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Man schreibt das Jahr 2264. Gefühle sind unerwünscht, die Liebe ist ausgestorben. Die Geburtenrate ist gefährlich gesunken. Der junge Historiker und Sprachwissenschaftler Finn Nordstrom, Spezialist für die inzwischen tote Sprache Deutsch, erhält den Auftrag, die 250 Jahre alten Tagebücher eines jungen Mädchens aus dem Berlin des 21. Jahrhunderts zu übersetzen. Öde, findet er. Und albern. Doch dann ist er zunehmend fasziniert von dem Mädchen, das quasi vor seinen Augen erwachsen wird. Schließlich soll Finn in einem Virtual-Reality-Spiel in der Zeit zurückreisen, um das Mädchen zu treffen. Ohne es zu wissen, wird er damit zum Versuchskaninchen der Spieleentwickler. Warum schicken sie ausgerechnet ihn, den Fachmann für tote Sprachen, in die Zeit kurz vor Ausbruch der Großen Epidemie? Und was ist das für ein sonderbares Gefühl, das ihn überkommt, wenn er der jungen Frau begegnet? Bald muss Finn sich entscheiden – für die Liebe oder für die Zukunft ...
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Seitenzahl: 487
Holly-Jane Rahlens
Everlasting
Der Mann, der aus der Zeit fiel
Roman
Für Noah und seine Zukunft…
«Everlasting» wurde 2265 in nordamerikanischem Englisch (NAE) verfasst. Die folgende Übertragung ins Deutsch des frühen 21.Jahrhunderts entstand als Übersetzungsübung im Rahmen des Fachseminars «Die toten Sprachen und ihre Kulturen– Deutsch, Teil II». Einige englischsprachige Begriffe wurden im Original belassen, da es nicht möglich war, adäquate deutsche Äquivalente zu finden. Die Übersetzerin dankt ihrem Mentor, Dr.Nelhar N.Suiled, für seine Hilfe bei der Entschlüsselung einiger schwieriger Passagen und Wörter.
Bella Tema Mo Wald
Fachbereich Andere Sprachen/EU Berlin
4.Juni 2450
Finn setzte den Moon Zoomer auf und schaute in den tiefen Nachthimmel. Zwischen den schwach glitzernden Sternen konnte er einen Space-Racer ausmachen, der Geologen zum Mars brachte. Oder waren sie auf dem Weg nach Hause? Aus dieser Entfernung war das schwer zu erkennen. Oh! – die Scheinwerfer des Racers blinkten grün. Vielleicht ein Grußsignal für den Sonnenkreuzer weiter rechts, vollbesetzt mit Bungee-Jumpern, vermutete Finn. Er mochte sie nicht, diese Sprünge in die Schwerelosigkeit, diese Suche nach dem ultimativen kosmischen Kick.
Sehr viel tiefer schwebte der Elf-Uhr-Citygleiter. Er flog eine geräuschlose Schleife landeinwärts und segelte über Finn hinweg, ehe er hinter ihm, auf der anderen Seite der Bucht, sanft auf dem Long Island Metroport landete.
Und das Meer rauschte weiter. Die Wellen rollten heran. Und wieder hinaus. Vor und zurück. Das Wasser stieg. Und fiel.
Die Luft war noch bleiern von der Hitze des Tages, von Salz, Gischt und dem Duft von Jasmin im Nachbarsgarten. Finn glaubte, glatt einschlafen zu können, gleich hier am Strand, unter den Sternen – so müde war er. Aber dann huschte ihm ein Krebs über den nackten Fuß. Und dann noch einer. Irgendwas musste sie aufgeschreckt haben. Finn hörte, wie sich leise Schritte näherten. Das Rascheln von Stoff. Er drehte sich um… und da stand Rouge.
«Oh!», keuchte sie erschrocken, doch dann lachte sie auf. «Finn! Was in aller Welt trägst du da im Gesicht? Das sieht ja gespenstisch aus!»
Finn stand auf und zog sich den Moon Zoomer vom Kopf. «Entschuldigung. Dein Besuch kommt etwas überraschend.»
Rouge ließ ihre Sandalen in den Sand fallen. Sie begrüßten sich mit Wangenküssen rechts, links und wieder rechts. Aber irgendwie herrschte eine gewisse Verlegenheit zwischen ihnen. Finn mochte keine Überraschungen, nicht einmal so hinreißende wie Rouge Marie Moreau, so elegant, so schön, eine langstielige Rose auf diesem verlassenen Streifen Strand von Fire Island.
«Ist nicht leicht, dich zu finden», sagte sie und strich sich Haarsträhnen aus den Augen. Ah, diese Augen! Stahlgrün und scharf. «Stimmt was nicht mit deinem Brain Button?» Im Mondlicht schimmerten ihre Locken metallisch, metallisch rot, wie Kupfer.
Finn schüttelte den Kopf. «Nein. Der ist abgeschaltet. Alles ist für ein paar Tage abgeschaltet.»
«Alles?», fragte sie.
Er nahm einen feinen, verführerischen Unterton in ihrer Stimme wahr. Sie waren einmal ein Paar gewesen. Die Affäre war schon nach kurzer Zeit wieder zu Ende gewesen – er hatte das Gefühl gehabt, dass sie als Partner schlecht zueinander passten–, aber sie waren Freunde und sogar Wohngenossen geblieben. Doch in letzter Zeit glaubte Finn eine leichte Veränderung in ihrem Verhalten wahrzunehmen. Waren das Annäherungsversuche? Oder bildete er sich das nur ein?
Rouge schien seine Zurückhaltung zu spüren. «Was ist das denn für ein Ding?», fragte sie, um das Thema zu wechseln.
«Ein Moon Zoomer», sagte er. Er wiederholte das Wort noch einmal – Moon Zoomer–, und ließ sich den Binnenreim auf der Zunge zergehen.
Rouge dagegen schien ihn gar nicht zu bemerken.
«Der hat Mannu gehört», erklärte er. «Ein Geschenk von unserem Vater. Vor vielen Jahren. Er lag in einer von Mannus Schubladen.» Finn reichte Rouge das Gerät und zeigte auf einen Schriftzug innen am Rahmen. «Siehst du? Da steht: ‹Made in USA›. Also muss er auf jeden Fall vor 2095 hergestellt worden sein. Unser Vater meinte, so um 2030.»
«Hm», machte Rouge und betrachtete die klobig aussehende Brille. «Über 230Jahre alt. Mitten im Dark Winter hergestellt.» Sie musterte das Teil, drehte und wendete es in den Händen. «Die Hälfte der Weltbevölkerung lag im Sterben, und die Amis suchten noch immer fröhlich nach neuen Welten.»
«Na und?», entgegnete Finn mit einer gewissen Schärfe. Gerade bei Rouge fühlte er sich häufig genötigt, sein Heimatland verteidigen zu müssen. Er betrachtete sich selbst gern als Kontinentaleuropäer, aber jetzt musste er schon wieder eine Lanze für die Nordamerikaner brechen. «Sie glaubten, diese Welt sei am Ende. Warum dann nicht nach neuen suchen?»
«Touché», sagte Rouge und widmete sich dann wieder der Brille. «Funktioniert das Ding denn noch?»
«Ja», sagte er. «Mehr oder weniger. Aber nur bis zu einer maximalen Entfernung von 400000Kilometern. Vor ein paar Minuten war ein Space-Racer in der Nähe von Alpha Sextantis zu sehen. Aber es war nicht zu erkennen, ob er sich auf dem Hin- oder Rückflug befindet.»
«Mit den Teleskop-Programmen für unsere BBs sehen wir doch um Klassen besser. Mit Skyze, C-Stars, Astro–»
«Rouge, es ist bloß ein Gag», sagte er, wie so oft verwundert über ihren Mangel an Humor. «Es war ein Spielzeug. Für Kinder.» Er lächelte sie an. «Komm, möchtest du ihn mal aufsetzen?»
Sie schüttelte den Kopf. «Nein. Danke. Nein.» Sie blickte nach oben in den Nachthimmel.
Ob er sie gekränkt hatte? Aber nein, sie versuchte nur, den Space-Racer mit ihrem Brain Button zu orten. «Kannst du ihn sehen?»
«Ja. Da ist er.»
Finn war beeindruckt. Rouge war die mit Abstand schnellste BB-Impulsträgerin, die er kannte. Nahezu genial.
«Er ist auf dem Rückflug. Er kommt auf uns zu», meldete sie. Dann fing sie Finns Blick auf. «Wie geht’s dir, Finn?»
Er holte tief Luft und schaute aufs Meer hinaus. «Es ist schwer», sagte er schließlich. «Vor allem, Lulu und Mannu zu verlieren. Wir standen uns so nah, wir drei. Unsere Eltern haben ja immer viel gearbeitet, und als Lulu noch ein Kleinkind war, haben wir für sie gesorgt. Sie hat uns Manny und Fanny genannt.»
«Fanny?», sagte Rouge amüsiert. «Das passt ja gar nicht zu dir.»
Finn zuckte die Achseln und blickte nach unten, wo er mit dem Fuß gegen einen Stein gestoßen war. Er hob ihn auf, und darunter kam eine Libelle zum Vorschein. «Huch! Was macht die denn da?» Die Libelle umkreiste sie mit schwirrenden phosphoreszierenden Flügeln und flog dann davon. «Lulu hat immer versucht, Libellen zu fangen, als sie klein war. Sie hat gequietscht wie ein wildes Ferkel, wenn sie hinter ihnen herrannte. Jetzt ist das Haus so furchtbar still ohne sie. Sie war ein richtiges Plappermäulchen. Den ganzen Tag ging es yakety-yak.»
«Yakety-yak?», fragte Rouge nach. Sie hätte die Bedeutung des Wortes sekundenschnell mit ihrem BB finden können, aber sie wusste, wie sehr es Finn genoss, ihr kleine Pralinen der historischen englischen Sprache zu servieren.
Er lächelte. «Nordamerikanisch, um 1950, es bedeutet: unaufhörlich reden. Abgeleitet von dem Verb ‹to yack›, Herkunft unbekannt. Möglicherweise ahmt es das Geräusch von Geplapper nach.»
«‹Yakety-yak›», kicherte sie. «Hört sich wirklich wie Geplapper an.»
Finns Blick glitt wieder aufs Meer. «Lulu wird vermisst. Schmerzlich. Sie werden alle vermisst.» Er musterte den Stein, den er noch immer in der Hand hielt, dann warf er ihn. Er sah, wie sich das verzerrte Spiegelbild des Mondes auf der Wasserfläche kräuselte, als der Stein über die Wellen hüpfte und dann versank. «Mannu konnte richtig gut Steine werfen. Wir haben oft hier gestanden und um die Wette Steine übers Wasser hüpfen lassen. Er hat immer gewonnen.»
Rouge schwieg, wartete, dass er weitersprach.
«Wenn die See glatt war», sagte er und sah wieder auf das mondbeschienene Meer, «hüpfte sein Stein zehn oder sogar fünfzehn Mal hintereinander. Manchmal sogar noch öfter. Und alle Mädchen am Strand sind fast in Ohnmacht gefallen, wenn sie ihn sahen.» Er schaute zu Rouge hoch. «Es war nicht leicht, mit ihm mitzuhalten. Aber dieser Bruder hat ihn verehrt. Bedingungslos.» Finn versuchte ein Lächeln, gab es dann aber auf und biss sich auf die Lippe. «Niemand sollte mit sechsundzwanzig schon seine ganze Familie verlieren. Tot. Alle vier. Von einer Sekunde auf die nächste!»
Rouge atmete tief ein.
«Vollwaise», sagte er empört. «Finn Nordstrom, Vollwaise.»
Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. Er spürte ihre Wärme durch sein dünnes Shirt.
«Sollen wir reingehen?», fragte sie.
«Lass uns noch ein bisschen hier draußen sitzen bleiben.»
Rouge trug ein leichtes Sommerkleid, hauchdünn, durchwirkt mit schimmernden blauen und grünen Metallfäden. Es war tief ausgeschnitten, sodass ihr Dekolleté im Mondlicht zu sehen war und ihre Brüste fast aus dem Oberteil quollen. Finn bemerkte einen braunen Schönheitsfleck auf der blassen Haut, direkt über der rechten Brust. War ihm das Muttermal einfach noch nie aufgefallen, oder hatte sie es sich kürzlich für eine Nacht wie diese machen lassen? Er schaute weg.
Rouge raffte den Stoff ihres Kleides zusammen und ließ sich auf den Sand nieder, streckte die langen, endlos langen Beine aus und zog sie dann artig an den Körper. Das alles machte sie in einer einzigen anmutigen und zugleich sparsamen Bewegung, dass Finn an jene antiken Klappmesser aus Solingen denken musste, die im Museum der Europäischen Kulturen ausgestellt waren, nicht weit von seiner Wohnanlage in Berlin. Faszinierend.
Er musste lächeln. Was für ein Vergleich! Aber Rouge hatte wirklich schon immer etwas Gefährliches, beinahe Raubtierhaftes an sich gehabt, ganz so als wäre sie kurz davor, ihn in eine Falle zu locken, ihn mit ihren langen Gliedmaßen zu fangen und bei lebendigem Leibe zu verspeisen.
«Du lächelst», stellte Rouge fest.
«Was führt dich eigentlich her?», wollte er wissen.
«Ein Gefallen. Für deine Universität. Für die Bibliothek.»
«Die Universität Greifswald? Die haben dich geschickt? Hierher?»
«Sie sind in Sorge, du könntest kündigen. Und nach Nordamerika zurückgehen.»
«Recht so!», sagte er. «Die letzten drei Monate haben diesen Übersetzer regelrecht bonkers gemacht!»
«Bonkers?»
«Irre. Verrückt. Nordamerikanisch, 1940er Jahre, Herkunft unbekannt.»
«Schreibung?»
«B-o-n-k-e-r-s.»
«Bonkers», sagte sie, als probiere sie das Wort an und drehe sich damit vor dem Spiegel. «Und?», fragte sie dann. «Warum bonkers?»
«Wir mussten die computergenerierten Übersetzungen dieser Bank-Geschäftsberichte auf Interpunktion überprüfen. Reines Korrekturlesen! Man sollte eigentlich meinen, die Programme hätten inzwischen Grammatik gelernt. Und das Zeug ist dermaßen langweilig!»
Finn war ausgebildeter Übersetzer aus dem Neuen Standardmandarin und aus der toten Sprache Deutsch ins Englische. Außerdem war er Spezialist für das Entschlüsseln handschriftlicher Texte in Deutsch und Englisch, und darüber hinaus ein hochqualifizierter, wenn auch chronisch unterforderter Historiker für die Alltagskultur der Jahre 1950–2018, der Periode unmittelbar vor dem Zeitalter des Dark Winter. «Die sollen uns die Werke der Weltliteratur zum Übersetzen geben», sagte er, «nicht die ‹Aufstellung der im Konzern erfassten Erträge und Aufwendungen für das erste Quartal 2017› der Deutschen Bank. Wen interessiert’s, ob es darin vor Interpunktionsfehlern nur so wimmelt?»
Rouge lachte. «Du bist Junior-Historiker, Finn. Das ist dein Job.»
«Und du bist Junior-Physikerin. Musst du deshalb unter einem Baum sitzen und abwarten, bis dir ein Apfel auf den Kopf fällt, ehe du über Schwerkraft nachdenken darfst?»
Rouge lachte wieder. Sie hatte zwar wenig eigenen Humor, war aber leicht zum Lachen zu bringen. Wenn sein BB nicht abgeschaltet gewesen wäre, hätte er sich den Witz notiert. Jetzt würde er ihn vielleicht vergessen.
«Aber alle haben gesagt, die Geschäftsberichte seien ein Weltkulturschatz», wandte Rouge ein.
Gewiss, die Berichte hatten Aufsehen erregt, als sie 2260, vor vier Jahren, aus fünfzig Metern Tiefe ausgegraben worden waren, direkt an der Stelle, wo einst die Zentrale der Bank in Frankfurt gestanden hatte. Die Archäologen waren dort auf ein paar Metallaktenschränke gestoßen, randvoll mit deutschsprachigen Geschäftsberichten. Dass sie den Großen Feuersturm von 2050 überhaupt überlebt hatten, war wie ein Wunder. Denn der Große Feuersturm hatte zwar den Kontinent von der Deutschen Pest befreit, aber auch die Kultur Europas fast restlos vernichtet.
«Diese Bankberichte ein Weltkulturschatz? Unsinn!», entgegnete er.
«Ist ja gut.» Sie stützte sich auf die Ellbogen und blickte hinauf in die Sterne. «Ist ja gut.»
Auch Finn lehnte sich zurück. «Aber die in Greifswald haben dich doch bestimmt nicht von Berlin in einen verschlafenen New Yorker Strandort geschickt, bloß weil sie Angst haben, einen Junior-Historiker zu verlieren.»
«Richtig», sagte sie und streckte die langen Beine wieder aus.
«Also, warum bist du hier?»
Sie schaute ihm direkt ins Gesicht. «Baltische Archäologen in Stralsund haben auf der Halbinsel Fischland-Darß einen Fund gemacht.»
«Einen Fund gemacht?», wiederholte er und setzte sich wieder auf.
«Ein Köfferchen. Staubdicht. Luftdicht. Wasserdicht. Allesdicht. Wie man sie im frühen einundzwanzigsten Jahrhundert auf Booten benutzt hat. Es lag auf dem Grund des Saaler Boddens bei Wustrow.»
«Auf dem Grund des Boddens?» Das war absurd. Der Bodden war völlig flach und nicht ansatzweise zu vergleichen mit einem richtigen Meer, in dem man versunkene Schiffe und ihre Schätze vermuten konnte.
Die Boddenlandschaft, eine Reihe von salzhaltigen Seen mit Verbindung zum Meer entlang der südlichen Ostseeküste, einst Rastplatz für Zugvögel und Naturschutzgebiet, hatte im Zeitalter des Dark Winter schwer gelitten. Aber jetzt, da Europa größtenteils wieder besiedelt war, gestaltete man einige Gebiete an der Ostseeküste zu Meeresbergbau-Regionen um.
«Das Wasser dort ist doch ganz flach», sagte Finn. «Da müsste man doch schon längst alles rausgefischt haben.»
Rouge zuckte die Achseln. «An der Stelle, wo der Koffer gefunden wurde, ist das Wasser mindestens sechs Meter tief. Anscheinend hat er über zweihundert Jahre da gelegen. Sie sind zufällig drauf gestoßen, als sie das Gebiet für Baumaßnahmen vorbereiten wollten.»
Finn spürte, dass sein Herz zu klopfen begann. «Ist es ein wichtiger Fund?», fragte er.
«Ein Weltkulturschatz.» Es klang ein wenig spöttisch, deshalb war sich Finn nicht sicher, ob das die Meinung der Experten war oder ob Rouge ihn einfach nur foppen wollte.
«Wieso?», fragte er. «Ist irgendwas Wichtiges darin?»
«Möglicherweise, sagen sie.»
«Und was hat das alles mit diesem Historiker zu tun?»
«Sie haben etwas im Koffer gefunden, Finn. Etwas Handschriftliches. In Deutsch. Es muss entschlüsselt und übersetzt werden.»
«Aber warum gerade dieser Übersetzer? Und warum haben sie dich geschickt? Wieso die Eile?»
Rouge zuckte die Achseln. «Vielleicht, weil sie Angst haben, Berlin könnte ihnen den Fund vor der Nase wegschnappen, wenn sie nicht schnell handeln. Und offensichtlich sind sie der Meinung, dass du der Richtige bist für den Job.» Sie sah ihn an. «Vielleicht ist das die Chance, auf die du gewartet hast.»
Es war kaum anzunehmen, dass auf dem Grund eines flachen Salzwassersees so etwas wie Geschäftsberichte einer Bank gelegen hatten. Erst recht keine handschriftlichen. Aber was dann?
«Sprichst du wenigstens mal mit Greifswald darüber?», fragte Rouge.
«Ja. Sicher. Natürlich.»
«Gut», sagte sie und stand auf. Sie wischte sich den Sand von den Händen. «Der Direktor der Europäischen Bibliothek erwartet deinen Anruf. Gleich morgen früh.»
«Wieso so schnell?», sagte er und stand ebenfalls auf.
«Sogar noch schneller, als du denkst. Morgen früh für ihn. Das heißt also in–» Sie neigte leicht den Kopf, griff auf ihre BB-Uhr zu. «Zwei Stunden.»
«In zwei Stunden?»
Sie nickte und gähnte dann.
«Du bist müde», sagte Finn.
«Ja. Sollen wir reingehen?»
Sie standen nah beieinander. Sehr nah. Das Muttermal auf ihrer rechten Brust hob und senkte sich mit jedem Atemzug. Er hätte sie an sich ziehen und sie küssen können.
«Hier entlang», sagte Finn stattdessen, und zeigte auf das große Holzhaus strandabwärts. «Die Residenz der Nordstroms.»
Rouge nahm ihre Sandalen und folgte ihm.
Für das Holocasting räumte Finn extra das Familienzimmer auf. Man konnte schließlich nie wissen – vielleicht würde der Direktor der Europäischen Bibliothek ihm einen spontanen Besuch abstatten. Bei Doc-Doc – wie Dr.Dr.Rirkrit Sriwanichpoom von seinen Mitarbeitern nicht ohne einen gewissen Spott genannt wurde – musste man auf alles gefasst sein.
Finn öffnete die Vorhänge. Der Mond schwebte wie ein dicker weißer Ballon über einem glatten Atlantik. Ein ausgezeichneter Hintergrund für ein Holocasting. Finn spürte, wie er immer aufgeregter wurde. Was befand sich nur in diesem Bodden-Koffer? Durfte er sich Hoffnungen auf ein Millennium-Mirakel machen?
Die letzte große Entdeckung einer Handschrift in Deutsch lag fast 130Jahre zurück. 2136 hatten Arbeiter in Kalifornien, die ein verwahrlostes Haus für den Abriss vorbereiten sollten, eine wurmstichige Eichentruhe gefunden, die eine Stahlkassette enthielt. Darin befand sich ein Stapel handschriftlich beschriebener Seiten. Die Experten für tote Sprachen hatten sie schließlich als Deutsch identifiziert, geschrieben in der alten Schreibschrift, die um 1900 in Gebrauch war. Weitere Untersuchungen ergaben, dass es sich bei diesen Seiten um das Original des Buddenbrooks-Manuskriptsdes Nobelpreisträgers Thomas Mann handelte.
Das kalifornische Amt für Kulturschätze sprach sich vehement dafür aus, das Manuskript in Nordamerika zu belassen – immerhin hatte Thomas Mann die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen, argumentierten sie–, doch letztlich wurde es dem Archiv für die toten Sprachen in der Europäischen Bibliothek Greifswald überlassen, wo es Finns Meinung nach auch hingehörte. Inzwischen war es sicher unter Verschluss, aber eine Tru-Copy davon stand zur Verfügung. Finn hatte sie studiert und gelesen – keine leichte Aufgabe, da Sütterlin selbst für Paläographen, die Deutsch konnten, ungemein schwer zu entziffern war, besonders wenn ihr Schwerpunkt eher auf den späteren Schriftarten nach 1945 lag.
Das Buddenbrooks-Manuskriptwar ein echtes Millennium-Mirakel gewesen, eine Auszeichnung für die Übersetzer, die sich damit beschäftigen durften. Vielleicht hatte Finn ja ebensolches Glück.
Als Finn an der Treppe vorbeikam, die auf die untere Ebene des Hauses führte, sah er, dass das Licht in Rouges Zimmer aus war. Einen Moment lang spürte er wieder, wie erschöpft er war, aber Müdigkeit war kein Zustand, den Sriwanichpoom schätzte. Bisher hatte Finn höchstens ein oder zwei Worte mit dem Direktor gewechselt, da war es nicht ratsam, jetzt einen schlechten Eindruck zu machen. Er machte sich in der Küche einen Zing, um die Hirnzellen zu aktivieren, ging dann wieder ins Familienzimmer und stellte Verbindung zur Holo-Kamera her. Dann wartete er auf Doc-Docs Anruf.
Dr.Dr.Rirkrit Sriwanichpoom war eine schillernde Persönlichkeit, im wahrsten Sinne des Wortes: Alles an ihm blendete den Betrachter. Sein gutes Aussehen, sein silberweißes Haar, das zu einem Pferdeschwanz gebunden war, sein blitzendes Elfenbeinlächeln, seine Augen, groß und schimmernd wie graue Tahitiperlen, seine brillante Intelligenz – ja selbst seine Schuhe glänzten. Seine Füße steckten in diesen neuen, durchsichtigen, glasähnlichen Halbstiefeln. Er trug sie bequem über glitzernden Silbersocken.
Als Finn in das Büro des Direktors holoiert wurde, sprangen ihm die Stiefel prompt ins Auge, denn die Beine des Mannes lagen lässig gekreuzt auf dem Schreibtisch. «Mr.Nordstrom!», sagte er und stand langsam auf. Er trat vor, und Finn gab seinem Vorgesetzten zur Begrüßung die Hand. Außer Luft gab es natürlich nichts zum Händeschütteln – ein Hologramm war ja nur ein Hologramm und nicht aus Fleisch und Blut–, aber Finn und Doc-Doc taten der Höflichkeit halber dennoch so als ob.
«Sir», sagte Finn. «Guten Morgen.»
«Wie spät haben Sie’s denn da drüben?» Sriwanichpoom sprach einwandfreies Englisch mit dem unterkühlten nasalen Tonfall, für den die Bewohner der britischen Provinz bekannt waren, den aber Ausländer wie Doc-Doc selbst zur Perfektion gebracht hatten.
«Es ist… äh… zwei Uhr morgens.»
«Sie bleiben aber ganz schön lange auf, was?», bemerkte der Direktor mit einem leisen Lachen. «Bitte, nehmen Sie Platz.» Er zeigte auf einen durchsichtigen Hängetisch, um den vier Hocker herum gruppiert standen. Finn brauchte einen Moment, um sich in dem Thronsaal – so nannte man das geräumige Büro des Direktors – zu orientieren, ehe er Platz nahm. In Wirklichkeit setzte er sich natürlich auf einen Stuhl im Familienzimmer seines Elternhauses, aber solche Details waren unwichtig, wenn man sich in einer 3-D-Bildfläche traf.
Der Direktor zog seine weiße Hose etwas höher, setzte sich und schlug die Beine übereinander. Sein Glasstiefel hing jetzt fast in Finns Gesicht. «Nun denn», fuhr er fort, «wir brauchen nicht lange. – Sie wissen doch sicher, wo das Köfferchen gefunden wurde?»
«Ja», sagte Finn. «Im Bodden.»
«Richtig. Bei Wustrow.»
Ein Plinkblink erschien auf Finns BB-Raster – plink!
«Sie haben soeben zwei Dateien erhalten», sagte der Direktor. «Schauen Sie mal rein.»
Die erste Datei war ein Bild, das von einem Boot aus aufgenommen worden sein musste. Finn sah fast nur Wasser und einen ziemlich öden Streifen Land, vermutlich die Küstenlinie des Boddens. Links standen ein paar Pappeln, und im Hintergrund ragten die Ruinen einer Ortschaft mit einem Kirchturm auf.
«Da wurde das Köfferchen gefunden», sagte Doc-Doc.
Die zweite Datei war das Bild eines schwarzen Koffers mit Griff, ähnlich den kleinen Hartschalenkoffern, die um die Jahrtausendwende so beliebt gewesen waren.
«In diesem Koffer befand sich das Dokument», sagte der Bibliotheksdirektor.
Die Plinkblinks verschwanden plötzlich von Finns BB.
«Ach, Verzeihung», sagte Doc-Doc etwas gereizt. «Mir ist das auch gerade passiert. Muss ein Virus sein. Falls Sie die Bilder noch mal brauchen, sagen Sie einfach Bescheid. Also, wo waren wir? Ach ja, genau. Sie wissen, dass das Dokument auf Deutsch handgeschrieben wurde?»
Finn nickte.
«Leider gehört Deutsch nicht zu den Fachgebieten dieses Direktors, als da wären: Italienisch, Französisch, Russisch, die tote Sprache Niederländisch, selbstverständlich Englisch und natürlich seine Muttersprache Thai», fuhr Doc-Doc fort. «Somit konnte dieser Leser sich nur einen oberflächlichen Eindruck verschaffen. Der allerdings war höchst interessant. Einer der Archäologen drüben in Stralsund, ein Dr.…» Der Direktor hob den Blick zur Decke und klickte sich in seinen BB ein. «Ja, da ist er. Ein Dr.Beyer. Spezialist für das Zeitalter Dark Winter. Er hat sich den Inhalt gründlicher angeschaut, fühlte sich aber nicht kompetent genug, um dessen Bedeutung zu beurteilen.»
«Warum das?», fragte Finn. «Dieser Übersetzer kennt Dr.Beyer. Er ist einer der führenden Experten für den Dark Winter.»
«Aber eben leider kein Fachmann für die Alltagskultur um die Jahrtausendwende. Das Dokument, das wir heute für Sie haben, stammt von einem Teenager aus dem Jahr 2003.»
«Oh.» Finn spürte, wie Enttäuschung in ihm aufstieg. Ein Dokument von einem Teenager? Das war ganz sicher kein Millennium-Mirakel.
«Sie scheinen enttäuscht», sagte der Direktor. «Haben Sie sich Hoffnungen auf ein Millennium-Mirakel gemacht?»
Finn lachte verblüfft auf. Der Direktor war berüchtigt für seine genialische Intuition.
Sriwanichpoom lachte mit. «Sie sind ehrgeizig, Finn Nordstrom. Das ist gut. Wie wir von den Kollegen unten im Archiv für die toten Sprachen hören, sind Sie Spezialist für das frühe einundzwanzigste Jahrhundert und verfügen über ein ausgezeichnetes Gespür für deutsche und englische Umgangssprache. Beides werden Sie für dieses Projekt benötigen.
«Dieser Übersetzer ist dankbar für die Gelegenheit, sein Können unter Beweis zu stellen.»
Der Direktor stand auf. «Ich will Ihnen zeigen, was wir für Sie vorbereitet haben. Wir haben eine Tru-Copy des Dokuments angefertigt. Ihr Historiker arbeitet ja bekanntlich lieber mit Hard-Docs als mit digitalen BB-Dateien. Ist im Übrigen sehr vernünftig, wenn es um Handschriften geht.»
«Befand sich in dem Koffer denn nur ein Dokument?»
«Es steht diesem Direktor nicht zu, Ihnen das mitzuteilen», erwiderte Sriwanichpoom kühl, beinahe herablassend.
Das war keineswegs üblich. Die Bankgeschäftsberichte hatte er zwar einzeln und chronologisch erhalten, aber man hatte ihn vorab über Dauer und Umfang des Projektes in Kenntnis gesetzt.
Der Bibliotheksdirektor hielt Finns Blick ganze Momente lang stand. Es waren kalte, fast bedrohliche Augen. Und Finn hatte das seltsame Gefühl, dass der Direktor ihn an irgendwen erinnerte. Aber an wen?
Dr.Rirkrit Sriwanichpoom drehte sich abrupt um, ging zu einer Wand und nickte knapp. Die Wand glitt auf, und dahinter kam ein Bücherregal zum Vorschein. Er nahm ein Buch heraus.
Der glänzende Kunststoffumschlag– Vinyl wahrscheinlich – war pink. Sehr pink. Grellpink. Sie hatten diese Farbe früher Hotpink genannt. Oder Neonpink. Er war mit winzigen roten Herzen bedruckt. Mit Herzen und Blumen und Schmetterlingen. Ein nicht besonders robust aussehendes Schloss war daran angebracht, und im Schlüsselloch steckte ein kleiner goldener Schlüssel an einem pinkfarbenen Seidenbändchen. Finn schaute Dr.Dr.Rirkrit Sriwanichpoom ratlos an. «Was ist das?», fragte er.
«Das ist ein Tagebuch», sagte der Direktor. «Handgeschrieben, natürlich.»
«Ein Tagebuch?», wiederholte Finn erstaunt.
Finn hatte schon einige alte Tagebücher gesehen. Aber keines hatte so ausgesehen wie das da. Die meisten waren geschmackvoll, in Leder oder Leinen gebunden. Bei manchen standen die Wörter Moleskine® oder Filofax® auf dem Deckel oder dem Buchrücken. Doch dann fiel ihm ein, dass er mal das Tagebuch einer gewissen Anne Frank gesehen hatte. Das hatte auch so ein Schloss mit Schlüssel gehabt. Die Originaltagebücher des Holocaustopfers waren leider allesamt im Dark Winter verlorengegangen, aber zwei Reproduktionen ihres weiß-rot-grün karierten Tagebuchs, die Kunsthandwerker 2002 angefertigt hatten, waren in den Ruinen von Amsterdam geborgen worden. Sie befanden sich nun im Bestand der Europäischen Bibliothek.
«Wer ist der Autor?», fragte Finn.
«Das wissen wir nicht. Manche Einträge sind mit dem Buchstaben ‹E› unterschrieben. Man nimmt an, es handelt sich um ein Mädchen.»
«Ein Mädchen?»
«Ja, ein Mädchen. Dreizehn Jahre alt, meinte Dr… . äh…»
«Beyer?»
«Ja. Das Tagebuch beginnt offenbar am dreizehnten Geburtstag des Kindes.»
Das Tagebuch eines dreizehnjährigen Mädchens aus dem frühen einundzwanzigsten Jahrhundert? Das war ja wohl so weit entfernt von großer Literatur, wie es nur ging. Es sei denn, es handelte sich um die frühen Ergüsse eines Menschen, der später zu Berühmtheit gelangt war. Aber wie groß war die Wahrscheinlichkeit? Finn ertappte sich bei dem Gedanken, dass es vielleicht doch ein Fehler wäre, die Geschäftsberichte der Deutschen Bank abzugeben.
«Wir hoffen, der Name der Verfasserin steht irgendwo im Text», sagte der Direktor, der offenbar schon wieder Finns Gedanken erriet. «Vielleicht sind spätere Arbeiten von ihr bekannt. Das herauszufinden ist natürlich Ihre Aufgabe. Sie werden jedes Wort lesen. Jedem Hinweis nachgehen. Wo wohnt sie? Aus welcher Familie stammt sie? Wer sind ihre Freunde? Bestimmt finden sich Anhaltspunkte. Und zwar bald, wie wir hoffen. Es könnte sich um ein bedeutsames Projekt handeln. Vielleicht können Sie daraus sogar eine Doktorarbeit machen. Sie haben doch vor zu promovieren?»
«Gewiss. Dieser Historiker hat das in Erwägung gezogen. Zunächst wollte er aber noch ein oder zwei Jahre arbeiten und seine Recherchefähigkeiten optimieren.»
«Ausgezeichnet.» Der Direktor stand auf. «Dann sind wir uns also einig?»
Finn war verdattert. «Brauchen Sie sofort eine Antwort?»
Doc-Doc runzelte die Stirn. «Selbstverständlich. Was hätte unser Holocasting sonst für einen Sinn?»
«Wenn das so ist, ja. Ja, gern.»
«Wir haben Ihnen für heute einen Platz reserviert, 14.00Uhr Eastern Standard Time. New York– Berlin. Die entsprechenden Informationen liegen in Ihrer Inbox. Wir erwarten Sie Mittwochmorgen in Greifswald.» Und dann stand der Direktor plötzlich im Familienzimmer der Nordstroms. «Aha!», sagte er, als er sich umschaute und die Möbel im Raum in Augenschein nahm. «Entzückend. Antik! Nordamerika, einundzwanzigstes Jahrhundert.» Er trat ans Fenster. «Der Mond! Großartige Aussicht.» Er drehte sich zu Finn um und gab ihm die Hand. «Also dann, bis Mittwoch.»
Und noch ehe Finn der Luft die Hand schütteln konnte, war der Direktor der Europäischen Bibliothek verschwunden.
Als Finn erwachte, fiel Sonnenlicht durch sein Fenster. Er blieb einen Augenblick still im Bett liegen, studierte das Spiel der Schatten in seinem Zimmer und lauschte dem Klang der Brandung.
Er hatte nur wenige Stunden geschlafen. Der Tod seiner Familie vor gerade mal zwei Wochen, Rouges Besuch, das Holocasting mit Doc-Doc und jetzt eine neue Arbeit: Das war einfach zu viel auf einmal. Hoffentlich konnte er auf dem Zweieinhalbstundenflug nach Berlin ein wenig Schlaf nachholen.
Hörte er da Rouge im Nebenzimmer? Er stand leise auf, ging zu ihrer Tür und öffnete sie vorsichtig. Aber sie schlief noch und atmete ganz ruhig. Er sah, wie sich ihre Nasenflügel blähten und wieder zusammenzogen, wie der braune Fleck über ihrer rechten Brust sich hob und senkte, hob und senkte. Rouge war schön, wenn sie schlief. In diesem Moment, da die sanfte Rundung ihrer Schulter in das frühmorgendliche blassrosa Licht getaucht war, da ihr Atem so ruhig ging und ihre kupferfarbenen Locken sich wie eine Feuerkrone über das Kissen breiteten, ja, in diesem Moment konnte er sie sich fast als seine Gefährtin vorstellen. Obwohl –
Nein. Rouge konnte nie seine Gefährtin werden. Sie passten vom Temperament her nicht zusammen. Rouge war pragmatisch und stand mit beiden Beinen fest auf dem Boden. Er dagegen war versponnen, er liebte es, ziellos auf dem offenen Meer seiner Gedanken zu treiben. Ihr lag nichts an den Dingen, die ihm etwas bedeuteten, und er hatte keine Ahnung, wofür sie sich eigentlich interessierte, abgesehen von ihrer Arbeit – von der er so gut wie nichts wusste. Quantenphysiker – «Quants», wie die Öffentlichkeit sie liebevoll nannte – waren, was ihre Arbeit betraf, nicht sehr mitteilsam. Das galt besonders für diejenigen, die wie Rouge am renommierten Olga-Zhukova-Institut für Angewandte Physik angestellt waren. Wie sollte er mit einer Frau Kinder großziehen, deren Arbeit er nicht verstand, deren Gedanken er nicht ergründen, deren Interessen er nicht teilen konnte?
«So was lernt man», hatte seine Mutter immer gesagt.
«Du bist zu wählerisch», hatte ihn sein Vater getadelt. «Hüpf noch ein bisschen mehr durch die Betten!», hatte
Mannus Rat gelautet.
«Jeder findet seine Gefährtin», hatte Lulu gesagt. «Auch Finn.»
Aber es wurde allmählich Zeit. Er war spät dran. Sehr spät dran. Sex galt als gesund und wurde schon Jugendlichen ab vierzehn Jahren empfohlen. Es war selbstverständlich, dass die meisten jungen Leute mit spätestens achtundzwanzig entweder einen Partner gefunden oder einen zugeteilt bekommen hatten. Falls Finn nicht innerhalb eines Jahres eine Gefährtin fand, musste er eine beantragen. Viele junge Erwachsene hatten nichts dagegen, einen Partner zugeteilt zu bekommen, bei dem einfach alles, von der DNA-Verträglichkeit, über die Spermienzahl bis hin zu den Essgewohnheiten, getestet, verglichen und ausgewertet worden war. Dennoch war die Zahl der Geburten im Verlauf der vergangenen hundert Jahre dramatisch, ja fatal zurückgegangen. Das Problem war nicht auf den europäischen Kontinent beschränkt, dort aber besonders ausgeprägt. Familien wie die von Finn mit drei Kindern von denselben Eltern waren eine absolute Ausnahme. Paare waren in diesen Zeiten schon überglücklich, wenn sie überhaupt ein einziges Kind bekamen, und das General Global Government, die Weltregierung, wäre schon mehr als zufrieden, wenn durchschnittlich jedes Paar tatsächlich ein Kind in die Welt setzen würde statt nur jedes zweite Paar, wie es derzeit der Fall war.
Vorsichtig schloss Finn die Tür und schlich die Treppe hinauf.
Eine rötliche Sonne ging im Osten auf und färbte den Strand rosa. Nach Süden hin schimmerte der Atlantik metallisch grau, im Norden lag die Great South Bay glatt und ruhig da. An der Westwand des Raumes stand der Bücherschrank, den sein Vater gebaut und seine Mutter mit Lesestoff gefüllt hatte. Links davon hing ein Spiegel. Finn sah darin einen jungen Mann, ansehnlich, aber nicht außergewöhnlich; einen sonnengebräunten Körper, mit zwei Metern mittelgroß; dunkles kräftiges Haar, noch ganz zerzaust vom Schlaf; zwei Tage alte Gesichtsbehaarung; Augen so schwarz wie das Onyx-Kästchen, das auf dem Walnussholztisch stand.
Finn ging zu dem Tisch, auf dem Gegenstände aus dem Haus verstreut waren. Manche davon wollte er wegwerfen oder verschenken. Andere, wie das schwarze Onyx-Kästchen, Mannus Moon Zoomer, Lulus Teddy und den Slapback-Schläger seines Vaters, würde er mit nach Berlin in seine Zweitwohnung nehmen. Die hölzerne Werkzeugkiste seiner Mutter würde hierbleiben. Sie war zu schwer, und was hätte er mit all den Sachen einer Buchrestauratorin auch anfangen sollen? Er öffnete sie, mochte, wie sie sich nach beiden Seiten aufklappen ließ, wie eine Treppe, bei der jede Stufe ein Fach war, voll mit Lösungsfläschchen und Arbeitsutensilien. Der Geruch, der daraus aufstieg – eine herbe Mischung aus Ölen und Chemikalien–, versetzte ihn schlagartig zurück in seine Kindheit. Er erlebte einen betörend süßen Augenblick, als wäre er tatsächlich wieder das Kind und würde, erfüllt von tiefem Staunen, die Schätze erkunden, die in der Kiste lagen: die weichen Tücher zum Reinigen der Bücher, manche davon aus Stoffen wie Wolle, die es nicht mehr gab; das Nähzeug zum Ausbessern der Buchheftung; ein Beutelchen mit Fussel aus einem nie verwendeten Papierherstellungsset; ein Papier mit ganz feiner Körnung, mit dem man Tintenflecke entfernte. «Sandpapier» hatte seine Mutter es genannt. Mit einem sogenannten «Radiergummi» wurden graue Bleistiftstriche aus Büchern entfernt. Er erinnerte sich daran, wie seine Mutter ihm einmal einen Bleistift gezeigt hatte. «Der ist aus Holz und Graphit, und damit wurde früher geschrieben», hatte sie ihm erklärt. Sie hatte mit dem Stift ein paar Striche auf die Innenseite der Kiste gemalt. «Da steht Finn», hatte sie gesagt. «In Großbuchstaben. F-I-N-N.» Er hatte es damals nicht lesen können, aber er erinnerte sich, dass er sehr stolz darauf gewesen war. Diese Striche da waren sein Name!
Finn beugte sich über die Holzkiste, um nachzusehen, ob sein Name noch immer da stand. Ja, da war er, wenn auch blasser, als er es in Erinnerung hatte. Er fuhr mit dem Finger über die Linien, und für einen kurzen Moment überkam ihn ein Gefühl der Leere. Er vermisste seine Mutter, seine ganze Familie, aber sobald das Gefühl in ihm aufstieg, riss er sich zusammen. Es war unklug, sich von solchen Gefühlen überwältigen zu lassen, vor allem mit Rouge im Haus.
Finn fuhr seinen BB hoch. Für das Holocasting mit Doc-Doc hatte er ihn kurz eingeschaltet, aber er hatte schon ein paar Tage nicht mehr in seine Inbox gesehen. Jetzt sah er zahllose Nachrichten von seinem Freund Renko Hoogeveen, einem Bibliothekar in der Europäischen Bibliothek. Finn fand sein Ticket für den Flug nach Berlin ebenso wie den Bericht der Aeronautikbehörde zu dem Weltraumunfall, der seiner Familie zum Verhängnis geworden war. Eigentlich hatte er bei dieser Reise auch dabei sein sollen, aber er hatte nicht frei bekommen und deshalb absagen müssen. Welche Ironie des Schicksals! Dank der Geschäftsberichte der Deutschen Bank war er nun der einzige noch lebende Nordstrom an der nordamerikanischen Ostküste.
Unten im Haus regte sich etwas. Rouge war aufgestanden. Sie wollte bestimmt frühstücken.
Finn ging in die Küche. Er würde Koch Carlo Canelli-NY-FireIs3 bitten müssen, etwas zum Mittagessen zuzubereiten. Vielleicht Hummer? Oder Wal von der East End Sea Farm? Aber eigentlich passte Hai besser zu Rouge, dachte er und schmunzelte.
Von der Küche aus hatte Finn einen weiten Blick über die Bucht. Der Himmel über Long Island war wolkenlos. Er klickte sich in C-Earth ein und stellte fest, dass auch weiter östlich der Himmel klar war. Es war ein guter Tag zum Fliegen. Er mixte zwei eiskalte Berryolas, stellte eine in den Kühlschrank und nahm die andere mit zum Walnussholztisch.
Laut der Familienlegende hatte ein gewisser Florian Lawrence, ein Vorfahre Finns, den Tisch eigenhändig gebaut. Im Laufe der Jahrhunderte war das gute Stück immer dem ältesten Kind der nächsten Generation vermacht worden und so von den Lawrences zu den Scheinwalds zu den Sopranos zu den Nordstroms gewandert.
Florian Lawrence hatte das Chaos des Dark Winter und der Deutschen Pest überlebt, indem er mit seiner Familie auf einem Boot von der deutschen Ostseeküste nach Schweden floh. Von dort schlug er sich auf dem Seeweg weiter nach Norwegen, dann nach Island und Grönland durch, um schließlich als einziger Überlebender seiner Familie Kanada zu erreichen. Unbeirrt reiste er weiter die Küste hinunter, bis er heiratete und sich niederließ. Irgendwann hatte er diesen Tisch gebaut. Im Laufe der Jahrhunderte war das Stück zum Symbol des Überlebens seiner Familie geworden.
Die Form des Tisches war schlicht, sogar klassisch, gerade Linien und eine dicke Platte aus dunklem, fast schwarzem Walnussholz. Jede Ecke des Tisches zierte eine Sonnenblume, deren Kopf die Größe eines Tellers hatte und deren Stiel sich nach unten über das Tischbein zog. Genau in der Mitte der Tischplatte prangte eine Sonne.
Die andere Besonderheit des Möbels war nicht auf den ersten Blick ersichtlich: die Geheimschublade, die sich unter der Tischplatte herausziehen ließ. In dieser Schublade hatte sich der einzige Gegenstand befunden, der zusammen mit Florian Lawrence die Flucht aus Europa überstanden hatte: das schwarze Onyx-Kästchen.
Finn nahm das Kästchen in die Hand.
Es war klein, so lang wie seine Hand, Boden und Deckel, der Letztere mit einer Sonnenblumenintarsie verziert, bestanden aus makellosem und auf Hochglanz poliertem schwarzem Onyx.
Finn öffnete es. Darin lagen auf einem schwarzen Samtkissen ein Füllfederhalter und ein silberner Bernsteinring, in den eine große Biene eingeschlossen war. In die Innenseite des Silberrings war das Datum 20.08.2018 graviert.
Finn erinnerte sich, wie er als Kind besonders von dem Füllhalter fasziniert gewesen war. Füller wurden schon seit über hundertfünfzig Jahren nicht mehr gebraucht, weil niemand mehr mit der Hand schrieb. Das war noch archaischer als das Benutzen einer Tastatur. Fast alle, sogar die Menschen, die in abgelegenen Gebieten oder sogar in der Wildnis lebten, übertrugen Worte und Bilder inzwischen mittels ihres Brain Buttons. Schreibschrift war längst durch computergenerierte Druckbuchstaben ersetzt worden.
Finns Finger glitten über die Platinsternchen auf dem Füller. Ein solches Exemplar, schwarz, mit Weißgoldfeder und Zierelementen aus Platin, war höchstens noch im Museum oder in dem Geschenkeladen einer Forester-Kolonie zu finden. Nur sie konnten noch etwas mit Schreibzeug anfangen, und bei den meisten Leuten galten Forester als sonderbar. Sie lebten einfach, kleideten sich schlicht, mieden die meisten modernen Annehmlichkeiten und unterrichteten ihre Kinder selbst. Ihre wenigen Kolonien, die kaum Kontakt zur Außenwelt unterhielten, lagen weit auseinander: Es gab nur vier bis sechs auf jedem Kontinent. Finns Eltern hatten schon wegen ihrer Arbeit gute Beziehungen zu den Forestern gepflegt, vor allem zur Aaronson-Aiello-Sippe, einer Familie von Druckern und Papierherstellern in Sternwood Forest, einer kanadischen Forester-Kolonie nördlich von Toronto.
Finn betrachtete den Füller, fuhr mit dem Finger über die Gravur. Sie war in silberner Schreibschrift, die Buchstaben in einem anmutigen Fluss miteinander verbunden. Schreibschrift war für den Normalmenschen ebenso unverständlich wie ägyptische Hieroglyphen.
Gewiss, für manche Berufe war es unerlässlich, Schreibschrift lesen zu können. Bibliothekare, Archäologen, Museumskuratoren, Paläographieexperten, Übersetzer und Historiker befassten sich im Zuge ihrer Arbeit oft mit handgeschriebenen Dokumenten. Solche Dokumente wurden in der Regel in Handschriften-Programme eingescannt, die mehr oder weniger gut geeignet waren, unterschiedliche Schrifttypen zu entschlüsseln, wobei sie Stil und persönliche Eigenarten der Schreiber mit berücksichtigten. Leider lieferten sie für Deutsch nur schwache Ergebnisse ab. Die Programme brauchten buchstäblich zigtausend Beispiele guter und schlechter Handschriften, um erfolgreich arbeiten zu können. Leider hatte aber der Dark Winter praktisch die gesamte deutsche Handschriftenkultur vernichtet. Die Programme hatten demzufolge einfach nicht genug Informationen, um Dokumente einigermaßen korrekt zu entschlüsseln. Aus diesem Grund wurde eine Reihe Archäologen und Museumskuratoren dazu ausgebildet, handgeschriebene Texte in Deutsch zu entziffern. Aber nur wenige verspürten je den Wunsch, nach einem Stift zu greifen und selbst zu schreiben. Finn bildete da keine Ausnahme.
Finn betrachtete die Gravur auf dem Füllfederhalter seines Vorfahren. Der Familienlegende nach hatte Alisa, Florians erste Frau, den Füller für ihn als Geschenk gravieren lassen. Im Laufe der Jahrhunderte waren einige Buchstaben abgerieben worden, aber der größte Teil war nach wie vor gut zu erkennen:
Das Jahr, in dem Alisa Florian den Federhalter schenkte, musste irgendein Jahr zwischen 2010 und 2019 gewesen sein, aber der Rest war –
«Guten Morgen.»
Finn fuhr herum. Rouge lächelte ihn an. «Du träumst.»
Rouges Haar war ungekämmt, aber sie hatte geduscht. Der seidene Morgenmantel in Königsblau klebte an ihrem Körper. In dem schimmernden Blau konnte Finn deutlich die Konturen ihrer Brustwarzen erkennen.
Rouge spürte seinen Blick. «Du hast keinen Sani-Trockner», sagte sie.
«Nein. Bloß Handtücher. Wir Insulaner waren schon immer etwas altmodisch.»
«Oh. Was ist das denn?», fragte sie und griff nach dem Füllhalter in seiner Hand. «Ein Füller. Wie drollig.» Sie schnupperte daran. Zog die Kappe ab. Testete die Federspitze mit der Kuppe ihres Zeigefingers. Steckte die Kappe wieder auf. Waren alle Quants am Olga-Zhukova-Institut so gründlich? Vermutlich.
Rouge deutete auf die Gravur. «Was steht da?»
«Ein paar Buchstaben fehlen. Aber da steht: ‹For Florian, In everlasting love, Your Alisa.› Florian war unser Ur-Ahn. Florian Lawrence. Er hat es 2018 gerade noch geschafft, aus Europa zu fliehen. Alisa war seine erste Frau. Angeblich ist sie im Dark Winter an dem Virus gestorben. – Bringen die euch am OZI eigentlich nicht bei, Schreibschrift zu lesen?», neckte er.
«Das Olga-Zhukova-Institut bringt uns das Denken bei.» Sanfter fügte sie hinzu: «Lesen ist was für Träumer. Und Dichter.» Sie gab ihm den Füllhalter zurück und sagte spöttisch: «‹In immerwährender Liebe.›»
Finn erinnerte sich, wie er als Kind ebenfalls über die im 21.Jahrhundert gebräuchliche englischsprachigen Floskel – «In immerwährender Liebe» – gestolpert war. In der Schule hatte er gelernt, dass Liebe zu Egoismus, Eifersucht, Wahnsinn, Elend und Krieg führte. Warum also sollte man sich da wünschen, dass sie «everlasting» wäre?
In den einhundertsiebzig Jahren seit Ende des Dark Winter war es der Menschheit vordringlich ums Überleben gegangen, es ging darum, harte Arbeit für das Gemeinwohl zu leisten. Auch Fortpflanzung war zu einem Muss geworden – was natürlich keineswegs hieß, dass die Menschen zu Bumsbotern geworden waren. Der Mensch war ein soziales Wesen, dem etwas an seinen Mitmenschen lag. Jedermann wusste, wie wertvoll ein ausgewogenes Leben war. Sex war Teil dieses ausgewogenen Lebens und im Allgemeinen angenehm, Leidenschaft gehörte aber nicht dazu. Und die Liebe erst recht nicht.
Andererseits… er musste zugeben, dass es Momente gab, in denen er die Idee der romantischen Liebe unbestreitbar faszinierend fand, irgendwie…
«Finn?», sagte Rouge. «Du träumst schon wieder.»
Finn schaute sie an. «Verzeihung. – Hunger?»
«Und wie», sagte sie.
Wieder dieser verführerische Unterton in ihrer Stimme. Er legte den Füller zurück in das Onyx-Kästchen. Rouge nahm den Slapback-Schläger in die Hand und betrachtete ihn.
«Der hat Artu gehört», sagte Finn. «Wir haben oft zusammen gespielt.» Den Namen seines Vaters auszusprechen fiel ihm schwer. Seine Stimme wurde dunkel, fast heiser. Er schluckte trocken und räusperte sich.
Rouge betrachtete ihn einen Moment lang und sagte dann: «Du hast uns, Finn. Das PAD ist jetzt deine Familie.»
«Ach, Rouge», sagte er gereizt, «du klingst wie das PA-Handbuch.»
Am achtzehnten Geburtstag bekam jeder auf seinen implantierten Brain Button das Prä-Adult-Handbuch heruntergeladen. Das war der Tag, an dem man Jungerwachsener nach den Regeln der Weltregierung, des General Global Government, kurz Triple G, wurde. «Willkommen in Ihrem neuen Leben als Prä-Adult», begann es. «Die herrlichen Jahre zwischen dem achtzehnten und dreißigsten Geburtstag sind die Zeit, in der Sie kein Jugendlicher mehr sind, aber auch noch nicht den vollen Erwachsenenstatus besitzen. Sie wissen, wer Sie sind und was Sie vom Leben erwarten. Sie sind bereit, flügge zu werden und sich den Reihen der arbeitenden Bevölkerung anzuschließen. Es ist an der Zeit, Ihre Familie zurückzulassen und sich in dem Ihnen zugewiesenen Prä-Adult-Domizil eine neue Familie zu schaffen. Das PAD ist Ihr neues Zuhause. Viel Spaß!»
Das war erst acht Jahre her. Lulu war damals ein achtjähriges Schulmädchen, Mannu war zwanzig und studierte Weltraumrecht. Ihre Mutter plagte sich mit der Restaurierung einer 33-bändigen Deluxe-Ausgabe der Encylopedia Britannica aus dem Jahre 1993 ab, die mit gepolsterten Ledereinbänden ausgestattet war, die ihr unter den Händen zerbröselten. Ihr Vater hatte gerade einen Antiquitätenladen mit ausgewählten Naturholzmöbeln aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert eröffnet. Und Finn war frisch an der Europäischen Universität Greifswald immatrikuliert – und sehr froh darüber. Die EU Greifswald war eine der wenigen Unis auf der Welt, wo der direkte Austausch zwischen Lernenden und Mentoren noch Vorrang hatte. Der sonst überall verbreitete Einsatz von künstlicher Intelligenz und Remote-Access hatte hier tatsächlich weniger zu suchen.
Greifswald war von Berlin aus, wo Finn in der wohl weltgrößten PAD-Anlage wohnte, in nur fünfzehn Minuten mit dem SwiftShuttleX, besser bekannt als «Swuttle», zu erreichen. Die Riesenwohnanlage im Märkischen Viertel, dem angesagtesten Bezirk der Stadt, hatte sich in der ganzen Welt als «BAD PAD» einen gewissen Ruf erworben. B-A-D stand nämlich für Bier, Action und Drogen.
Finn lächelte bei dem Gedanken, dass das BAD PAD jetzt seine Familie sein sollte, ein zehn Quadratkilometer großer Schmelztiegel, in dem 100000 junge Männer und Frauen aus allen sieben Kontinenten ständig auf der Suche nach Geschlechtspartnern waren, während sie mit Hochdruck fürs Studium oder die Ausbildung arbeiteten. Rouge und Finn bewohnten eine Vierzimmereinheit zusammen mit zwei anderen PAs, der Klon-Therapeutin Yolanda Abbas und dem Fahrradingenieur Severin Boxberg. Ihr Wohnhaus zählte mit seinen 36Appartements zu den kleineren Gebäuden im BAD-PAD-Komplex und hieß im Volksmund der «Rubik». Das dreistöckige Haus mit seinen unregelmäßig angeordneten Fenstern und Balkonen in Weiß, Orange, Rot, Blau, Gelb und Grün hatte tatsächlich eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem Zauberwürfel, der dreihundert Jahre zuvor von einem Mann namens Rubik als Spielzeug erfunden worden war.
«Finn?», unterbrach Rouge behutsam seine Gedanken. «Hast du schon mal an Memoklone gedacht?»
Finn schüttelte den Kopf.
Sie hakte nach. «Wann sind die Erinnerungen deiner Familie das letzte Mal runtergeladen worden?»
Die Information lag wahrscheinlich in Finns persönlicher Infobank. Er hatte noch nicht nachgesehen. «Die Familie Nordstrom hat ihre Erinnerungen nie besonders gewissenhaft aktualisiert», sagte er. «Außerdem war Lulu noch zu jung für ein Memory-Transfer. Wir haben nur ihr Genom und den Inhalt ihres BB.»
Klone waren ein komplexes Thema. Normaloklone, kurz Nomoklone, die auf natürliche Weise in einer Spendermutter heranreiften, wurden gemeinhin als gesunde Menschen betrachtet. Biologisch gesehen waren sie gewöhnliche eineiige Zwillingsgeschwister, lediglich Jahre später geboren.
Mitte des einundzwanzigsten Jahrhunderts waren Nomoklone serienmäßig als Krieger gezüchtet worden, und später dann, als das General Global Government die Welt wieder aufbauen musste, als Bauarbeiter. In den Köpfen der Bevölkerung blieben Nomoklone Bürger zweiter Klasse, ihnen haftete das Stigma der «Unnatürlichkeit» an. Schließlich nahm das Triple G sie als Serienmenschen aus dem Umlauf. Stattdessen setzte die Regierung verstärkt auf menschenähnliche, aber emotionsarme (und deswegen pflegeleichte) Androide. Noch immer wurden Nomoklone unter strengen Klongesetzen erzeugt, aber sie wuchsen unter normalen Bedingungen heran, und man hielt ihre Identität vor der Öffentlichkeit geheim, um sie nicht den immer noch herrschenden Vorurteilen der Gesellschaft auszusetzen. Vom Gesetz her mussten sie aber am achtzehnten Geburtstag über ihre Herkunft aufgeklärt werden. Nur wenige kamen mit der Wahrheit zurecht. Die meisten litten schwer unter ihrem Schicksal.
Memoryklone wiederum, die man als ersten Schritt Richtung Unsterblichkeit begrüßt hatte, waren da ein ganz anderes Kaliber. Wie bei den Nomoklonen erhielten auch Memoklone die DNA eines Spenders. Sie wurden aber extern in Klonfarmen extrem schnell zur Reife gebracht – ein erwachsener Klon brauchte kein Jahr bis zur vollständigen Reifung–, und zusätzlich lud man ihm die Erinnerungen des Spenders herunter.
Wie die meisten Europäer über einundzwanzig ließ auch Finn bei Check-ups seine Erinnerungen ordnungsgemäß in einem schmerzlosen Scan-Verfahren herunterladen. Die so gewonnenen Informationen wurden in Hochsicherheitsneurobanken in der Schweizer Provinz geleitet, wo man sie lagerte, bis ein Angehöriger einen Memoklon seiner Person anfordern würde.
Im Idealfall sollten Memoklone kerngesunde exakte Kopien des Spenders zum Zeitpunkt seines Todes sein. In Wirklichkeit waren ihre Erinnerungen jedoch lückenhaft und versagten in der Regel innerhalb von fünf Jahren, was bei den Klonen zu schweren psychischen Störungen und Aggressionen führte. Daher fristeten viele Klone die letzten Jahre ihres Daseins weggesperrt in Klon-Anstalten.
«Nein, Finn, sie sind schon sehr weit mit den Memoklonen», sagte Rouge sanft. «Reynaldo Torres am OZI sagt, seine Frau sei fast perfekt.»
«Fast», wandte Finn ein. «Fast, aber nicht ganz. Und ‹nicht ganz› genügt mir einfach nicht. Außerdem, wie lange wird sie wohl noch ‹fast› perfekt bleiben?»
«Aber Reynaldo sagt–»
«Es geht doch hier um Menschen, Rouge! Menschen, die uns nahestehen, an denen wir hängen. Außerdem, wie kann ein Sohn oder ein Bruder einen Angehörigen zurückholen, aber den anderen nicht? Und ein Junior-Historiker kann sich keine drei Klone leisten. Und was ist mit Lulu? Wir haben keine Erinnerungen von ihr. Also, nein. Vergiss es! Der Gedanke ist absurd!»
Rouge warf ihm einen kurzen Blick zu, legte Artus Schläger vorsichtig wieder hin und deutete mit einer ausholenden Geste auf den Tisch. «Weltkulturerbe», sagte sie munter. «À la Nordstrom.»
Finn war froh über den Themenwechsel. «Die wahren Schätze sind eher da drüben», sagte er und wandte sich dem Bücherschrank zu. Er öffnete eine der dunklen Glastüren, und ein Schwall kühler Luft strömte ins Zimmer.
«Oh, ist das kalt!», sagte Rouge.
«Wegen der Bücher.»
Rouge zog wahllos eines heraus, den schmalsten Band, gerade mal 100Seiten dick. In Blockschrift war «‹Regelwerk des Illeismus›» darauf gedruckt. Das Buch interessierte sie ganz offensichtlich nicht, aber sie schlug es trotzdem auf. «Wie alt ist es?», fragte sie.
«Eines der jüngsten in der Sammlung. Eine Neuauflage aus dem Jahr 2100.Man hat es ursprünglich in den ersten Jahren des Dark Winter in den Schulen verwendet, hauptsächlich in Nordamerika und Europa», erklärte Finn. «Den Schulkindern fiel es schwer, sich die erste Person Singular abzugewöhnen.»
Rouge schlug die erste Seite auf. «‹Einleitung aus Anlass des 80.Jubiläums der Erstpublikation›», las sie vor. «‹Illeismus, will heißen, von sich selbst in der dritten Person zu sprechen, wurde seit den 1930er Jahren von den United States Marines praktiziert. In der Grundausbildung, früher auch Boot Camp genannt, wurden die Rekruten aufgefordert, von sich selbst als „dieser Rekrut“ zu sprechen. Auf diese Weise trat das Individuum in den Hintergrund, was Gemeinschaftssinn und Zusammenarbeit erheblich förderte.›» Rouge sah zu ihm auf. «Wusstest du das?»
«Natürlich.»
Sie las weiter. «‹Als die Deutsche Pest, das von einer terroristischen Zelle in Kassel, Deutschland, im Labor erschaffene Virus, im September 2018 den amerikanischen Kontinent erreichte, war es das Gebot der Stunde, dass alle Ordnungskräfte landesweit als geschlossenes Ganzes agierten. Nicht nur die Marines, sondern auch Polizei, Armee, Navy, Air Force und Nationalgarde übernahmen in der Folge den Illeismus, um Einigkeit zu demonstrieren. Erstaunlicherweise stellte sich dieser Effekt tatsächlich ein, und nun übernahmen auch viele andere Nationen den neuen illeistischen Kodex. Binnen kürzester Zeit hatte er die Umgangssprache verändert, und das Pronomen ich verlor besonders in den germanischen und romanischen Untergruppen der indoeuropäischen Sprachen an Bedeutung. Als 2095 das erste General Global Government entstand und Internationalismus und globale Kooperation verstärkt wurden, galt die Verwendung des Pronomens ich bereits als gesellschaftlicher Fauxpas.›» Rouge hörte auf zu lesen. Offensichtlich begann sie sich zu langweilen.
«Das Buch liefert Tipps, wie sich die Verwendung der ersten Person Singular vermeiden lässt», erklärte Finn und zeigte ihr das Inhaltsverzeichnis. «Indem man zum Beispiel ‹ich› durch ‹wir› ersetzt oder eine Frage formuliert, statt eine persönliche Meinung zu äußern. Und so weiter. Alles Dinge, die uns heute selbstverständlich sind.» Er nahm ihr das Buch aus der Hand und stellte es zurück an seinen Platz im Schrank. «Hattest du nicht gesagt, du hast Hunger? Eine Berryola vielleicht?»
Rouge schaute sich in der Küche um. «Hübsch», sagte sie und wandte sich dann zu Finn. «Wie ist der Anruf letzte Nacht eigentlich gelaufen?»
Finn zuckte die Achseln. «Dieser Historiker kann nur hoffen, dass er das Richtige tut. Es ist ein Tagebuch. Vermutlich von einem dreizehnjährigen Mädchen.»
«Oje. Klingt nicht sehr prickelnd.»
Finn holte die Berryola aus dem Kühlschrank. «Vielleicht ja doch. – Hast du Lust auf Fisch zum Lunch? Auf der anderen Seite der Bucht ist eine Sea Farm.»
«Ausgezeichnet.»
«Hummer? Wal?» «Wie wär’s mit Hai?»
Finn lachte auf.
«Warum lachst du?»
«Dieser Freund hat richtigerweise vermutet, dass du dich für Hai entscheiden würdest», sagte er. Er schaute ihr in die Augen. «Du bist ein Raubtier, Rouge Marie Moreau. Das weiß doch jeder.»
Sie lachte, trank einen Schluck von ihrer Berryola und sagte dann: «Und meine Beute? Wo ist die?»
Es war ein strahlender Morgen, und von dem Greenway aus gesehen war Greifswald in goldenes Licht getaucht. Alles duftete nach dem Regen der letzten Nacht, nach nassem Laub, feuchter Erde, dem zu erwartenden kühleren Herbstwetter und nach Verheißung. Finn blieb kurz an einem Kiosk stehen und kaufte sich eine Tüte gebrannte Mandeln. Ein Piepston signalisierte ihm, dass der Inkasso-Sensor der Robo-Verkäuferin sich in sein BB-Bankkonto eingeloggt und die Summe abgebucht hatte. Er riss die Tüte auf und kostete die Süßigkeit, während er weiterschlenderte. So leicht war ihm schon seit dem Unfall seiner Familie nicht mehr ums Herz gewesen. Die Aussicht auf die neue Aufgabe – einen Prestige-Job! – hatte seine Stimmung gehoben. Heute würde er das Pinkfarbene Tagebuch – oder genauer gesagt, dessen Tru-Copy – in den Händen halten. Er wandte den Blick hoch zur Europäischen Bibliothek.
Das Gebäude ragte turmhoch in den Himmel und beherrschte das Stadtbild von Greifswald, gerade an der Stelle, wo bis zu seinem Einsturz der mittelalterliche Dom der Stadt gestanden hatte. Erbaut vor 150Jahren, barg diese Bibliothek, die älteste von nur drei auf dem Kontinent, die größte Büchersammlung Europas. Leider war der Bestand von 72Millionen Büchern, wenn man bedachte, was alles verlorengegangen war, letztendlich nur Peanuts.
Die Bibliothek hatte den Spitznamen «Eisberg» und sah auch wirklich so aus: Sie war ringsum verglast und verspiegelt, war auf dem Erdboden 325Metern breit, stieg unregelmäßig an und schraubte sich höher und höher hinauf, um schließlich bei 99,79Metern Höhe in eine Spitze zu münden, die all die rot gedeckten Gebäude im näheren Umkreis winzig erscheinen ließ. Im Inneren war es trotz der Glasfassaden eher düster und still, die Schritte der Besucher hallten auf den weißen Marmorböden und das Echo ihrer Stimmen schallte von den Wänden wider. Aber es gab nur wenige Besucher.
Getreu ihrem Spitznamen lag der größte Teil der Europäischen Bibliothek unter der Oberfläche, nämlich unterirdisch, zwölf Stockwerke tief. Das Magazin, die «Katakomben» genannt, die letzte Ruhestätte für die Bücher Europas, war auf dem Grund 520Meter lang und 400Meter breit.
Dr.Dr.Rirkrit Sriwanichpooms Büro lag nur wenige Stockwerke unter der Spitze des Eisbergs. Bisher war Finn noch nie höher gekommen als bis zum 17.Stock, wo in den Konferenzräumen die jährliche Silvesterfeier der Bibliothek stattfand. Normalerweise fuhr er mit dem Glaskäfig nach oben, aber er hatte noch ein paar Minuten Zeit und beschloss, die Besucherroute über den Korkenzieher zu nehmen, die gewundene Rolltreppe, die sich gemächlich nach oben schraubte und einen grandiosen Ausblick über ganz Greifswald bot. Unterwegs schaute er sich die Holo-Show an, in der das Archiv für die toten Sprachen seine größten Schätze zeigte. Dort fanden sich die kläglichen Überreste der nordeuropäischen Sprachen, die während des Dark Winter durch Auswanderung, Flucht und den Tod so vieler Menschen ausgestorben waren: Deutsch, Niederländisch, Dänisch, Schwedisch, Norwegisch und Finnisch.
Einige Hauptattraktionen des Eisbergs hatte er als Student bereits im Original gesehen, etwa die Gutenberg-Bibeln. Andere hatte er in Form von Tru-Copys studiert, so zum Beispiel die Erstausgabe von Goethes Die Leiden des jungen Werthers. Einmal hatte sein Freund Renko Hoogeveen vom Archiv für die toten Sprachen ihn sogar einen Originalversandhauskatalog von Quelle aus dem Jahr 1992 durchblättern lassen. Das war natürlich streng verboten, denn dieser Katalog und die Erstausgabe des Groschenromans Dr.Norden aus dem Jahre 1973 zählten zu den bedeutendsten Funden aus dem zwanzigsten Jahrhundert.
Am letzten Ausstieg im 17.Stock trat Finn vom Korkenzieher und fuhr das letzte Stück zum 23.Stock mit dem Glaskäfig nach oben.
Man führte Finn durch den Thronsaal in Dr.Dr.Sriwanichpooms Bibliothekskammer. Auf einem Glazex-Tisch lag das Pinkfarbene Tagebuch. Der Bibliotheksdirektor reichte es Finn mit einer feierlichen Geste. «Bitte, öffnen Sie es. Werfen Sie einen Blick hinein. Unser Labor hat sich die allergrößte Mühe damit gegeben.»
Finn schlug die Tru-Copy auf. Die Handschrift darin war groß, mit betont runden Schlaufen.
«Groß, was?», sagte der Direktor. «Und dann die betont runden Schlaufen.»
Finn schaute auf. Das verblüffende Talent des Direktors, Gedanken zu lesen verunsicherte ihn jedes Mal.
«Nur zu», sagte Dr.Dr.Sriwanichpoom. «Schauen Sie weiter, bitte.»
Finn blätterte zur ersten Seite und runzelte die Stirn. Statt schlichter i-Punkte hatte die Autorin jedes i mit einem kleinen Herzen verziert. Und jedes O war ein kleines Smiley. Oje. Worauf hatte er sich da bloß eingelassen? Das Papier war liniert, dünn, von schlechter Qualität, und es raschelte. «Das Labor hat wirklich ausgezeichnete Arbeit geleistet. Die Seiten machen sogar ein knisterndes, raschelndes Geräusch», sagte Finn.
«Nett», murmelte Dr.Dr.Rirkrit Sriwanichpoom, offensichtlich nicht besonders interessiert. «Leider müssen wir es jetzt kurz machen. Dieser Direktor steht unter Termindruck. Bitte lassen Sie uns doch wissen, wenn Sie den Namen der Autorin herausgefunden haben. Oder wenn Sie mit der Entschlüsselung des Dokuments fertig sind. Je nachdem, was zuerst eintritt. Alles klar?»
«Selbstverständlich.»
«Es war mir ein Vergnügen», sagte der Direktor mit seinem typisch unterkühlten Näseln, sodass Finn den Eindruck gewann, er meinte eigentlich das Gegenteil. Schon wieder beschlich ihn das eigenartige Gefühl, dass ihn der Mann an irgendwen erinnerte.
«Ach so», sagte Dr.Dr.Sriwanichpoom, «richten Sie doch bitte Ihrer bezaubernden…» Er stockte einen Moment, als suchte er nach dem richtigen Wort, «…Freundin herzliche Grüße aus.»
«Sir?», fragte Finn irritiert.
«Rouge», sagte der Direktor. «Rouge. Marie. Moreau. Der Name passt zu ihr. Sie ist doch eine… Freundin, oder?»
«Ja, natürlich», sagte Finn.
«Keine… Gefährtin?», fragte der Direktor.
«Nein», sagte Finn. «Nein.»
«Eigenartig. Dieser Direktor hatte den Eindruck, Sie beide wären physisch kompatibel.»
Finn spürte, wie er rot wurde. Woher wusste der Mann von ihm und Rouge?
«Wie alt sind Sie jetzt?», erkundigte sich der Direktor.
Doc-Doc musste das sicher wissen. Finn schluckte trocken. «Sechsundzwanzig.»
«Da wird es aber allmählich Zeit, dass Sie sich eine Gefährtin suchen, finden Sie nicht? Sonst müssen wir eine für Sie finden. Wir sehen es gern, wenn unsere Mitarbeiter ihr Bestes geben. An allen Fronten.»
Finn nickte. «Jawohl, Sir.» Er wandte sich zum Gehen.
«Ach ja! Mr.Nordstrom?»
Finn drehte sich wieder um.
«Die Bibliothek hat mit großem Bedauern die Sache mit Ihrer Familie erfahren. Es muss ein enormer Verlust gewesen sein.»
«Ja», sagte Finn. «Das war es. Ist es.» Er nickte knapp und ging aus dem Raum.
Draußen atmete Finn tief durch. Ein Tagebuch, dachte er. Ein pinkfarbenes Vinyltagebuch. Mit Herzchen. Und Smileys. Er seufzte.
Finn ließ eine Zing-Tablette in seinen dampfenden Ingwertee fallen, wartete bis sie sich auflöste, rührte kurz um, und nippte vorsichtig an dem Gebräu. Heiß. Aber er fühlte sich sofort erfrischt und wach. Er öffnete das Tagebuch und begann seine Arbeit.
Donnerstag, 22.Mai 2003
Heute ist mein Geburtstag, (ich bin jetzt 13!), deshalb bin ich total früh aufgestanden, um halb sieben, genauer gesagt, (wir alle, sogar Robert!), weil ich genug Zeit haben wollte, meine Geschenke auszupacken, bevor ich zur Schule musste, und außerdem hatte ich mir von Papa Arme Ritter zum Frühstück gewünscht, was er immer so lecker macht, und er hat gesagt, er würde mir das machen, aber dann hat Mama gesagt, nur wenn ich meine Schulsachen und alles schon am Abend vorher fertig mache und rechtzeitig angezogen bin und nicht rumtrödele, deshalb habe ich schon gestern Abend alles zusammengepackt und so (auch wenn das krasse Erpressung von Mama war) und habe auch meine Klamotten sorg fältig ausgesucht und rausgelegt (mein cranberryrotes und pfirsichfarbenes Batikkleid mit dem grün-blauen Rand, meine blauen Leggings, grüne Socken und orangefarbene Sneaker), und weil ich den Wetterbericht gehört habe und wusste, dass es heute schon wieder kalt und regnerisch wird, habe ich beschlossen, meine Jeansjacke anzuziehen, aber zuerst musste ich noch die angetrockneten Erdbeerjoghurtflecken abkratzen (auf der rechten Brusttasche vom Mittagessen letzten Sonntag bei Tante Gesine), damit Mama mich deswegen nicht anmeckert, von wegen ich soll besser auf meine Sachen aufpassen und doch bitte schön ein Vorbild für meine kleine Schwester Madeline sein, die zwei Jahre jünger ist als ich und (wenn Du’s genau wissen willst) eine echte Schlampe.
Finn atmete aus, als er den Punkt am Ende des Satzes erreichte. Ging es jetzt in dem ganzen Tagebuch so atemlos weiter? Musste er sich auch um die Interpunktion der Verfasserin kümmern? Behutsame Korrekturen hier und da würden den Text sicher zugänglicher machen. Andererseits war der Stil recht flüssig. Vielleicht etwas oberflächlich, aber nicht schlecht geschrieben für eine Dreizehnjährige. Alles in allem sah es nach einer unproblematischen Übertragung ins Englische aus.