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Provokationen, Psychospiele, Machtkämpfe - der Umgang mit narzisstisch strukturierten SchülerInnen fordert Lehrkräfte heraus. In diesem praxisorientierten Buch erhalten sie Einblicke in die Psychologie des Narzissmus. Der Autor stellt Unterrichtsideen zum allgemeinen Beziehungsaufbau mit der Klasse sowie zur speziellen Beziehungsgestaltung mit narzisstisch strukturierten SchülerInnen vor, die leicht in den Unterrichtsalltag integriert werden können. Zahlreiche konfrontative und auch empathisch psychoedukative Methoden, Anleitungen für die Praxis sowie Tipps zum Erkennen und Abgrenzen von anderen problematischen Persönlichkeitsstilen und zur Selbstreflexion runden das Buch ab.
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Seitenzahl: 262
Dr. phil. Marcus Damm, Dipl.-Päd., bildet Lehrende aller Schulformen fort. Als Studienrat unterrichtet er außerdem die Fächer Pädagogik, Psychologie und Ethik an der Anna-Freud-Schule in Ludwigshafen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.
ISBN 978-3-497-02839-9 (Print)
ISBN 978-3-497-61129-4 (PDF-E-Book)
ISBN 978-3-497-61130-0 (EPUB)
© 2019 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München
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Satz: Der Buchmacher, Arthur Lenner, Windach
Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München
Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: [email protected]
Inhalt
Geleitwort von Wolfgang Schmidbauer
Vorwort
Einleitung – Anforderungen an Lehrkräfte im 21. Jahrhundert
1 Konzept der Persönlichkeitsstörungen und populäre Schülertypen – Abgrenzung zum Narzissmus
1.1 Persönlichkeit, Persönlichkeitsstil, Persönlichkeitsstörung
1.2 „Kein Problem, ich mach das für dich!“ – Helfertypen
1.3 „Drama, Baby!“ – Histrionischer Stil
1.4 „Ups! Wieso habt ihr eigentlich alle was gegen mich?“ – Selbstschädigender Stil
1.5 „Der Spast braucht das!“ – Sadistischer Stil
1.6 „Ich kann das nicht!“ – Dependenter Stil
1.7 „Ach, das ist mir auch egal!“ – Schizoider Stil
1.8 „Können Sie jetzt mal mit dem Unterricht anfangen?“ – Zwanghafter Stil
1.9 „Geben Sie es zu, Sie haben was gegen mich!“ – Paranoider Stil
1.10 „Entweder Sie hassen oder lieben mich!“ – Borderline-Persönlichkeitsstil
1.11 „Ich traue mich nicht!“ – Ängstlich-vermeidender Stil
2 Konzepte zum Umgang mit schwierigen Schülern
2.1 Konfrontative Pädagogik
2.2 Der Ansatz von Petermann/Petermann
2.3 Das Dreikurs-Konzept
2.4 Das Faustlos-Programm
2.5 Schemapädagogik
3 Psychologie der narzisstischen Schülerpersönlichkeit
3.1 Was ist Narzissmus?
3.2 Erfolgreiche, gescheiterte und erfolglose Narzissten
3.3 Selbst- und Fremdwahrnehmung
3.4 Weiblicher und männlicher Narzissmus
3.5 Narzisstische Beziehungsgestaltung
3.6 Ursachen des Narzissmus
3.7 Allgemeine Verhaltensmerkmale im Unterricht: Konkurrenzdenken, Mobbing, VIP-Status
3.8 Typische Interaktionsstrategien: Images, Tests, Appelle, Psychospiele
3.9 Übertragung und Gegenübertragung
3.10 Kollusionen mit anderen Schülertypen
3.11 Stärken und Ressourcen
3.12 Praktika-, Schullaufbahnberatung, berufliche Perspektiven
4 Allgemeine und spezielle Formen des Beziehungsaufbaus im Klassenraum
4.1 Pädagogisch-psychologische Grundhaltungen
4.2 Authentizität, Transparenz und Metaebene
4.3 Unterrichtsimpulse zur Inneren Teile-Arbeit 1.0
4.4 Umgang mit narzisstischen Images, Tests, Appellen und Psychospielen
4.5 No-Gos – was Lehrkräfte sich sparen können
5 Strategien zur Problemklärung
5.1 Wir sind keine Psychotherapeuten, aber
5.2 Innere Teile-Arbeit im Unterricht 2.0
5.3 Empathische und konfrontative Interventionstechniken
5.4 Konfrontation mit den Kosten
5.5 Konfrontation mit Absichten
5.6 Konfrontation mit Spielen und sonstigen Manipulationen im 1:1-Setting
5.7 Trojanische Pferde
5.8 Umgang mit schwierigen Interaktionssituationen
6 Transfer der erarbeiteten Lösungen in den Unterrichtsalltag
6.1 Modus-Memo
6.2 Der geheime Vertrag
6.3 Der Hilfeplan
6.4 Reflexionsgespräche
7 Der Blick in den Spiegel
7.1 Grenzen der Selbsterkenntnis
7.2 Die Zeichen der Zeit erkennen und ehrlich zu sich selbst sein können
7.3 Feedbackbögen einsetzen
7.4 Wer bin ich – und wenn ja: wie viele?
Schlussbetrachtungen: Der Mythos des Sisyphos – Einsichten zum Thema
Danksagung
Literatur
Sachregister
Geleitwort von Wolfgang Schmidbauer
Vor einigen Jahren traf ich mich mit meinem Enkel und dessen Eltern in deren Garten. Der kleine Aldo war damals zwei Jahre und vier Monate alt. Er hatte perfekt laufen gelernt und sprach mit drolligen grammatikalischen Experimenten. Irgendwann kam Aldo mit einem Gerät aus dem Schuppen, das länger war als er selbst und gefährlich aussah. Es glich einem Spazierstock mit einem Griff wie ein T und drei konzentrischen Spitzen. „Ein Löwenzahnausstecher“, sagte Aldos Mutter und zeigte mir die Bedienung. Die drei Spitzen werden um eine Löwenzahnrosette in die Erde gedrückt. Dann wird die Wurzel durch eine Drehbewegung gelockert und aus dem Rasen gezogen. Sie kann jetzt mit Hilfe eines Drückers am Griff ausgeworfen und entsorgt werden.
„Selber machen“, sagte Aldo. So verbrachten wir die nächste Viertelstunde damit, Löwenzähne auszustechen. Er konnte weder zielgenau einstechen, noch kräftig genug drehen, noch den Auslöseknopf so bedienen, dass der ausgelöste Löwenzahn herausfiel. Aber er legte größten Wert auf den Eindruck, dass er mit dem Gerät arbeitete. Er war eifrig bei der Sache und mahnte mich durch ein blitzschnelles, dank meiner steten und amüsierten Rücksichtnahme nur angedeutetes Protestweinen, dass er regierte und Opa Wolfgang nur Hilfsdienste leistete, wenn er die Spitzen über der Wurzelrosette positionierte, tief genug einstach, energisch drehte, den Knopf unauffällig mit drückte, weil Aldos Finger nicht stark genug waren, die Kraft der Spiralfeder zu bewältigen.
Wir spielten Arbeit, er „machte“ in seiner Dramaturgie alles „Wichtige“, deutete aber angesichts des für ihn höchst unhandlichen Instruments seine Aktionen nur spielerisch an, während ich sie nach diesem theatralischen Vollzug wirklich vollziehen durfte. Ich half dem Kind, seinen Eltern zu zeigen, wie groß und geschickt es war. Ich fand dieses Verhalten völlig normal, obwohl ein Kritiker einwenden könnte, dass ich auf diese Weise eine narzisstische Größenfantasie des Zweijährigen förderte. Es machte mir keine Mühe, ich genoss es sogar, Aldos Illusion zu unterstützen, er bewerkstellige aus eigener Kraft etwas, was ihm nur durch meine Hilfe gelang. Dass dies nicht immer gut gelingt und Grenzgängerei ist, zeigte die Schnelligkeit, mit der Aldos Lachen, wenn eine der Aktionen so gelungen war, dass er sich selbst als Täter fühlen konnte, in ein quengelndes Weinen überging, wenn ich ihm entweder zu viel abnahm oder ihn so wenig unterstützte, dass die beabsichtigte Aktion nicht gelang.
Am selben Nachmittag erzählte Aldos Mutter von ihrer Hilflosigkeit angesichts seines ersten großen Trotz- und Weinanfalls; sie habe weder den Anlass verstanden noch die Intensität mildern können. Ich war versucht, aus der Väterkiste zu plaudern und zu sagen, mir sei es mit ihr oft genauso ergangen, beherrschte mich aber.
Warum erzähle ich diese Episode? Weil sie eine narzisstische Urszene ist, eine Art Anti-Ödipus, denn es geht nicht um Rivalität, sondern um Verschmelzung des Selbermachens mit dem Geholfenkriegen. So unterstützend kann die Welt nicht sein, nicht bleiben. Die Schmerzen sind groß, wenn ein Kind das erkennen muss – und die Schule ist der Ort, wo es das nicht nur erkennen, sondern auch verstehen und Strategien einüben kann, diesen Schmerz zu bewältigen.
Das zweijährige Kind hantiert mit Symbolen der Erwachsenen und wird von diesen unterstützt, vorzugeben, es könne diese beherrschen. Der Zusammenbruch des Selbstgefühls, wenn dies nicht gelingt, wirkt auf den Betrachter spaßig. Er ist aber keineswegs immer harmlos, denn die den Familienfrieden bedrohenden Trotzanfälle wurzeln darin, dass die Erwachsenen in ihrer Hilfestellung für einen solchen narzisstischen Entwurf versagen, oft weil sie ihn auch mit gutem Willen nicht verstanden haben.
Wie das Atmen unterscheidet seine Kränkbarkeit den Menschen von einer künstlichen Intelligenz. Eine Maschine wird weder Schmerz noch Angst empfinden. Und sie wird auch die zweite Besonderheit der menschlichen Kränkungsverarbeitung nicht entwickeln: die soziale Bezogenheit. Die Rätsel der Kränkungsverarbeitung lassen sich nicht individuell lösen. Es sind Gruppenprozesse. Besonders bedeutsam sind Paare: Kind und Elternteil auf der einen, in Erotik verbundene Erwachsene auf der anderen Seite, Lehrer und Schüler, Therapeut und Patient sozusagen im beruflich kontrollierten Mittelfeld.
Der Erwachsene in der modernen Gesellschaft kann seine Rolle in Beruf und Liebe nur spielen, wenn es ihm gelingt, Kränkungen standzuhalten. Das ist vom Standpunkt der biologischen Entwicklungslehre eine absolut neuartige Forderung mit tiefgehenden Konsequenzen. In altsteinzeitlichen Kulturen dominieren offene Gruppen; wer beleidigt wird, wechselt den Lagerplatz. Da es nicht mehr Besitz gibt, als Einzelne tragen können, ist das gut möglich. Besitz und Bürokratie erschweren solche Lösungen. Wir lernen, Kränkungen zu verleugnen, was oft auch die Möglichkeiten mindert, sie zu verstehen und zu bewältigen.
Ich erinnere mich gut an die erste Begegnung mit meiner eigenen Kränkbarkeits-Verleugnung. Es war in einer analytischen Gruppe. Ich hatte bisher leidlich erfolgreich als Journalist gearbeitet und wollte die Praxis der Psychotherapie kennenlernen, die ich während des Studiums und der Promotion auf dem Papier erforscht hatte.
Eine Teilnehmerin sagte während eines Konflikts in dieser Gruppe, ich sähe jetzt total beleidigt aus; sie fügte hinzu, wie ein Kind. Ich fand das unerhört und unverschämt – erstens war ich nicht beleidigt, zweitens sah man mir das nicht an, und drittens stand ich weit über solchen Reaktionen! Ich kämpfte mit der Versuchung, die nichtsnutzige Selbsterfahrung ebenso wie die analytische Ausbildung abzubrechen und in den sicheren Hafen der Schriftstellerei zurückzukehren.
Die unverschämte Frau und ich sind später Freunde geworden und haben zusammen die psychoanalytische Ausbildung gemeistert. Die Kränkung über die eigene Kränkbarkeit ist mir im Gedächtnis geblieben. Sie war vielleicht deshalb besonders heftig, weil jede handwerkliche oder künstlerische Tätigkeit vor Kränkungen schützt, solange wir uns auf die Ausübung des Handwerks konzentrieren und uns nicht auf seinen Erfolg fixieren. So war ich es wenig gewohnt, dass sich eine Gruppe von Menschen nicht so leicht ordnen lässt wie Worte für einen Text.
In der Leistungsgesellschaft sollen aus kreativen und expressiven Kindern diszipliniert funktionierende Erwachsene werden. Heranwachsende lernen unter dem Spott ihrer Altersgenossen, ihre Kränkbarkeit zu leugnen oder sie abzuwehren, indem sie andere kränken und diesen antun, was zu erleiden sie fürchten.
Es hat mich sehr gefreut, dass Marcus Damm mich eingeladen hat, diesem Buch ein Geleitwort zu schreiben. Der Lernort, an dem er narzisstische Probleme auf sehr anschauliche Weise untersucht, stellt Weichen. Die Schule bietet Möglichkeiten, eine im Elternhaus mangelhaft entwickelte Kränkungsverarbeitung zu korrigieren – oder aber die angelegte Störung noch zu vertiefen. Denn in großen Klassen und mit überlasteten Lehrern fehlt oft genug das empathische Gegenüber, das über die eigene Schwäche hinweghilft und Mut macht. Je genauer der Lehrer die Störungen in der Kränkungsverarbeitung seiner Schüler wahrnimmt, desto besser sind auch seine Möglichkeiten, sie mit Humor zu neutralisieren und Auswege anzubieten. Mit willigen und aufmerksamen Kindern zu arbeiten ist keine große Kunst. Aber die narzisstisch belasteten, in ihrem Selbstgefühl nachhaltig geschwächten Schüler zu erreichen, das ist eine echte Aufgabe. Ob der Lehrer sie sportlich nehmen und aus seinen unvermeidlichen Fehlern lernen kann oder nicht, das entscheidet über die Freude an seinem Beruf.
Wolfgang Schmidbauer arbeitet als Autor und Psychoanalytiker in München. Der in seinem zuerst 1977 erschienenen Buch „Hilflose Helfer“ geprägte Begriff vom Helfersyndrom ist Teil der Umgangssprache geworden. Sein jüngstes Buch, „Die Geheimnisse der Kränkung und das Rätsel des Narzissmus“ ist 2018 im Klett-Cotta-Verlag erschienen.
Vorwort
Falls Schulpraktikerinnen und -praktiker Interesse am Thema Umgang mit narzisstischen Schülern entwickeln und sich literarisch weiterbilden wollen, so merken sie sehr schnell: Es gibt keine adäquaten Veröffentlichungen auf dem Buchmarkt. Dasselbe gilt übrigens tendenziell auch für entsprechende Fort- und Weiterbildungen.
Auf einige gute Werke zum Gegenstand Narzissmus kann natürlich zurückgegriffen werden. Monografien, in denen es andererseits ganz allgemein um schwierige bzw. psychologisch auffällige Schülerinnen und Schüler (im Folgenden mit „SuS“ abgekürzt) sowie um den professionellen Umgang mit ihnen geht, liegen ebenfalls sehr zahlreich vor.
Allein die Kombination der Begriffe Narzissmus und Schüler sorgt sowohl für den literarischen als auch fortbildungsspezifischen Missstand. Grund: Es werden zwei Themenbereiche miteinander verknüpft, die grundsätzlich fachwissenschaftlich auf den ersten Blick gar nicht kombinierbar sind: Das Narzissmus-Konzept ist primär verortet im Kontext Psychotherapie; und Schüler sind bekanntermaßen Adressaten der Pädagogik. Es herrscht also eine klare Trennung zwischen den beiden Begriffen und Praxisfeldern vor.
Diese Gegebenheit leuchtet auch ein: Selten haben Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten einen fundierten Einblick in den didaktisch-methodischen Schulalltag mit seinen Haken und Ösen in Bezug auf das Classroom-Management. Umgekehrt zeigt sich dasselbe Problem: Wie viele Lehrkräfte wissen schon über die Konzepte narzisstischer Persönlichkeitsstil bzw. narzisstische Persönlichkeitsstörung im klinischen Kontext Bescheid und können sie didaktisch-methodisch in den Schulalltag transferieren, sie etwa in ihre Beziehungsgestaltung einfließen lassen? Nach meiner Einschätzung nur sehr wenige. Es braucht hierfür autodidaktische Kompetenzen und natürlich ein entsprechendes Interesse.
Mit „Gar nichts muss ich!“ Mit narzisstischen Schülern kompetent umgehen soll die Verknüpfung beider Themen nun theoretisch und praktisch stattfinden und weitestgehend gelingen – Neuland wird also betreten. Im vorliegenden Rahmen werden logische Modelle und praktische Methoden für das Setting Klassenraum vorgestellt, die an der Schnittstelle zwischen Psychotherapie und Schulpädagogik liegen. Die Zeit dafür ist allemal gekommen. – In so gut wie allen Lebensbereichen begegnet uns der Begriff Narzissmus. Gerade im Praxisfeld Schule macht eine Behandlung dieses Themas Sinn, da es nachweislich SuS gibt, die narzisstische Tendenzen bzw. Kriterien eines narzisstischen Persönlichkeitsstils offenbaren.
Noch eine Bemerkung zur Anredeform. Im Folgenden wird fast durchgängig die männliche Form der Genderschreibung benutzt. Dies liegt nicht an meiner eigenen narzisstischen Persönlichkeitsfacette, die hin und wieder doch sehr großzügig in die Ausübung meiner Berufsrolle einfließt. Der Grund hierfür liegt schlichtweg in der besseren Lesbarkeit. Wenn also im Folgenden von männlichen Personen gesprochen wird, so sind natürlich immer auch Frauen gemeint.
Ich wünsche Ihnen viel Spaß und Inspiration bei der Lektüre und hoffe, dass Sie Ihren pädagogischen Handwerkskoffer für den Alltagsunterricht ausgiebig mit neuen Erkenntnissen und Methoden füllen können.
Worms, September 2018
Marcus Damm
Einleitung – Anforderungen an Lehrkräfte im 21. Jahrhundert
Lehrkräfte haben zunehmend große Herausforderungen zu bewältigen. Seit den 1990er Jahren haben sich vor dem Hintergrund der bildungspolitischen und gesellschaftlichen Entwicklungen das Arbeitspensum und die Anzahl der alltäglichen „Baustellen“ erhöht. Lehrer sind schon lange keine reinen Wissensvermittler mehr. Der Arbeitsalltag ist komplexer und anspruchsvoller geworden.
Der Lehrer – ein Multitalent auf hohem Niveau: Wir sollen nunmehr inklusiv und kompetenzorientiert unterrichten, dabei zeitgleich zahlreiche Dokumentationen erstellen, die Teamarbeit pflegen, Absprachen treffen, uns organisieren – das alles ist alleine schon mit einem erhöhten Aufwand verbunden. Die Arbeit mit den Eltern – ebenfalls eine Dienstpflicht – ist im Allgemeinen auch nicht gerade als unkompliziert und kurzweilig zu bezeichnen. Sogenannte Helikopter- und Phantom-Eltern (Greiner 2017) verlangen uns einiges ab. Erstere rauben uns durch eine hohe Kontakthäufigkeit inklusive eines ausgiebigen Diskussionsbedarfs viel Zeit und bremsen von zu Hause aus mittels überdimensionaler Entlastungsbestrebungen den Erziehungs- und Bildungsauftrag, letztere sind so gut wie nicht greifbar und können somit auch nicht unterstützend auf ihre Kinder einwirken. Trotzdem müssen wir mit beiden Elterntypen klarkommen und sie bestmöglich in unsere Berufspraxis einbinden! Nicht nur in Bezug auf diese beiden Personengruppen sind sozialpädagogische Kompetenzen gefragt (die nebenbei erwähnt im Lehramtsstudium häufig gar nicht vermittelt werden). Auch die Schülerschaft wird heterogener, wodurch es auch immer schwieriger wird, eine überwiegend lernförderliche Arbeitsatmosphäre im Klassenraum herzustellen. Mit ein Grund dürfte der Anstieg an SuS sein, im Durchschnitt 15 bis 20 Prozent, die betroffen sind von mindestens einer psychischen Störung (Bauer 2008; Schäfer / Mohr 2018; Steinhausen 2006). Depressionen, Angststörungen, Ritzen, Drogenmissbrauch, Verhaltensauffälligkeiten aufgrund familiärer Probleme und Co. – all diese Phänomene können den Erziehungs- und Bildungsauftrag sabotieren bzw. „nur“ das Klassenklima negativ beeinflussen und die Resilienz der Lehrkraft täglich vor große Herausforderungen stellen (Roth 2015). Ironie des Schicksals: Wir Lehrkräfte sind gar nicht auf solche Fälle vorbereitet, sollen bzw. müssen aber dennoch konstruktiv mit ihnen arbeiten. Und nicht nur das: Daneben sollte von der Lehrperson auch noch eine Art positiv gefärbte Beziehungsqualität verwirklicht werden, ohne die bekanntlich im Klassenraum in Bezug auf das Lernen im Allgemeinen so gut wie gar nichts geht (Damm 2018; Hattie / Zierer 2018). Das steht zwar in keinem Lehrplan, ist aber dennoch eine Art Binsenweisheit geworden – auch für viele Praktiker, die Hattie und Co. (noch) nicht kennen.
SuS, die narzisstische Tendenzen im Klassenraum kultivieren, offenbaren im Umgang noch ganz andere Schwierigkeiten, die die Lehrkräfte ganzheitlich beanspruchen und sehr viel Zeit des Unterrichts in Anspruch nehmen können (wenn man ihre Strategien nicht als solche durchschaut und mit Nachdruck bzw. Empathie zielgerichtet auflösen kann).
Narzissmus – ein Wort in aller Munde: Durch den konstruktiven Umgang mit narzisstisch strukturierten SuS sollen Wege eröffnet werden, mit entsprechenden Charakteren im Klassenraum besser zurechtzukommen. Der Begriff Narzissmus ist im Rahmen der Psychologisierung und Psychopathologisierung in unserer Gesellschaft, die seit Jahrzehnten kursiert und zunimmt (Lammers 2015, 239), in der Alltagssprache geläufig. Viele Menschen etikettieren Verhaltensweisen ihres sozialen Umfelds mit psychologischen Begriffen. Schnell heißt es in öffentlichen und privaten Kontexten entsprechend: „Das da ist ein Narzisst – egoistisch, selbstzentriert und unempathisch!“ In nahezu allen Lebensbereichen, so macht es den Eindruck, scheinen Narzissten unterwegs zu sein und zwischenmenschliches Unheil anzurichten. Manche Autoren gehen sogar von narzisstischen gesamtgesellschaftlichen Verhältnissen aus, die dem postmodernen Zeitgeist entsprechen würden (Maaz 2014). Andere Veröffentlichungen drehen sich um narzisstische Politiker (Frances 2018), Chefs (Wardetzki 2015), Mütter (McBride 2017), Partner (Merzeder 2015).
Aber was ist an diesem narzisstischen Hype wirklich dran? Gibt es wirklich so viele Egomanen? Nach Haller (2013, 95) und Lammers (2015, 9) weist knapp ein Prozent der Bevölkerung eine narzisstische Persönlichkeitsstörung auf. In der Klientel der psychisch Kranken ist sie häufiger vertreten (fünf Prozent). Das „starke“ Geschlecht ist eher betroffen; es herrscht in etwa ein Verhältnis von 2:1 in Bezug auf das weibliche vor.
Statistisch gesehen passiert es also eher selten, dass eine Lehrkraft de facto mit SuS zu tun hat, die eine narzisstische Persönlichkeitsstörung aufweisen (die Diagnose wird ohnehin gewöhnlich erst bei Volljährigen gestellt). Häufiger trifft man im Klassenraum auf SuS mit einem herausragenden narzisstischen Persönlichkeitsanteil bzw. Persönlichkeitsstil. Meist sind diese Fälle schon verhaltensauffällig und herausfordernd genug. Dieses Buch soll Sie im Umgang mit diesen SuS fachlich fit machen und entsprechend methodisch coachen.
Aufbau des Buches und allgemeine Bemerkungen: Im ersten Kapitel geht es um die Klärung der Grundbegriffe Persönlichkeit, Persönlichkeitsstil und Persönlichkeitsstörung, da diese vielen Lehrkräften doch eher unbekannt bzw. nur vage bekannt sind. Außerdem werden Schülertypen mit herausragenden Persönlichkeitsstilen in Abgrenzung zum narzisstischen Stil vorgestellt (inklusive Fallbeispiel). Das zweite Kapitel beinhaltet die Darstellung von fünf populären Konzepten zum Umgang mit herausfordernden SuS. Diese dienen der ersten Orientierung in Hinsicht auf die Frage: Welche Programme können derzeit Lehrkräfte im Praxisalltag unterstützen? Das zentrale dritte Kapitel führt als Kernbestandteil des Buches in das Narzissmus-Konzept ein und weist darüber hinaus viele Transferleistungen an der Schnittstelle zwischen Schulpädagogik und Psychotherapie auf, die es in dieser Kombination noch nicht gibt. Erstmals werden etwa typisch herausfordernde bzw. narzisstisch motivierte Verhaltensweisen von SuS anhand von Praxisbeispielen aus psychotherapeutischer Perspektive beleuchtet und entsprechend kategorisiert. Es geht u.a. auch um wechselseitige Wahrnehmungen von Lehrkräften und SuS auf der Beziehungsebene (Übertragung und Gegenübertragung), Interaktionsstrategien wie Tests und Psychospiele, mit denen insbesondere narzisstisch strukturierte Heranwachsende die Lehrkräfte aus dem Konzept bringen und zwischenmenschlich überfordern können. Im vierten Kapitel werden konkrete Beziehungsaufbau-Methoden ausgeführt und anhand von Beispielen transparent gemacht. Sie basieren auf Erfahrungen von Psychotherapeuten im 1:1-Setting (Sachse et al. 2011). Ferner wird die Wichtigkeit einer positiv gefärbten Beziehungsebene im Allgemeinen (mit der Klasse) und im Speziellen (mit Einzelnen) herausgestellt. Darauf aufbauend – denn ohne Beziehung geht in vielerlei Hinsicht im Klassenraum nichts – wird in Kapitel fünf das Thema eröffnet: Wie fahre ich nun methodisch in Hinsicht auf die Problembearbeitung fort? Eine positiv eingefärbte Beziehungsqualität schützt Lehrkräfte aber nicht per se vor Unterrichtsstörungen. Das sechste Kapitel gibt für solche Fälle methodische Hilfestellungen in der Arbeit mit problematischen Heranwachsenden in Hinsicht auf den Transfer der erarbeiteten Lösungen in den zukünftigen Schulalltag. Im siebten Kapitel geht es in erster Linie um die Persönlichkeit der Lehrkraft, um einen kurzen Blick in den sprichwörtlichen Spiegel. Nicht selten haben Erwachsene auch ihren Anteil an den einzelnen Schülerkonflikten; hier finden Sie Tipps, wie Sie entsprechend vorgehen können, um die Selbsterkenntnis zu fördern. Am Ende des Buches ist ein Abschlussresümee platziert.
Noch ein Hinweis zu den Praxisbeispielen: Die meisten Fallvignetten aus dem Bereich der Berufsbildenden Schulen entstammen meinen eigenen Erfahrungen. Doch es sind auch Fälle eingestreut, die mir von Kolleginnen und Kollegen geschildert wurden, die in anderen Schulformen unterrichten.
1 Konzept der Persönlichkeitsstörungen und populäre Schülertypen – Abgrenzung zum Narzissmus
Es folgt ein Update für Lehrkräfte bezüglich der Bedeutungen von wichtigen Grundbegriffen der Persönlichkeitspsychologie, die im psychotherapeutischen Setting gang und gäbe sind: Persönlichkeit, Persönlichkeitsstil und Persönlichkeitsstörung. Der Transfer des Verständnisses dieser Begrifflichkeiten ermöglicht Lehrkräften schrittweise eine stabile Grundhaltung, wenn sie im Alltag auf problematische SuS treffen bzw. längerfristig mit ihnen zu tun haben.
Der Grundgedanke: Vor diesem wissenschaftlichen Hintergrund offenbart jeder Mensch, ganz allgemein gesagt, einen individuellen Charakter und damit verbundene Persönlichkeitsfacetten bzw. -stile. (Die Begriffe Charakter und Persönlichkeit werden im Folgenden synonym verwendet.) In Anlehnung an das Thema Phänomene und Auswirkungen von herausragenden Persönlichkeitsstilen bei SuS werden diverse Charaktertypen beschrieben und voneinander abgegrenzt. Je Persönlichkeitsstil wird ein passendes Beispiel aus meiner Lehrerbiografie ausgeführt. Außerdem werden allgemeine Tipps zum Beziehungsaufbau und Umgang mit Betreffenden gegeben. Kapitel 1 ist somit als Einführungskapitel des Buches zu verstehen, in dem vor allem eine pädagogisch-psychologische Wahrnehmungsfähigkeit auf Lehrerseite gefördert werden soll.
1.1 Persönlichkeit, Persönlichkeitsstil, Persönlichkeitsstörung
Es klingt zunächst einfach: Jeder Mensch ist anders und hat entsprechend eine einzigartige Persönlichkeit. Innerpsychisch weitgehend ausgeglichene und selbstreflektierte Charaktere wachsen ein Leben lang, sie sind kreativ, offen für neue Erfahrungen und zeigen eine gewisse Flexibilität im Denken und Verhalten; sie haben darüber hinaus ein breites Reaktionsrepertoire im zwischenmenschlichen Alltag (Lelord / André 2017).
Was ist Persönlichkeit? Eine anerkannte Definition stammt von Fiedler / Herpertz (2016, 22):
DEFINITION
„Jeder Mensch hat seine ganz eigene und unverwechselbare Art und Weise zu denken, zu fühlen, wahrzunehmen und auf die Außenwelt zu reagieren. Die individuellen menschlichen Eigenarten stellen eine einzigartige Konstellation von Gefühlen, Gedanken und Verhaltensweisen dar, die man als Persönlichkeit bezeichnet.“
Was ist ein Persönlichkeitsstil? Jede Person offenbart auch Eigenarten, Vorlieben, Abneigungen, anders gesagt unterschiedlich gelagerte und gewichtete Interessen, Bedürfnisse und auch Kommunikationsmuster und Interaktionsstrategien im Alltag.
In der Fachliteratur werden entsprechend verschiedene persönliche Stile unterschieden, die z.T. auch in der Alltagssprache geläufig sind (Oldham / Morris 2017). Einige Beispiele:
■ Fürsorglicher Stil: Die hiervon beeinflusste Person zeigt häufig Empathie und offenbart ein starkes Interesse an der Befindlichkeit anderer.
■ Histrionischer Stil: Der Betreffende ist extrovertiert, wirkt sozial kompetent, neigt zur Selbstdarstellung und zum emotionalisierten Auftreten.
■ Selbstschädigender Stil: Es zeigt sich ein Faible für Verhaltensweisen, die dem Betreffenden in psychosozialer Hinsicht schaden (sich „dumm anstellen“, andere vor den Kopf stoßen usw.).
■ Sadistischer Stil: Der Betreffende zeigt einen Hang zur Fremdschädigung, der sich als sehr professionell und feinfühlig herausstellen kann.
■ Schizoider Stil: Der Betroffene neigt zum Einzelgängertum und zur emotionalen Distanz im sozialen Kontext.
■ Zwanghafter Stil: Es zeigt sich eine Neigung zur Gewissenhaftigkeit, Vernunft und stark ausgeprägter Vorsicht sowie ein Hang zur emotionalen Selbst- und Fremdkontrolle.
■ Borderline-Stil: Diese Persönlichkeitsfacette provoziert emotional-instabile Phänomene (manisch-depressive Phasen, Launenhaftigkeit, Impulsivität). Gefühle der inneren Leere und ein stark ausgeprägtes Bedürfnis nach stimulierenden Erlebnissen / Substanzen können damit einhergehen (bis hin zur Selbstschädigung).
■ Ängstlich-vermeidender Stil: Diesen Stil zeichnen ausgeprägte Anspannungszustände im Alltag sowie einige Phänomene der Unbeholfenheit und Hilflosigkeit aus. Möglicherweise ist der Betreffende eingeschränkt im sozialen Leben.
Es wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch eine bestimmte, variable Kombination aus persönlichen Stilen aufweist, die bereits in der Kindheit ihren Anfang nimmt und sich im Laufe des Lebens in der Regel stärker ausprägt (Kuhl / Kazén 1997).
Was ist eine Persönlichkeitsstörung? Liegt ein persönlicher Stil in extremer Ausprägung vor und führt er irgendwann zu unangemessenen, unflexiblen Verhaltensweisen im Alltag, die das Leben des Betreffenden und / oder das seiner Mitmenschen dauerhaft stark belasten, so können Kriterien einer sogenannten Persönlichkeitsstörung vorliegen.
DEFINITION
„Unter Persönlichkeitsstörungen werden vor allem sozial unflexible, wenig angepasste und im Extrem normabweichende Verhaltensauffälligkeiten verstanden. Im Sinne der modernen psychiatrischen Diagnosesysteme dürfen Persönlichkeitsstörungen nur dann als psychische Störungen diagnostiziert werden,
– wenn bei den betreffenden Menschen ein überdauerndes Muster des Denkens, Verhaltens, Wahrnehmens und Fühlens vorliegt, das sich als durchgängig unflexibel und wenig angepasst darstellt; und
– wenn Persönlichkeitsmerkmale wesentliche Beeinträchtigungen der Funktionsfähigkeit verursachen, sei es im privaten oder beruflichen Bereich; und / oder
– wenn die Betreffenden unter ihren Persönlichkeitseigenarten leiden, und das heißt: wenn die eigene Persönlichkeit zu gravierenden subjektiven Beschwerden führt“ (Fiedler / Herpertz 2016, 34).
Eine Persönlichkeitsstörung ist keine Störung der Persönlichkeit! Um gleich einem Missverständnis vorzubeugen: Forschungen kommen seit den 1990er Jahren zu dem Schluss, dass Persönlichkeitsstörungen eines nicht sind: Persönlichkeits-Störungen (Sachse 2016, 11). Gestört ist entsprechend nicht der betreffende Charakter, sondern seine Beziehungsgestaltung (in Bezug auf sich selbst und / oder andere). Im Kern sind Persönlichkeitsstörungen demnach Beziehungsstörungen (Oldham / Morris 2017).
Weiter wird davon ausgegangen, dass Persönlichkeitsstörungen (ähnlich wie auch bei den persönlichen Stilen der Fall) im Kern schon sehr früh grundgelegt werden und in der Kindheit ihren Anfang nehmen. Ein Erklärungsmodell besagt, dass die jeweils ungünstigen Arten der Beziehungsgestaltung von Betreffenden im Erwachsenenalter aus subjektiver Sicht Strategien sind, Beziehungen bestmöglich zu gestalten. Diese (von außen gesehen) unangebrachten Strategien waren in früher Kindheit einmal sinnvoll. Heute sind sie nicht mehr up to date, sie sorgen für Konflikte. Dies wird von den Betreffenden aber nicht so wahrgenommen.
Die folgenden Beispiele von populären Schülertypen verdeutlichen diese Perspektive. Lehrkräfte dürfen sich bei der Darstellung der jeweiligen Tendenz immer mal wieder die Frage stellen: Welche Verhältnisse erlebte Schüler XY möglicherweise früher, damit sich sein persönlicher Stil, der ihn heute dominiert, überhaupt entwickeln konnte bzw. musste?
Literaturtipps
Kuhl, J., Kazén, M. (1997): Persönlichkeits-Stil und Störungs-Inventar (PSSI). Hogrefe, Göttingen
Lelord, F., André, C. (2017): Der ganz normale Wahnsinn. Vom Umgang mit schwierigen Menschen. 17. Aufl. Aufbau, Berlin
Oldham, J., Morris, L.B. (2017): Ihr Persönlichkeitsportrait. 7. Aufl. Westarp, Hohenwarsleben
Riemann, F. (2017): Grundformen der Angst. 42. Aufl. Ernst Reinhardt, München
1.2 „Kein Problem, ich mach das für dich!“ – Helfertypen
BEISPIEL
Die Schülerin Melina (12) war in ihrer Klasse anfangs sehr beliebt. Melina unterstütze ihre Mitschülerinnen im Laufe des ersten Halbjahres in vielerlei Hinsicht, etwa bei Hausaufgaben, Referats- und Klausurvorbereitungen. Sie hatte außerdem stets ein offenes Ohr bei auftauchenden Problemen und Konfliktlagen in der Klasse und bot sich als Vermittlerin bzw. Unterstützerin in Bezug auf Win-win-Lösungen an. Natürlich wurde sie nach nur wenigen Wochen zur Klassensprecherin gewählt. Die Funktion führte sie sehr gewissenhaft aus. Doch ihr starkes Interesse am Wohlergehen ihrer Mitmenschen stieß irgendwann nicht mehr nur auf Gegenliebe. Manche SuS in der Klasse fühlten sich später häufig bevor-mundet und im Umgang mit Melina „behandelt wie kleine Kinder“. In manchen Situationen übernahm sie auch Lehrerfunktionen, indem sie etwa regelmäßig für eine ruhige Lernatmosphäre sorgen wollte. Diese Motivation brachte sie in Konflikt mit manchen Lehrkörpern, die ihre Autorität bedroht sahen.
Gerade in Fachschulen für Sozialpädagogik bzw. Heilerziehungspflege treffen Lehrkräfte vermehrt auf SuS mit einer stark ausgeprägten fürsorglich-empathischen Persönlichkeitsfacette. Das ist natürlich kein Zufall – die sich daran anschließenden Berufe sind Beziehungsberufe und ziehen derartige Charaktere selbstredend vorauseilend an (Breil / Sachse 2018). Natürlich kommen diese SuS aber auch an allen anderen Schulformen vor.
Die betreffenden SuS gestalten nicht nur im Praxisfeld die Beziehungen sehr emotional und persönlich, etwa im Rahmen von Praktika, sondern auch im Klassenraum. Sie wollen in ihrem Fürsorge-Thema außerdem von den anderen grundsätzlich positiv wahrgenommen werden (Damm 2018).
Vorteile dieses Stils: Falls die Helfereigenschaften nicht den Großteil der Persönlichkeit des Schülers dominieren und lediglich in durchschnittlicher Stärke vorliegen, können sich Lehrkräfte über engagierte SuS erfreuen, die das Klassenklima positiv prägen. Helfertypen auf Schülerseite sind in den meisten Fällen der verlängerte Arm des Pädagogen. Sie unterstützen ihn tatkräftig, z.B. bei der Ausübung von Klassenlehreraufgaben (Planung von Wandertagen, Organisation der ersten Schultage, allgemeine Unterrichtsbelange). Die Lehrkraft kann sich in der Regel auf die betreffenden SuS verlassen; außerdem ist eher mit niedrigeren Fehlzeiten zu rechnen.
Mögliche Nachteile: Meistens erwarten derart strukturierte SuS eine mindestens ebenso qualitativ hochwertige Helfer-Mentalität von ihrem Klassenlehrer. Das sorgt in der Regel für Konflikte, da sich eine professionell ausgeübte Lehrerrolle nicht gut mit einem Übermaß an Fürsorge, Empathie und Verständnis verträgt. Darunter würde die Umsetzung des Erziehungs- und Bildungsauftrags leiden.
Ein weiteres Problem kann durch Grenzüberschreitung seitens des betreffenden Schülers entstehen. Rote Linien werden in der Regel dann überschritten, wenn die Beziehung zwischen Schüler und Lehrer zu eng wird. In beschriebener Konstellation kann es passieren, dass die Lehrkraft im Unterricht geduzt und vor versammelter Mannschaft etwa durch das Ausplaudern von Interna bloßgestellt wird. Aber auch die Mitschüler können von solchen Grenzüberschreitungen betroffen sein („Kein Wunder, dass ihr so schlechte Noten schreibt, ihr müsst mehr lernen!“).
Erleiden betreffende SuS mit ihren übertriebenen Ambitionen irgendwann einmal Schiffbruch – etwa weil die Klasse gegen das mütterliche Gehabe rebelliert –, so könnte der betreffende Schüler nach der Konfrontation (Motto: „Was wärt ihr/wärst du nur ohne mich?!“) in eine depressive Phase schlittern.
TIPP
Im Umgang mit unangemessen engagierten SuS müssen Lehrkräfte bereits zu Beginn der Zusammenarbeit im Vieraugengespräch rasch die unterschiedlichen Vorstellungen und schulischen Rahmenbedingungen (Realitätscheck) kommunizieren. Es muss dem Schüler konkret aufgezeigt werden, wie genau er seine Kompetenzen in geregelten Bahnen im Klassenraum ausleben kann bzw. darf. Am besten spricht man sich davor mit dem gesamten Team im Bildungsgang ab, sodass alle an einem Strang ziehen.
1.3 „Drama, Baby!“ – Histrionischer Stil
BEISPIEL
Anastasia (17) war von Anfang an eine schillernde Persönlichkeit. Mit ihrem attraktiven, gepflegten Äußeren sowie ihren fulminanten Small Talk-Kompetenzen gewann sie die Herzen ihrer Mitschüler und Lehrkräfte im Voraus. Anastasia war unterhaltsam und engagiert im Unterricht. Ihre mündlichen und schriftlichen Beiträge fielen innovativ, kreativ und ausführlich aus. In den Schilderungen schwangen in der Regel Emotionen mit und sie konnte die Zuhörerschaft mitreißen. Ihre imposante Außenwirkung traf insbesondere das männliche Geschlecht – auf Schüler-und Lehrerseite. Flirtend konnte sie die Männerwelt spielend leicht um den Finger wickeln. Leider war der positive Ersteindruck nur ein Strohfeuer. Nachdem etwa sechs Wochen ins Schuljahr gegangen waren, regten sich erste Widerstände in der Gruppe, und der Klassenlehrer wurde angesprochen. Sie sei (auch) bei den Fachlehrern zu präsent und zeitraubend, andere empfanden sie als nervtötend („Sie ist eine richtige Diva – ätzend!“). Der Pädagoge suchte aufgrund dieser Eindrücke ein Gespräch unter vier Augen mit der Schülerin anlässlich einer Klassenarbeitsbesprechung. In diesem zeigte sie sich völlig uneinsichtig und legte einen hollywoodreifen Auftritt hin: „Wie kann man nur sooooooowas über mich sagen?! Also wiiiiirklich!“
Histrionisch strukturierte SuS stellen sich gerne selbst dar und genießen es, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen (Lelord/André 2017, 89). In diesem Sinne zeigen sie tendenziell narzisstische Phänomene. Im Unterschied zur Narzissmus-Thematik steht bei histrionischen Motiven aber eher die geschlechtsspezifische Selbstdarstellung im Vordergrund. Weibliche Histrioniker imponieren durch typisch feminine Attraktivitätsmerkale, männliche durch entsprechend maskuline (Damm 2012). Auffällig ist des Weiteren eine große Vorliebe für das Ausdrücken von (wechselhaften) Emotionen.
Vorteile dieses Stils: Dieser Persönlichkeitsstil sorgt positiv formuliert dafür, dass es im Klassenraum nicht langweilig wird. Die Stimmung in der Gruppe wird massiv beeinflusst, Histrioniker können sehr gut Atmosphären heraufbeschwören – im Guten wie im Schlechten. Aus diesen Gründen verwundert es nicht, dass sie Mitschüler im Unterricht inspirieren, mitreißen und begeistern können. Gerade in Gruppenarbeitsphasen können histrionisch strukturierte SuS kreative Impulse setzen und ihren Ideenreichtum an den Mann (oder die Frau) bringen. Die anderen Gruppenteilnehmer profitieren auch von dem typisch selbstsicheren und eloquenten Vortragsstil der Betreffenden beim Präsentieren der Ergebnisse (Damm 2012).
Mögliche Nachteile: Stehen Heranwachsende extrem unter dem Einfluss von histrionischen Tendenzen, so strapazieren sie schnell die Nervenkostüme von allen Beteiligten im Klassenraum. Schlecht halten sie Phasen aus, in denen es einmal still ist. Schnell wird es langweilig, wenn man nicht ausreichend beschäftigt wird. Solche unliebsamen Konstellationen werden in der Regel dadurch überwunden, dass die Betreffenden sich selbst ins Rampenlicht rücken und Publikum für ihre spektakulär klingenden Schilderungen ausmachen. Es muss nicht explizit auf die Tatsache eingegangen werden, dass einzelne oder mehrere SuS sich durch ein solches Verhaltensmuster nach wenigen Wochen provoziert fühlen. Die anderen merken im Rahmen dieser Auftritte recht schnell, dass die Hauptakteurin in Hinsicht auf Frustrationstoleranz eine ganz kurze Zündschnur hat, sprich: Man kann sie schnell auf 180 bringen.
TIPP
Es gibt Überschneidungen zwischen histrionisch und narzisstisch strukturierten SuS. Beide Typen stehen gerne im Mittelpunkt und brauchen viel Aufmerksamkeit, Lob und Anerkennung. Im Umgang mit Histrionikern ist es wichtig, sich nicht durch ihr manipulatives Interaktionsverhalten einlullen zu lassen. Ebenfalls sollten Lehrkräfte nicht auf Versuche der Betreffenden eingehen, sich Sonderrechte zu verschaffen („Kann ich während der Klassenarbeit ganz leise Musik hören, biiiiiiitte?“). Besser ist es, die Potenziale von Betreffenden in der Schule zu kultivieren (Theater-AG, Klassensprecheramt, Schulsprecher, Gremiumsarbeit usw.). Unter vier Augen, etwa bei Vierteljahresgesprächen, sollte auch klargemacht werden, dass die anderen SuS gleichberechtigt sind und ebenfalls Rechte und Pflichten haben.
1.4 „Ups! Wieso habt ihr eigentlich alle was gegen mich?“ – Selbstschädigender Stil
BEISPIEL
Der Schüler Martin