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Was für ein Lesevergnügen! Holly-Jane Rahlens zeigt mit diesen höchst originellen Märchenvariationen ihr ganzes Können: Ob Aschenputtel, Rapunzel oder Sterntaler, die Autorin spielt gekonnt mit Märchenmotiven und erzählt sie aus einer futuristischen Perspektive völlig neu. Dazu liefert sie unterschiedlichste Erzählweisen, vom Tagebucheintrag über Kurzgeschichte, Drehbuch oder Gedicht bis hin zum Blogeintrag. Es sind Texte voller Humor und Tiefe, Emotion und literarischem Erfindungsgeist. Und wie nebenbei entsteht für den Leser eine ganz neue Welt in der fernen Zukunft. Ein besonderes Märchenbuch für starke Mädchen – und für die Frauen, die sie auf ihrem Weg begleiten.
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Seitenzahl: 213
Holly-Jane Rahlens
Geschichten aus einer anderen Welt
Was für ein Lesevergnügen! Holly-Jane Rahlens zeigt mit diesen höchst originellen Märchenvariationen ihr ganzes Können: Ob Aschenputtel, Rapunzel oder Sterntaler, die Autorin spielt gekonnt mit Märchenmotiven und erzählt sie mit erfrischend feministischem Ansatz völlig neu. Dazu liefert sie unterschiedlichste Erzählweisen, vom Tagebucheintrag über Gedichte und Lieder bis hin zum Blogeintrag. Es sind Texte voller Humor und Tiefe, Emotion und literarischem Erfindungsgeist. Und wie nebenbei entsteht für den Leser eine ganz neue Welt in der fernen Zukunft.
Ein besonderes Märchenbuch für starke Mädchen – und für die Frauen, die sie dabei begleiten.
Illustriert von zehn Illustratorinnen der Zukunft
Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch
Holly-Jane Rahlens kam Anfang der 70er-Jahre aus ihrer Heimatstadt New York nach Berlin. Mit Funkerzählungen, Hörspielen und Solo-Bühnenshows machte sie sich dort in den 80ern und 90ern einen Namen. Außerdem arbeitete sie als Journalistin, Radiomoderatorin und Fernsehautorin, bis sie sich ganz dem Schreiben widmete.
For my son,
my nieces
and nephews,
their friends,
their generation,
their future.
Europäischer Kulturrat
Lübeck-an-der-Ostsee
20. Dezember 2440
Liebe Lesende,
ich gratuliere! Vermutlich habt ihr gerade zum ersten Mal in eurem Leben ein Buch aufgeschlagen. Willkommen in einer neuen Welt! Wir feiern das Jubiläum «1000 Jahre Gutenbergpresse» mit tausend Büchern. Dies ist eines davon.
Vor genau einem Jahrtausend, im Jahr 1440, baute der Mainzer Johannes Gutenberg die erste Druckerpresse. Mit seiner Erfindung revolutionierte er die damalige europäische Buchherstellung, denn bis dahin hatte man Bücher mühsam mit der Hand abgeschrieben. Das Zeitalter der Bildung für alle wurde eingeläutet. Zu Recht gilt die Druckerpresse als eine der größten Erfindungen des 2. Jahrtausends.
Jahrhundertelang gehörten gedruckte Bücher zu unserem Alltag. Doch gegen Ende des 20. Jahrhunderts verschwanden sie allmählich aus unserem Leben: Um 1990 begann man, Texte mithilfe von Computern digital zu lesen, bald darauf auf kleineren elektronischen Geräten. Das E-Book wurde erfunden. Etwa zweihundert Jahre später, nachdem alle technischen und gesundheitlichen Probleme der Brain Buttons ausgemerzt waren, insbesondere aber nach Entwicklung der neuen Gehirnwellentechnologien Mitte des 23. Jahrhunderts, wurden unsere individuellen Brain-Interfaces zu persönlichen Großbibliotheken – und von da an gab es kein Zurück mehr. Um 2325 waren gedruckte Bücher praktisch aus unserem Leben verschwunden.
Nun aber, aus Anlass der Jubiläumsfeierlichkeiten zur Gutenbergpresse, sollen tausend der beliebtesten Bücher Europas der letzten zehn Jahrhunderte noch einmal für eine größere Leserschaft gedruckt werden.
Future Fairy Tales, herausgegeben von Hailey Layne-Arlens, erschien erstmalig 2312 zum fünfhundertjährigen Jubiläum von Jacob und Wilhelm Grimms Werk Kinder- und Hausmärchen. Es beinhaltet zehn beliebte Märchen nach den Brüdern Grimm, die zwischen 2019 und 2290 medial präsentiert wurden. Es sind Texte aller Art: Gedichte oder Tagebucheinträge, Kinderlieder oder Kurzgeschichten, Videos oder Braincasts. Jedes Märchen zollt auf seine ganz besondere Weise sowohl den Ursprungsmärchen der Grimms Tribut als auch der Vielfalt des Geschichtenerzählens überhaupt.
Um zu verstehen, in welchem Kontext die einzelnen Märchen entstanden oder sich entwickelten, fügte Hailey Layne-Arlens jedem Märchen eine kulturhistorische Einordnung hinzu. Auch diese Kommentare wurden in diese Ausgabe aufgenommen, denn sicherlich werden sie auch für Lesende des 25. Jahrhunderts von Interesse sein. Ebenfalls finden sich Faksimiles der insgesamt zehn Illustrationen, die Layne-Arlens eigens für die damalige Veröffentlichung auswählte.
Future Fairy Tales war ursprünglich als Geschenkbuch gedacht, das man jungen Forester zum Abschluss ihrer Schullaufbahn überreichte. Es entwickelte sich jedoch unter Forester schnell zum Lieblingsbuch für jedes Alter. «Das Buch trägt etwas Magisches in sich, dem niemand widerstehen kann», schrieb eine damalige Rezensentin. Wir hoffen, es geht euch ebenso. Es mag das erste Mal sein, dass ihr ein echtes gedrucktes Buch lest – aber ich wünsche euch, dass es nicht das letzte Mal sein wird. Viel Spaß!
Raleigh-Joya Hada
Direktorin Europäischer Kulturrat
Ursprünglich erschien Future Fairy Tales auf Englisch, der vorherrschenden Sprache in Europa. Die vorliegende Ausgabe wurde nun aufgrund des großen Interesses an den toten Sprachen Europas eigens für das Gutenberg-Jubiläum auch ins Deutsche übersetzt.
Die Übersetzung folgt den grammatikalischen und orthografischen Regeln des Reformierten Standardhochdeutsch Plus (Leipziger Schule) des späten 21. Jahrhunderts, wie sie bis heute von Forester-Kolonien in der euro-deutschen Provinz kultiviert werden. Die Leipziger Schule zeigte sich damals besonders allergisch gegen die Verwendung des generischen Maskulinums, mit dem sowohl Männer als auch Frauen angesprochen wurden. Sie propagierte stattdessen die Verwendung von geschlechtsneutralen Bezeichnungen («Liebe Lesende») oder, wenn es keine akzeptablen geschlechtsneutralen Bezeichnungen gab, die Verwendung eines generischen Femininums mit dem Suffix -innen. Letzteres diente dazu, Frauen und Menschen mit einer nichtbinären Geschlechtsidentität explizit miteinzubeziehen und sexistische Stereotype für die Lesenden und Hörenden sichtbar bzw. hörbar zu machen.
Magnus ließ sich am Rande des Waldes auf einem Felsbrocken nieder. Er schaute auf das undurchdringliche Gewirr von Bäumen und Unterholz vor ihm. Der Moment, auf den er so lange gewartet hatte, war endlich gekommen. Sein hartes Training hatte sich ausgezahlt – die Push-ups morgens um sechs, die gesunde Ernährung, das Judo, das Yoga, das Fechten. Magnus de Koning der Jüngere von Amsterdam war in Topform. Es konnte nichts mehr schiefgehen. Allerdings wäre es vielleicht vernünftiger gewesen, er hätte gestern Abend nicht so lange mit Bodo und Nixo in der Hotelbar gesessen und Spicer getrunken. Was hatte er sich dabei bloß gedacht? Wie viele hatte er getrunken, drei? Moment! Er hatte die Runden doch in seinen BB eingetragen.
Magnus aktivierte seinen Brain Button. Er klickte die Tagebuchfunktion an und las seinen Eintrag vom gestrigen Abend: Magnus hatte einen Espresso, ein zwei Marswasser und drei vier fünf Spicer.
Fünf also. Mist. Eindeutig zu viel.
Er spürte, dass er Kopfschmerzen bekam, ein winziger stechender Schmerz an seiner linken Schläfe. Wo waren die kleinen rosa Mind-Binders, die er neulich gekauft hatte? Hektisch kramte er in seinen Taschen nach den Pillen – da! Er nahm eine und legte sie sich unter die Zunge. Sie schmeckte nach Kirsch, war aber so sauer, dass er das Gesicht verziehen musste, doch er spürte beinahe sofort, wie sich der Nebel in seinem Kopf lichtete.
Er rollte den Kopf ein paar Mal nach rechts und links und hörte, wie es in seinem Nacken knackte. Er seufzte. Jetzt, wo er wieder klar denken konnte, merkte er, dass er auch etwas für seine Nerven brauchte. Ärgerlich, dass er keine Chill-Pill dabeihatte.
Wie spät war es eigentlich? Magnus klickte in seinem Brain Button nach der genauen Zeit. 13:29. Okay. Seine Kumpels Bodo und Nixo würden erst in einer halben Stunde kommen. Hatte er soweit alles? Er checkte sein Laserschwert. Es war geladen und auf Stand-by. Er bückte sich und überprüfte die Schnallen an seinen Stiefeln. Sie saßen fest. Er inspizierte die Stiefelschäfte – sie waren staubfrei und glänzten. Er fuhr sich mit der Zunge über die Zähne, falls dort noch Krümel vom Frühstück steckten. Alles gut.
Magnus machte sich auf dem Stein etwas gemütlicher, dann zog er eine Flasche aus seinem Rucksack und nahm einen Schluck Wasser. Schon besser. Okay. Und jetzt? … Vielleicht sollte er sich die Geschichte noch mal anhören, zur Einstimmung. Er konnte sich noch entsinnen, als er sie das erste Mal gehört hatte. Er fand sie so toll. Die Frauen und Männer, die sich um ihn gekümmert hatten, die Nannys und Nandys, hatten den Kindern in seinem Near & Dear vor dem Schlafengehen immer gern vorgelesen. Er erinnerte sich gern daran. Und schon damals war seine Lieblingsgeschichte Es war einmal in der fernen Zukunft gewesen. Das Beste daran war, dass es sich um eine wahre Geschichte handelte.
Magnus aktivierte wieder seinen BB, tippte mit seinen Gedanken Z-u-k-u-n-f-t im Suchfenster des Rasters ein. Es war einmal in der fernen Zukunft wurde angezeigt, und er klickte darauf. Sein BB spielte ihm die Geschichte vor, und er hörte sie in seinem geistigen Ohr:
Es war einmal in der fernen Zukunft – ein Märchen.
In alten Zeiten, nur wenige Jahre nach der Jahrtausendwende, lebten ein Mann und eine Frau. Sie –
Magnus hielt die Lesung an. Ihm gefiel die Stimme des Erzählers nicht. Es war eine junge männliche Stimme mit Mandarin-Akzent. Magnus mochte Mandarin, aber der Akzent passte nicht zu dieser Geschichte. Er klickte auf Einstellungen und wechselte zu einer reifen weiblichen Stimme mit einem leichten nordamerikanischen Akzent. Sie erinnerte ihn an seine Lehrerinnen auf dem Schul-Kanal.
Es war einmal in der fernen Zukunft – ein Märchen.
In alten Zeiten, nur wenige Jahre nach der Jahrtausendwende, lebten ein Mann und eine Frau. Sie hießen Mr. und Mrs. Sheen und wünschten sich nichts mehr als ein Kind. Doch was sie auch taten und wie sehr sie es auch versuchten, sie bekamen doch keines.
Magnus grinste und hielt die Geschichte wieder an. Er überlegte, ob «was sie auch taten» vor zweihundert Jahren wohl dasselbe gewesen war wie heute. In zwei Jahrhunderten würde sich diese Angelegenheit wohl nicht so sehr verändert haben, oder? Und dann fragte er sich, was wohl mit «wie sehr sie es auch versuchten» gemeint sein konnte. Hatten sie es schneller getan? Oder wilder? Oder einfach nur öfter? Hatten sie besondere Kleidung getragen oder irgendwelche Hilfsmittel benutzt? Wenn ja, welche? Als Kind hatte er sich so etwas nie gefragt. Aber jetzt mit einundzwanzig dachte er viel über solche Dinge nach – sehr viel.
Endlich fand ein Urologe namens Dr. Froschmaier den Grund für ihre Kinderlosigkeit heraus. Die Spermien des Mannes waren einfach zu langsam. Also verschrieb Dr. Froschmaier ihm ein Medikament und sagte zu den Sheens: «Euer Wunsch wird euch erfüllt werden. Bevor ein Jahr um ist, werdet ihr ein Kind bekommen. Habt Vertrauen.»
Bald darauf – siehe da! – wurde die Frau tatsächlich schwanger, und neun Monate später gebar sie eine Tochter. Und was für eine süße Tochter es war! Der Mann und die Frau nannten sie Dawn, wie der neue Tag, denn für die beiden hatte wirklich eine neue Zeit, ein neues Leben begonnen. Ihr zweiter Vorname war Rose, wie das erste rosige Licht der Morgenröte.
Die Eltern waren so froh über ihre Tochter, Dawn, dass sie beschlossen, ihr Glück mit einem großen Brunch zu feiern, zu dem Familie, Freundinnen und Nachbarinnen eingeladen waren. Doch als der Tag kam, ein Sonntag, und die Gäste gegen Mittag in der Wohnung der Sheens eintrudelten, wirkte die kleine Dawn krank. Ganz reglos lag sie in den Armen ihrer Mutter. Mr. Sheen hastete hinunter zum ersten Stock des Hauses und bat eine Nachbarin, eine stadtbekannte Kinderärztin, streng, aber weise, nach dem Baby zu sehen. Obwohl es ein Sonntag war und die Sheens sie nicht einmal zu ihrer Feier eingeladen hatten, weigerte sich die Ärztin nicht, ihren hippokratischen Eid zu erfüllen.
Als die Ärztin das Baby untersucht hatte, war ihr Gesicht ganz bleich geworden. Sie vermutete eine schwere Erkrankung. Dawn Rose wurde eiligst ins Krankenhaus gebracht.
Ein paar Tage und zahlreiche Untersuchungen später war aus der Vermutung der Kinderärztin traurige Gewissheit geworden. Bei Dawn wurde ein schwerer Herzfehler diagnostiziert. Das Kind würde seinen 18. Geburtstag nicht erleben.
Es war eine schreckliche Prophezeiung. Mr. und Mrs. Sheen waren verzweifelt. Sie hatten Angst. Und sie waren zutiefst traurig. Ihr kleines, perfektes Mädchen sollte an einer tödlichen Krankheit leiden? Sie weigerten sich, die Meinung der Ärztinnen zu akzeptieren, und brachten ihre Tochter zu anderen Weisen, um weitere Meinungen einzuholen. Insgesamt befragten sie zwölf Spezialistinnen, doch alle sagten den armen Eltern dasselbe: Dawn Rose Sheen würde ihren achtzehnten Geburtstag nicht erleben.
Magnus klickte auf Pause und nahm noch einen Schluck Wasser. Das Leben im frühen 21. Jahrhundert musste schrecklich gewesen sein mit all den Krankheiten, von denen so viele nicht geheilt oder verhindert werden konnten. Heute starb man meist durch Unfälle oder an Altersschwäche. Hin und wieder hörte man auch von gewalttätigen Auseinandersetzungen in abgelegenen Gemeinden, wo die einen oder anderen an schweren Verletzungen starben, weil sie nicht schnell genug Hilfe bekamen. Aber im Großen und Ganzen hatte man alle Krankheiten unter Kontrolle. Wenn Magnus lang genug lebte, würde er vielleicht zu den Glücklichen gehören, die unsterblich würden.
Jahre vergingen. Das Mädchen wuchs heran, aus dem Baby wurde ein Kind. Dawn war liebenswert und wunderschön, klug, tugendhaft, sanft und freundlich. Doch sie war auch sehr krank. Sie litt unter chronischer Müdigkeit. Wenn sie zu schnell lief, bekam sie Atemnot. Ihr Puls raste. Oft wurde ihr schwindelig.
Trotz ihrer Krankheit war Dawn Rose voller Hoffnung. «Bestimmt finden sie bald eine Heilmethode für die Krankheit», sagte sie immer.
Ihre Eltern hatten ihr nicht die ganze Wahrheit über ihre Krankheit erzählt. Hätte Dawn gewusst, dass sie ihren achtzehnten Geburtstag nicht erleben würde, wäre sie sicherlich nicht so optimistisch gewesen.
Eines Tages, als Dawn Rose siebzehn Jahre alt war und allein zu Hause, klingelte es an der Tür. Es war eine Frau in schlichtem Kostüm und festem Schuhwerk. Sie hätte einen Termin mit Mr. und Mrs. Sheen, meinte sie. «Das müssen meine Eltern wohl vergessen haben», sagte Dawn. «Nicht schlimm», sagte die Frau, sie würde einen neuen Termin vereinbaren und noch einmal wiederkommen. Sie legte eine Broschüre und ihre Visitenkarte auf die Kommode im Flur und verschwand.
Neugierig nahm Dawn Rose die Broschüre mit zum Sofa. Vorne drauf war ein modernes Gebäude aus Stahl und Glas zu sehen, umgeben von hohen Tannen. Es war eine Forschungseinrichtung namens ALYA. Dawn Rose begann zu lesen.
ALYA, benannt nach einem schwachen Doppelsternsystem, ist eine gemeinnützige Stiftung, die die Technik der Kryonik – das Einfrieren von menschlichen Körpern und Gehirnen in flüssigem Stickstoff nach dem Tod – befürwortet, erforscht und ausübt. Dahinter liegt die Hoffnung, dass diese Menschen in der Zukunft, wenn neue Technologien, vor allem molekulare Nanotechnologie, entwickelt und bestimmte Erkrankungen nicht mehr unheilbar sind, mit voller Gesundheit wiederbelebt werden. Wir bei ALYA wissen, dass Unsterblichkeit nur eine Frage der Zeit ist.
Hätte Dawn Rose es vorher nicht geahnt, so wusste sie es spätestens jetzt, dass sie bald sterben würde. Der Schock darüber war grauenhaft. Doch noch schlimmer fand sie die Vorstellung, in irgendeiner fernen Zukunft zu erwachen und in einer fremden Welt leben zu müssen, ohne die Freundinnen und die Familie um sie herum, die sie liebte. Würde sie überhaupt sie selbst sein? Würde sie ihre Erinnerungen behalten? Ihre Seele? Ihren eigenen Körper?
Lange saß Dawn dort auf dem Sofa, allein und verzweifelt – bis es ihr in den Sinn kam, dass die Vorstellung zwar schrecklich war, es aber vielleicht sinnvoller war, sich einfrieren als sich begraben oder verbrennen zu lassen. Diese beiden Alternativen waren nicht mehr umkehrbar.
Als Mr. und Mrs. Sheen nachmittags nach Hause kamen, hatte Dawn Rose einen Entschluss gefasst. Sie würde sich einfrieren lassen, jedoch nur, wenn ihre Eltern ihr versprachen, es ebenfalls zu tun, sobald ihre Zeit gekommen war. Sie brauchte sie, und sie brauchten ihre Tochter. Wenn sie in der Zukunft alle wiederbelebt würden, dann hätten sie wenigstens einander. Dieser Gedanke war ihr ein großer Trost.
Nach langen Diskussionen willigten Mr. und Mrs. Sheen ein. Ja, sie würden sich ebenfalls kryokonservieren lassen, wenn sie starben.
In den Monaten danach wurde Dawn Rose zunehmend schwächer. Mit der wenigen Kraft, die sie noch hatte, bereitete sie sich auf das Unvermeidliche vor. Ein Onkel baute ihr für ihre persönlichen Dinge eine Kiste aus rotem Zedernholz. Dawn füllte sie mit lauter Erinnerungsstücken: Lieblingsbücher, Puppen, Tagebücher, Kleidungsstücke, Fotos von ihr in jedem Alter, Fotos von Freundinnen und ihren Eltern und Verwandten. Wenn sie in irgendeiner Zukunft erwachte, sollten diese kostbaren Dinge ihr dabei helfen, sich daran zu erinnern, wer sie einmal gewesen war.
Auch Dawn Roses Krankenakten und zahnärztlichen Unterlagen kamen in diese Kiste. Die junge Frau wurde von oben bis unten gemessen, jedes Glied und jeder Fingernagel. Alles wurde zu den Akten gelegt – wie groß sie war und wie viel sie wog, ihre Leberflecken wurden gezählt, auch die Entfernung von ihrer Schulter bis zur Spitze des kleinen Fingers wurde festgestellt. Denn wer konnte wissen, ob vielleicht Körperteile ersetzt oder neue Organe eingepflanzt werden mussten? Diese Daten waren unverzichtbar.
Kurz vor ihrem achtzehnten Geburtstag verschlechterte sich der Zustand der schönen Dawn Rose. Sie wusste, das Ende nahte. Mr. und Mrs. Sheen baten die Fachleute der ALYA-Stiftung zu kommen. Sie richteten sich mit ihrer Ausrüstung im Wohnzimmer ein, damit sie im Moment, wo das Mädchen für tot erklärt wird, sofort mit dem Konservierungsprozess beginnen könnten. Geschwindigkeit war von äußerster Wichtigkeit.
Zwei Tage vor ihrem achtzehnten Geburtstag legten Mr. und Mrs. Sheen sich neben ihre sterbende Tochter, ihr wunderschönes Kind, das ihnen so viele Jahre solche Freude bereitet hatte. Und so verbrachte Dawn die letzten Stunden ihres kurzen Lebens behütet zwischen ihren Eltern, die sie beide an der Hand hielten. Sie flüsterten ihr zu, wie sehr sie sie liebten, während ihre Tränen auf Dawns Wangen fielen. Sie atmeten sanft und ruhig, einmal ein, einmal aus, hielten ihre Hand und konnten nichts anderes, als zu warten, dass sich die Prophezeiung erfüllte. Oh, könnten sie ihrer Tochter doch ihren Atem, ihr eigenes Leben schenken! Doch das konnten sie nicht.
In den frühen Stunden des neuen Tages, als die Sonne ihren ersten rosa Schimmer über den Horizont schickte, schloss Dawn Rose Sheen die Augen, tat ihren letzten Atemzug und versank in einem tiefschwarzen unendlichen Nichts – bis einmal in einer fernen Zukunft ein Prinz sie wachküsst und den Bann für immer brechen wird.
Die Geschichte war zu Ende. Magnus de Koning der Jüngere weinte, wie immer bei dieser Geschichte. Er schaute sich verstohlen um, ob jemand in der Nähe war. Doch zum Glück war er noch allein. Er suchte in seinem Rucksack nach einem Taschentuch, das er für solche Momente immer dabeihatte, wischte sich die Tränen ab und putzte sich die Nase. Die letzte Szene der Geschichte war wirklich – wow. Diese altmodische Vorstellung von Familie – Vater, Mutter, Kind – berührte ihn zutiefst. Wie die drei nebeneinander liegen, sich an den Händen halten, wie die Eltern ihr Kind beschützen, gemeinsam auf das Unvermeidliche warten, das ging ihm richtig ans Herz. Die Geschichte zog ihn jedes Mal in ihren Bann und ließ ihn einfach nicht mehr los.
Er fragte sich, wie es wohl sein würde, in einer Familie aufzuwachsen und nicht in einem Near & Dear, wie es heutzutage üblich war. Ja, seine Eltern hatten ihm das Leben geschenkt und waren deshalb etwas Besonderes, aber seine Erziehenden waren natürlich auch etwas Besonderes. Nanny Annie und Nandy Davey waren in seiner Kindheit sogar präsenter in seinem Leben als seine Eltern. Und seinen Kumpeln, seinen Großcousins Nixo und Bodo, mit denen er im Near & Dear aufgewachsen war, fühlte er sich eng verbunden. Aber zählten sie als Familie?
Als sie Kinder waren, wollten sie alle der Prinz sein, der die berühmte schlafende Schönheit wachküsst. Siebzehn Jahre war das her, dass die drei Freunde von ihr gehört hatten. Forschende hatten die Familie Sheen in einem längst vergessenen Lager der ALYA-Stiftung entdeckt. Sie hatten zwei Jahrhunderte lang in flüssigem Stickstoff gelegen. Bei ihrer Entdeckung hieß es, dass man innerhalb der nächsten zwanzig Jahre in der Lage sein würde, die Familie mithilfe neuer Methoden der Kryotechnik zum Leben zu erwecken. Sie würden aufgetaut, an lebensrettende Maschinen angeschlossen und wiederhergestellt werden. Man würde alte Organe gegen neue austauschen, ihre Erinnerungen optimieren und ihre Krankheiten kurieren. Und dann würde man sie schließlich aufwecken.
Heute, dachte Magnus, fast zweihundert Jahre nach ihrem Tod, würde er es nun sein, der die schlafende Schöne erweckte. Viele andere hatten sich für diese Aufgabe beworben, waren aber gescheitert. Er würde nicht scheitern.
Magnus musste an Dawn Rose denken. Wie mutig sie gewesen war. Was für einen starken Charakter sie besaß. Er konnte ihr nicht das Wasser reichen, das wusste er. Doch er war hier. Und würde sie wachküssen.
Er stand auf und schaute hinein in den dunklen, abweisenden Wald vor ihm. Baumstämme und Äste, Sträucher, Dornenranken und Disteln kämpften miteinander um den Platz, rangen miteinander um Licht und verweigerten ihm das Durchkommen. Aber er würde es schaffen, da war er sicher. Er war der Auserwählte.
Hinter sich hörte er Schritte. Es waren Bodo und Nixo, seine besten Freunde. Er überprüfte schnell noch einmal sein Laserschwert und seine Stiefel. Sein Rucksack lag flach und eng an seinem Rücken. Er war bereit.
«Wir sind bei dir, Kumpel», sagte Bodo und gab Magnus einen Faustgruß.
Nixo drückte Magnus an seine breite Brust. «Wird Zeit, dir das Mädchen zu holen. Mach uns keine Schande, Alter.»
Magnus war froh, dass seine Kumpels bei ihm waren. Die drei Männer streiften ihre Handschuhe über und klappten die Visiere ihrer Helme herunter. Magnus’ Laserschwert war mit seinem Brain Button verbunden. Er aktivierte es und deutete auf einen breiten Knäuel von dichtem Buschwerk zwischen zwei Bäumen.
Die drei standen dicht zusammen und warteten darauf, dass Bodo, der die Uhrzeit im Blick hatte, ihnen das Startzeichen gab.
«Drei. Zwei. Eins. Action!», sagte Bodo.
Magnus schwang sein Schwert, und der Laserstrahl schnitt durch das dichte Dornengebüsch, als wären es Pusteblumen. Bodo und Nixo taten es ihm an seiner Seite gleich. Zusammen schlugen sie sich so schnell sie nur konnten den Weg durch den Dornenwald. Es war leichter, als Magnus erwartet hatte, wenn auch enorm anstrengend. Doch mit jedem Schritt wurde es schöner im Wald. Je tiefer sie eindrangen, desto mehr Blumen blühten um sie herum. Der süße Duft von Rosen und Flieder, von Lavendel und Jasmin und sogar Äpfeln erfüllte die Luft. Es war betörend.
Schon bald lag der Wald hinter ihnen, und vor ihnen erhob sich ein Bauwerk aus Glas und Stahl. Es spiegelte die Bäume und Blumen wie ein magisches Kaleidoskop und schillerte im Sonnenschein.
Hatten Sie es geschafft? Waren sie wirklich da?
Die drei Männer sahen sich ungläubig an, dann umarmten sie sich und gratulierten einander. Doch schnell lösten sie sich voneinander. Es lag noch eine Aufgabe vor ihnen. Der Gig war noch nicht zu Ende.
Magnus schritt selbstbewusst auf das Gebäude zu, Bodo und Nixo dicht hinter ihm, und trat in die kathedralenartige, von Sonnenlicht durchflutete Halle. Sie gingen bis zu einem gläsernen Kubus in seiner Mitte. Darin lag die Schöne wie eine antike römische Skulptur, eine schlafende Venus auf einem Podest aus kristallklarem Glas. Doch sie lebte. Magnus sah, wie sich ihre Brust bei jedem Atemzug hob und senkte. Sie war nur einen Kuss davon entfernt, wieder aufzuwachen.
Als er näher kam, fand er, dass das Mädchen tatsächlich das schönste Geschöpf war, das er je gesehen hatte. Ihre Lippen waren voll und rot, ihre Wangen rosig, ihre schwarzen Haare glänzten wie Seide und ihre makellose Haut schimmerte wie Alabaster. Ihr langer, schlanker Körper zeichnete sich unter einer rubinroten Satinrobe ab.
Das Herz von Magnus de Koning dem Jüngeren schlug so wild, dass er sich die Hand auf die Brust presste, um es zu beruhigen. Er trat dicht an das Podest, kniete sich neben die schlafende Schöne, betrachtete sie einen Moment, dann beugte er sich langsam vor, senkte den Kopf … und küsste sie.
Ihr Mund war weich. Und warm. Seine Lippen ruhten einen Moment auf ihren, dann streifte er mit seinem Mund ganz sacht über ihre Wange und atmete ihre Schönheit ein. Schließlich richtete er sich auf und wartete, dass sie die Augen aufschlug.
Er wartete. Und wartete. Doch ihre Augen blieben geschlossen. Nach etwa einer Minute ahnte er, dass etwas nicht in Ordnung war. Wieso war sie nicht –
«Schnitt!», dröhnte eine Stimme von oben.
Magnus fuhr zusammen.
«Schnitt?», fragte Bodo.
«So eine Scheiße!», rief Nixo.
Magnus schaute hinauf zu den Stahlträgern. «Was ist los?», sagte er zu der Stimme. «Warum schläft sie denn weiter? Wir sind doch die Ersten, oder nicht?»
«Ja. Glückwunsch, Magnus!», sagte die Stimme. «Super gemacht! Du bist der Erste! Deine Konkurrenten stecken noch zum Teil in den Dornensträuchern fest. Das ist das totale Chaos dahinten. Ein Blutbad. Wir mussten sogar einen ins Krankenhaus schicken. Ein Team fährt mit. Wir haben alles auf Band. Sensationelle Aufnahmen.»
Magnus fragte sich, warum der Direktor so laut über das Soundsystem mit ihnen reden musste. Er hätte ebenso gut und deutlich leiser über ihre Brain Buttons kommunizieren können. Vermutlich irgend so ein Machtspielchen, dachte er.
«Warte mal ’ne Sekunde, Magnus, okay?», redete der Regisseur weiter. «Mein Assistent kommt gleich runter.»
Ein junger Mann tauchte hinten im Studio auf.
«Scheiße», murmelte Nixo. «Was will der denn jetzt?»
Der Regieassistent kam auf Magnus zu. Er trug etwas unter dem Arm. «Sorry, Freundchen», sagte er unnötig laut, dann klappte er einen Stuhl auf und stellte ihn ziemlich laut neben der schlafenden Schönen hin. «Die Fachleute drüben im Kryolabor hatten ein Problem. Irgendeine Störung mit der Wiederbelebungssynchronisation. Setz dich doch. Dauert ein bisschen. Willst du was trinken?»
Magnus schüttelte den Kopf. «Nein, danke. – Aber sie wird doch aufwachen, oder?»
Der Regieassistent zuckte die Schulter. «Das ist der Plan. Aber das hier ist eine Realityshow, Mann. Wer weiß, was passieren kann! Das ist dir, hoffen wir, doch klar, oder?»
Magnus nickte. Natürlich wusste er, auf was er sich eingelassen hatte, als er sich für diese Realityshow bewarb, auch wenn er nicht wirklich geglaubt hatte, dass die Jury ihn tatsächlich auswählen würde. Aber sie hatten ihn ausgewählt. Sein Aussehen gefiel ihnen, seine Ausstrahlung, seine Entschlossenheit. Dass er später Cyborg-Psychiater werden wollte. Und dass er gern etwas so retro wie Erzählungen hörte. Er schien der perfekte Partner für jemanden wie Dawn Rose Sheen, die ja selbst retro war und außerdem mittlerweile ein halber Cyborg. Von 1687 Bewerbern hatte man zehn ausgewählt, und schließlich waren nur noch drei übrig gewesen. Und jetzt hatte er, Magnus de Koning der Jüngere von Amsterdam, es bis hierhin geschafft. Sein Preis war ein vollfinanzierter Platz an der Universität seiner Wahl, im Fach seiner Wahl. Außerdem würde er das Mädchen kriegen – zumindest würde er an erster Stelle stehen, ihr Herz zu gewinnen.
Der Regieassistent wandte sich an Bodo und Nixo. «Wartet diesmal auf das Stichwort von uns, okay? Und keine Schimpfwörter, verstanden?»
Bodo und Nixo lachten.