich wartete in seinem Zimmer, bis er sich seine Schuhe angezogen hatte. »Die großen Attakkierer und die kleineren Attackierer unter den Gedanken« schlössen, wie unter den Menschen, oft Bündnisse, um diese Bündnisse von einer Stunde auf die andere zu brechen. Und »Verstandensein und Verstandenseinwollen ist ein Betrug. Auf allen Irrtümern der Geschlechter beruhend.« Die Gegensätze herrschten gleichsam in einer Nacht, die ewig währe, über den Tag, der nur scheinbar handle. »Die Farben, wissen Sie, sind alles. Also sind die Schatten alles. Die Gegensätze haben große Farbwerte.« Es sei in vielem so wie mit Kleidern, die man kauft und ein paarmal anzieht und dann ablegt und nie mehr anzieht, bestenfalls wieder verkauft, nicht verschenkt, sie im Kasten verkommen läßt. Sie wandern auf den Dachboden oder in den Keller. »Man kann im Abend den Morgen abschätzen«, sagte er, »aber der Morgen ist dann doch immer überraschend.« Eine Erfahrung gebe es nicht, im strengen Sinn: »keinen Ausgeglichenen, daher!« Allerdings gebe es Möglichkeiten, nicht mehr ausgeliefert zu sein, nicht mehr rettungslos zu sein. »Diese Möglichkeiten aber habe ich nie gehabt.« Im Augenblick verliere das, worauf es für das Leben ankomme, seinen ganzen Wert. »Die Bemühung zieht sich an der Enttäuschung hinauf«, sagte er. Wie das eine glänzend, so geschehe das andere brutal, noch brutaler als das vorher Geschehende. »Für den oben Angekommenen stellt sich jedenfalls heraus, daß es Oben nicht gibt. So jung war ich wie Sie, da beruhigte es mich schon längst, zu wissen, daß nichts einer Anstrengung wert ist. Und es beunruhigte mich. Heute erschreckt es mich wieder. In diesem Erschrecken habe ich die Orientierung verloren.« Er nannte seinen Zustand »Expeditionen in Urwälder des Alleinseins. Als ob ich Jahrtausende durchlaufen müßte, weil ein paar Augenblicke mit dem Prügel hinter mir her sind«, sagte er. Nie hätte es ihm an Entbehrung gefehlt, und der Ausnützung durch andere habe er sich nie entzogen, auch nicht entziehen können. »Ich investierte noch in die Menschen, als ich schon wußte, daß sie mich hintergehen, längst wußte, daß sie es darauf abgesehen haben, mich zu töten.« Er habe sich dann nur noch an sich selber gehalten, »wie man sich an einem Baum anhält, der auch schon morsch ist, aber doch ein Baum«, und Vernunft und Herz seien von ihm fort, abgedrängt worden in den Hintergrund.

Es gibt im Dorf Leute, die noch nie aus dem Tal herausgekommen sind. Die Brotausträgerin zum Beispiel, die mit vier Jahren angefangen hat, Brot auszutragen, und nie mehr aufgehört hat, Brot auszutragen, bis zum heutigen Tag, an dem sie siebzig ist. Der Milchführer. Beide haben die Eisenbahn bis jetzt nur von außen gesehen. Und die Schwester der Brotausträgerin und der Mesner. Der Pongau ist für sie so wie für einen andern das finstere Afrika. Der Schuster. Sie bleiben da, wo sie ihr Einkommen haben, und etwas anderes interessiert sie nicht. Oder sie fürchten sich, einen Schritt hinaus zu machen. »Ein Freund hat mir die Gasthausadresse gegeben«, sagte ich. Wie ist diese Lüge zustande gekommen? So einfach, als wäre nichts leichter als zu lügen. Und immer fort und fort zu lügen. »Da ich gern in einen Ort oder in eine Landschaft komme, die ich nicht kenne«, sagte ich, »habe ich nicht gezögert.« – »Die Luft ist von einer fürchterlichen Zusammensetzung«, sagte der Maler. »Plötzlich fangen die Umstände an, Ihre Bewegungsfreiheit zu unterminieren.« Warum ich mir gerade dieses und kein anderes, besseres Gasthaus als Logis ausgesucht habe, wollte er wissen, wo es doch mehrere Gasthäuser und sogar Pensionen gibt. »Auch im Tal unten. Aber das kommt alles wohl nur für Durchreisende in Frage, für reine Übernachtungszwecke.« Alles sei ein Einfall von einem Freund gewesen, log ich. So, mit ein paar Adressen ausgerüstet, sei ich hergereist. »Und Ihre Reise war ganz ohne Zwischenfälle?« fragte er mich. Ich konnte mich an keinen Zwischenfall während der Fahrt erinnern. »Wissen Sie«, sagte er, »wenn ich reise, gibt es immer Zwischenfälle.« Auf das Dorf und auf das Gasthaus zurückkommend, sagte er: »Man muß etwas zum Lesen mithaben oder eine Arbeit. Haben Sie denn nichts mit?« – »Ein Buch von Henry James«, sagte ich. »Henry James?« fragte er. »Ich habe«, sagte er, »Bücher absichtlich zu Hause gelassen. Allerdings, ein paar kleinere Schriften habe ich mit. Eigentlich aber nichts als meinen Pascal.« Er schaute mich die ganze Zeit nicht an, ging ganz gebückt. »Denn ich habe ja abgeschlossen«, sagte er. »Abgeschlossen, wie man ein Geschäft abschließt, nachdem der letzte Kunde draußen ist.« Dann: »Hier können Sie lauter Beobachtungen machen, die sich in Kälte umwandeln, in Mißgunst gegen sich selbst. Wenn Sie das wollen: wo Menschen sind, kann man beobachten. Vor allem, was sie nicht tun, das nämlich, was sie umbringt.« Hier sei nichts, »vor dem man den Hut ziehen könnte«. Alles sei so bodenlos häßlich wie teuer. »Es gefällt mir, daß Ihnen die Wirtin mißfällt«, sagte er. »Das muß so sein.« Näheres erklärte er nicht. Kein Mitleid haben, sondern nur den Abscheu arbeiten und zu seinem Ziel kommen lassen, das sei in vielen Fällen eine absolute Zierde des Verstandes. »Sie ist ein Unmensch«, sagte er. »Hier werden Sie noch eine Reihe Unmenschen kennenlernen. Vor allem im Haus.« Ob ich die Fähigkeit hätte, Charakter gegen Charakter abzuschätzen, eine Fähigkeit, »völlig intelligenzlos, die nur wenig Menschen besitzen?« Zwischen zwei Charakteren einen dritten zu konstruieren und so fort ... was ihm die Zeit vertreibe. »Jetzt nicht mehr. Es besteht die Möglichkeit«, sagte er, »daß Sie in der Nacht aufwachen. Haben Sie keine Angst: es handelt sich um einen entsprungenen Bettgeher der Wirtin, der mit den häuslichen Verhältnissen nicht vertraut ist. Oder um den Wasenmeister, der nachtblind zu sein scheint. Knochenbrüche und Verstauchungen aller Art haben ihn bis jetzt noch immer nicht abgehalten, in das Bett der Wirtin zu kriechen.« Die Wirtin begünstige alle anderen, nur ihn, den Maler, nicht. Sie wechsle zum Beispiel alle vier, fünf Tage die Leintücher in allen Zimmern, nur in seinem nicht. Sie fülle ihm die Gläser schlecht, und wenn sich jemand bei ihr nach ihm erkundige, bringe sie unverschämte Lügen über ihn an. Aber Beweise habe er dafür nicht, deshalb könne er sie nicht zur Rede stellen. Ich sagte, daß ich nicht glaube, daß die Wirtin Gemeinheiten über ihn verbreite. »Doch«, sagte er, »sie schildert mich wie einen Hund. Sie erzählt auch, daß ich ins Bett mache. Hinter meinem Rücken klopft sie sich mit dem Zeigefinger an den Kopf, was heißen soll, daß ich verrückt sei. Sie vergißt, daß es Spiegel gibt. Die meisten Menschen vergessen das.« Sie verwässere seine Milch. »Nicht nur meine Milch.« Abgesehen davon, daß sie, wie er glaubt, Hundeund Pferdefleisch verkocht. »Ihren Kindern hat sie vor Jahren einmal erzählt, ich sei ein Kinderfresser. Von da an gingen mir ihre Kinder aus dem Weg.« Sie habe immer schon seine Postkarten gelesen und sogar Briefe an ihn über dem Kochkesseldunst geöffnet und sich ihren Inhalt einverleibt. »Sie wußte immer wieder Sachen, die ich ihr nie erzählt habe.« Jetzt bekomme er keine Post mehr. »Endgültig nicht mehr.« Er sagte: »Abgesehen davon, daß sie mir alles doppelt und dreifach verrechnet, weil sie annimmt, ich sei ein reicher Mann. Wie das hier alle glauben. Selbst der Pfarrer lebt in dem Wahn und geht mich dauernd um Spenden an. Sehe ich so aus, als hätte ich Geld? Wie ein Besitzender?« – »Für die Landleute«, sagte ich, »hat jeder, der aus der Stadt kommt, Geld, das man ihm herausziehen kann. Vor allem glaubt man, daß die Gebildeten Geld haben.« – »Sehe ich denn wie ein Gebildeter aus?« fragte er. »Die Wirtin stellt mir Sachen in Rechnung, die ich nie bekommen habe. Und sie bettelt mir eine Wochenessenbezahlung für einen Arbeitslosen ab. Natürlich, ich sage nicht nein. Aber ich sollte nein sagen. Warum sage ich nicht nein? Sie legt alles auf Betrug an. Sie betrügt nicht nur mich. Alle betrügt sie. Selbst ihre Kinder.« Der Betrug könne ein Antrieb für einen Menschen sein. »Und ein Auftrieb«, sagte der Maler.

»Als ich zum ersten Mal in Weng gewesen bin, war sie keine sechzehn Jahre alt. Ich weiß, daß sie an der Tür horcht. Mache ich rasch auf, stoße ich sie an ihren Kopf. Aber ich hüte mich davor.« Sie sei eine schlampige Abwascherin. In ihren zusammengefalteten Handtüchern fänden sich Schmutzflecken von Käfern und diese Käfer selbst, ja sogar Würmer. Einen riesigen Germteigkuchen, den sogenannten ›Schlögel‹, backe sie in der Nacht von Freitag auf Samstag zwischen zwei Männern, »die sie rücksichtslos strapaziert. Der Wasenmeister weiß nicht, daß sie einen Stock tiefer einen Gast auf dieselbe niederträchtige Weise unter ihre Brüste bekommt.« Sie habe Kochrezepte, die von Mund zu Mund gingen. »So gefährlich sie ist, so verkommen, so gut kann sie kochen.« In ihrer Vorratskammer im Keller und auf dem Dachboden fänden sich, zwischen Lebensmitteln, Mehlsäcken, Zuckersäcken, Zwiebelzöpfen und Brotlaiben, Kartoffel- und Apfelhaufen, Beweisstücke ihrer Verworfenheit, wie Männerunterhosen, von Fäulnis und Ratten angefallen. »Eine sehenswerte Sammlung solcher schmutziger Beweisstücke liegt da oben und da unten unaufgeräumt herum. Es ist ihr eine besondere Befriedigung, in männerraren Zeiten ab und zu und hin und wieder diese Beweisstücke abzuzählen und sich ihrer ehemaligen Eigentümer zu erinnern. Die Schlüssel zu diesen Kostbarkeiten, zu Keller und Dachboden, trägt sie immerfort, durch Jahre hindurch schon, an ihrem Körper, und kein Mensch, außer mir, hat eine Ahnung von dem, was sie mit diesen Schlüsseln aufzusperren vermag.«

Wie alte Leute Speichel, so stößt der Maler Strauch seine Sätze aus. Ich sah ihn erst wieder zum Nachtmahl. In der Zwischenzeit habe ich mich im Gastzimmer hingesetzt und dem Essensgetriebe zugeschaut. Der Maler erschien der Wirtin viel zu spät, nach acht Uhr, um diese Zeit waren nur noch die Stammplätze von Säufern besetzt. Ein übler Geruch nach Schweiß und Bier und Arbeitsanzugstoffen stand, dick geworden, im Gastzimmer. Der Maler suchte, als er im Türrahmen auftauchte, mit hoch erhobenem Kopf einen Platz, und als er mich sah, kam er auf mich zu und setzte sich mir gegenüber. Er sagte der Wirtin, er wolle nicht das von ihr Aufgekochte essen. Sie solle ihm ein Stück Leberkäs und abgebratene Kartoffeln bringen. Auf die Suppe verzichte er. Er sei schon tagelang von Appetitlosigkeit geplagt, aber heute sei er hungrig. »Ich habe nämlich gefroren.« Es sei ja nicht kalt, im Gegenteil, aber: »der Föhn, wissen Sie. Innerlich, verstehen Sie, habe ich gefroren. Man friert innerlich.«

Er ißt nicht wie ein Tier, nicht wie die Arbeiter, nicht mitten aus einem Urzustand heraus. Jeder Bissen ist wie ein Hohn gegen ihn gerichtet. Das Stück Leberkäs vor ihm sei »ein Stück Leichnam«, sagte er. Bei diesem Satz schaute er mich an. Ich zeigte aber nicht den Abscheu, den er sich von mir erhofft hatte. Ich arbeite ja immer mit Leichenfleisch, da ekelt einen vor nichts. Davon konnte der Maler keine Ahnung haben. »Alles, was Menschen essen, sind Leichenteile«, sagte er. Ich sah, wie enttäuscht er war. Eine kindische Enttäuschung ließ sein Gesicht in einer schmerzhaften Unsicherheit zurück. Dann redete er über Wert und Unwert der Menschen mit mir. »Das Viehische«, sagte er, »das im Menschen auf der Lauer liegt und das wir mit Raubtiertatzen in Verbindung bringen, das auf einen Wink zum Sprung und zum Reißen ansetzt, ist auch das Viehische, das wir wahrnehmen, wenn wir eine Straße überqueren, wie Hunderte anderer Leute mit uns, verstehen Sie ...« Er kaute und sagte: »Ich weiß nicht mehr, was ich sagen wollte, aber es war etwas Bösartiges, das weiß ich. Oft bleibt von allem, was man sagen will, nur dieses Gefühl, daß man etwas Bösartiges sagen wollte, zurück.«

VIERTER TAG

»Man kommt überall nur an«, sagte der Maler, »läßt es hinter sich, und dabei ist alles, jeder Gegenstand, alles, was man rasch aufnimmt, die ganze Urgeschichte. Man hält sich, je älter man wird, desto weniger auf bei den Zusammenhängen, die man schon einmal kennengelernt hat, studiert hat, erledigt hat. Ein Tisch, Kuh, Himmel, Bach, Stein und Baum, das alles ist durchforscht. Alles wird nur mehr gehandhabt. Die Gegenstände, die ganze Harmonie der Erfindungen, völlig unbegriffen ... es geht nicht mehr um Verästelungen, um Vertiefungen, um Schattierungen. Man bemüht sich nur noch um die großen Zusammenhänge. Plötzlich schaut man hinein in die Architektur der Welt und entdeckt sie: eine universale Raumornamentik, nichts sonst. Aus kleinsten Verhältnissen, größten Reproduktionen – man entdeckt, daß man immer verloren war. Mit dem Alter wird das Denken zu einem Mechanismus der Qual des Antippens. Keinerlei Verdienst. Ich sage: Baum, und ich sehe riesige Wälder. Ich sage Fluß, und ich sehe alle Flüsse. Ich sage: Haus, und ich sehe die Häusermeere der Städte. So sage ich Schnee, und das sind die Ozeane. Ein Gedanke löst schließlich alles aus. Die hohe Kunst besteht darin, im Großen wie im Kleinen zu denken, fortwährend gleichzeitig in allen Größenverhältnissen ...«

Unsicherheit sei es, welche Menschen zu großen Leistungen ansporne, durch welche Menschen, die eigentlich zu nichts geschaffen seien, zu allem fähig würden. Die Helden seien aus der Unsicherheit hervorgegangen. Also aus einem Angstzustand, aus Furcht, aus Verzweiflung. »Abgesehen von den Schöpfungen in der Kunst.« Nicht Sicherheit regiere, der Schwachsinn, Unvermögen – Ordentliches, nicht Außerordentliches. Diese Bemerkungen macht er während des Mittagessens. Er schickt das Rindfleisch zurück, obwohl er es bestellt hat, und will Geselchtes haben. Die Wirtin nimmt ihm das Rindfleisch weg und verschwindet. Wir haben einen Tisch für uns allein, sonst ist das Gastzimmer voll. Mehr Menschen gehen gar nicht hinein, denkt man. Stühle, die sonst in der Küche ihren Platz haben, werden hereingebracht und aufgestellt, die große Bank unter den Fenstern herausgezogen und um zwei Meter verlängert. Schließlich hocken sie auch auf dem Boden, auf Kistenbrettern, die über umgestülpte Kübel gelegt sind. Freitag, denke ich. Dann, als sie schon gar keinen Platz mehr haben, kommen sie auch an unseren Tisch. Der Wasenmeister, der Ingenieur zuerst, dann Arbeiter, die den Maler einzwängen. Die Wirtin, die ihm das Geselchte hinstellt, sieht mit Schadenfreude, wie sie den Maler beinahe erdrücken. Sie schneidet wieder ein Gesicht hinter seinem Rücken, gegen ihn und auch gegen mich, denn sie hat herausbekommen, daß ich mich dem Maler angeschlossen habe. So bin ich ihr also verdächtig. Sie zählt mich zu ihm. Da sie ihn verabscheut, muß sie auch mich verabscheuen.

Der Wasenmeister ist ein großer schwarzer Mann, der Ingenieur einen Kopf kleiner, braun, gesprächig, ganz anders als der Wasenmeister. »Die Arbeit zieht sich hin«, sagt der Ingenieur. Die Arbeit am Brückenbau, einem Teilvorhaben des Kraftwerkbaues, der unten im Tal in Gang ist. Es sei jetzt die ungünstigste Zeit für Betonierarbeiten, sie müßten aber ausgeführt werden. »Auch die Überstunden nützen nichts«, sagt er. Er ist, wie man sagt, ›undurchlässig‹. Hat seine Belegschaft gut in der Hand. Redet wie sie. Trinkt wie sie. Macht kurzen Prozeß, wie sie ihn auch machen würden, wenn sie an seiner Stelle wären. Er wirft mit ihren Namen im Gastzimmer herum. An jeden Namen hängt er eine Anweisung für den kommenden Tag. Es scheint, als habe der Ingenieur alles im Kopf: Zahlen, Abfuhren, Träger, Traversen, noch nicht ganz abgesicherte Abbaustellen und so fort. Er raucht eine Zigarette nach der andern und preßt seinen Bauch vor Lachen an die Tischplatte. Der Wasenmeister ist schweigsam. Mit ungeheurer Kraft scheint der Ingenieur gegen das Ungeheure vorzugehen. Die Arbeiter achten ihn. Er macht ihnen nichts vor. »Die Schienen müssen hinein«, sagt er, und alle außer mir und dem Maler wissen, was das heißt, was das bedeutet. Der Maler steht auf; ohne sich von mir zu verabschieden, verschwindet er. Mir macht es nichts aus, noch eine Zeitlang am Tisch sitzen zu bleiben und zuzuhören.

Das Gasthaus sei eines jener Gasthäuser, in denen man, notgedrungen, nur ein einziges Mal übernachte. Ihn, den Maler, habe es immer wieder angezogen. Nicht irgendein Vorzug, nein, die Mängel reizten ihn. Eine Anhänglichkeit an die Kriegszeit, in der das Gasthaus für ihn und seine Schwester Unterschlupf gewesen war. Er habe sich immer wieder in Not und Hungerübungen eingelassen. In die Primitivität. In die Anspruchslosigkeit. »Ich kenne selbst die unauffälligsten Geräusche in diesem Haus«, sagte der Maler. Mit den Handflächen könne er in der Nacht altbekannte Mauerunregelmäßigkeiten abtasten, die er bis in die kleinsten Unscheinbarkeiten hinein kenne. »Ich habe schon in allen Zimmern gehaust«, sagte er. »Ich hätte das Gasthaus auch einmal kaufen können. Damals hatte ich sogar Geld. Aber dann wäre alles aus gewesen, verstehen Sie.« Wenn er genug gehabt habe von allem, sei er hergefahren. »Die Wände könnten erzählen«, sagte er. »Jedes Zimmer hat seinen eigenen unerhörten Vorfall. Auch in dieses Haus war der Krieg eingedrungen. Zum Beispiel das Zimmer, in dem Sie untergebracht sind ...« Er sagte: »Meine Stimmung läßt mich lieber schweigen. Es handelt sich um eine Entscheidung, die ein Mensch in diesem Zimmer getroffen hat. Allen unverständlich. Religionslos.« Die Methoden seien verschieden, aber alles uralte Weisheit. Und so rückständig oft die Gedankengänge eines Menschen seien, so revolutionäre Wirkungen entstünden daraus. Manchmal dringe kalte Luft in das Haus ein, wenn vergessen worden sei, die Fenster zu schließen, und alles in ihm käme vor Kälte um. »Selbst die Traumvorstellungen kommen vor Kälte um. Alles wird Kälte. Phantasie, alles.« Niemals sei er hier im Gasthaus auf einen sogenannten ›erhebenden‹ Gedanken gekommen. Solche Gedanken seien ihm allerdings von Natur aus fremd, es sei schon unzüchtig, an sie herankommen zu wollen. Er stoße sie auch ab. »Die Art der Gedanken, die ein Mensch haben will, bestimmt er selbst.« Es sei erstaunlich, »wie abweisend oft das ist, dem man mit Zutrauen kommt«. Das Leben im Gasthaus liege »auf der Linie aller großen Mißhandlungen«, die er ja suche. Sich selber Schmerz zufügen, das habe er schon als Kind exerziert. »Es probierte mich zuerst aus. Da fing ich Feuer.« Mit den Jahren habe er das bis zu den Höhen des Wahnsinns entwickelt. »Das Gasthaus ist alles in allem ein Kronzeuge meiner Gefühle, meiner Zustände. ›Das bin ich‹, sagt alles ..., gar keine Tugend mehr, keine Einfachheit, nur noch in sich selbst bis über alles Phantastische hinaus und hinunter gesteigerte Inzucht.«

»Meine Zeit ist vergangen, so wie eine Zeit vergeht, die man nicht haben will. Ja, ich habe meine Zeit nie haben wollen. Die Krankheit ist die Folge der Interesselosigkeit an meiner Zeit, der Interesselosigkeit, der Arbeitslosigkeit, der Unzufriedenheit. Die Krankheit ist ja gerade da aufgetreten, wo nichts mehr war ... meine Untersuchungen sind stehengeblieben, auf einmal habe ich gesehen: nein, diese Mauer übersteige ich nicht! Das war so: ich mußte einen Weg finden, den ich noch nicht gegangen bin ... Die Nächte waren schlaflos, stumpf, grau ... manchmal bin ich aufgesprungen: und sah langsam alles Erdachte falsch werden, wertlos werden, alles wurde nacheinander, folgerichtig, wissen Sie, sinn- und zwecklos ... Und ich entdeckte, daß die Umgebung nicht haben will, daß man sie aufklärt.«

FÜNFTER TAG

»Meine Familie, die Eltern, alles, die ganze Welt, an der ich mich hätte anhalten können und an der ich mich immer anzuhalten versucht habe, hat sich für mich schon früh in Dunkelheit aufgelöst, war einfach über Nacht in Dunkelheit hinein verschwunden, hatte sich meinen Blicken entzogen, oder ich hatte mich von ihr entfernt, in Dunkelheit verzogen. Ich weiß es nicht genau. Jedenfalls war ich früh allein gelassen, vielleicht schon immer allein gewesen. Das Alleinsein beschäftigte mich, soweit ich zurückdenken kann. Auch der Begriff des Alleinseins. Des Eingeschlossenseins in sich selbst. Ich konnte mir, so wie ich war, nicht vorstellen, womöglich immer allein zu bleiben, die ganze Zeit. Das konnte nicht in meinen Kopf, ich brachte es nicht in meinen Kopf und nicht mehr aus mir heraus.« Er sagte: »Ich kam immer wieder darauf zurück. Hilflos stand ich da. Stand ich dort, zusammenhanglos. Wachte ich da auf. Und nicht dort, wo ich hätte aufwachen sollen, meinem Gemüt entsprechend. Kindheit und Jugend waren ein ebenso grausames Alleinsein, wie mein Alter ein grausiges Alleinsein ist. Als hätte die Natur ein Recht darauf, mich immerfort abzudrängen, immer auf mich zu, in mich hinein, von allem fort, auf alles zu, aber immer an die Grenze. Sie verstehen, was ich meine: die Ohren sind voll Vorhaltungen, die man sich selber macht. Und glaubt man, es wäre einmal Gesang, irgendein in Noten gesetztes oder wildes Musikstück, so irrt man: das ist auch nichts anderes als Alleinsein. Mit den Vögeln im Wald ist es so, mit dem Meerwasser, das einem an die Knie schlägt. Ich wußte mir niemals zu helfen, und ich weiß es heute am allerwenigsten. Das ist überraschend, nicht wahr? Die Menschen, glaube ich, tun nur so, als wären sie nicht allein, weil sie immer allein sind. Wenn man sieht, wie sie in ihren Gemeinschaften aufgehen: oder sind das gerade Beweise dafür, die Vereine, die Gesellschaften, die Religionen, die Städte, für unendliche Einsamkeit? Sehen Sie, es sind immer dieselben Gedanken. Unnatürlich, vielleicht. Zusammenhangsüberdrüssig. Vielleicht unsinnig. Dilettantisch, kann sein. Wenn zum Alleinsein eine gewisse brauchbare Selbständigkeit dazukommt«, sagte er, »dann ist es ja noch erträglich, aber ich hatte nie auch nur die geringste Selbständigkeit. Ich wußte nie, was anfangen. Mit dem, was auf einen zukommt, Einflüsse, Umwelt, Ich, mit dem wurde ich nicht fertig. Mit dem, was nun einmal in mir immer gewesen ist. Ja. Sehen Sie!« Er sagte: »Die Menschen, die einen neuen Menschen machen, nehmen doch eine ungeheure Verantwortung auf sich. Alles unerfüllbar. Hoffnungslos. Das ist ein großes Verbrechen, einen Menschen zu machen, von dem man weiß, daß er unglücklich sein wird, wenigstens irgendwann einmal unglücklich sein wird. Das Unglück, das einen Augenblick lang existiert, ist das ganze Unglück. Ein Alleinsein erzeugen, weil man nicht mehr allein sein will, das ist verbrecherisch.« Er sagte: »Der Antrieb der Natur ist verbrecherisch, und sich darauf berufen ist eine Ausrede, wie alles nur eine Ausrede ist, was Menschen anrühren.«

Er wandte sich der Ortschaft zu, die vor uns lag: »Das ist kein guter Menschenschlag hier«, sagte er. »Die Leute sind verhältnismäßig klein. Man steckt den Säuglingen ›Schnapsfetzen‹ in den Mund, damit sie nicht schreien. Viele Mißgeburten. Der Anenkephalos ist hier zu Hause. Man hat keine Lieblingskinder, sondern nur eine Menge Kinder. Im Sommer trifft sie der Hitzschlag, denn ihr feines Gewebe hält der Sonne nicht stand, die oft grausam herunterbrennt. Im Winter erfrieren sie, wie gesagt, auf dem Schulweg. Der Alkohol hat die Milch verdrängt. Alle haben sie hohe heisere Stimmen. Den meisten ist eine Verkrüppelung angeboren. Alle im Rausch erzeugt. Größtenteils kriminelle Naturen. Ein hoher Prozentsatz der jüngeren Leute sitzt immer im Gefängnis. Die schwere Körperverletzung und die Unzucht und die Unzucht wider die Natur sind an der Tagesordnung. Die Kindesmißhandlung, der Mord, Vorfälle für Sonntagnachmittage ... Das Vieh hat es besser: man wünscht sich ja auch ein Schwein, kein Kind. Die Schulen haben den allerniedrigsten Standard, und die Lehrer sind hinterhältig, verachtet wie überall. Gehen oft an Magengeschwüren zugrunde. Die Tuberkulose versetzt sie in eine milchige Melancholie, aus der sie nicht mehr herauskommen. Langsam gehen die Bauernsöhne in der Arbeitermasse unter. Ich habe noch nie einen schönen Menschen gesehen in dieser Gegend. Und dabei weiß man gar nichts von diesen Menschen, nichts davon, was in ihnen vorgeht: man eckt manchmal an an diese Berufe, Existenzen, Torturen, Überhandnahmen. Man eckt nur an.«

Er sei als Kind bei seinen Großeltern aufgewachsen, ziemlich wild. Streng gehalten in Winterzeiten. Da habe er oft tagelang stillsitzen und Wörterzusammensetzungen auswendig lernen müssen. Als er in die Schule eintrat, wußte er mehr als der Lehrer. Das Klassenzimmer dieser Landschule in einem stillen Ort in Niederösterreich »hat sich bis zum heutigen Tag nicht verändert«. Eine plötzliche Laune habe ihn vor kurzem hinfahren lassen. Derselbe Geruch, sagte er, der ihn schon als Kind immer irritiert habe, ein Geruch von viel Teer, Abort, Korn und Apfeldunst. Jetzt habe er diesen Geruch eingeatmet wie einen ganzen vollen Frühlingstag. Er zwinge sich öfter dazu, diesen Geruch für sich zu erzeugen, plötzlich, irgendwo. Es gelinge ihm fast immer. Wie einem Meister plötzlich hin und wieder ein Meisterstück gelinge. Seine ganze Kindheit sei aus Gerüchen zusammengesetzt, zusammengeschoben hätten sie sich zu seiner Kindheit. Nicht tot sei es, ständig in Bewegung. Und aus Wortund Ballspielen, aus der Angst vor Ungeziefer, wilden Tieren, finsteren Gassen, reißenden Flüssen, Hunger, Zukunft. Er hat in seiner Kindheit Ungeziefer, Hunger, wilde Tiere und reißende Flüsse kennengelernt. Auch Zukunft, Abscheu. Der Krieg hat ihm ermöglicht zu sehen, was Leute, die den Krieg nicht kennen, niemals sehen. Die Großstadt wechselte in seinem Leben oft mit dem Land ab, denn sein Großvater war unruhig, genauso unruhig wie er selbst. Die Großmutter geistreich, stattlich, unzugänglich für gemeine Menschen. Der Großvater nahm den Enkel mit in Landschaften, in Gespräche, in Finsternisse hinein. »Herrenmenschen waren die Großeltern«, sagte er. Ihr Verlust war sein allergrößter Verlust. Die Eltern kümmerten sich wenig um ihn, mehr um den ein Jahr älteren Bruder, von dem sie alles erwarteten, was sie von ihm nicht erwarteten: eine geregelte Zukunft, überhaupt Zukunft. Mehr Liebe und mehr Taschengeld hatte sein Bruder immer bekommen. Wo er sie enttäuschte, enttäuschte sein Bruder sie nie. Mit seiner Schwester verband ihn ein viel zu schwaches Band, als daß es hätte halten können. Später knüpften sie es neu über den Ozean hinweg, schrieben sich Briefe, von Europa nach Mexiko, von Mexiko nach Europa, versuchten aus ihrer Vorliebe füreinander eine Liebe zu zaubern, eine Abhängigkeit, was ihnen vielleicht auch gelang. »Sie schreibt mir zwei-, dreimal im Jahr, so oft wie ich ihr«, sagte er. Aus dem Alleinsein und tief in ihm entstanden die vielen Gedanken, die immer düsterer wurden. Mit dem Tod der Großeltern ging es »in Finsternis, die nicht mehr aufhören wird«.

Dann starb auch der Vater, die Mutter folgte ihm ein Jahr später. Während sein Bruder seinen Weg machte, Stufe für Stufe hinaufstieg in seiner Laufbahn, mehr und mehr der Chirurg wurde, der er jetzt ist, verrannte sich sein Bruder in seine Gedankenwelt. Bald gab es den einen, bald gab es den anderen Ausweg nicht mehr. Bald stand er da, bald stand er dort vor dem Ruin. Nach außen hin ließ er sich nichts davon anmerken, ging immer gut angezogen auf die Straße. Zu Hause aber, in seinem Zimmer, verfiel er, immer unausgeschlafener, in übelste Konstellationen, in Wissenschaften, in Kunstbetrachtungen und in Armut. In dem Grad, in dem die Armut zunahm, schloß er sich mehr und mehr ab. Seine »künstlerischen Versuche« ließen zu wünschen übrig. Er selbst sah oft allzu deutlich, daß das, was er, wenn auch qualvoll, hervorbrachte, nichts war, worüber man hätte ins Staunen kommen können, geschweige denn in Hochrufe ausbrechen. Alltäglich erschien ihm, was aus ihm hervorging. Alles bröckelte ab. Trotzdem verschafften ihm Glücksfälle, »reine Irrtümer«, Zuschüsse von Freundlichkeit, ja selbst immer etwas zum Leben. Woher? »Ausflüge kamen manchmal daher wie ein Frühlingslufthauch«, der ihn mitnahm in ein Donaustädtchen, in ein Waldviertler-Dorf, ja gar über die Grenze nach Ungarn, an dem er sich zeitlebens nie hat satt sehen können, an der »Ebene der Melancholie«. Aber die Kindheit war ihm am grauenhaftesten an dem Tag, an welchem er hinter seinen Eltern seine Großeltern nicht mehr hatte. Er war so allein, daß er oft in fremden Höfen auf einem Treppenstein saß und vor Übelkeit glaubte sterben zu müssen. Tagelang ging er herum, sprach Leute an, die ihn für verrückt hielten, als ungezogen und ekelerregend empfanden. Auf dem Land erging es ihm da nicht anders: die Wiesen und Felder sah er oft tagelang nicht, denn vor Tränenwasser sah er nicht aus den Augen heraus. Dahin und dorthin schickten sie ihn und bezahlten für ihn. Oder blieben sein Dortsein, sein Dasein schuldig, und es war noch viel schlimmer für ihn. Er suchte Freunde, fand aber keine. Es kam schon vor, daß er glaubte, da wäre ihm plötzlich ein Freund erwachsen, aber dann war es nur Täuschung, aus der er sich ängstlich zurückzog. In noch mehr Verwirrung, noch mehr Aufhörenwollen, noch mehr Unklarheit hinein. Das Zerstörende, Verführende des Geschlechts kam dazu, der Umgang mit verbotenem Anblick, Krankheiten, mit denen er, auf sich selbst angewiesen, fertig werden mußte, verstörten ihn. Wie anders ging alles bei seinen Geschwistern, die bei den Eltern leben durften, sich »dort ausleben durften«. Da alles in ihm drunter und drüber ging, verplemperte er seine Schulaussichten, und es blieb ihm eines Tages nichts anderes übrig, als eine Arbeit in einem Büro anzunehmen, aus der er sich nur durch einen Riesenkrach wieder herausretten konnte, in die Kunstakademie hinein. Stipendien wurden ihm bewilligt, er machte die Abschlußprüfungen in allen geforderten Fächern. »Es wurde aber nichts aus mir«, sagte er. Die Jugend war ihm noch bitterer. Vielleicht hatte er mehr Kontakt mit Gleichaltrigen, Gleichgestimmten, aber »alles war ziemlich gedankenlos«. Kindheit und Jugend sind ihm nicht leichtgefallen. In vielem erinnern sie mich an meine eigene Kindheit und Jugend. Traurig war auch ich, aber nie verbittert wie er schon so früh. Trotzdem seien Kindheit und Jugend in ihm das einzige, »wovon sich zu trennen nur schwerfällt«.

Er gestand heute, alle von ihm gemalten Bilder verheizt zu haben. »Ich mußte mich trennen von dem, was mir immer vor Augen hielt, daß ich nichts bin.« Wie Geschwüre hätten sie sich ihm tagtäglich geöffnet und ihn verstummen lassen. »Ich habe kurzen Prozeß gemacht. Eines Tages war mir klar, daß nichts aus mir wird. Ich wollte es aber, wie jeder Mensch, nicht glauben und zog das Fürchterliche noch Jahre hinaus. Dann, am Tag, bevor ich abreiste, schlug es mir mit aller Wucht auf den Kopf.«

»Es hat eine Zeit gegeben, da hätte ich es nicht für möglich gehalten, mich derart kopflos an mich selbst zu verlieren«, sagt der Maler. Er bleibt stehen, schöpft Luft und sagt: »Ich könnte ja gut aufgelegt sein. Warum bin ich denn nicht gut aufgelegt? Keine Langeweile, keine Angst. Keine Schmerzen. Nichts, was irritiert. Als wär ich im Augenblick ein ganz anderer. Und da ist es wieder: es schmerzt und es irritiert mich. Ja, ich bin ich selbst. Sehen Sie: mein ganzes Leben lang! ... Und ich bin niemals ausgelassen gewesen! Niemals! Nicht froh! Nicht, was man glücklich nennt. Weil immer die Sucht zum Außergewöhnlichen, Eigenartigen, Exzentrischen, zum Einmaligen und Unerreichbaren, weil überall diese Sucht, auch was die Folterungen des Geistes anbelangt, mir alles verdorben hat. Wie ein Stück Papier hat es mir alles zerrissen! Meine Angst ist eine durchdachte, eine zergliederte, zerfledderte, eine in ihre Einzelheiten zerlegte, nicht niederträchtige. Ich prüfe mich fortwährend, ja, das ist es! Ich laufe immer hinter mir her! Sie können sich vorstellen, wie das ist, wenn man sich selbst aufschlägt wie ein Buch und lauter Druckfehler darin entdecken muß, einen nach dem andern, auf jeder Seite wimmelt es von Druckfehlern! Und alles ist trotz dieser vielen hundert und tausend Druckfehler meisterhaft! Es handelt sich um eine Aneinanderreihung von Meisterstücken! ... Die Schmerzen kommen von unten herauf und von oben herunter und werden Menschenschmerzen. Ich stoße überall an die Mauern, die um mich herum sind. Ich bin schon der reinste Mörtelmensch! Aber es ist doch so, daß ich mich oft hinter meinem Lachen zurückgehalten habe!

Wissen Sie, was ich jetzt höre? Ich höre die Anklagen gegen die großen Gedanken, ein ungeheurer Gerichtshof ist gegen die großen Gedanken zusammengetreten, ich höre, wie man langsam anfängt, allen großen Gedanken den Prozeß zu machen. Immer mehr große Gedanken werden verhaftet und in die Gefängnisse eingeliefert. Die großen Gedanken werden zu fürchterlichen Strafen verurteilt werden, das weiß ich! Ich höre es! Die großen Gedanken werden an den Grenzen gefangengenommen! Viele fliehen, aber sie werden eingeholt und gezüchtigt und kommen in Strafanstalten! Lebenslänglich, sage ich, lebenslänglich Zuchthaus ist die Mindeststrafe, zu welcher man die großen Gedanken verurteilt. Die großen Gedanken haben keine Verteidiger! Nicht einmal einen lausigen Pflichtverteidiger haben die! Ich höre die Staatsanwälte gegen die großen Gedanken vorgehen! Ich höre die Polizei auf die großen Gedanken mit ihren Holzknüppeln schlagen! Immer schon hat die Polizei auf die großen Gedanken niedergeschlagen! Sie hat die großen Gedanken eingesperrt! Bald werden alle großen Gedanken eingesperrt sein! Kein einziger großer Gedanke wird mehr frei sein! Hören Sie! Sehen Sie! Allen großen Gedanken ist grundsätzlich immer der Kopf abgeschlagen worden! Hören Sie!« Der Maler sagt, ich solle vorausgehen, und ich gehe voraus, und er treibt mich mit seinem Stock in die Mulde.

Der Zufall fügte es, daß ich den Maler schon vor dem Lärchenwald und nicht erst unten im Hohlweg traf, wo wir uns verabredet hatten und wo ich ihn, als ich mich dem Lärchenwald auf nur mehr zwanzig oder dreißig Schritte genähert hatte, bereits vermutete, daß er also schon vor dem Lärchenwald plötzlich hinter einem Baum hervorsprang und seinen Stock so, als wollte er mir den Weg versperren, ausgestreckt hielt. Ich hatte schon vom Dorf her die ganze Zeit gesungen, Melodien, von denen ich nicht wußte, woher sie waren, eine in die andere übergehend, und er sagte: »Sie können ja singen! Warum singen Sie nur, wenn Sie allein sind? Sie haben noch nie gesungen, wenn ich mit Ihnen zusammen war. Eine merkwürdige Stimme haben Sie, nicht unangenehm.« Ich war verlegen und wußte nicht, was ich hätte sagen sollen. Er nahm mich am Arm und führte mich, schwer atmend, in den Lärchenwald. »Singen Sie doch wieder. Sie brauchen sich doch nicht zu genieren. Es ist ja eine schöne Stimme.« Aber ich sang nicht mehr. Selbst wenn ich den Willen dazu gehabt hätte, wäre kein Ton mehr aus mir herausgekommen. Er habe sich entschlossen, schon vor dem Lärchenwald auf mich zu warten, »weil es im Hohlweg sicher sehr kalt ist«. Wir gingen verhältnismäßig rasch. Er schien aber bereits müde zu sein und blieb alle Augenblicke stehen. »Die Phantasie ist ein Ausdruck von Unordnung«, sagte er, »muß es sein. In der Ordnung ist Phantasie ja nicht möglich, die Ordnung duldet keine Phantasie, sie kennt gar keine Phantasie. Auf dem ganzen Herweg habe ich mich gefragt, was Phantasie ist. Ich bin mir sicher, daß Phantasie eine Krankheit ist. Eine Krankheit, die man nicht bekommt, weil man sie immer gehabt hat. Eine Krankheit, die alles, vor allem das Lächerliche und das Bösartige, auf dem Gewissen hat. Verstehen Sie Phantasie? Was ist Phantasie? habe ich mich gefragt und gleichzeitig, ob man Phantasie verstehen kann. Aber Phantasie kann man nicht verstehen.« Er zog mit seinem Stock an einem schweren Ast, so daß der Schnee auf uns herunterfiel. Ich mußte ihn abklopfen. »Ein Mensch, der nichts weiß, ist der möglich?« fragte er. »Ein Mensch, der nie etwas gewußt hat?«

Es wurde fünf Uhr, bis wir unten an der Station waren. Da standen mehr Leute als sonst, und der Maler wollte durch alle diese Leute hindurch in die Restauration gehen. Er streckte seine Hand aus, und die Leute wichen vor seinem Stock zurück. Ich folgte ihm in zwei Meter Abstand. In der Restauration setzte er sich zuerst ganz in die Ecke, wo man auf den Bahnsteig hinausschauen und die Züge ankommen und abfahren sehen kann. Dann wurde es ihm zu kühl – »es zieht grauenhaft!« –, und wir setzten uns auf die Ofenplätze. Wir tranken jeder zwei Gläser Sliwowitz und suchten uns dann auf dem Zeitungsstand aus, was wir wollten. Vollbepackt mit Zeitungen – die ich, nachdem er sie gelesen hat, auf mein Zimmer trage, um sie von vorn bis hinten durchzulesen –, nahmen wir uns vor, möglichst noch vor sieben Uhr im Gasthaus zu sein. Vor dem Gasthaus, während ich mir den Schnee von den Schuhen abklopfte, sagte