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Wie wird Gott in meinem Leben sichtbar? An ihren Früchten werdet ihr meine Jünger erkennen, sagt Jesus im Matthäusevangelium. Welche Früchte meint er? Wie schmecken sie? Wonach schmeckt Gott? Und wie kann dieser Geschmack in meinem Leben zunehmen? Nicola Vollkommer widmet sich der bekannten Stelle aus Galater 5,22, in der Paulus die Frucht des Geistes zusammenfasst. Gespickt mit vielen Beispielen aus dem Alltag wird es praktisch für mein eigenes Christsein. Alles dreht sich um die Frage: Wie kann ich dem Geber aller guten Gaben mehr Raum geben, damit seine Frucht einen guten Nährboden in mir findet? Lassen Sie sich einladen, die Frucht des Geistes neu zu entdecken. Ein Muss, wenn Sie Gott und die Bibel lieben!
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Seitenzahl: 263
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NICOLA VOLLKOMMER (Jg. 1959) ist gebürtige Engländerin und lebt seit 1982 in Reutlingen. Sie engagiert sich in der Christlichen Gemeinde Reutlingen, unterrichtet an einer Freien Evangelischen Schule und ist eine gefragte Referentin. Nicola Vollkommer ist mit Helmut verheiratet. Das Paar hat vier erwachsene Kinder.
www.nicola-vollkommer-buecher.de
Wie wird Gott in meinem Leben sichtbar?
»An ihren Früchten werdet ihr meine Jünger erkennen« sagt Jesus im Matthäusevangelium. Welche Früchte meint er? Wie schmecken sie? Wonach schmeckt Gott? Und wie kann dieser Geschmack in meinem Leben zunehmen?
Nicola Vollkommer widmet sich der bekannten Stelle aus Galater 5,22-23, in der Paulus die Frucht des Geistes zusammenfasst. Gespickt mit vielen Beispielen aus dem Alltag wird es praktisch für mein eigenes Christsein.
Alles dreht sich um die Frage, wie ich dem Geber aller guten Gaben mehr Raum geben kann, damit seine Frucht einen guten Nährboden in mir findet. Ein Muss, wenn Sie Gott und die Bibel lieben!
Herzliche Einladung, die Frucht des Geistes neu zu entdecken!
SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.
ISBN 978-3-7751-6229-6 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-6227-2 (lieferbare Buchausgabe)
Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck
© 2024 SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH
Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de · E-Mail: [email protected]
Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:
Elberfelder Bibel 2006, © 2006 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Holzgerlingen.
Weiter wurde verwendet:
Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart (LUT 2017).
Lektorat: Damaris Müller
Umschlaggestaltung: Sybille Koschera, Stuttgart
Titelbild: © freepik, rawpixel.com
Autorenfoto: © Rahel Täubert
Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach
EINLEITUNG: Schon wieder eine To-do-Liste für müde Kämpfer?
1. LIEBE: »All you need is love«
2. FREUDE: Weg mit dem Essig und der Schnute – das Lachen neu entdecken
3. FRIEDE: Die Ruhe im Sturm
4. GEDULD: Die Qual des Wartens
5. FREUNDLICHKEIT: Müssen Christen nett sein?
6. GÜTE: Streugut mit Wirksamkeit
7. TREUE: Gerne eingefordert, ungern geschenkt
8. SANFTMUT: Kraft unter Kontrolle
9. ENTHALTSAMKEIT: Die vergessene Kunst der Selbstbeherrschung
NACHWORT: Von Bäumen und Flüssen
ANMERKUNGEN
Ihr habt nicht mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und euch dazu bestimmt, dass ihr hingeht und Frucht bringt und eure Frucht bleibt, damit, was ihr den Vater bitten werdet in meinem Namen, er euch gebe.
Johannes 15,16
Es ist ein Zusammentreffen der ersten Liga von Denkern und Strategen aus der englischsprachigen christlichen Szene. Meine Ohren sind gespitzt, mein Gehirn ist auf Overdrive eingestellt, gierig nach neuen Erkenntnissen, wie der christliche Glaube für ein postchristliches Zeitalter relevant werden kann und wie eine attraktive Gemeinde der Moderne aussehen könnte. Mein Stift schwebt schon über einem leeren Papierbogen, bereit, kein Detail vom Nonplusultra-Rezept für gelungenes Christsein zu verpassen.
Bald fliegt der Stift über den Block und notiert Begriffe wie »kraftvolles Christsein«, »Gemeindewachstum«, »Kirche am Puls der Zeit«, »missionarische Strategien für das 21. Jahrhundert«, »innovative Gottesdienstformate«, »Teamfindung«. Skizzen von Grafiken, Tabellen und Statistiken zieren meine Aufschriebe. Selbstsicher auftretende, strahlende Herren und Damen, die aussehen, als ob sie direkt aus der Vorstandssitzung eines globalen Multimillionen-Konzerns gekommen seien, fesseln ihr Publikum mit der Vision einer digital optimierten Kirche, an deren Tür die Menschen jeden Sonntag Schlange stehen, um ein Gotteserlebnis der Sonderklasse abzuholen.
Ich betrachte mit Genugtuung die mit römischen Zahlen nummerierten Posten samt Unterposten, die meinen Notizblock seitenweise füllen, wie auch die bunt markierten Gliederungen, die wichtigsten Punkte gelb unterlegt. Sie sollen nach unserer Heimkehr in To-do-Listen mit Kästchen zum Abhaken umgestaltet werden. Listen waren schon immer mein Ding – sie geben mir das Gefühl der Machbarkeit, der Kontrolle. Mein Mann schmunzelt und erinnert mich daran, dass in der Regel nur ein Mini-Prozentsatz aller glorreichen Ideen auf meinen Listen zustande kommt.
Zu Hause wieder Gemeindealltag in Süddeutschland. In Wahrheit könnte es überall sein. Bei Familie H. sind Kopfläuse entdeckt worden, gestern feierte sie Kindergeburtstag, alle Wuschelköpfe, die dabei waren, werden nach Nissen untersucht. Panikstimmung unter den jungen Familien. Hmmm. Zu diesem Thema gab es kein Seminar auf dem Kongress. Es wurde auch nichts über den Alpha-Kurs gesagt, der ausfallen muss, weil niemand Interesse hat. Vermutlich digital nicht genug optimiert. R. ist schon wieder gekränkt und feuert lange, anklagende E-Mails ab. Er fühlt sich übergangen, will seinen Hauskreis nicht mehr leiten.
Es gibt einen Wasserschaden im Untergeschoss. Eine zweite Familie hat Kopfläuse. Eine ganze Reihe weiterer Familien meldet sich vorsorglich vom Gottesdienst ab. Die Plage der Kopfläuse spricht sich rum. Viele leere Plätze am Sonntag. Die Altstimme auf der Bühne ist zu laut gestellt, man hört die Melodie vom Lied gar nicht, und die Bassgitarre dröhnt wieder so stark, dass ein paar ältere Gottesdienstbesucher ihre Ohren bedeckt halten. Ersatzteams sind überall im Einsatz, weil so viele Mitarbeiter fehlen.
Tja, die Realität des Lebens, fernab der Profi-Liga und der vierfarbigen Glanzbroschüren. Ausgerechnet an diesem Sonntag kommt eine Delegation von Studenten aus einer namhaften Bibelschule, um zu schauen, wie Gemeinde funktioniert, und eine Bewertung zu schreiben. Na toll.
Meine »How-to«-Aufschriebe vom Seminar lege ich mit einem Seufzer zur Seite, plötzlich erscheinen sie mir wie aus einer anderen Welt. Zum tausendsten Mal in meinen vielen Jahren als Christ stelle ich mir die Frage: Was ist erfolgreiches Christsein? Wie sieht erfolgreicher Gemeindebau aus? Was sagt die Bibel wirklich dazu?
Und wieder stoße ich auf zwei altbekannte Stellen im Neuen Testament, bei denen ich immer leicht zusammenzucke, wenn ich sie lese:
»An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen« (Matthäus 7,16), sagt Jesus mitten in einer Predigt zum Thema »Unterschied zwischen gläubig und nicht gläubig«.
»Unser Brief seid ihr, eingeschrieben in unsere Herzen, erkannt und gelesen von allen Menschen«, schreibt Paulus an die Gläubigen in Korinth (2. Korinther 3,2).
Das ist auf jeden Fall zunächst mal eine gute Nachricht: Es kommt nicht auf äußere Formen, Präsentationen, Kompetenzen und makellose Abläufe an, die den Gottesdienst zu einem Ohrenschmaus und zu einem geistlichen Fünf-Sterne-Erlebnis für unterhaltungssüchtiges Publikum machen. Bilder von vornehm gestylten Damen, die Familie, Beruf, Frisur, Haushalt und Make-up mit der Hilfe Gottes souverän unter einen Hut bringen, müssen unsere Homepage-Startseiten nicht schmücken. Diese Konzepte sind wohl eher für eine keimfreie Welt gedacht, in der es keine Kopfläuse, keine Epidemie des Mitarbeitermangels, keinen Wasserschaden im Untergeschoss gibt. Nicht für die handfeste Realität, in der normale Menschen mit Krankheit, Überstunden, schlechter Laune, schlaflosen Nächten, überfrachteten Terminkalendern, offenen Rechnungen und mäkelnden Kindern zu tun haben.
Die Bibel macht klar, dass es sehr wohl eine Formel für Erfolg gibt: Ich selber bin die Formel, das Werbeplakat, das Schaufenster. Autsch! Warum muss ich immer schlucken, wenn Gottes Wort meine Aufmerksamkeit von meinen To-do-Listen abzieht und stattdessen auf mein Verhalten lenkt? In der Bibel finden wir in der Tat wenig darüber, wie ein Gottesdienst zu gestalten ist. Dafür sehr viel darüber, wie wir mit unseren Mitmenschen umgehen sollen. Der einzige Programmpunkt einer Gottesdienstliturgie, den die Bibel nennt, ist die Aufforderung, Beziehungsstörungen zu klären, bevor man sich Gott zuwendet (Matthäus 5,23-24).
Ob ich es will oder nicht: Ich bin die Schnittstelle, an der andere entscheiden, ob sie sich auf den christlichen Glauben einlassen wollen oder nicht. Wir als christliche Gemeinschaft sind gemeinsam die Erfolgsformel. Das kann sehr wohl bedeuten, dass ein Gottesdienst ein Augen- und Ohrenschmaus ist. Aber attraktive Abläufe sind nur dann nachhaltig effektiv, wenn sie die Auswirkung eines attraktiven Innenlebens sind. Die spektakulären Zusammenbrüche innerhalb von Gemeindebewegungen wie Willow Creek und Hillsong mit ihren makellos choreografierten Gottesdiensten sind ein nüchterner Weckruf, eine Erinnerung daran, dass Kirche nicht in erster Linie dazu da ist, um die säkulare Welt zu beeindrucken oder am Puls der Zeit zu sein. Sobald unsere Bühneneinlagen zur Show und zum Selbstzweck werden, sind sie eine mühsame Tretmühle, eine Burn-out-Garantie für die armen Ehrenamtlichen, die diese Show Woche für Woche am Laufen halten müssen. Aus dem Reich Gottes wird eine GmbH, aus der Kanzel ein Chefsessel, aus der Familie Gottes ein Betrieb.
Jesus warnt eindringlich vor dem Druck einer frommen Performance. Genau das war sein Dauer-Streitpunkt mit den Pharisäern. Er verglich sie mit weiß getünchten Gräbern, die innendrin voller Fäulnis sind (Matthäus 23,27-28). Gott ist nicht beeindruckt, auch wenn ich die tollste Show abziehe. Ich muss nicht erst talentiert, cool, schlank, elegant frisiert und bühnenreif sein, bevor ich ihm dienen darf. Jeder hat einen Anteil an dem Brief, der »[von allen] erkannt und gelesen« wird. Talent, sozialer Status, ethnische Zugehörigkeit, Geschlecht, Alter, Geld – spielt alles keine Rolle.
An ihren Früchten werden wir diejenigen erkennen, die Gott wirklich dienen. Welche Früchte meint Jesus? Für weitere Erläuterungen spielt er den Ball dem Apostel Paulus zu, der die »Frucht, die nach Gott schmeckt« in seinem Brief an die Gemeinde in Galatien ausführlich beschreibt: »Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Enthaltsamkeit« (Galater 5,22-23).
Hier wird es ungemütlich. Wir lesen so leicht über diese Liste hinweg, haben sie früher mal in der Kinderkirche auswendig gelernt und auf Kartonbögen gemalt. Als Erwachsene haben wir vielleicht vierfarbiges Bible-Journaling dazu gemacht: »Liebe, Freude, Friede …«, mit einer rustikalen Obstidylle im Hintergrund. Wir kennen diese Worte so gut, dass wir vergessen haben, wie skandalös sie sind. Genauso, wie wir »Die Liebe ist …« (1. Korinther 13) manchmal nur als Poesie mit Herzchen für die Spruchkarten oder für die Hochzeitseinladung verwenden.
Doch mein Leben ist das Evangelium, das andere Menschen »hören« und »sehen« werden. »Vielleicht das einzige«, behauptete einmal ein Prediger, der diesen Vers als Thema hatte. Wie schrecklich ist denn das! Logischerweise würde das bedeuten, dass eine ganze Reihe von Menschen, die mich zufällig an einem schwarzen Tag erwischt haben, zur ewigen Verdammnis verurteilt wären, nur weil ich nicht genug gestrahlt, bezeugt oder fröhlich erzählt habe. Wenn Gott auf mich als Schaufenster für sein Reich angewiesen ist, soll er dringend woanders suchen!
Erstaunlicherweise hat Gott sich jedoch von uns abhängig gemacht: Es gibt kein Ausweichen. Wie wir leben, ist für den Ruf Gottes in dieser Welt entscheidend. Wir sind seine Vertreter auf dieser Erde, Botschafter an Christi statt. Eine peinliche Zumutung. Neulich wollte ich in der Hektik eines Staus die Spur wechseln und streifte ein anderes Auto, das ich nicht gesehen hatte. Es war Hauptverkehrszeit, ich blieb mit dem geschädigten Auto und seinem Fahrer mitten auf der Straße stecken und hoffte, dass niemand vorbeifahren würde, der mich kennt. Als die Polizei kam, brach ich in Tränen aus und musste beichten, dass ich weder meinen Führerschein dabeihatte noch wusste, bei welcher Autoversicherung wir versichert sind. Eine Botschafterin an Christi statt? Eher ein jämmerliches Häufchen Elend. Ich war nur froh, dass ich keinen Fisch oder »Jesus-liebt-dich«-Aufkleber hinten auf meinem Auto hatte.
»Was soll ich denn machen, Herr?«, klagte ich hinterher. »Ich bin auch nur ein Mensch, und mein Auto ist nur ein Auto. Soll ich so tun, als ob ich alles im Griff hätte, etwas vorgeben, was ich nicht wirklich bin? Wie soll ich fehlerlos leben?«
Ich bin überzeugt, dass es tatsächlich einen Weg gibt, wie wir mit gutem Gewissen normal, menschlich, fehlerhaft und authentisch leben können und gerade dadurch andere Menschen auf den Geschmack bringen können, nach Gott zu suchen. Einen Weg, wie wir »Frucht, die nach Gott schmeckt« hervorbringen und so wie König David unsere Mitmenschen einladen können: »Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist« (Psalm 34,9; LUT).
Genau dieses Spannungsfeld begleitet uns durch dieses Buch hindurch und ermutigt uns, so hoffe und bete ich, die Früchte des Geistes in uns wachsen zu lassen und eine neue Freude dabei zu erleben! Die ersten vier Früchte – Liebe, Freude, Friede und Langmut – haben mit der Grundstimmung in unserem Leben zu tun, den Motiven, nach denen wir handeln, den Kraftquellen, die wir dabei anzapfen. Die übrigen Früchte – Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Enthaltsamkeit – stehen für die Auswirkungen dieser Grundhaltung auf unser äußeres Verhalten.
Für Jesus ein Zeugnis zu sein, heißt nicht, dass wir schauspielern müssen – auf Musterchrist, Musterehepaar, Musterfamilie, Mustergemeinde machen –, um Gott und andere Menschen mit unserer Frömmigkeit zu beeindrucken. Perfekt gestylte und souveräne Christen wie aus dem Bilderbuch mögen zwar von anderen bewundert werden, können aber auch ganz schön ungenießbar sein. Imagepflege war nie eine geistliche Tugend. Aber auf unsere Schwächen und Ausrutscher stolz sein im Namen eines »authentischen Lebensstils«? Sünde feiern, weil wir ach so ehrlich sind? Nein danke! Das nervt noch mehr als die tugendhaften Darstellungen der Wir-sind-so-toll-Christen. Man kann sowohl auf der einen als auch auf der anderen Seite vom Pferd fallen …
Ein ehrlicher Blick auf dieses Spannungsfeld führt uns, wenn wir es so wollen, direkt zum Kern des Evangeliums – zum Gnadenwerk Jesu am Kreuz von Golgatha. Nach Golgatha, wo wir sowohl die Inspiration wie auch die Kraft finden, so zu leben, wie Jesus es möchte.
Denn, dieser Gedanke schon mal vorweg: Ich darf nicht vergessen, es sind nicht meine Früchte, die hier wachsen sollen, sondern seine, Gottes Früchte. Er bewirkt sie in mir. Die Rebe im Gleichnis Jesu (Johannes 15,1-8) hat kein bisschen Stress damit, in der Erntezeit dicke, saftige Trauben hervorzubringen, aus denen der beste Wein hergestellt werden kann. Ihr einziges Verdienst ist es, am Weinstock zu hängen. Und selbst das ist eher das Verdienst des Weinstocks als das der Rebe. Mit diesem Gedanken starten wir in eine der spannendsten Reisen in der Bibel – eine Reise, die faszinierend, herausfordernd und auf jeden Fall lebensverändernd ist!
Ich hatte ein Samenkorn in der Hand.Mein einziges Korn.Sie sagen, ich soll das Korn in die Erde legen.Ich muss mein Korn schützen, mein einziges Korn.Ich habe nie erlebt, dass es Frühling gibt.Sie sagen, es wächst neues Leben aus dem Korn.Ich verliere mein Korn, mein einziges Korn.Ich habe nie erlebt, dass es Frühling gibt.Sie sagen, ich muss mein Korn riskieren, mein einziges Korn.Aber ich habe nie Frühling erlebt.Mein Geliebter sagt: Es gibt Frühling!Ich lege mein Korn in die Erde.1
Nicola VollkommerBad Urach
Als Teenager in einem Mädcheninternat trällerte ich in jeder freien Minute die Hits der berühmten schwedischen Popgruppe ABBA. In den paar kostbaren Stunden an den Wochenenden, in denen wir Musik hören durften, drehten wir die flotten Rhythmen von Dancing Queen auf maximale Lautstärke und tanzten wie wilde Furien, bis eine genervte Hausmutter ihren Kopf durch die Tür steckte und aus voller Kehle »Dreht diese schreckliche Musik herunter!« brüllte. Als die beiden singenden ABBA-Traumpaare ihre Trennung bekannt gaben und das ABBA-Märchen plötzlich vorbei war, war ich am Boden zerstört. Bis heute bekomme ich jedes Mal einen Kloß im Hals, wenn ich den Videoclip von ABBAs letztem großem Hit anschaue: The winner takes it all (»Der Gewinner sahnt alles ab«).2
Die mit Tränen gefüllten blauen Augen von Sängerin Agnetha Fältskog blicken melancholisch in die Kamera, während sie Worte singt, die in jedem gebrochenen Herzen qualvoll nachklingen müssen: »But tell me: Does she kiss like I used to kiss you? Does it feel the same when she calls your name?« (»Aber sag mir doch: Küsst sie dich so, wie ich dich geküsst habe? Wenn sie deinen Namen nennt, ist es so wie damals, als ich deinen Namen nannte?«)
Authentisch, herzzerreißend – der Videoclip wurde millionenfach aufgerufen. Die Sängerin protokollierte in Echtzeit ihr eigenes Liebes-Aus. Die Vorstellung, dass ihr vermeintlich exklusiver Platz im Herzen eines Mannes, auf dessen Liebe sie ihr Leben gebaut hatte, nun von einer anderen besetzt war. Die Weinkrämpfe nachts beim Gedanken, dass er Bett, Seele und Zärtlichkeiten mit einer anderen teilte, während sie in ihrer Suche nach Glück wieder von vorne anfangen musste. Jede Menge schmerzhafter Erinnerungen, das Gefühl, hintergangen worden zu sein: »I was in your arms, thinking I belonged there« (»Ich lag in deinen Armen, dachte, ich gehöre dorthin«). Es war das Ende einer Traumpartnerschaft, die einige der erfolgreichsten Lieder des 20. Jahrhunderts hervorgebracht hat.
Damals fragte ich mich oft, warum eine Popkultur, die die Liebe zweier Menschen in Endlosschleife feiert und mit jedem Tastenschlag am Keyboard bejubelt, in einem Friedhof gebrochener Herzen endet. Das John-Lennon-Mantra All you need is love scheint auf ganzer Linie genau ins Gegenteil auszuschlagen.
Nichts im Leben verheißt so viel und liefert so wenig wie der Traum vom ultimativen Liebesrausch. Um das zu wissen, braucht man keine Bibel zur Hand zu nehmen. Man muss nur mit offenen Augen durch die Gegend laufen, in der Klatschpresse stöbern und nachschauen, welche Hollywood-Größen soeben ihre Trennung bekannt gegeben haben. Täglich fordert der Traum von der großen Liebe neue Opfer. Junge Menschen schlucken Tabletten, um ihr gebrochenes Herz zu betäuben. Zahlreiche Mädchen werden in psychiatrischen Kliniken aufgrund einer Essstörung zwangsernährt, weil der Traum von den perfekten Körpermaßen, die die große Liebe an Land ziehen sollen, geplatzt ist.
Nie wurde das Wort Liebe so entwertet und missbraucht wie in unserer heutigen Unterhaltungswelt. Liebe wird reduziert auf eine sexuelle Handlung. Sie dient als Tauschware und zur Befriedigung unkontrollierter Triebe. Es ist eine Sache, die nichts mit wahrer Liebe zu tun hat. Ein Auto kann man leasen, ausprobieren und zurückgeben, wenn es nicht mehr läuft. Eine Kaffeemaschine kann man entsorgen, wenn ein besseres Modell im Sonderangebot ist. Einen Menschen eben nicht. Der Mensch ist nicht für eine kurzfristige Lustbefriedigung gemacht, auch wenn diese noch so oft als »Liebe« bezeichnet und mit ihr verwechselt wird.
Wie sieht Liebe in der Bibel aus? Erzeugt sie Gänsehaut? Schmetterlinge im Bauch? Ist sie ein Rausch des Begehrens und des Begehrtseins? Kaum. Wobei … wer den Gott der Bibel als Erfinder und Befürworter der prickelndsten erotischen Leidenschaft kennenlernen will, braucht nur einen kurzen Blick in das Hohelied von König Salomo zu werfen. Die Bibel ist alles andere als prüde! Umsonst suche ich auf ihren Seiten jedoch nach Anweisungen, wie ich die große Liebe oder die ideale, ewig währende Freundschaft finden kann. Stattdessen entdecke ich einen Katalog von Charakterattributen, für die man offenbar ein Engelsgemüt besitzen muss, um nur eins davon in Ansätzen aufzuweisen.
Paulus lässt es in einem Brief an seine Freunde in Korinth richtig konkret werden: »Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig, sie neidet nicht, die Liebe tut nicht groß, sie bläht sich nicht auf, sie benimmt sich nicht unanständig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet Böses nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit; sondern sie freut sich mit der Wahrheit, sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie erduldet alles. Die Liebe vergeht niemals; seien es aber Weissagungen, sie werden weggetan werden; seien es Sprachen, sie werden aufhören; sei es Erkenntnis, sie wird weggetan werden« (1. Korinther 13,4-8).
Bemerkenswert an diesem zeitlosen Schaulaufen menschlicher Tugenden der Spitzenklasse sind die Verse davor. Dort wird nämlich eine ganze Reihe von Talenten und Kompetenzen aufgeführt, die in unserer Welt Beifall ernten: rhetorische Begabung, Erkenntnis, Wissen, beeindruckende Darstellungen von Frömmigkeit, Selbstaufopferung für soziale Projekte, heldenhafter Ruhm:
»Wenn ich in den Sprachen der Menschen und der Engel rede, aber keine Liebe habe, so bin ich ein tönendes Erz geworden oder eine schallende Zimbel. Und wenn ich Weissagung habe und alle Geheimnisse und alle Erkenntnis weiß, und wenn ich allen Glauben habe, sodass ich Berge versetze, aber keine Liebe habe, so bin ich nichts. Und wenn ich alle meine Habe zur Speisung der Armen austeile und wenn ich meinen Leib hingebe, damit ich Ruhm gewinne, aber keine Liebe habe, so nützt es mir nichts« (1. Korinther 13,1-3).
Mit anderen Worten, selbst die besten Errungenschaften, selbst die tugendhaftesten aller guten Taten sind wertlos ohne die selbstlose Liebe Gottes als Triebkraft, als Grundlage. Paulus trifft an dieser Stelle den Kern des Evangeliums. Die Früchte des Geistes, die er in seinem Brief an die Galater auflistet, sind die verkürzte Fassung der Definition von Liebe im Korintherbrief: »Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Enthaltsamkeit« (Galater 5,22-23).
Liebe – biblisch gesehen – ist per Definition der Blick weg von den eigenen Bedürfnissen und von der Illusion, dass irgendein Mitmensch mich jemals völlig glücklich machen kann. Logisch, dass die Bibel in ihren »How-to«-Listen für gelingende Beziehungen weder Romantik noch Gänsehaut zu bieten hat. Nur reihenweise trockene, nüchterne Imperative. Sie setzt voraus – O Horror! –, dass wir es in der Hand haben, ob wir unsere Mitmenschen lieben oder nicht. Diese Art von Liebe hat wenig mit Gefühlen zu tun.
• »Die Bruderliebe bleibe!« (Hebräer 13,1).
• »Du sollst ihn [den Fremden] lieben wie dich selbst« (3. Mose 19,34).
• »Ihr Männer, liebt eure Frauen!« (Epheser 5,25).
• »Du … sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (3. Mose 19,18).
• »Siehe, wie fein und lieblich ist’s, wenn Brüder einträchtig beieinander wohnen!« (Psalm 133,1; LUT).
• »So sollt auch ihr euch untereinander die Füße waschen« (Johannes 13,14; LUT).
• »Das ist mein Gebot, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch liebe« (Johannes 15,12; LUT).
• »Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor« (Römer 12,10; LUT).
• »Ertragt einer den andern in Liebe« (Epheser 4,2; LUT).
• »Seid aber untereinander freundlich und herzlich und vergebt einer dem andern, wie auch Gott euch vergeben hat in Christus« (Epheser 4,32; LUT).
• »Vor allen Dingen aber habt untereinander eine anhaltende Liebe!« (1. Petrus 4,8).
Zu diesen Direktiven kommen Hinweise, dass Witwen und Waisen besondere Zuwendung erhalten sollen (Jakobus 1,27), Autoritätspersonen geehrt werden (Hebräer 13,17) und – hier muss ich am heftigsten schlucken – wir sogar unsere Feinde lieben sollen (Matthäus 5,44).
Spätestens hier hört die Poesie dieser herrlichen biblischen Passagen auf. Ich soll lieben, einfach so? Auch wenn ich nicht zurückgeliebt werde? Auch wenn das Leben gerade ein einziger Hürdenlauf von Krisen ist und ich keine Kapazität habe, irgendjemanden lieb zu haben? Wenn meine Mitmenschen mit unmöglichen Forderungen über mich herfallen, wenn sie mich im Stich lassen, mit mir schimpfen, obwohl ich es doch so gut gemeint habe?
Eines haben all diese prägnanten Anweisungen gemeinsam: Persönliche Sympathien oder Vorlieben spielen hier keine Rolle. Hormone oder Persönlichkeits-Chemie schon gar nicht. Ist das nicht eine sehr gute Nachricht? Das bedeutet, dass ich keine Gefühle aufbringen muss, um Liebe zu praktizieren, nicht warten muss, bis mir danach ist.
Die Bibel setzt voraus, dass nüchterne Schritte des Gehorsams für den Nachfolger Jesu normal sind – völlig abgekoppelt von den Lüsten und Launen eines unbeständigen Herzens. Sie entschuldigt sich nicht für die Schärfe ihrer Aufforderungen, versucht nicht, sie abzufedern, bemitleidet mich nicht, wenn ich sie als hart und unzumutbar empfinde. Es geht offenbar um eine Grundhaltung, die mein Leben prägen soll. Aber wie komme ich dahin?
In einer Zeit, in der die Sitten rauer werden, Menschen nicht mehr »bitte« oder »danke« über die Lippen bringen, soziale Kompetenzen und feine Manieren als altbacken und passé gelten, klingt die Liste aus Paulus’ Brief an die Galater wie Musik aus einer längst vergangenen heilen Welt. Einer Welt, in der Männer für Damen die Tür zur Kutsche offen gehalten und junge Menschen im Bus für Senioren ihren Platz geräumt haben.
Paulus’ Anforderungen sind zwar steil, aber Hand aufs Herz: Genau so möchte ich doch behandelt werden, oder nicht? Dieser Gedanke bringt mich in eine gute Startposition: Behandle andere so, wie du behandelt werden willst. Die Goldene Regel. Und wie will ich behandelt werden? Genau so, wie Paulus es vorschreibt. Da gibt es nicht viel zu diskutieren. Der Mitarbeiter, der letzte Woche eingeschnappt auf eine ganz normale Frage reagierte: Wie wäre es mit einem liebevollen Ton, Herr Kollege? Mein Mann, der keine Zeit hatte, das eingeklemmte Papier aus dem Drucker zu ziehen, als ich ihn brauchte: War da nicht etwas mit aufopfernder Güte? Freunde, die sich nicht zurückmelden, nachdem ich verzweifelt versucht habe, sie zu erreichen. Was ist da mit dem Gebot der Liebe passiert? Oder mit schlichten Manieren?
Doch plötzlich dämmert mir durch den Nebel selbstzentrierter Gedanken: Genau so, wie ich es von anderen erwarte, soll ich mich ihnen gegenüber verhalten! Das ist der Aha-Moment, in dem ich anfange, Liebe nach Gottes Definition zu begreifen. Der Moment, in dem meine Reaktion-und-Gegenreaktion-Gleichung – wenn meine Mitmenschen halbwegs lieb zu mir wären, wäre ich auch lieb zu ihnen – ausgedient hat. Die Benimm-dich-Liste von Paulus im Galaterbrief, mit Liebe an der Spitze, ist an meine Adresse gerichtet, nicht zuerst an die Adresse meiner Mitmenschen.
Mit Gottes Hilfe bin ich in der Lage, zu lieben – unabhängig davon, ob die anderen lieb zu mir sind oder nicht. Ich erkenne mit Entsetzen, wie schnell ich dabei bin, von anderen das zu verlangen, was ich selber nicht bringen will. Diese Unsitte wird mir auf einmal peinlich. Ich reflektiere mit weiterer Bestürzung, wie wenig mir diese Unsitte die meiste Zeit auffällt, wie selbstverständlich mein egoistisches Gehabe ist – dieser krasse blinde Fleck in meiner Seele. Die Bibel nennt diesen Moment »Sündenerkenntnis«.
Die Bibel zieht uns an dieser Stelle kompromisslos den Boden unter den Füßen weg. Die Lieblosigkeit, mit der ich andere behandle, wird auf mich zurückfallen. Karma in seiner reinsten Form ist ein urbiblisches Konzept: Das, was ich säe, ernte ich. Auch die Natur lehrt mich das. Überall, wo ich in der Landschaft hinschaue, anfangend mit meinen Balkonkästen und Terrassenkübeln, sprießt genau das, was gesät wurde. Bestes Anschauungsmaterial für mein eigenes Leben. Ich kann nicht Brennnesseln aussäen und erwarten, dass Rosensträucher wachsen. Selbst ein Kind versteht das.
Hier sind wir schon beim Urwesen der menschlichen Sünde. So logisch, so einfach zu verstehen und doch für eine von Sünde getrübte Seele so schwer begreiflich. Wir wollen Liebe, aber bitte schön gratis. Als unser gutes Recht. Wir wollen den genüsslichen Biss in die verbotene Frucht und einen Gott, der milde lächelnd aus dem Himmel herabblickt, schön auf Abstand. Wir sind wie der Junge im Gleichnis vom verlorenen Sohn: »Gib mir den Teil des Vermögens, der mir zufällt!« (Lukas 15,12). Gib mir, was mir zusteht. Ich habe panische Angst, dass mir etwas vorenthalten wird, dass die anderen das bessere Los gezogen haben, dass Gott mich nicht so richtig mag, dass für mich nichts von der Torte übrig bleibt, weil mich alle übersehen haben. Als Opfer der Untaten anderer, als ewig Benachteiligter und zu kurz Gekommener habe ich doch das Recht, mich an den Gütern dieser Welt zu bedienen, mir auf eigene Faust die Liebe zu holen, die ich brauche. Eben zu ernten, was ich nicht gesät habe.
Einmal wurde ich gefragt, ob man lernen kann, ein leidenschaftlicher Christ zu werden, erfüllt mit der Liebe Gottes. Ich dachte lange darüber nach und kam zu dem Schluss, dass man es nicht von sich aus »werden« kann. Von uns aus haben wir keinen Resonanzboden im Herzen, der auch nur im Geringsten auf Gott eingestellt wäre. Gott geht in der Kühle des Abends spazieren, und wir verstecken uns, wie einst Adam und Eva, wollen selber Gott sein, selber entscheiden, wie und wodurch wir glücklich werden. Im Normalfall herrscht Funkstille. Bevor wir Gott lieben können, muss diese Funkstille also erst einmal aufgehoben, die Schallmauer durchbrochen werden. Wir müssen aus unserem Versteck herauskriechen und ihm zu seinen, nicht zu unseren Bedingungen begegnen.
Meist geschieht dies durch die Widrigkeiten im Leben. Wir erleben am eigenen Leib, dass es doch nicht das Gelbe vom Ei ist, selber Gott sein zu wollen, nach unseren eigenen Regeln nach Liebe zu suchen. Gott sein: Das kann er besser. Und wenn wir weiter forschen und suchen, stellen wir mit Staunen fest, dass die Schallmauer schon durchbrochen, die Funkstille längst aufgehoben ist. Er kam auf diese Erde, wurde Mensch, bezahlte die Schulden, die wir durch unseren Egoismus angehäuft haben. Der Weg ist frei, wir können ihm begegnen, seine Vergebung empfangen und uns von ihm lieben lassen.
»Denn so hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben hat« (Johannes 3,16).
»Wir lieben, weil er uns zuerst geliebt hat. Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott, und hasst seinen Bruder, ist er ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er gesehen hat, kann nicht Gott lieben, den er nicht gesehen hat. Und dieses Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebt, auch seinen Bruder lieben soll« (1. Johannes 4,19-21).
Die Bibel nennt diesen Prozess Umkehr oder Wiedergeburt. Echte, selbstlose Liebe braucht einen Anzünder von außen: Wir lieben, weil wir geliebt sind. Wir dienen anderen in Selbstlosigkeit, weil er uns gedient hat. Lieben können wir nur als Reaktion auf seine Liebe.
Bei einer bahnbrechenden Begegnung im Neuen Testament führt Jesus uns dieses Prinzip klar vor Augen. In einem gefühlvollen Ausbruch platzt eine Frau von schlechtem Ruf mitten in eine Eliterunde frommer Leiterpersönlichkeiten hinein, wirft sich vor Jesus nieder und schüttet eine kostbare Salbe auf seine Füße. Die anwesenden Theologen sind außer sich vor Empörung. So etwas Unanständiges, Unangemessenes, ausgerechnet in dieser heiligen Runde. Weiß Jesus etwa nicht, um was für eine Frau es sich hier handelt? Wie kann er sich nur mit so einer Person abgeben? Doch Jesus stellt die frommen Leute für ihre hochnäsige Reaktion zur Rede. »Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel geliebt; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig« (Lukas 7,47), erklärt er.
Wer sich nicht einmal bewusst ist, wie sehr er die Vergebung seiner Sünde nötig hat, wird die Freude und Erleichterung über diese Vergebung auch nicht fühlen. Er bleibt das »tönende Erz« und die »schallende Zimbel«, von denen in Paulus’ Korinther-Ausführungen die Rede war. Wer nicht bereit ist, den blinden Fleck in der eigenen Seele zu entfernen, das eigene niederträchtige Verhalten zuzugeben, den verurteilenden Finger zurückzuziehen, wird Christsein nur als Formsache erleben. Seine Frömmigkeit reduziert sich auf ein angelerntes Verhalten und nachgeplapperte Sprüche. Er ist wie die Pharisäer in dieser Erzählung: Nichts treibt ihn mehr zur Weißglut als die Begeisterung echter Nachfolger Jesu.
Wir können leidenschaftliche und dankbare Liebe für Jesus nur in dem Maße fühlen, wie wir unsere eigene Gottlosigkeit und Verlorenheit und deren Folgen gefühlt haben. Die Geschichte mit dem Alabaster-Fläschchen zeigt den Kontrast zwischen Christsein als äußere Formsache und Christsein aus Leidenschaft – Letzteres ist die Sorte, die Frucht bringt.
Den gleichen Kontrast macht Jesus in seinem berühmtesten Gleichnis deutlich. In der Geschichte in Lukas 15 sind zwei Söhne auf Irrwege geraten. Derjenige, der sich finden lässt, ist der, der nach Schweinestall stinkt, seine Rettungsbedürftigkeit schmerzlich fühlt und geknickt nach Hause zurückkehrt. Der andere ist zu sehr von sich und seiner eigenen Frömmigkeit überzeugt, um sich in die Arme des suchenden Vaters zu werfen.
Charles H. Spurgeon erklärt: »Zu viele denken oberflächlich über Sünden und genauso auch über den Erlöser. Wer vor Gott gestanden hat – überführt und verdammt, mit dem Strick um den Hals –, der wird auch vor Freude weinen, wenn er Vergebung erhält; er wird das Böse hassen, das ihm vergeben wurde, und er wird zur Ehre des Erlösers leben, durch dessen Blut er gereinigt wurde.«3
Hier, an der Basis des Evangeliums, finden wir den Schlüssel zu der Frucht, die nach Gott schmeckt, den Schlüssel zur Rettung der auf sich fixierten Seele. Nur der reumütige Sünder, der mit Paul Gerhardt erkannt hat: »Ich lag in tiefster Todesnacht, du warest meine Sonne«, kann mit Tränen in den Augen verkünden: »Ich sehe dich mit Freuden an und kann mich nicht satt sehen.«4
Johann L. K. Allendorf, ein Pfarrer und Liedermacher aus dem 18. Jahrhundert, drückt die Rettungsaktion Gottes wie folgt aus:
Jesus ist kommen, nun springen die Bande.Stricke des Todes, die reißen entzwei.Unser Durchbrecher ist nunmehr vorhanden;er, der Sohn Gottes, der machet recht frei,bringet zu Ehren aus Sünde und Schande;Jesus ist kommen, nun springen die Bande.5