4,99 €
Von der Vergangenheit eingeholt, kämpft sie damit die Wahrheit ans Lich kommt. Vor vielen Jahren hat Psychologin Ina Grieg ihre Heimat in den tiefen Wäldern Norwegens verlassen – eigentlich für immer. Ein Klassentreffen bringt sie zurück an den Ort ihrer Kindheit. Irgendetwas stimmt dort nicht. Ina erhält Briefe von einer ehemaligen Mitschülerin, die als 14-Jährige spurlos verschwunden ist. Ist sie wirklich noch am Leben? Während alte Feindschaften heftig aufflackern, versucht Ina, jetzt, Jahrzehnte später, endlich die Wahrheit herauszufinden und entdeckt, dass damals entsetzliches Unrecht geschah.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 299
Der Autor
Der Norweger Lars Mæhle wurde 1971 geboren und arbeitete mehrere Jahre als Lektor. Seit 2002 ist er freier Autor. Seine Kinder- und Jugendbücher wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, einige auch verfilmt. Seine Krimiserie um die Psychologin Ina Grieg ist in Norwegen sehr erfolgreich.
Das Buch
Von der Vergangenheit eingeholt, kämpft sie damit die Wahrheit ans Lich kommt.
Vor vielen Jahren hat Psychologin Ina Grieg ihre Heimat in den tiefen Wäldern Norwegens verlassen – eigentlich für immer. Ein Klassentreffen bringt sie zurück an den Ort ihrer Kindheit. Irgendetwas stimmt dort nicht. Ina erhält Briefe von einer ehemaligen Mitschülerin, die als 14-Jährige spurlos verschwunden ist. Ist sie wirklich noch am Leben? Während alte Feindschaften heftig aufflackern, versucht Ina, jetzt, Jahrzehnte später, endlich die Wahrheit herauszufinden und entdeckt, dass damals entsetzliches Unrecht geschah.
Lars Mæhle
Ein Fall für Ina Grieg
Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob
Ullstein
Neuausgabe bei Refinery
Refinery ist ein Digitalverlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Juni 2019 (1)
© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016
© Det Norske Samlaget, 2014
Norwegian edition published by Det Norske Samlaget AS, Oslo
Titel der norwegischen Originalausgabe: Linnés dystre lærdom (Samlaget)
Covergestaltung: © Sabine Wimmer, Berlin
Autorenfoto: © Tove K. Breistein
E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-96048-238-3
Hinweis zu Urheberrechten
Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.
In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.
»Gott, gib meinem Sohn Glück,Wissen braucht es nicht.«Carl von Linné
Ordnung
Skårnes 1984
Besenheide, Rosmarinheide, Schneeheide.
Die Namen tanzten Ringelreihen in ihrem Kopf, exakt so, wie sie sie gelernt hatte. In diesen Dingen war sie wirklich gut. Heidekräuter, Bäume, Blumen. Artnamen wie ein Mantra aufsagen, wie einen Panzer gegen das Böse, das Unerträgliche.
Pappel, Ulme, Ahorn, Linde.
Die Linde, natürlich war die Wahl auf diesen Baum gefallen. Natürlich hatten sie sie hier gefesselt. Das war so typisch für die beiden. Sie machten immer alles kaputt, was schön war. Die große, stolze Linde am Gjeldshammar, dem alten Opferplatz, der eigentlich ihr Platz war. Jetzt konnte sie nie wieder hierhin zurück, ohne dass das Grauen dieser Stunden sie erneut überkäme.
Eine Ameise krabbelte über ihre Lippen. Sie spuckte aus. Überall kribbelte und juckte es. Ameisen am ganzen Körper, unter dem Kragen ihres T-Shirts, am Rücken, an den Beinen, auf dem Gesicht und in den Ohren. Überall. Auch die Kälte war inzwischen in sie hineingekrochen. Ihre Schultern zitterten und bebten, so viele Stunden stand sie schon hier. Die beiden, die sie gefesselt hatten, mussten sie vergessen haben. Oder sie hatten beschlossen, sich nicht mehr um sie zu kümmern. Sie hatten sie einfach an ihre Linde gebunden, dicht neben dem riesigen Ameisenhaufen, als wäre das ein Spaß.
Jetzt blieb Tom und ihr nur noch ein heiliger Ort, an dem sie sein konnten und der ihnen allein gehörte. Die Ruinen des alten Siedlungsplatzes. Bei dem Brunnen, der am Abend raunte …
Bis jetzt hatte sie noch keine Träne vergossen. Den Gefallen wollte sie ihren Peinigern nicht tun. Aber sie hatte die Augen geschlossen, wollte die Ameisen nicht sehen, die überall herumwimmelten. Sie zu sehen, hätte ihr den Verstand geraubt. Ihr Herz zum Rasen gebracht, ihre Verzweiflung und ihre Angst geschürt, die Tag und Nacht in ihrem Körper schwelten. Und genau das wollten sie ja.
Sie richtete ihre Gedanken wieder auf die Pflanzennamen und konzentrierte sich gleichzeitig auf den Strick, mit dem sie gefesselt war. Seit Stunden rieb sie ihn über die raue Rinde des dicken Stamms. Aber auch ihr Unterarm kratzte dabei über die Borke, und die Schmerzen wurden immer schlimmer.
Lavendel, Ziest, Thymian, Katzenminze.
Sie stand mit geschlossenen Augen da und scheuerte sich die Unterarme blutig. Hatte das Gefühl für die Zeit und die Schmerzen längst verloren.
Mit einem Mal kam ihr ein schrecklicher Gedanke. Bald war zu viel Zeit verstrichen. Mit jeder Sekunde, die verging, wurde das, was die beiden getan hatten, schlimmer. Und damit wurde es für sie selbst immer gefährlicher.
Was, wenn sie in Panik gerieten? Auf welche Ideen würden sie kommen, wenn sie sich bedroht fühlten?
Wald-Storchschnabel, Stinkender Storchschnabel, Blut-Storchschnabel.
Die Verzweiflung lähmte Sonja, wie sehr sie auch versuchte, Toms Rat zu befolgen und sich auf die Pflanzen zu konzentrieren. Er wusste, wie die beiden tickten, wie sie dachten. Er war früher auch einmal ihr Opfer gewesen. Der Weg zum Sieg führt über die Gedanken, sagte er immer. Und dass man mental stärker sein musste als sie. Seine Stimme hallte klar und deutlich durch ihren Kopf:
Kümmer dich nicht um die, die sich nicht kümmern. Nie!
Sie verstand nicht immer, was er meinte. Er wusste so viel, hatte so viel gelesen, besonders über die Flora. Carl von Linné. Über Pflanzen wusste er wirklich alles, über Blumen und Wildkräuter. Aber sie verstand genug, um genau hinzuhören, wenn er erzählte. Wenn er über die beiden sprach. Dass auch sie ein Teil des Ganzen seien, ein Puzzlesteinchen in dem großen Plan Gottes, der alles erschaffen hatte – die Natur, die Pflanzen, die Landschaft.
Auch diese beiden gehörten dazu, obwohl sie bösartige Abarten waren, Resultat eines Irrwegs der Natur.
Erst jetzt …
Plötzlich erinnerte sie sich an die Schlägerei damals vor dem Jugendclub.
Den Gerüchten zufolge waren die beiden von mindestens zehn Schlägern umringt worden. Die beiden hatten lange genug ihr Unwesen getrieben, darüber waren sich alle einig, und schließlich hatte sich eine ganze Horde zusammengetan, um sie endlich einmal in die Schranken zu weisen.
Doch es war anders gekommen.
Denn als sie sich dem Älteren der beiden näherten, packte der plötzlich ein Stahlrohr und schlug es dem Erstbesten ins Gesicht. Das war es dann auch schon gewesen. Alle hatten sich zurückgezogen. Völlig darüber im Klaren, dass diese beiden immer einen Schritt weiter gehen würden, dass sie immer brutaler und gefährlicher sein würden als sie alle zusammen.
Diese beiden würden immer gewinnen.
Hundsveilchen, Hainveilchen, Ackerveilchen.
Sie war erst vierzehn Jahre alt und wollte weg von alldem, weg aus diesem Kaff – möglichst weit weg, vielleicht in ein anderes Land. Aber sie schaffte es nicht, traute sich nicht, weil die beiden immer etwas gegen sie in der Hand haben würden. Sie wussten, was sie nicht wissen durften. Sie wussten von ihm. Von dem Verbotenen. Hier. Unter der Linde.
Er war der Einzige, den sie noch hatte. Er und der Brunnen, der am Abend raunte …
Widertonmoos, Torfmoos, Gemeines Weißmoos.
Sie ruckte hin und her und rieb sich die Unterarme blutig. Sie sah nichts. Aber sie nahm die Gerüche wahr, obwohl sie versuchte, auch die auszusperren. Den erdigen, feuchten Duft von Waldboden. In der ersten Stunde ihrer Qual hatten die Sonnenstrahlen sie noch erreicht. Deshalb war hier an dieser Stelle, dicht bei der Linde, auch der riesige Ameisenhaufen. Sie hatte die Lider gegen die Sonne geschlossen. Nach Sonnenuntergang hatte sie sie geschlossen gehalten, um sich auf die Worte konzentrieren zu können und nicht an die Ameisen denken zu müssen.
Straußenfarn, Dornfarn, Wiesenschachtelhalm, Teichschachtelhalm.
Aber wie sehr sie sich auch auf das Aufsagen der Artnamen konzentrierte, es meldeten sich doch immer auch andere Gedanken. Bruchstücke der Geschehnisse vom Nachmittag kamen zu ihr zurück.
Sie hatte sich so gut gefühlt, zum ersten Mal seit langem – seit einer Woche, um genau zu sein –, und wollte Tom gleich nach der Schule am raunenden Brunnen treffen. Ihre Mutter glaubte, sie wollte zu einer Freundin. Aber heute wartete er auf sie, tief im Inneren des Waldes, wie er es montags gegen drei immer tat. Sie hatte den schmalen Pfad genommen, der an der Schule begann und von der beleuchteten Loipe abzweigte, die nach unten zum Fußballplatz führte. Sie hatte wirklich geglaubt, dort vor den beiden sicher zu sein. Sie interessierten sich weder für Fußball noch für irgendeinen anderen Sport. Auf jeden Fall hatte sie sie nie auf dem Sportplatz gesehen.
Aber sie mussten sie ausspioniert haben.
Denn wer wartete unten auf dem Fußballplatz? Völlig perplex hatte sie dann auch die dritte Person bemerkt. Was um Himmels willen …?
Sie hatte gleich erkannt, dass sie in ihr Unglück lief, und auf der Stelle kehrtgemacht, aber der Jüngere der beiden hatte ihr nachgesetzt und sie eingeholt. Dann waren seine Arme überall gewesen.
Und alles war stehengeblieben.
Es hatte ihr den Atem verschlagen, als sie auf den Boden geklatscht war. Er hatte sich auf sie gesetzt, ihr die Arme auf dem Rücken festgehalten und ihr Gesicht in den Boden gepresst. Gras und Erde an den Lippen. Irgendwann gelang es ihr, den Kopf zur Seite zu drehen, nur um direkt in das höhnisch grinsende Gesicht des Jüngeren zu blicken. Verzweifelt suchten ihre Augen nach anderen Menschen, aber außer den dreien war niemand zu sehen. Niemand, der ihr aus der Patsche hätte helfen können. Der Jüngere packte ihren rechten Unterarm, zerrte sie brutal hoch und führte sie zu den anderen. Anfangs hatte sie noch gehofft, irgendwie davonzukommen. Es war ja nicht gesagt, dass die beiden wirklich etwas Schlimmes mit ihr vorhatten, schließlich waren sie nicht allein. Vielleicht hielten sie sich ja zurück. Dann war ihr aber sehr schnell klargeworden, dass sie sich schon vorher gegenseitig angestachelt haben mussten.
Der Ältere erzählte eine Geschichte von einem jungen Mädchen aus den USA. Eine wahre Geschichte. Sie hatte in der Nähe einer Schule gewohnt, und was sie getan hatte, war auch an einem Montag passiert. Sie hatte am Fenster gesessen und zugesehen, wie die Kinder zur Schule gingen. Und dann hatte sie aus heiterem Himmel das Gewehr ihres Vaters genommen und wahllos auf die Leute geschossen.
Zwei Erwachsene waren gestorben und acht Kinder verletzt worden.
Das Mädchen hieß Brenda Ann Spencer und war zu dem Zeitpunkt erst sechzehn Jahre alt. Diese Informationen hatten sich in Sonjas Gedächtnis eingebrannt.
Brenda Ann Spencer. Sechzehn Jahre. Zwei Tote. Acht Verletzte.
Nach den Schüssen hatte sie sich sieben Stunden lang in ihrem Zimmer eingeschlossen, erzählte der Ältere. Sie wollte nicht mit der Polizei reden. Schließlich war es einem Journalisten gelungen, zu ihr vorzudringen. Auf die Frage, warum sie diesen Wahnsinn gemacht hatte, warum sie wahllos auf Passanten und Kinder geschossen hatte, antwortete sie: »I don’t like Mondays. This livens up the day.«
Der Ältere lachte an diesem Punkt der Geschichte schallend, als hätte er nie etwas Witzigeres gehört. Der Jüngere lachte natürlich mit. Zu ihrer Überraschung lachte auch die dritte Person.
In diesem Moment hatte sie wirklich Angst bekommen.
Dann hatten sie sie in den Wald gezerrt. Zu ihrem Entsetzen war auch die dritte Person mitgekommen, ohne zu protestieren. Sie konnte nicht glauben, dass das wirklich geschah.
Sie zerrten sie tief in den Wald, und bald wusste sie, wohin sie mit ihr wollten.
Irgendwann waren sie hier, bei der Linde am Gjeldshammar, genau dort, wo die beiden Tom und sie auf frischer Tat ertappt hatten. Der Ältere holte einen langen Strick hervor, als hätte er alles von langer Hand geplant. Und dann fesselten sie sie lachend an den dicken Stamm. Als sie fertig waren, pisste der Ältere noch in den Ameisenhaufen, um die Insekten ein bisschen aufzuscheuchen, wie er sagte.
Irgendwann verloren sie das Interesse an ihr und gingen.
Die Kälte kroch immer tiefer in sie hinein. Und die Ameisen krabbelten und krabbelten. Die Unterarme rieben über die raue Borke.
Aber …
Es wurde lockerer.
Etwas gab nach.
Der Strick.
Er zerfaserte.
Nittedal, Mai 2014
Ein lauter Knall. Die Windschutzscheibe zersplittert. Überall Glas.
Der Elch im Straßengraben, die Hinterbeine seltsam verdreht. Der tödliche Stein. Die Unterführung. Die unmenschlichen Schreie. Sonja …
Ina Grieg richtete sich im Bett auf, plötzlich hellwach. Ihr Herz raste. Streiflichter des Traums zogen noch immer über ihre Netzhaut. Was war das denn gewesen? Erinnerungen aus einer vergessenen Zeit. Warum tauchten die jetzt, so viele Jahre später, in ihrem Traum auf?
Ina warf rasch einen Blick auf die andere Seite des Doppelbetts, aber ihr Ehemann war nicht da. Ihre Augen huschten zum Wecker: Sonntag, 11.30 Uhr.
Sie ließ sich nach hinten fallen, noch immer ganz durcheinander. Dann erinnerte sie sich. Amund und die Zwillinge waren unterwegs zum Forellenfischen. Amund wollte die neuen Fliegen ausprobieren. Und die Mädchen hatten ihre eigenen Prinzessinnenangeln mit. Sie selbst durfte ausschlafen, den verzweifelten Versuch unternehmen, die vielen durchwachten Nächte der letzten Zeit zu kompensieren.
Sie wünschte sich nichts mehr, als wieder einschlafen zu können, wusste aber, dass das niemals klappen würde.
Die Bilder aus dem Traum würden sie wachhalten. Das Auge des Elchs. Die Schreie in der Unterführung. Sonjas Gesicht. Schnappschüsse aus der Wirklichkeit.
Aber warum jetzt?
Langsam und mit zunehmendem Widerwillen tauchte Ina in ihre Erinnerung ab.
Als sie den Unfall mit dem Elch gehabt hatte, war sie erst achtzehn gewesen und hatte noch bei ihren Eltern in Skårnes gewohnt. Die Familie war fünf Jahre zuvor dorthin gezogen, weil ihr Vater, Major Gunnar Grieg, zur Luftwaffe nach Kjeller versetzt worden war. Er hatte sofort begonnen, ein Haus zu suchen, das seinen Ansprüchen und seinem Ego genügte, und war dabei weit aus dem ursprünglich geplanten Suchradius hinausgeraten. Schließlich landete er – und damit auch seine Familie – in einem mit dreihundert Quadratmetern viel zu großen Haus am Stadtrand von Skårnes. Und Ina durfte ihre Jugend dann in diesem Satellitenstädtchen am Rande des Großraums Oslo verbringen.
Ina hatte allein im Auto gesessen, als sie mit dem Elch kollidiert war. Wohin sie damals unterwegs gewesen war, wusste sie nicht mehr. Vermutlich war sie einfach nur so herumgefahren, um das Leben, ihre Jugend, ihre Freiheit zu genießen. The Cure schallte in voller Lautstärke durch den Wagen, bis von einem auf den anderen Augenblick alles anders gewesen war.
Der Knall.
Der Schock.
Plötzlich war alles still gewesen, nur das splitternde Glas hatte geknistert.
Der Zusammenstoß war ebenso brutal wie kurz gewesen. In ihrer Erinnerung dauerte er trotzdem Stunden. Jahre.
Ina selbst war auf wundersame Weise nichts passiert, außer einem kleinen Schnitt an der Wange. Das Blut rann ihr über Kinn und Hals, aber sie verstand nichts. Was um alles in der Welt war passiert? Der Wagen sah aus wie eine Ziehharmonika, besonders die Frontpartie und die rechte Seite. Die Windschutzscheibe war weg und der Beifahrersitz vollkommen plattgedrückt. Eine Todesfalle.
Auf einmal war ihr klargeworden, dass sie einen Schutzengel gehabt haben musste.
Dann war sie unter Schock wild um das Auto herumgerannt. Überall nur Bäume. Der asphaltierte Streifen verschwand in einer grünen Wand. Sie war eine Gefangene des Waldes, um sie herum nur dunkle, schmerzende Stille. Sie konnte nicht mehr tun als darauf zu warten, dass irgendwann ein Auto vorbeikam.
Vielleicht jetzt gleich, vielleicht morgen.
Während sie verwirrt und apathisch dastand, drangen plötzlich die merkwürdigen Schreie an ihr Ohr. Sie kamen vom Waldrand und schnitten sich direkt in ihre Seele: tierisches, halb ersticktes Stöhnen.
Sie war langsam in Richtung der Laute gegangen, über die Leitplanke geklettert und die Böschung nach unten getaumelt.
Der große Elch lag auf der Seite im Gras. Ein gewaltiger Bulle mit majestätischem Geweih. Die Hinterbeine waren vollkommen verdreht. Ein Auge starrte leer in die Luft. Das Tier lebte noch, bekam aber nichts mehr mit. Es wusste nicht, dass zwei Meter vor ihm ein Mensch stand.
Noch jetzt, fünfundzwanzig Jahre später, sah Ina den Kopf des Elches vor sich. Sie spürte förmlich wieder das weiche, verschwitzte Fell unter den Fingerkuppen. Auch an die Worte, die sie dem Tier zugeflüstert hatte, als sie neben ihm in die Hocke gegangen war, erinnerte sie sich noch: »Ruhig, ganz ruhig, alles wird gut.«
Eine Lüge. Der Elch würde nicht mehr lange leben.
Ina war machtlos. Es kam kein Auto, auch kein Förster, der das Tier mit einer Kugel hätte erlösen können. Sie hockte sich neben den Elch und streichelte sein Fell. Etwas anderes konnte sie nicht tun. Dann bemerkte sie, dass das Auge des Elchs nicht mehr leer in die Luft starrte, es sah sie an.
Noch heute lief ihr bei der Erinnerung daran ein Schauer über den Rücken.
Sie wusste noch ganz genau, wie sie aufgestanden und in den Wald getaumelt war. Auf der Suche nach etwas, womit sie das Tier von seinen Schmerzen erlösen konnte.
Nach kurzer Zeit fand sie einen großen Granitbrocken – als hätte er seit Ewigkeiten nur auf diesen Augenblick gewartet. Sie konnte ihn gerade eben hochheben. Trotzdem gelang es ihr, ihn bis zu dem Tier zu bugsieren.
Der Elch stöhnte jetzt nicht mehr. Er atmete stoßweise, keuchend. Das Auge starrte sie an.
Bitte.
Sie nahm all ihre Kraft zusammen, hob den bleischweren Stein an und hielt ihn einen Moment schwankend über den Elchkopf. Dann ließ sie ihn fallen …
Ein normaler Alptraum hätte an diesem Punkt geendet. Sie hätte sich verschwitzt und mit klopfendem Herzen im Bett aufgerichtet.
Doch als im Traum der Stein auf den Elchkopf zuraste, wurde sie wie von Geisterhand in eine andere Jugenderinnerung katapultiert.
Plötzlich joggte sie über den Fahrradweg in Skårnes. Es war mitten im Winter. Sternenklar. Eiskalt. Der Schnee knirschte unter ihren Sohlen. Die Fräskanten reichten ihr bis zur Hüfte. Sie rannte den abschüssigen Weg entlang, bis sie sich der Unterführung näherte.
Die dunkle Öffnung war nur noch wenige Schritte entfernt.
Die geraden Betonwände führten in einem rechten Winkel auf den Fahrradweg. Sie wusste nicht, was sich in der Unterführung verbarg, konnte nicht um die Ecke blicken, aber im Traum ahnte sie bereits die Schreie. Ihr graute davor, und sie versuchte, sich zusammenzureißen.
Trotzdem versetzten die Schreie sie in Schockstarre, als sie sie dann hörte. Die ängstliche, schrille Stimme des Mädchens ging ihr durch Mark und Bein. Wie auch das Schnauben des Mannes. Ina blieb wie angewurzelt auf dem Fahrradweg stehen. Wenige Meter vor dem Eingang.
Und die Zeit blieb stehen. Ihr Herz stockte.
Sie stand einfach da und lauschte den Geräuschen. Dem unmenschlichen, schmerzerfüllten Stöhnen. Wieder und wieder. In der Unterführung wurde jemand vergewaltigt, und sie wagte nicht, bis an die Ecke zu gehen und zu schauen, wer sich darin verbarg.
Stattdessen erklomm sie die Fräskante, wühlte sich ein paar Sekunden lang durch den losen Schnee und kletterte auf die Bundesstraße, wo sie wie wild zu rennen begann – weg von den Schreien, weg von der Unterführung.
Sie hielt es nicht aus. Wollte nur, dass die Schreie aufhörten.
Sie spurtete über die breite Straße, kam im Traum aber nicht vom Fleck. Stattdessen wurden die Schreie immer lauter und stürmten von allen Seiten auf sie ein. Verzweifelt sah sie in den sternenklaren Himmel, und ihre Augen suchten den Vollmond, der doch irgendwo dort oben sein musste.
Noch einmal durchzuckte es sie.
Denn statt des weißen, wehmütigen Mondes hing dort oben Sonjas Gesicht.
Sie starrte sie mit traurigen, vorwurfsvollen Augen an, und eine eisige Kälte breitete sich in Inas Körper aus.
An diesem Punkt war sie aus ihrem Traum aufgewacht.
Es war Sonntagvormittag, und sie blieb im Bett liegen. Woher kam dieser Traum? Und warum kam er jetzt?
Gleich darauf fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Der Brief. Die verdammte Einladung. Deshalb war ihr Unterbewusstsein derart in Aufruhr geraten, dass alles wieder an die Oberfläche gespült wurde.
Sie schob die Beine aus dem Bett, schlüpfte in ihre Pantoffeln und ging über den Flur in ihr Arbeitszimmer. Ihre Finger zitterten, als sie sich dem Umschlag näherten, der ganz oben auf dem Papierstapel lag.
Ein paar Minuten später stand Ina fröstelnd auf dem Balkon. Sie trug ihren Parka über dem Pyjama und zog nervös an ihrer Zigarette. Ihre Gedanken kreisten. Natürlich hatte dieser Alptraum gerade jetzt kommen müssen, da sie endlich einmal etwas Zeit für sich allein hatte.
Auf dem Umschlag in ihrer Hand stand in blauer Tinte ihr Name. Die adrette, schwungvolle Schrift hatte sie sofort erkannt. Absender: Benedikte Moene. War ja klar. Wer sonst konnte so boshaft sein, sie alle noch einmal zusammenzutrommeln? Die Leitfigur der Klasse. Zu der alle aufgeschaut hatten, oder besser gesagt, mit der es sich niemand hatte verscherzen wollen.
Als der Brief am Freitag in ihrem Briefkasten lag, hätte Ina ihn am liebsten in tausend Stücke gerissen, die Schnipsel verbrannt und die Asche in den Dreck getreten. Aber es war ihr gelungen, sich wieder zu beruhigen, nur um sich gleich darauf zu fühlen wie damals, als Jugendliche. Ein Reflex, der sich immer dann meldete, wenn sie verunsichert und erregt war – und jemanden zum Reden brauchte.
Sie wollte Katrine anrufen.
Katrine war damals ihre beste Freundin gewesen, die einzige, der sie wirklich vertraut hatte.
Aber dann hatte sie das Gespräch doch aufgeschoben. Vorerst.
Jetzt stand sie auf dem Balkon und spürte erneut das Verlangen, mit Katrine zu reden. Sie versuchte sich zu erinnern, wann sie die Freundin zuletzt gesehen hatte. Es war viele Jahre her, vielleicht damals, als sie …
Sie erstarrte. Eine weitere düstere Erinnerung: Katrines grün und blau geschlagenes Gesicht auf dem Krankenhauskissen, während sie selbst kleinlaut mit einem Blumenstrauß in der Tür stand.
Sie wusste noch genau, wie bedrückt sie in diesem Augenblick gewesen war. Schließlich war sie für den gebrochenen Wangenknochen und die schwere Gehirnerschütterung verantwortlich gewesen.
Die beiden Freundinnen waren 1989 in der Vorrunde der norwegischen Kickboxing-Meisterschaft aufeinandergetroffen. Der Kampf hatte nur eine halbe Minute gedauert. Dann hatte Ina Katrine mit voller Wucht oberhalb des Wangenknochens erwischt. Viel zu hart. Noch Wochen danach hatte ihre Hand geschmerzt.
Augenblicklich war das Funkeln in Katrines Augen erloschen und ihr Körper zu Boden gesackt, begleitet vom kollektiven Aufstöhnen des Publikums.
Eine schreckliche Erinnerung.
Katrine war mehrere Minuten bewusstlos gewesen und musste aus der Halle getragen werden. Ina wusste noch genau, wie ruhelos sie anschließend gewesen war. Sie war zu Katrine geeilt, um sich zu vergewissern, dass mit ihr alles okay war. Die Freundin war aber nicht ansprechbar gewesen. In ihrer Panik hatte Ina daraufhin alle weiteren Kämpfe abgesagt.
Ina inhalierte tief und zog den Parka enger um ihren Körper. Ihr Blick fand die dünne, kaum sichtbare Mondsichel über den Hügeln von Romerike. Sonja. Ihr Gewissen nagte an ihr. Sie musste Katrine anrufen. Jetzt.
Sie rief den Namen in der Kontaktliste ihres Handys auf und wählte die Nummer. Nach dem dritten Klingeln hörte sie Katrines Stimme »Hallo« sagen und wurde fünfundzwanzig Jahre zurückgeworfen.
»Hallo, Katrine.«
»Hey … Ina? Das ist ja Ewigkeiten her.«
Es entstand eine lange Pause. Ina wusste nicht, wie sie die Stille deuten sollte.
»Du kannst dir vielleicht denken, warum ich anrufe?«, sagte sie schließlich.
»Äh … nein.«
Ina bereute bereits, zum Hörer gegriffen zu haben. Es war so ungewohnt, bei Katrine, die früher immer so redselig und entgegenkommend gewesen war, auf Schweigen zu stoßen.
Im nächsten Augenblick änderte sich jedoch alles.
»Ach ja, klar! Das Klassentreffen!« Katrine ließ ihr vertrautes dunkles Lachen hören, und Ina entspannte sich. »Und, was meinst du, Ina. Sollen wir zwei Freigeister uns mit den Strebern versöhnen?«
»Ich habe wirklich darüber nachgedacht.«
Erneute Stille am anderen Ende, aber noch bevor Ina wieder unruhig werden konnte, sagte Katrine: »Echt, damit hatte ich nicht gerechnet.«
»Nicht?«
»Ich dachte, du wärst für Skårnes ein für alle Mal verloren.«
»Weil ich mich für was Besseres halte? Wegen meines guten Uniabschlusses?«
Kaum waren die Sätze über ihre Lippen, bereute Ina sie auch schon. Sie hatten so verdammt hochnäsig geklungen, am liebsten hätte sie sich die Zunge abgebissen. Katrine war sichtlich betroffen und suchte nach Worten. Ina kam ihr zuvor.
»Lass stecken. Ich wohne in Nittedal. Das ist nicht gerade der Nabel der Welt. Aber du … bist du noch immer in Skårnes?«
Da war wieder Katrines Lachen, auch wenn es dieses Mal etwas gezwungen klang. »Dann weißt du wohl auch nicht, mit wem ich verheiratet bin?«
»Nein. Wer ist denn der Glückliche? Oddvar?«
Ein resigniertes Raunen kam durch den Hörer. »Nee, halt dich fest, Ina. Ich bin verheiratet und habe zwei Töchter mit … Jan Stormark.«
Ina blieb die Spucke weg. »Mit Jan Stormark? Du machst Witze.«
»Na ja, bei unserer letzten Begegnung habe ich ja auch einen ziemlichen Schlag auf den Kopf bekommen«, meinte Katrine lachend.
Ina zuckte zusammen, und der Moment, in dem ihre rechte Hand Katrines Gesicht getroffen hatte, blitzte vor ihrem inneren Auge auf. Der Ruck, mit dem ihr Kopf nach hinten geschleudert worden war. Der leblose Blick.
Ina wusste nicht, was sie sagen sollte, aber Katrine half ihr aus der Klemme.
»Alles gut, Ina. Das war ein Witz. Du weißt doch, dass ich dir deshalb keine Vorwürfe mache. Das war ein Unfall. Wo waren wir?«
»Du und Jan. Verheiratet, Kinder.«
Katrine ließ wieder ihr trockenes Lachen hören. »So kann’s gehen. Vielleicht bin ich alt geworden und brauche einen festen, sicheren Rahmen. Nicht mehr die Wildheit und Rastlosigkeit der Jugend.«
Ina versuchte, die Information zu verdauen. Das war wirklich eine Überraschung. Mein Gott. Jan Stormark. Der Kerl hatte doch immer nur an seinem Pult gesessen und gelernt. Er war bei keiner Party dabei gewesen, bei keinem Spaß. Schon als Sechzehnjähriger wollte er unbedingt Arzt werden und hatte für die notwendigen guten Noten seine ganze Jugend geopfert. Während Katrine das widerborstigste Partygirl von allen gewesen war. Für Ina passte das einfach nicht zusammen.
Ganz plötzlich verspürte sie den Drang, Jan Stormark und all die anderen wiederzusehen. Während sie das Handy zwischen Ohr und Schulter balancierte und Katrines Worten zu folgen versuchte, zog sie langsam die Einladung aus dem Umschlag.
Ihr Blick glitt über die siebenundzwanzig Gesichter auf dem Abifoto. So bekannt und doch so fremd. Die 3B-Abschlussklasse des gesellschaftswissenschaftlichen Zweigs der weiterführenden Schule von Skårnes im Jahr 1989. Als Erstes suchte Ina das Gesicht ihrer Freundin. Katrine hatte klare, hübsche Züge, etwas wilde Haare, trug schwarze Klamotten und grinste verwegen. Auch mit ihrer Figur hatte sie den Jungs den Kopf verdreht, so dass die meisten Mädchen eifersüchtig auf sie gewesen waren. Eigentlich war sie wirklich hübscher gewesen als die meisten anderen in der Klasse – Ina eingeschlossen. Und da Katrine zudem über einen rohen, entwaffnenden Humor verfügte, hatte sie einen unheimlichen Schlag bei einer gewissen Art von Jungs. Sie hatte sicher vier oder fünf Freunde gehabt, bevor Ina ihren ersten hatte. Und beide hatten sich um Oddvar bemüht, den Metalfreak, mit dem sie in den letzten Schuljahren rumgehangen hatten.
Katrine hatte gewonnen. Sie und Oddvar waren das gesamte letzte Schuljahr zusammen gewesen.
Und dann entdeckte Ina Jan Stormark, ganz unten in der rechten Ecke, die Hände seltsam gefaltet, wie zum Gebet, und den Blick irgendwie nach innen gerichtet.
Das sollte verstehen, wer wollte.
Zu guter Letzt richtete sie ihren Blick auf das größte Mysterium von allen, sich selbst, die fünfundzwanzig Jahre jüngere Ausgabe von Ina Grieg.
Freches Grinsen und toupierte, schwarz gefärbte Mähne. Klar. All ihre Sachen waren damals schwarz gewesen: die Levis, der Nietengürtel, die Doc Martens – die sie sogar noch im Mai trug. Nicht zu vergessen die gebeugte Haltung, als schrie ihr Körper mit jeder Pore: »Ist mir doch egal, ich bin jung!«
Mein Gott.
Ina wurde sich plötzlich bewusst, dass Katrine sie etwas gefragt hatte. Sie schnippte die Asche von ihrer Zigarette und fragte: »Äh, was hast du gesagt?«
»Und du willst also wirklich zum Klassentreffen kommen?«
Ina überlegte. Normalerweise hätte sie so ein Treffen gescheut wie der Teufel das Weihwasser. Aber die Einladung hatte den Alptraum geweckt, und was damals passiert war, lastete schwer auf ihrem Gewissen. Sie räusperte sich.
»Ja, ich glaube schon. Ich würde mich dann gern auch gleich um ein paar andere Sachen kümmern.«
Sie spürte das Zögern am anderen Ende.
»Ich ahne, was jetzt kommt, Ina.«
»Aha. Was denn?«
»Sonja … du willst herausfinden, was geschehen ist … noch einmal.«
Ina war wie vor den Kopf geschlagen. »Wie … wie konntest du das wissen?«
»Ach, komm schon«, unterbrach Katrine sie. »Du bist so einfach zu durchschauen. Du bist doch nie über die Sache mit Sonja hinweggekommen. Wir alle nicht, wenigstens einige in der Klasse. Aber deine Reaktion hat echt alles übertroffen.«
»Findest du das denn nicht wichtig? Willst du nicht herausfinden, was mit ihr passiert ist?«
Katrine seufzte schwer. »Natürlich will ich das. Aber ich mache mich deshalb nicht so kaputt wie du, Ina. Kein Wunder, dass du Psychologin geworden bist. Alle Psychologen versuchen ja eigentlich nur, sich selbst zusammenzuflicken – mit ihrem eigenen schlechten Gewissen klarzukommen.«
Ina kämpfte einen Moment lang gegen den Drang an zurückzuschlagen. Katrine hatte da wirklich einen wunden Punkt getroffen.
»Tja, das ist der Standardwitz über uns Psychologen«, sagte sie schließlich etwas ruhiger. »Aber es ist nicht unbedingt die Wahrheit.«
»Vielleicht nicht. Aber es stimmt schon, dass du in diesen Dingen immer total aufgegangen bist, Ina. Du warst immer wie besessen. Manchmal hatte ich richtig Angst vor dir.«
»Aber schulden wir Sonja das denn nicht? Du weißt doch ganz genau, wie fies die anderen sie behandelt haben. Und wir haben auch nichts unternommen, um ihr zu helfen.«
Es dauerte eine Weile, bis Katrine antwortete, aber ihre Stimme wirkte ruhig und fest. »Es war nicht dein Fehler, dass Sonja verschwunden ist, Ina. Du musst aufhören, dir Vorwürfe zu machen.«
»Vielleicht, aber wir haben ja keine Ahnung, was damals mit ihr passiert ist. Wir wissen ja nicht einmal, ob sie noch am Leben ist.«
Wieder blieb es eine Weile still am anderen Ende. Als Katrines Stimme erneut zu hören war, klang sie spürbar beklommen. »Tja, also, es gibt wirklich einen Grund, sich die Sache noch einmal anzuschauen … Ich weiß, das ist nur Wasser auf deine Mühlen, aber …«
»Was?«
»Es ist etwas passiert, das mit Sonja in Verbindung stehen könnte. Jetzt, diesen Frühling.«
»Wirklich? Was denn?«
»Er ist wieder da.«
»Er?«
»Tom Kaser. Er ist wieder hier. In Skårnes.«
Ina lief ein Schauer über den Rücken. Die Asche fiel von ihrer Zigarette auf die Holzdielen.
»Es ist gut, wenn du zum Klassentreffen kommst«, sagte Katrine, ohne auf eine Reaktion zu warten. »Unsere Klasse kann bestimmt eine Psychologin gebrauchen, jetzt, wo ein Mörder in der Nachbarschaft haust.«
Die Neuigkeit machte Ina zu schaffen. Schließlich riss sie sich zusammen. »Tom Kaser?«, wiederholte sie mit unsicherer Stimme.
»Ja. Das Ganze ist echt creepy. Sein Vater ist vor kurzem gestorben, und er ist auf den kleinen Hof gezogen.«
Ina begann automatisch zurückzurechnen bis zum Jahr 1984.
Dreißig.
Es war genau dreißig Jahre her, dass man Tom Kaser verdächtigt hatte, etwas mit Sonjas Verschwinden zu tun zu haben. Er war damals neunzehn Jahre alt gewesen, Sonja vierzehn. Jetzt musste er an die Fünfzig sein.
Katrines Stimme holte sie zurück in die Wirklichkeit. »Wir trauen uns nicht mehr, unsere Kinder aus dem Haus zu lassen … Kannst du dir vorstellen, wie sich das anfühlt? Zu wissen, dass irgendwo da draußen im Wald ein labiler Mörder rumläuft?«
»Tut er das noch immer?«
»Die Leute behaupten jedenfalls, dass er rund um die Uhr im Wald ist. Um Ostern herum ist aber noch was anderes Merkwürdiges passiert. Plötzlich ist bei ihm auf dem Hof ein ganzer Haufen osteuropäischer Handwerker aufgetaucht. Niemand in Skårnes kannte die, und keiner weiß, was die gemacht haben. Von außen ist an den Gebäuden nichts zu sehen.«
»Vielleicht hat er einfach drinnen renoviert?«, schlug Ina vor. »Die Generation seines Vaters hatte sicher einen etwas anderen Geschmack.«
»Tom Kasers Vater war schon ein komischer Kauz. Er ist ja kaum unter die Leute gegangen.«
»Kein Wunder, bei all dem Tratsch in Skårnes.«
Katrine schnaubte. »Vielleicht kannst du ja mal zu Tom Kaser gehen, Ina? Er hatte damals doch ein Auge auf dich geworfen.«
»Auf mich?«
Sie hörte ein Seufzen am anderen Ende. »Entschuldige, Ina, aber das Ganze geht mir ziemlich nah. Nein, er hätte wirklich nicht zurückkommen dürfen.«
Ina versuchte, die Information zu verarbeiten.
Dann kam ihr plötzlich der Gedanke, dass Katrine sich irren musste. Tom Kaser durchstreifte nicht die Wälder rund um Skårnes. Das ist nur in ihren Köpfen, dachte sie. Und jetzt auch in meinem.
Ina drückte ihre Zigarette in dem überquellenden Aschenbecher aus und blies eine letzte Rauchwolke in den Vormittag. Katrines Stimme hallte noch immer durch ihren Kopf, obwohl sie das Telefonat mit der Verabredung beendet hatten, sich schon vor dem Klassentreffen zu sehen. Entschlossen trat sie vom Balkon in den Flur und zog die Treppe zum Dachboden herunter. Ihre Gedanken ratterten. Tom Kaser war zurück. Das hatte noch gefehlt.
Sie versuchte, sich zu erinnern, wie Sonjas merkwürdiger Freund aussah, hatte aber nur noch ein sehr vages Bild vor Augen. Vor Sonjas Verschwinden hatte sie ihn ein paarmal beim Einkaufen oder im Wald getroffen. Flüchtige Begegnungen, bei denen ihre Blicke sich immer nur kurz gestreift hatten. Trotzdem hatte sie etwas Vertrautes in seinen Augen ausgemacht – weil er wie sie nicht richtig dazugehörte?
Er war nicht sonderlich attraktiv gewesen. Klein. Schmächtig. Kurze, dunkle Haare. Ruhige, humorlose Augen.
Stille Wasser.
Woran Ina sich genau erinnerte, war die Angst, die nach Sonjas Verschwinden allein die Erwähnung des Namens Tom Kaser in ihr ausgelöst hatte.
Gegen ihn war ermittelt worden, es war aber nicht zur Anklage gekommen, da der Leichnam der vierzehnjährigen Sonja Lerdahl nie gefunden worden war. Tom Kaser beharrte darauf, Sonja weder entführt noch getötet zu haben. Die Indizien gegen ihn wogen schwer, trotzdem hatten sie dem Staatsanwalt für eine Anklageerhebung nicht gereicht.
Aber auch wenn Kaser von keinem Gericht der Welt verurteilt worden war, galt er in der kleinen Gemeinde als Mörder.
Ina kletterte über die Ziehleiter nach oben und nahm die Taschenlampe, die neben der obersten Stufe auf einem kleinen Absatz lag. Der Lichtstrahl erhellte den Kriechboden. Kartons, mit Kinderkleidern gefüllte Müllsäcke, kaputte Spielsachen, Bananenkisten mit aussortierten Büchern und andere Sachen, die sie einfach nicht wegwerfen konnten. Ganz hinten standen Kisten, die seit dem Umzug niemand mehr geöffnet hatte.
Was sie suchte, war ein schwarzer Schuhkarton mit weißem Adidas-Logo, randvoll mit Zeitungsartikeln. Aber wo war der?
Ina ließ den Lichtstrahl über das Chaos schweifen. Sie hatte keine Ahnung, wo sie mit ihrer Suche beginnen sollte, und kroch aufs Geratewohl weiter. Staub wirbelte auf und tanzte durch den Strahl der Taschenlampe. Sie schob einige Säcke und Kartons beiseite, hob Deckel an und stieß auf alte Lehrbücher und Ordner aus ihrem Studium.
Wenig später fand sie die Kisten mit den Sachen aus ihrer Jugendzeit in der hintersten Ecke des Dachbodens, darunter alte Schulbücher. Mit den Titeln kamen die Erinnerungen, die Bilder und Gerüche, die Menschen, die sie damals umgeben hatten: Vokuhila-Frisuren, überweite Pullover, Pastellfarben. Am stärksten aber war das Gefühl, jung zu sein, und das war untrennbar verbunden mit Skårnes.
Alles war plötzlich wieder da.
Schließlich fand sie auch den kleinen, schwarzen Schuhkarton mit dem Adidaslogo. Er lag zuunterst in einer Kiste mit Sachen, die sie als Kind gesammelt hatte: Jojos, Aufkleber, Poesiealben. Ihr Puls beschleunigte sich, und sie umklammerte die Taschenlampe mit der rechten Hand, als sie mit der linken den Deckel abnahm.
Schlagzeilen sprangen ihr ins Auge: »19-Jähriger unter Mordverdacht.«
Sie blätterte die Artikel durch. So gut wie alles, was seinerzeit geschrieben worden war, hatte sie aufbewahrt. Alle verfügbaren Zeitungen in der Bibliothek hatte sie durchstöbert und die Artikel heimlich ausgeschnitten.
Sie setzte sich hin und begann zu lesen.
*
Sonja Lerdahl war an einem Frühlingstag im Jahr 1984 verschwunden. Skårnes war danach nie mehr so gewesen wie vorher. Die Mutter hatte ihre Tochter irgendwann am Abend vermisst gemeldet, weil sie nicht zur vereinbarten Zeit nach Hause gekommen war. Sonja war nach der Schule mit einer Freundin verabredet gewesen, hatte aber versprochen, abends um sechs zum Essen wieder zu Hause zu sein.
Der Punkt war nur: Sonja hatte keine Freundin.
In den Pausen blieb sie allein am Rand stehen. Sobald sie sich der Mitte des Schulhofs näherte, stürzten sich die anderen Mädchen auf sie. Sie war Freiwild. Besonders arg trieb es die Mädchenclique aus ihrer Klasse – angeführt von Benedikte und Ingrid. Später wurde bekannt, dass Sonja nach der Schule auch von den berüchtigten Vange-Brüdern gepeinigt worden war.
Ein Schauer lief Ina über den Rücken. Die Vange-Brüder waren zwei durch und durch gewalttätige Sadisten, die von allen nur »die beiden« genannt wurden. Ina wusste noch, welch große Angst auch sie vor ihnen gehabt hatte. Sie waren tickende Zeitbomben, mit denen man es sich um keinen Preis verscherzen durfte.