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Ist Peter Schneider ein so leidenschaftlicher Freudianer, dass er seine an der Bergstrasse in Zürich domizilierte Praxis unbedingt mit dieser Anschrift adeln wollte, um so dem grossen Sigmund Freud und dessen Praxis an der Wiener Berggasse die Reverenz zu erweisen?Wir wissen es nicht, offen gestanden ist diese Frage im Rahmen dieses Vorworts zu Schneiders drittem Kolumnenband auch vollkommen unerheblich. Die Bergstrasse scheint uns einfach eine treffende Metapher zu sein für seine Tätigkeit als – je nach Blickwinkel – wöchentlich auftretender Alltagsphilosoph, Briefkastenonkel oder Lebensberater. Bergen von Fragen hat sich dieser Mann in den vergangenen Jahren gestellt. Woche für Woche beantwortet er grosse, um nicht zu sagen letzte Fragen, zuweilen aber auch ganz konkrete aus der störungsanfälligen Zone zwischenmenschlicher Beziehungen. Er hat es mit Ängsten und Phobien von Stadtneurotikern zu tun und fungiert als augenzwinkernder Knigge auf dem weiten und zunehmend morastig gewordenen Feld der Benimmfragen. Kurzum: Peter Schneider baut mit seinen Antworten Strassen, die vielleicht bei den geneigten Leserinnen und Lesern einen lustvollen Denkprozess inGang setzen und an dessen Ende etwas eintreten kann, das wir im besten Fall als Selbsterkenntnis bezeichnen. Es ist immer wieder erstaunlich, wie er es schafft, auf knappem Raum zu komplexen Fragen – über die Heerscharen von Fachleuten bereits Bibliotheken gefüllt haben – ein Konzentrat voller geistreicher Anregungen und scharfsinniger Beobachtungen zu präsentieren. Seit gut einem Jahr erscheint die ‹Tages-Anzeiger›-Kolumne von Peter Schneider auch im Berner ‹Bund›. Rasch zeichnete sich aus Rückmeldungen und eingesandten Fragen ab, dass viele nach einem solchen Angebot geradezu gelechzt hatten. Warum lesen wir ihn so gern? Schneider nimmt die Fragen ernst und gleichzeitig inszeniert er sich nicht als Autorität; er ist Aufklärer im besten Sinn; als echter Bildungsbürger zitiert er lustvoll und treffsicher aus der Weltliteratur, und er setzt das Fachvokabular der Psychologen sehr dosiert ein. Seine Antworten verraten eine angenehme Gelassenheit, denn er missbraucht die Fragen nicht als Sprungbrett für eitle Selbstbespiegelungen.Patentrezepte und Ferndiagnosen sind von ihm nicht zu haben, vielmehr schält er aus dem Privaten das für die Öffentlichkeit Bedeutsame heraus. Wenn es nicht so langweilig klingen würde, möchten wir fast meinen, Peter Schneider sei die ideale Verkörperung eines Ratgebers, wie es sich der aufgeschlossene Zeitgenosse wünscht, dem der Sinn nach einer angemessenen Mischung aus Unterhaltung und Belehrung steht.Aus dem Vorwort von Alexander Sury, Redaktor ‹Der Bund›
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Seitenzahl: 282
PETER SCHNEIDER
Frühchinesisch
Roman • Zytglogge
Für Bettina
Mit freundlicher Genehmigung der Redaktionen‹Der Bund› und ‹Tages-Anzeiger›.
Alle Rechte vorbehaltenCopyright: Zytglogge Verlag, 2011Lektorat: Bettina Kaelin RamseyerKorrektorat: Monika Künzi, Jakob SalzmannCoverfoto: Patricia Kunstenaare-Book: mbassador GmbH, LuzernISBN 978-3-7296-0833-7eISBN 978-3-7296-2006-3
Zytglogge Verlag, Schoren 7, CH-3653 Oberhofen am [email protected], www.zytglogge.ch
▪ Inhalt
Vorwort
Abo
Aggressiver Atheismus
Altersgeiz
Aufs Gefühl verlassen
Authentisch
Ballgefühl
Bastelbogen
Behinderte
Berge
Bettelbriefe
Blochers Klassenzugehörigkeit
Bretter und Kondome
Burnout
Burnout und Aufmerksamkeitsdefizit
Charakterschwäche
Darf der das?
Darf man auf dem Mister Schweiz herumreiten?
Das Hirn im Aussendienst
Der Psychoanalytiker und die Neutralität
Der verschwundene Sex
Die Gottesfrage
Die Liebe ausprobieren
Die politische Frage
Die Reichen und die Schweiz
Die Sache der Tiere
Die Verantwortung der Kinder
Dürfen
Echte Beziehung
Emanzipation
Erfolg der SVP
Erregung öffentlicher Ärgernisse
Ethische Ansprüche
Ewiges Leben
Frauen auf der Strasse
Frauen und (Aber-)Glaube
Freier Wille
Freunde in der Klemme
Frühaufsteher
Frühchinesisch
Fühle ich, was ich fühle?
Fussball
Ganz persönlich
Gebrauchsanweisung fürs Leben
Gefühle als Argument
Gerührt und geschüttelt
Geschraubte Formulierungen
Gesellschaftsbanause
Gesundheit
Gesundheitskompetenz
Glaube und Aberglaube
Gretchen-Frage
Grüezi
Hat eine Psychoanalyse Nebenwirkungen? (1. Teil)
Hat eine Psychoanalyse Nebenwirkungen? (2. Teil)
Heilsversprechungen
Hineinversetzen
Ich auch
Ich und du, du und ich
Impfen und Fliegen
Internet, Krankheiten und Hypochondrie
Jahresrückblicke
Jugendliteratur
Kindische Alte
Kindlicher Sadismus
Klärendes Gespräch
Klima und Alarmismus
Komplementärmedizin
Konservativ werden
Küng und Drewermann
Künstlerische Qualität
Kurz, aber bündig
Lebenslang lernen
Leichen gucken
Lobrede
Lohn und Dank
Machen Fernseh-Serien dumm?
Macht Macht dumm?
Marionetten
Medikamente
Megawow
Meinungsterror
Memento mori
Menschen erschiessen
Menschen und Düfte
Moral
Nebenwirkungen
Neue Technik
Nicht ohne meine Waffe
Öffentliche Zwangsneurose
Ökologie als Religion?
Organspende
Papi heiraten?
Placebo
Politische Unmoral
Politische Witze
Popeln
Psychologische Hilfe
Quäl-Schwestern
Rassistinnen, die gut kochen
Recht tun
Sandkasten
Scham
Schämen
Schämen, ein XYZ zu sein
Schunkeln
Schweigepflicht
Schweizerkreuz
Schwer beschäftigt
Schwule Bauern
Secondo
Selber sein
Selektion
Sind Linke auch Bürger?
Sind Linke bessere Menschen?
Sind Menschen Tiere?
Soll ich Milchkuh werden?
Soll man seine Kinder geniessen, solange sie noch klein sind?
Spenden
Spenden für die Börse
Statistisches Fett
Steilpässe
Steuergeschenke
Stillen
Stirnglatze
Strafen
Suizid
Teufelskreis der Gedanken
Thema Macht
Tiervergleiche
Trauer und Täter
Traumatisiertes Kriegskind I
Traumatisiertes Kriegskind II
Trost
Tumorbestrahlung für Tiere
Ungebetene Ratschläge
Unsichtbare Krankheiten
Unterwerfung
Utilitaristen
Velofahrer und Fussgänger
Verbrecher sind auch Menschen
Versöhnung
Verstehen
40 Jahre 68
Von Menschen und Zugvögeln
Vorsorge
Vorurteile
Wallfahren
Warum der ewige Blick zurück?
Warum siegt das Negative?
Was ist Kunst?
Weglaufhaus
Weltuntergang
Wie das Wetter auch wird
Wie gelingt das Leben?
Wie informiert man sich am besten?
Wie macht man Smalltalk?
Wikileaks I
Wikileaks II
Wissenschaft
Zorn, Geiz und andere Sünden
Vorwort
Ist Peter Schneider ein so leidenschaftlicher Freudianer, dass er seine an der Bergstrasse in Zürich domizilierte Praxis unbedingt mit dieser Anschrift adeln wollte, um so dem grossen Sigmund Freud und dessen Praxis an der Wiener Berggasse die Reverenz zu erweisen? Wir wissen es nicht, offen gestanden ist diese Frage im Rahmen dieses Vorworts zu Schneiders drittem Kolumnenband auch vollkommen unerheblich. Die Bergstrasse scheint uns einfach eine treffende Metapher zu sein für Peter Schneiders Tätigkeit als – je nach Blickwinkel – wöchentlich auftretender All-tagsphilosoph, Briefkastenonkel oder Lebensberater im Zürcher «Tages-Anzeiger» und im Berner «Bund». Bergen von Fragen hat sich dieser Mann in den vergangenen Jahren gestellt. Woche für Woche beantwortet Peter Schneider grosse, um nicht zu sagen letzte Fragen, zuweilen aber auch ganz konkrete aus der störungsanfälligen Zone zwischenmenschlicher Beziehungen. Er hat es mit Ängsten und Phobien von Stadtneurotikern zu tun und fungiert regelmässig als augenzwinkernder Knigge auf dem weiten und zunehmend morastig gewordenen Feld der Benimmfragen. Kurzum: Peter Schneider baut mit seinen Antworten Strassen, die vielleicht bei den geneigten Leserinnen und Lesern einen lustvollen Denkprozess in Gang setzen, an dessen Ende etwas eintreten kann, das wir im besten Fall als Selbsterkenntnis bezeichnen können. Es ist immer wieder erstaunlich, wie er es schafft, auf knappem Raum zu komplexen Fragen – über die Heerscharen von Fachleuten bereits Bibliotheken gefüllt haben – ein Konzentrat voller geistreicher Anregungen und scharfsinniger Beobachtungen zu präsentieren.
Seit gut einem Jahr erscheint die Kolumne von Peter Schneider auch im Berner «Bund». Rasch zeichnete sich aus Rückmeldungen und eingesandten Fragen ab, dass die Leserinnen und Leser nach so einem Angebot geradezu gelechzt hatten. Warum lesen wir ihn so gern? Schneider nimmt die Fragen ernst und gleichzeitig inszeniert er sich nicht als Autorität, er ist ein Aufklärer im besten Sinn, als echter Bildungsbürger zitiert er lustvoll und treffsicher aus der Weltliteratur, und er setzt das Fachvokabular der Psychologen sehr dosiert ein. Seine Antworten verraten eine angenehme Gelassenheit, er missbraucht die Fragen nicht als Sprungbrett für eitle Selbstbespiegelungen. Patentrezepte und Ferndiagnosen sind von ihm nicht zu haben, vielmehr schält er aus dem Privaten das für die Öffentlichkeit Bedeutsame heraus. Wenn es nicht so langweilig klingen würde: Wir möchten fast meinen, Peter Schneider ist die ideale Verkörperung eines Ratgebers, wie es sich der aufgeschlossene Zeitgenosse wünscht, dem der Sinn nach einer angemessenen Mischung aus Unterhaltung und Belehrung steht. Und Peter Schneider ist, das sollte an dieser Stelle auch einmal gesagt sein, ein blendender Stilist, der sich elegant auszudrücken und eine Argumentation auch rhetorisch geschickt aufzubauen weiss. Seine Kolumnen haben – dies lässt sich über die wenigsten Exemplare dieser Gattung sagen – über den Tag hinaus Bestand. Deshalb gehören sie auch zwingend zwischen zwei Buchdeckel. Zusammen ergeben die Fragen und Antworten ein materialreiches Panoptikum, das uns Glanz und Elend des von mannigfachen Zwängen und Zumutungen heimgesuchten Menschen (aus dem Grossraum Zürich und neuerdings auch aus Bern) zu Beginn des 21. Jahrhunderts vorführt. Peter Schneider ist eben der Mann, dem wir nicht in erster Linie als Fachmann (der er zweifellos auch ist), sondern als einem gescheiten Menschen mit feinem Humor und beträchtlicher Lebensklugheit vertrauen. Das ist eine Kombination, die doch eher selten zu finden ist.
Alexander Sury
▪ Abo
Ist es spiessig, ein Abo im Schauspielhaus zu haben? Was sind die Abonnenten für Typen? Oberlehrer? Studiosus-Reisende? Ich habe selbst ein Abo und möchte mir gerne den Spiegel vorhalten (lassen).
M.S.
Liebe Frau S.
Spiessig? Leben wir denn nicht längst in einer postspiessigen Ära? Wer wollte, könnte und dürfte aufgrund welcher Legitimation urteilen, was spiessig sei und was nicht? Ab wann wird das Hippe wieder spiessig und das Spiessige irgendwann hip? Ist nicht die spiessigste aller Sorgen diejenige, ob man spiessig ist? Und davon einmal abgesehen: Was soll an einem/Ihrem Schauspielhaus-Abo eigentlich so schlimm sein? Die Stücke, die Sie auf diese Weise zu sehen bekommen? Oder vor allem die anderen Abonnenten? Vermutlich gibt es ja tatsächlich so etwas wie einen besonderen Sozialtypus des Schauspielhaus-Abonnenten. Es wäre eher ein Wunder, wäre es anders. Was aber spricht eigentlich gegen Lehrer für Deutsch und Geschichte (oder auch für Mathematik und Biologie), welche sich hinsichtlich der laufenden Theaterproduktionen mit dem praktischen Mittel eines Abos auf dem Laufenden halten wollen? Und gegen Studienreisende, deren Neugier sich nicht nur auf die Kunstschätze der Lombardei oder die Pflanzenwelt der Südägäis beschränkt, sondern auch auf das aktuelle Theaterschaffen bezieht? Woher Ihr Unbehagen (abzulesen an der Wortwahl «Oberlehrer»), möglicherweise ebenfalls zu diesen Kategorien zu gehören, also Teil einer recht homogenen Gemeinschaft zu sein? Ich glaube (und damit folgt der verallgemeinernde Teil meiner Antwort), es ist ein Unbehagen am Ähnlichsein. Ein Gefühl, das selten thematisiert wird, weil die einschlägigen Diskurse über unser Verhältnis zu anderen stets nur auf die Furcht vor dem anderen als «Fremdem» fokussieren. Aber es gibt eben auch diese andere Angst: die Furcht vor dem Gleichen. Thomas Hobbes, der Philosoph des Bürgerkriegs aller gegen alle, hat genau diesen Aspekt in den Mittelpunkt seiner Anthropologie gerückt: das schwierige Verhältnis der Menschen zueinander, das gerade nicht aus ihrer jeweiligen Andersartigkeit, sondern aus der Gleichartigkeit ihrer Wünsche und Ansprüche entsteht. Es scheint mir, als ob die ewigen und oftmals enervierenden Distinktions-Debatten in Geschmacks-, Mode-und sonstigen kulturellen Fragen nicht zuletzt im Dienste der Beschwichtigung unserer Angst vor dem Gleichen stehen. In ihnen versichern wir uns, dass die anderen anders sind – und wir auch. Ein frommer Wunsch, in dem sich dann alle wieder ziemlich gleichen.
▪ Aggressiver Atheismus
Man macht den Neuen Atheisten allenthalben den Vorwurf, sie würden die Religion nicht nur scharf kritisieren, sondern sie täten das mit einer völlig inadäquaten Aggressivität. Nun ist es so, dass ich mich selber zu diesen Aggressiven zählen muss. Wenn ich davon höre, dass Jesus Christus für meine Sünden am Kreuz gestorben sei, schaffe ich es nicht, diesen Unsinn mit einem müden Lächeln wegzuschieben. Ich werde stattdessen sauer, stocksauer sogar über diese anmassende Sündenverzeihungs-Grossmut. Und wenn ich höre, dass die religiösen Grundwahrheiten (!) eine wunderbare Richtschnur für das friedliche Zusammenleben der Menschen seien, dann frage ich mich, warum man Holocaust-Leugnern Strafen androht und gleichzeitig religiöse Schwachsinnsbehaupter frei herumlaufen lässt. Der Grund für meine zornigen Gefühlsregungen ist ganz einfach: Intellektuellen Bullshit, der mit dem Wahrheits-Gestus daherstelzt, empfinde ich als beleidigenden Breitfrontenangriff auf meine Vernunft, als schmerzenden Übergriff auf mein Denkvermögen. Ob Sie einen Rat wüssten, der meine seelische Balance angesichts von Religiösem, dem man ja nicht wirklich ausweichen kann, zumindest in der Akutphase etwas stabilisieren könnte?
A.G.
Lieber Herr G.
Baldrian-Tee trinken, die Augen schliessen, tief durchatmen und abwarten, bis es vorbei ist. Aber ich glaube nicht, dass es das ist, was Sie eigentlich wissen wollten. Und Sie glauben das vermutlich auch nicht. Also erkläre ich Ihnen stattdessen einfach einmal, was mich als Ungläubigen an den sogenannten Neuen Atheisten stört.
Vor allem, dass sie sich durch ein Wissenschaftsverständnis und Wahrheitskonzept auszeichnen, das in seiner Borniertheit gegenüber jedweder historischer Dimension dem Glauben der frommen Fundamentalisten mindestens ebenbürtig ist. Für einen christlichen oder islamischen Fundamentalisten ist die Bibel bzw. der Koran jeweils das Produkt einer unmittelbaren göttlichen Offenbarung. Von einer (menschlich geprägten) Entstehungs-Geschichte dieser Bücher zu sprechen, ist in ihren Augen ein Sakrileg. Ähnlich reagieren die (meist mit der Autorität der Wissenschaft argumentierenden) «Neuen Atheisten», wenn es um die Vernunft geht. Dass auch die Vernunft eine Geschichte hat (und zwar nicht nur eine geradlinige Fortschrittsgeschichte), erscheint Ihnen eine Blasphemie, welche nur von abergläubischen Gegenaufklärern stammen kann.
Wie Sie vielleicht wissen, bin ich gewiss kein Freund Drewermännischer Dünnbrettbohrerei oder Küng’schen Zeitgeistanbiedermeiers. (So viel intellektuellen Snobismus leiste ich mir – weil ich es mir wert bin.) Aber das heisst noch lange nicht, dass mir alle religiösen Fragen und Probleme nur als ärgerlicher Firlefanz erscheinen. Nur wenn diese einem als würdiger Gegenstand der theoretischen Neugierde gelten können, kann man aus der Beschäftigung mit ihnen auch Erkenntnisse ziehen. Die aggressiven Neu-Atheisten hingegen kommen mir wie Insektenforscher vor, die sich rühmen, endlich Lupe und Mikroskop gegen eine Fliegenklatsche eingetauscht zu haben.
▪ Altersgeiz
Nach 65 können und/oder wollen wir es uns leisten, einfacher zu leben. Aber wie verhindert man den «Fall» vom einfachen Leben in den Altersgeiz?
A.W.
Lieber Herr W.
Ihre Idee, man könnte vom «einfachen Leben» angefixt werden wie eine potenzielle Anorektikerin von der tollen Brigitte-Diät, hat etwas überaus Bestechendes. Offenkundig liegt es im Wesen der menschlichen Leidenschaften, dass sie auch aus bestimmten Formen der Versagung eine Passion machen und dass die Mässigung und Kontrolle der Triebe selbst triebhafte Form annehmen und in Exzesse der Askese münden kann. Diese merkwürdige Art des negativen Geniessens bringt der Slogan «Geiz ist geil» geradezu genial auf den Punkt. Nämlich auf jenen Punkt, an dem die Extreme Vernunft (Sparsamkeit) und der (Sparsamkeits-)Wahn einander berühren und das eine ins andere übergeht. «Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage», spottet Mephistopheles bei Goethe: Die Vernunft wird gleichsam an der ihr nun einmal eigenen Konsequenz irre. Und das besonders Verrückte daran ist, sie zieht aus ihrer eigenen Selbstzerstörung durch Übertreibung auch noch einen Genuss.
In ihrem Buch über «Das Alter» schreibt Simone de Beauvoir über den Altersgeiz: «Der alte Mensch, dem es nicht mehr gegeben ist, durch Schaffen sein Sein entstehen zu lassen, will haben, um zu sein. … Geld bedeutet eine Sicherung der Zukunft, es schützt den alten Menschen gegen die Unsicherheit seiner Situation; aber diese rationalistische Erklärung ist ungenügend: Das wird einem sofort klar, wenn man einen 90-Jährigen sieht, der im Elend stirbt – mit einer riesigen Summe Geldes unter der Matratze.» Doch was diese gut existenzialistische Erklärung – to be is to do – ihrerseits unterschlägt, ist die perverse Lust, welche die zum Selbstzweck gesteigerte Sparsamkeit dem Geizigen gewährt. Genau diese Lust hingegen hat Schopenhauer im Blick. Er charakterisiert den Altersgeiz als Produkt einer Verschiebung von der sinnlichen zur abstrakten Gier. Dies geschieht, «… wenn … die Gier die Fähigkeit zum Geniessen überlebt … und wenn sodann an die Stelle der Gegenstände der Lüste, für welche der Sinn abgestorben ist, der abstrakte Repräsentant aller dieser Gegenstände, das Geld, tritt, welches nunmehr dieselben heftigen Leidenschaften erregt, die ehemals von den Gegenständen wirklichen Genusses … erweckt wurden, … dann hat sich im Geiz … der Wille … vergeistigt, dadurch aber sich in die letzte Festung geworfen, in welcher nur noch der Tod ihn belagert. Der Zweck des Daseyns ist verfehlt.»
Langer Vorrede kurzer Sinn: Nichts gegen den Ausstieg aus dem Rattenrennen unsinnigen Konsums und den Einstieg in die sublimen Wonnen der Einfachheit – aber bleiben Sie (eben auch materiell) grosszügig gegenüber Freunden, Kindern, Enkeln, Bekannten und Anverwandten und gegenüber den eigenen sinnlichen Begierden. Es ist schön, wenn ein kräftiger Wein aus dem Languedoc Ihnen genauso gut schmeckt wie ein teurer Amarone. Aber sobald Sie anfangen, nur noch die Preisdifferenz zu geniessen, ist es an der Zeit, mal wieder eine Flasche 10-jährigen Barolo zu Bratensauce zu verkochen. Dem «Daseyn» zuliebe.
▪ Aufs Gefühl verlassen
Seit einiger Zeit habe ich zweimal wöchentlich Sitzungen bei einem Psychoanalytiker. Ich bin 22 und befasse mich intensiv mit meinem Bewusstsein und Unbewusstsein. Wie weiss ich, ob die Sitzungen eine falsche Richtung einnehmen und ob der Psychoanalytiker eventuell einen falschen Ansatz bei mir verfolgt? Muss ich mich da ganz auf mein Gefühl verlassen?
H.K.
Liebe Frau K.
Was immer eine «falsche Richtung» oder ein «falscher Ansatz» innerhalb einer Psychoanalyse auch bedeuten möge (dazu gleich noch etwas) – worauf wollen Sie sich sonst verlassen? Nicht dass ich damit der wissenschaftllich aufgepeppten Gefühlsduselei einer sogenannten «Bauchintelligenz» das Wort reden will, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass aus einer Analyse etwas werden kann, wenn die Analysandin über längere Zeit das Gefühl hat, im falschen Film zu sein bzw. auf der falschen Couch zu liegen. Sowenig ein Orgasmus ein Orgasmus ist, ganz egal mit wem man ihn hat, sowenig ist eine Analyse eine Analyse, gleichgültig, mit wem man sie macht. Eine Analyse ist nämlich (auch) Geschmackssache. Der Stil, die Rhetorik, ja selbst die Praxiseinrichtung müssen einem passen. «Passen» kann auch bedeuten, dass man das alles irgendwie erfrischend «anders» findet, denn nicht nur gleich und gleich gesellen sich bekanntlich gern, auch Gegensätze ziehen sich an. Das hat mit der Analyse selbst noch nicht viel zu tun, ausser, dass natürlich auch die Wahl des Analytikers nicht jenseits der Zu- und Abneigungen steht, die einen auch sonst im Leben herumtreiben. Also wird man – beizeiten – auch auf die Bedingungen dieser Wahl zu sprechen kommen, aber nicht, um sie als «falsche» Voraussetzungen zu denunzieren, sondern um auch in diesem Punkt vielleicht etwas Neues über sich zu erfahren. (Zum Beispiel über seine Tendenz, die Analyse selbst zur Befriedigung seines «moralischen Masochismus» zu benutzen, indem man sie in ein quälendes Beichtverfahren verwandelt.)
Aber nun noch einmal zurück zu den «falschen Richtungen» und «Ansätzen»: So etwas könnte es geben, wenn die Psychoanalyse die Form der Anwendung eines allgemeinen Wissens auf einen speziellen Fall wäre: Frau X ist ein Fall von Y, also sollte der Analytiker wie immer in solchen Fällen Z tun. So funktioniert eine Analyse aber (hoffentlich!) nicht. Sondern als ein Pingpong von Rätseln, Fragen, Antworten, Deutungen, die immer (auf und hinter der Couch) vorläufig bleiben – ganz so wie im richtigen Leben, das ja auch keinen Ansatz und keine bestimmte Richtung verfolgt, sondern immer wieder unerwartete Wendungen nimmt. Wenn es einem aber scheint, als ob die Vergangenheit zugleich die Zukunft wäre, dann hilft eben manchmal eine Psychoanalyse, das allzu eingespurte Leben von der Schiene zu hieven, um wieder mehr Raum für Exkursionen ins Unvorhersehbare zu schaffen.
▪ Authentisch
«Authentisch sein und handeln» lese und höre ich des Öfteren. Was nützen und bezwecken Ratschläge dieser Art? Aus welcher Ecke stammen solche Aussagen?
P.G.
Lieber Herr G.
Aus vielen Ecken: Politiker sollen und wollen «glaubwürdig» sein; in Kursen kann man lernen, seine «wahren Gefühle» zunächst zu entdecken und anschliessend zu ihnen zu stehen; und Unternehmensberater sondern zum Stichwort «Authentizität» Weisheiten ab wie diese: «Menschen wissen in ihrem Herzen (dem wahren Ort des Lebens) genau um ihre Wahrheit. Dort sind sie immer ‹sie selbst›, egal, wie sehr sie sich ‹nach aussen› verstellen und ihnen dieses ‹Aussen› den Weg nach innen schon verstellt haben mag.» (Volker Viehoff) Die Bühne des Authentischen wird bevölkert von unzähligen Knatterchargen säuselnder Gefühlsechtheit und Schmierenkomödianten aus dem Charakterfach der Glaubwürdigkeits-Darstellung.
Sie sehen, über das Goldene Kalb der Authentizität lässt sich leicht spotten: über die naive Entgegensetzung von Sein und Schein z. B. und über die ebenso naive Innen-Aussen-Metaphysik, auf der sie beruht. Der populärphilosophische Klo-Spruch «To do is to be. (Sokrates) To be is to do. (Sartre) Do be do be do. (Frank Sinatra)» bringt die Kritik in bestechender Anschaulichkeit auf den Punkt: «Sein» und «Handeln» bilden ein untrennbares Amalgam, das sich nicht aufspalten lässt in eine (vorgängige und innere) Wahrheit des Seins und ein Handeln, das diese Wahrheit entweder (authentisch!) verkündet oder aber (nicht authentisch!) verleugnet.
Und trotzdem erscheint diese Kritik auch etwas sehr altklug. So einfach lässt sich das Problem der Authentizität nun doch nicht erledigen. Denn auch wenn wir «unsere Wahrheit» nicht wie eine unabänderliche Offenbarung in unserem Herzen vorfinden, als einen Wesenskern, den wir nunmehr nur noch wahrheitsgemäss in unser Handeln umzusetzen haben, so lässt sich doch nicht leugnen, dass wir nicht einfach Schauspieler sind, die prinzipiell jede Rolle übernehmen können und dabei jeweils auch genau das werden, was wir gerade spielen. Auch wenn absolute Authentizität eine Chimäre ist, der hinterherzurennen sich nicht lohnt, so ist Authentizität als regulatives Prinzip geradezu unentbehrlich: Uns können Rollen aufgedrängt werden, die nicht zu uns passen, bei denen wir uns mehr verbiegen müssen, als es gut für einen Menschen sein kann. Auch wenn es keine Lebenswahrheit gibt, so gibt es doch so etwas wie eine «Lebenslüge»: Ein «unechtes» Leben, das einen unglücklich macht, weil es so ganz und gar nicht dem entspricht, was und wie man nun einmal geworden ist.
▪ Ballgefühl
Bei guten Sportlern, die jeden Tag hart trainieren, heisst es oft: Er bringt zwar seine Leistung auf dem Fussballplatz, hat jedoch nichts im Kopf. Bei Missen, die sich jeden Morgen mit viel Aufwand darum bemühen, wunderschön auszusehen, sagt sich manch einer: Hübsche Frau, ist aber strohblöd. Woher kommt diese Abwertung des Körperlichen? Ich habe noch nie davon gehört, dass einem renommierten Professor mangelndes Ballgefühl vorgeworfen wird.
R.T.
Lieber Herr T.
Von einem körperfeindlichen Intellektuellen-Kult scheinen wir m. E. doch ziemlich weit entfernt. Wenn einem «renommierten Professor» selten sein «mangelndes Ballgefühl» vorgeworfen wurde, so doch wohl in erster Linie deshalb, weil er bis jetzt auch noch nicht den Drang verspürt hat, sich in der Medien-Öffentlichkeit auf dem Fussballplatz zu profilieren. (Wenn er jedoch an einem akademischen Grümpelturnier von Hochenergie-Physikern gegen Molekelular-Biologinnen teilnimmt, kann ihm ein solcher Vorwurf ungeachtet jedweder intellektueller Meriten durchaus blühen.) Umgekehrt würde sich kaum jemand über die beschränkten geistigen Fähigkeiten eines begabten Fussballers, einer attraktiven Miss oder eines schönen Misters mokieren, solange sich diese aufs «Tschuuten» und aufs Schönsein beschränkten. Sobald sie jedoch den Mund aufmachen und der «Schweizer Illustrierten», «Glanz und Gloria» oder im «TalkTäglich» ganz privat darlegen, wie sie die Welt im Allgemeinen und Besonderen sehen, dann müssen auch sie sich an den intellektuellen Massstäben messen lassen, welche man an dergleichen Äusserungen nun einmal anlegt.
Dabei erweisen sich manche Fussballer und manche Schönheiten durchaus als intelligent, andere wiederum als himmelschreiend doof. Wobei dieser Vorwurf allerdings auf die interviewenden Medien zurückfällt. Medien, die über jeden Kindergeburtstag halbwüchsiger B-Prominenter berichten, als handle es sich dabei um ein staatspolitisch bedeutsames Ereignis, sollten sich besser nicht darüber mokieren, dass André Reitebuch den Mutterkuchen für eine Backware hält, den man der Mama zum Mutterkuchentag beschert. Und nicht einmal darüber, dass der junge Mann (23) den Zweiten Weltkrieg zeitlich irgendwann um 1900 ansiedelt. Wenn der «BLICK» nämlich, nachdem er gebührend Häme über den historisch ahnungslosen prominentesten Illetristen der Schweiz ausgegossen hat, die Bemerkung anfügt «Korrekt wäre 1939 bis 1945 gewesen», dann veranschaulicht diese aufklärende Bemerkung nicht nur, wie arg der Reitebuch bei seiner groben Schätzung danebenlag. Sie drückt auch die Befürchtung des Blatts aus, die eigene Leserschaft könnte mangels eigener historischer Kenntnisse womöglich die Pointe verpassen.
Für Nichthistoriker möchte ich noch anfügen: 1939 bis 1945 waren übrigens auch die Jahre, als es noch keine Kuscheljustiz, keine Kuschelpädagogik und darum keine Jugendgewalt gab.
▪ Bastelbogen
Natürlich respektiere ich die Entscheidung der Mehrheit in Sachen Minarett. Die Crux ist nun aber die: Just am Tag nach der Abstimmung kam mein achtjähriger Sohn freudestrahlend mit einem Minarett-Bastelbogen nach Hause! Sie können sich mein Entsetzen vorstellen. Die Argumente, dass wegen des Baus dieses muslimischen Kartonturms eine seiner Mitschülerinnen vielleicht nicht mehr zum Schwimmunterricht darf oder dass vielleicht sogar eine orientalische Prinzessin zur Heirat mit einem Ungeliebten gezwungen wird, leuchten weder ihm ein noch finde ich sie selbst überzeugend. Andererseits will ich ihn auch nicht zu verfassungswidrigem Verhalten animieren und Gefahr laufen, dass er durch das Basteln islamisiert wird. (Schere und Leim stammen allerdings aus der Schweiz!)
W.S.
Lieber Herr S.
Se non è vero è ben trovato. Und fragen Sie mich jetzt nicht, woran ich gemerkt habe, dass die Geschichte mit dem Bastelbogen geflunkert ist. Eine Frau spürt so etwas. – Da Sie nun aber den lustigen Teil der Antwort schon selber übernommen haben, kann ich ja jetzt zum ernsten übergehen. Nun hocken wir also auf einem neuen Verfassungsartikel, der erklärtermassen nicht meint, was er sagt. Denn es geht ja um die Symbolwirkung. Eigentlich sollen nicht Minarette, sondern Zwangsheiraten, Parallelgesellschaften, Zwangsbeschneidungen, der Untergang der christlichen Leitkultur, die Ablehnung der Frauen- und Homosexuellen-Rechte, der Schwimmunterrichts-Dispens sowie noch ein paar andere unangenehme Dinge, die mir jetzt in der Aufregung glatt entfallen sind, bekämpft werden. Das alles in die Verfassung zu übernehmen, wäre natürlich zu aufwendig gewesen. So heisst es nur schlicht und elegant, dass der Bau neuer Minarette untersagt ist: Näheres regeln das Baurecht und der jeweils neueste Stand des wissenschaftlich fundierten Volksempfindens, vertreten durch die NebenklägerInnen Renzo Blumenthal, Christophe Darbellay und Julia Onken.
Zu bedenken möchte ich einzig dies geben: Ob es nicht auch eine wild gewordene Form des Laizismus gibt, welche den frischen Wind der Aufklärung zu einem Katechismus von Hausordnungs-Paragraphen gefrieren lässt und die Idée Suisse zur Idée Fixe macht. Das Problem mit den 400 000 Muslimen in der Schweiz dürfte wohl weniger sein, dass sie die lästige Angewohnheit haben, sich morgens vom Muezzin wecken zu lassen, sondern dass sie auch ohne Burka Platz in der S-Bahn brauchen, wenn sie zur Arbeit fahren. Wem der Klassenkampf allein nicht reicht, der bastelt sich noch einen Kulturkampf dazu. – Die Parteien dürfen Platz nehmen.
▪ Behinderte
Auf Wikipedia finde ich zwei Argumente der Gegner der sogenannten Präimplantations-Diagnostik, bei der es darum geht, ob man einen Embryo überhaupt einpflanzen soll, wenn es klar ist, dass das Kind z. B. am Down-Syndrom leiden wird. Erstens, es gebe kein Recht auf ein gesundes Kind. Zweitens, diese Art der Diagnose diskriminiere die Behinderten. Mir scheinen diese Argumente absurd. Sie liefe ja wohl auch darauf hinaus, künftig die Abtreibung wahrscheinlich behinderter Kinder zu verbieten.
C.M.
Liebe Frau M.
Inzwischen, so war vor Kurzem zu lesen, werden etwa 90 Prozent aller Föten mit Down-Syndrom abgetrieben. Die «Mongoloiden» sind also nicht nur rein sprachlich eine aussterbende Spezies. Den allgemeinen freundlichen Beteuerungen, dass solcherart Behinderte genauso Menschen sind wie wir, ja, sogar ganz besondere kleine «Sonnenscheinchen», die uns so unendlich viel geben können usw., steht eine Praxis entgegen, welche die euphemistischen Sprachregelungen als Sonntagsgeschwätz für die Galerie entlarvt. Oder aber es sind die üblichen Mutmach-Rationalisierungen der von behinderten Kindern «betroffenen» Eltern, welche dem vorhandenen oder lediglich (aber keineswegs zu Unrecht) befürchteten Unverständnis ihrer Umgebung etwas entgegensetzen möchten. Die «Absurdität» der von Ihnen zitierten Argumente scheint mir ein getreuer Spiegel der Situation zu sein, aus der sie entstanden sind. Die pränatale Diagnostik im Zusammenhang mit einem Kriterienkatalog für legale Abtreibung ermöglicht und erfordert eine Entscheidung darüber, was man als ein zu riskierendes Menschenleben und was man als ein in einem frühen Zustand legitimerweise zu beendendes betrachtet. Und ist es wirklich so absurd, sich vor einer Zukunft zu ängstigen, in der gefordert werden könnte, eine in vollem Wissen eingegangene «Risiko-Schwangerschaft» sei von der Krankenkasse gleich zu behandeln wie mutwillig herbeigeführtes Übergewicht oder eine Raucherlunge? Als ein Risiko nämlich, für das die Gemeinschaft künftig nicht mehr solidarisch zu haften bereit ist.
Und nun dürfen Sie mich zum Schluss noch fragen: Sie meinen also ernsthaft, es sei besser, man dürfte endlich wieder «Möngi» sagen, aber dafür keines mehr abtreiben? Und ich täte Ihnen darauf antworten: Sie können doch Ihrerseits nicht ernsthaft annehmen, ich wollte wieder mehr ungeborene Behinderte auf die Welt bringen, um diese dann als Kanonenfutter gegen mehr gesellschaftliche Normierung und die neoliberale «Selbstverantwortungs»-Ideologie in Stellung bringen zu können. Was Sie aber gewiss ernsthaft annehmen dürfen, ist, dass ich ziemlich viel dagegen habe, moralische Dilemmata ethikkommissionsgerecht stets so zu präparieren, dass ja niemand mit seiner Entscheidung ein schlechtes Gewissen zu haben braucht.
▪ Berge
Warum sind die Berge (die Alpen z. B.) schön?
J.H.
Lieber Herr H.
Schönheit liegt bekanntlich allein im Auge des Betrachters. Und was die Berge betrifft, liegt sie dort keineswegs schon seit Anbeginn der menschlichen Geschichte. Der Weg «Von den schrecklichen zu den schönen und erhabenen Bergen» – so der Titel einer einschlägigen historischen Studie von Ruth und Dieter Groh – ist lang, steil und voller Windungen. Als sein Ausgangspunkt gilt gemeinhin die Besteigung des Mont Ventoux durch Petrarca am 26. April 1336. In einem Brief an einen Freund nennt er als Motiv für seine aufwendige Kletterpartie «einzig die Begierde, die unge wöhnliche Höhe dieses Flecks Erde durch Augenschein kennenzulernen». Auf dem Gipfel angekommen, schlägt er das Buch auf, das er immer und überall bei sich trägt – die «Bekenntnisse» des Augustinus. Und die Stelle, auf die er dabei zufällig stösst, lautet: «Und es gehen die Menschen, zu bestaunen die Gipfel der Berge …, und haben nicht acht ihrer selbst.» Petrarca ist «wie betäubt». Er schliesst «das Buch im Zorne mit mir selbst darüber, dass ich noch jetzt Irdisches bewunderte. Hätte ich doch schon zuvor – selbst von den Philosophen der Heiden – lernen müssen, dass nichts bewundernswert ist ausser der Seele: Neben ihrer Grösse ist nichts gross. Da beschied ich mich, genug von dem Berge gesehen zu haben …»
Die Moral des Mittelalters hat den Renaissance-Dichter kalt erwischt. Bis sich jene ästhetisierende Naturauffassung durchsetzt, die wir heute als so selbstverständlich empfinden (und der wir den Boom des «Alpinismus» im 18. und 19. Jahrhundert verdanken), wird noch einiges Wasser die Reichenbachschlucht hinunterdonnern. Auch für Luther ist die Natur nicht schön, sondern augenfälliger Ausdruck des Sündenfalls: hässlicher Gegensatz zu dem, was das Paradies einst war. Die Schweizer Reformatoren hingegen sehen das etwas anders. Eine ästhetische Wahrnehmung der Natur ist nicht mehr zwingend ein Verrat an einer theologisch zentrierten Weltanschauung. 1541 schreibt der Zwingli-Schüler Conrad Gesner über das «Schauspiel» des Gebirges: «Ich weiss nicht, wie es zugeht, dass durch diese unbegreiflichen Höhen das Gemüt erschüttert und hingerissen wird zur Betrachtung des erhabenen Baumeisters.» Damit umreisst er zugleich eine ästhetische Erfahrung, die später unter dem Titel des «Erhabenen» einen neuartigen Blick auf die wilde Natur der schroffen und lebensfeindlichen Berge bestimmen wird: die Empfindung von Schönheit, die mit Angstlust gepaart ist. Darum also sind die Berge schön: Weil neue Weltdeutungen es ermöglicht haben, sie (auch) als schön zu betrachten.
▪ Bettelbriefe
Pro Monat erhalte ich ca. 20–30 Bettelbriefe. Jeder dritte enthält drei bis vier Karten! Heutzutage haben alle Leute Telefone und die meisten Natels – wenige schreiben noch Karten! Für runde Geburtstage kauft man sowieso entsprechende Glückwunschkarten. Soll man diese Bettelbriefe unfrankiert retournieren, damit der Unsinn aufhört?
E.F.
Liebe Frau F.
Um auf eine knappe Frage ebenso knapp zu antworten: Ja. Warum nicht?
▪ Blochers Klassenzugehörigkeit
Können Sie mir bitte erklären, wie ein Mensch dazu kommt, seine eigene Klassenzugehörigkeit fortlaufend zu verunglimpfen? Ich spreche von Herrn Blocher, der doch permanent über die «classe politique» und die «Elite» herzieht. Meines Erachtens gehört er doch zu beiden. Oder irre ich mich?
G.H.
Liebe Frau H.
Sie irren sich nicht. Aber Sie liegen falsch, wenn Sie meinen, dieser Selbstwiderspruch könnte sich als Argument gegen die SVP verwerten lassen. Er ist vielmehr das Erfolgsgeheimnis Blochers und seiner SVP: Logische Konsistenz ist etwas für Schwächlinge und Verlierer. Man muss diese Inkonsistenz allerdings auch souverän zelebrieren. Einfach nur in CVP-Manier die Positionen wechseln wie ein aufgescheuchtes Huhn, macht den Wählern keinen Eindruck. Die UBS zerschlagen und dann als Holding wieder zusammenbauen? So wächst zusammen, was zusammengehört. Protektionistische Landwirtschaftssubventionen und neoliberale Wirtschaftspolitik – was dagegen? Ein Milliardär als Anwalt des kleinen Mannes – wer sonst? Bildung ist die wichtigste Ressource unserer rohstoffarmen Schweiz: Ergo brauchen wir mehr Leute wie Paul Accola im Nationalrat. Minarette sind gefährlicher als Atomkraftwerke – warum eigentlich nicht? Ist doch wenigstens mal ein origineller Ansatz. Aber weniger Atomkraft durch weniger Zuwanderung ist auch lustig. Schluss mit der Abzockerei einheimischer KMUs durch polnische und rumänische Billigarbeiter!
Unlogisch? Ach ja? Dann heult doch! Souverän ist, wer sich um sein Geschwätz von gestern nicht kümmern muss. Und um Argumente erst recht nicht. Was kümmert mich der «zwanglose Zwang des besseren Arguments» (Jürgen Habermas), wenn ich mir richtige Propaganda leisten kann? Die Kaderpartei SVP hat das erreicht, wovon die kulturrevolutionäre Fraktion der 68er nur träumen konnte: die Massen. Was aus dem Munde linksradikaler Studenten, die vor den Werkstoren langfädige Flugblätter verteilten, nicht sehr überzeugend klang, wird zur faszinierenden Heilsbotschaft, wenn es der Fabrikbesitzer selbst verkündet: die Abschaffung des Staates. Jetzt sind es die linke Elite, die classe politique, die Intellektuellen, kurz: die alten Staatsfeinde, die den Staat gegen seinen Verächter verteidigen. Kein Wunder, denn die hängen ja alle am Staats-Tropf. Diese Rhetorik gehört zum eisernen Bestand des Rechtspopulismus. Warum Blocher und die Seinen damit so erfolgreich sind? Offenkundig ist das Volk der Meinung, dass die Anarchie in den Händen der Mächtigen am besten aufgehoben ist.
▪ Bretter und Kondome
Schon zum mehrten Mal desavouierten Sie in Ihrer Kolumne Küng und Drewermann als Liebhaber des Bohrens dünner Bretter. Und ich wehre mich gegen die dümmliche Wortschöpfung «Dünnbrettbohrer». Ich bohre täglich genüsslich mit allergrösstem Gewinn dünne Bretter. Die mannigfachen Widerborstigkeiten des Alltags gehen flugs vergessen beim schönen Gefühl des butterzarten Bohrens dünner Bretter. Bohren Sie doch mal dicke Tropenhölzer, und beobachten Sie dabei Ihr verzerrtes Gesicht. Dann verstehen Sie vielleicht, was wir Liebhaber des Bohrens dünner Bretter meinen.
L.T.
Lieber Herr T.
Ich verstehe Sie auch ohne einen solchen Selbstversuch sehr gut: Denn ich habe überhaupt nichts gegen das Bohren dünner Bretter einzuwenden. Ich reagiere nur leicht spöttisch, wenn man dazu ein Gesicht macht, als hätte man soeben mindestens ein Klafter Ebenholz durchlöchert.
Auch uns ist völlig wurst, was Dünnbrettbohrer und Zeitgeistanbiederer erzählen, und das Kondomverbot in unseren Breitengraden gleichfalls. Wie aber steht es mit diesem Verbot im aidsgeplagten Afrika? Warum verlangt niemand, dass Leute, die dies propagieren, sich wegen Anstiftung zu Völkermord in Den Haag verantworten sollen? Vielen Dank für eine Aufklärung.
R.F. und V.H.
Lieber Herr F., liebe Frau H.
Bei seiner letzten Reise durch Afrika hat der Papst bekanntlich einmal mehr gesagt: «Kondome sind nicht die Lösung gegen Aids.» Das ist (bei wohlwollender Interpretation) natürlich bes tenfalls halbrichtig; aber in diesen Worten eine Aufforderung zum Völkermord zu sehen, scheint mir nicht nur absurd, sondern auch eine begriffliche Schindluderei, welche nicht zu einer Schärfung der moralischen Kritik, sondern zu deren Verlotterung beiträgt. Ansonsten kann ich nur noch einmal mein Argument von vor vierzehn Tagen in leichter Variation wiederholen: Warum sollte es in Afrika nicht ebenso unlogisch, inkonsequent, moralisch inkonsistent beziehungsweise schlichtweg bekloppt sein wie in unseren Breitengraden, wenn man sich zwar nicht an das katholische Verbot ausser- und unehelichen sowie homosexuellen Geschlechtsverkehrs halten mag, zugleich aber darauf besteht, dabei kein Kondom zu verwenden, weil es der Papst ja verboten hat? Anders ausgedrückt: Wenn Afrikaner und Europäer beim unkatholischen Herumvögeln trotz der Gefahr der HIV-Ansteckung kein Kondom benutzen, dann tun sie das vielleicht sogar aus je anderen (aber gleichermassen bescheuerten) Gründen. Aber gewiss tut es keiner von ihnen, weil er zur Hälfte ein unverbesserlicher Papist ist.
▪ Burnout
Auf dem ganzen «Ich suche meine Identität»Karussell sind immer wieder Phänomene en vogue, bei denen man den Verdacht nie loswird, dass sie ein bisschen eingebildet sind. Können Sie epidemische Volks- und Selbstinszenierungskrankheiten wie etwa Burnout – Stichwort: Miriam Meckel – überhaupt noch ernst nehmen?
T.N.
Liebe Frau N.