Für immer Maskenball - Tobias Hülswitt - E-Book

Für immer Maskenball E-Book

Tobias Hülswitt

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Beschreibung

Short Stories! Die Abschlussarbeit des Jahres-Coachings 2023 für Journalistinnen und Journalisten

Das E-Book Für immer Maskenball wird angeboten von Books on Demand und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Kurzgeschichte, Short Stories, Journalismus, Projektarbeit, Fiktion

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Seitenzahl: 93

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Inhalt

Vorwort

Teil 1—Für immer Maskenball

Dennis Frasch: Für immer Maskenball

Frederik Mittendorff: Hauptgewinn

Janina Bauer: Allein, allein

Teil 2—Dosensekt von Aldi

Anna Dotti: Wie viele Fragen?

Celine Schäfer: Leere Tage

Hannah Mara Schmitt: Candlelight-Dinner

Lars Graue: Die Erste

Lisa Plank: Dosensekt von Aldi

Tanja Mokosch: The Simple Life

Teil 3—Himbeeren auf dem Balkon

Jonas Mayer: Ermias

Marie Heßlinger: Himbeeren auf dem Balkon

Bonus

Laila Sieber: Scheinhaft

Vorwort

GESTERN war der Eiffelturm doch noch da. Heute ist er verschwunden. Warum fallen Bomben auf Paris? Wie kommt es, dass ein herbeigewünschter Bürgermeister plötzlich wirklich in der Tür steht, noch dazu – wie gewünscht – blutverschmiert? Und sind die Machenschaften einer lang beobachteten Zielperson jetzt real oder nicht? Der erste Teil der versammelten Geschichten – Frederik Mittendorffs Hauptgewinn, Dennis Fraschs literarische ADHS-Studie Für immer Maskenball und Janina Bauers Allein, allein – kreist um genau die Fragen, die für Reporter:innen in ihrer täglichen Arbeit von größter Bedeutung sind: Wie real ist die Beobachtung? Wann sind Fakten Fakten, Irrtümer Irrtümer und Illusionen nur das? Kann Wahn Wahrheit sein?

Der zweite Teil hält es autofiktional. Hart an der Wirklichkeit, an der Erinnerung, aber eben nicht nur. In der Verdichtung wird das Kollektive der persönlichen Erfahrung spürbar. Wer kennt sie nicht, die aus den Umständen geborenen Lockdown-Beziehungen, die sich nach der Pandemie genauso schnell auflösten, wie sie während ihr entstanden waren? Tanja Mokosch erzählt davon in The Simple Life, während Celine Schäfer (Leere Tage), Lars Graue (Die Erste), Anna Dotti (Wie viele Fragen?) und Hannah Mara Schmitt (Candlelight-Dinner) von Begegnungen und Wiederbegegnungen ganz unterschiedlicher Art erzählen. Und was ist, wenn sich eine junge Frau wie die Erzählerin in Lisa Planks Dosensekt von Aldi plötzlich in genau der Gesellschaft wiederfindet, die sie als Kind zu verachten lernte? Auch hier, wie im ersten Teil, werden Illusionen auf die Probe gestellt.

Und schließlich der dritte Teil. In ihm wird es episch. Wenn Marie Heßlinger in Himbeeren auf dem Balkon durch die Augen eines Jungen von der Liebe zwischen Tante Hannah und Onkel Franzl erzählt, liest es sich wie der Auftakt einer Familiensaga. Und Jonas Mayer übt sich in Ermias in einer Kunst, die wir selten sehen, auch wenn sie bedeutende Tradition hat: der Text, in dem Fakten und Fiktionen gleichwertig nebeneinanderstehen, sich ergänzen und gemeinsam den Gegenstand erfahrbar machen – in diesem Fall die tödliche Natur der Überwachung selbst seiner im Ausland lebenden Communitys durch den eritreischen Staat.

Die ehemalige Studentin der Reportageschule Laila Sieber steuert den ‚Bonustrack‘ Scheinaft bei, das schonungslose Bild eines Fehlers.

Mit dem vorliegenden Band beweisen die Studierenden der Reutlinger Reportageschule einmal mehr, wie sehr es sich lohnt, wenn sie „den Stift umdrehen“ und die Wahrheit durch Fiktion erzählen.

Tobias Hülswitt

August 2023

1

Teil 1— Für immer Maskenball

Dennis Frasch: Für immer Maskenball

WÄRE doch nur ein Zyklop gekommen und hätte Damian das Dach über dem Kopf weggerissen. Dann hätte Damian gesehen, dass die Welt brennt, weil die Zyklopen aus den Vulkanen gekraxelt sind, gottgleiche Gewitterdämonen, von Zeus erneut befreit, um die Menschen zu knechten. Dann wäre Damian ganz ruhig geworden, das Durcheinander in seinem Kopf hätte sich zu einer militärischen Ordnung gefügt. Es wäre ihm gut gegangen.

„Ich weiß nicht mehr, wer ich bin“, sagte Damian.

Es war das erste Mal, dass er diesen Satz aussprach. Seit einigen Wochen schwirrte der in seinem Kopf herum. Natürlich nicht in diesen Worten, dafür hätte er dem Geplapper in seinem Kopf genauer zuhören müssen. Es war mehr ein Gefühl.

„Sie sind ein anpassungsfähiger junger Mann“, sagte Frau Bernstein nach einer langen Pause.

Damian seufzte und blickte in alle vier Ecken des Raumes. Ein eigens für ihn gebauter Folterkeller hätte genauso ausgesehen. In dem Raum, groß wie ein Klassenzimmer, gab es: nichts. Außer zwei Ledersesseln, die einander gegenüberstanden. Und eine weiße Uhr an der Wand, wie man sie von Bahnhöfen kannte. Nur dass der Sekundenzeiger dieser Uhr tickte und nicht lautlos von Sekunde zu Sekunde glitt. Und weil Damian in der Stille sogar Frau Bernsteins Herzschlag zu hören glaubte, kam ihm das Ticken so laut vor wie die Schläge eines Schlagzeugs. Aber da war kein Schlagzeug, nur diese Uhr. Und zwei Meter vor ihm Frau Bernstein. Wenn Damian nicht gewusst hätte, wie lebendige Menschen aussahen, dann hätte er Frau Bernstein auch für ein Stück Inventar gehalten. Sie rührte sich nicht. Sie schaute ihn nur an, die Beine übereinandergeschlagen, ein DIN-A4-Block in der Hand. Das alles brachte ihn in Rage.

„Ich fühle mich wie ein Bündel von Symptomen und nicht wie ein Mensch“, sagte Damian. Schon der zweite Satz, der seine Gefühle traf. Und das, obwohl er saß. Normalerweise musste er für solche Formulierungen drei Stunden wandern. Aber die Leute wollten ja immer sitzen. Also fummelte er mit den Händen in seinem Bart rum oder wippte mit den Beinen oder änderte alle drei Minuten die Sitzposition. Bei Frau Bernstein machte er immer alles gleichzeitig. Es war der Versuch, den Körper auf die gleiche Geschwindigkeit zu bringen wie die Gedanken, in der Hoffnung, sie genauer betrachten zu können und nicht nur wie Autos auf einer Autobahn vorbeiziehen zu sehen. Sein ganzes Leben lang hatte Damian versucht, langsamer zu werden, für all jene, die sich beim Sprechen nicht bewegten. Und jetzt gelangen ihm zwei wohlüberlegte Sätze in Folge.

„Sie sind mehr als eine ADHS-Diagnose“, sagte Frau Bernstein und lächelte Damian an.

„Woher wissen Sie das? Woher weiß ich das? Alles, was mich ausmacht, hängt mit dieser Diagnose zusammen“, sagte Damian. „Ich fühle mich wie eine Marionette, die von einem Aufseher gesteuert wird. Jemand, der sich alle Mühe gibt, mich so aussehen zu lassen, wie die anderen mich gerne hätten.“

„Wie meinen Sie das?“ Frau Bernstein nahm ihre kleine Brille mit den rechteckigen Gläsern von der Nase. Sie sah müde aus. Die Tränensäcke unter ihren Augen hatten in dieser Woche einen neuen Blauton erreicht. Sie schaute zur Uhr. Die Uhr tickte. Noch zwanzig Minuten.

Damian wollte erklären, dass er das Gefühl habe, immer eine Rolle zu spielen, immer eine Maske zu tragen. Er wollte erklären, dass er sich sein Leben lang anpassen musste, aus Angst, von den neurotypischen Menschen abgelehnt zu werden. Und wenn neurodiverse Menschen nur ein My an Ablehnung erfuhren, dann fühlten sie sich, als hätte sie ihre Familie verstoßen. Oder als wäre ihre Katze gestorben. Das wusste Frau Bernstein doch, oder?

Damian wollte erklären, dass er mit allen Menschen gut auskam, egal ob gebildet oder nicht, egal ob auf der gleichen politischen Linie oder nicht, egal ob aus Indien oder aus seiner Heimatstadt. Und dass er deshalb gar nicht mehr wusste, wann er noch er selbst war, weil er sich so meisterhaft anpassen konnte.

„Die Leute in Mexiko dachten, ich könnte Spanisch“, sagte Damian. Scheiße. Was für eine blöde Erklärung. Er wippte mit dem rechten Fuß, als würde er einen Webstuhl im Zeitraffer bedienen. „Zumindest für die erste Minute eines Gesprächs. Ich konnte vielleicht hundert Wörter, aber ich konnte sie zu so perfekten Sätzen formen, dass die Leute in San Cristóbal immer mit mir plauderten.“

Damian sah Frau Bernstein an. Sie zog eine Augenbraue hoch und kritzelte etwas auf ihren Block. Tick, tick, tick, machte die Uhr

Wenn doch nur der Bürgermeister zur Tür hereingestürmt wäre – der Hugo-Boss-Anzug zerfetzt, sein sonst perfekt gegeltes Haar zerzaust – und geschrien hätte, dass alle Hunde der Stadt verrückt geworden seien. Damians dopaminarmes Gehirn wäre von den Botenstoffen überschwemmt worden, die ihm sonst immer fehlten. Er wäre ganz ruhig geworden. Er hätte zuerst die Stadt gerettet und dann Frau Bernstein erklärt, wie er sich wirklich fühlte.

„Wie wären Sie denn, wenn Sie keine Rücksicht mehr auf die Erwartungen anderer nehmen müssten?“, fragte Frau Bernstein.

„Das frage ich mich eben“, sagte Damian. Das wahre Selbst, was soll das sein? War Damian er selbst gewesen, als er sich in der ersten Klasse mit Kristian und Dimitri und Fabian geprügelt hatte, weil er sich noch nicht anpassen konnte? Oder kam der wahre Damian zum Vorschein, wenn er dreißig Milligramm Lisdexamfetamin schluckte und sich dann etwas besser auf die langweiligen Dinge des Lebens konzentrieren konnte?

„ADHS hat auch positive Seiten“, sagte Frau Bernstein.

„Ich würde mich selbst betrügen, wenn ich nur die guten Seiten sehen würde. Als würde ich mir etwas vormachen. Als ob ich nicht authentisch wäre“, sagte Damian.

„Man ist authentisch, wenn man sich so akzeptiert und wertschätzt, wie man ist“, sagte Frau Bernstein.

Es klopfte an der Tür, sie ging einen Spalt weit auf. „Wir sind gerade fertig geworden, ich komme gleich“, sagte Frau Bernstein.

„Alles klar“, sagte der Bürgermeister und wischte sich etwas Blut vom Hemd.

Frederik Mittendorff: Hauptgewinn

NOCH bevor die Sonne aufgeht, nimmt Jonah sein Handy. Hat jemand in der Nacht an ihn gedacht? Wie jeden Morgen ist der Lockscreen voller Mitteilungen. Jonah hat elf Morgennewsletter abonniert. Thema des Tages ist der eingestürzte Eiffelturm in Paris. Jonah wusste schon bei der ersten Eilmeldung nicht, wie er sich zu der Nachricht verhalten sollte. Wenn ihn jemand fragen würde, wo er war, als der Stahl kollabierte und Frankreich sein Wahrzeichen verlor, sähe er sich heute, zwei Tage nach dem Ereignis, außer Stande, die Frage zu beantworten. Weltweit herrscht Trauer. Jonah hat mal auf dem Eiffelturm gestanden.

Jonah macht sich einen Tee, mit dem er in sein kleines, aber renoviertes Badezimmer geht. Es ist das einzige Zimmer, in dem nur eine Glühbirne von der Decke hängt, weil er keine Lampe angebracht hat. Das Licht in diesem Zimmer ist das schönste der Wohnung, findet er. Es ist weich und klinisch, ganz so, als beleuchte es ein Behandlungszimmer, während man selbst auf Ecstasy ist. Vielleicht liegt es aber auch am Spiegel, dass Jonah das Licht so mag. Hier im gefliesten und leicht beheizbaren Bad blickt er sich oft ins Gesicht. Er findet sich dann häufig schön.

Er schaut in den Spiegel und zieht die Haut unter seinem Kinn zusammen. Die morgendliche Dicke im Gesicht löst sich, auch die blauen Ränder unter den Augen verschwinden. Das Wasser der Dusche ist warm.

Der Haltegriff ist feucht, als er seine Hand um ihn legt. Die nächsten vier Stationen steht er so, bis sich am Hauptbahnhof der Waggon wie an jedem Tag leert. Jonah setzt sich schräg gegenüber der Frau, die er attraktiv findet. Sie trägt einen Mantel, und ihre Schuhe sind die Art von Stiefeln, die sowohl Punkerinnen als auch Kunsthistorikerinnen tragen können. Vielleicht studiert sie Psychologie. Sie trägt ein Nasenpiercing. Jonah hat die Erfahrung gemacht, dass nasenpiercingtragende Menschen spießig sind. Ihn stört das nicht. Er schaut weiter die Frau an, die sich in der Scheibe links neben ihm spiegelt.