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Plötzlich hörte ich jemand hinter mir atmen. Vor Schreck stand ich wie gelähmt, und mein Herz schlug so heftig gegen meine Rippen, daß es mich schmerzte. Dann schlang sich ein Arm um meinen Nacken, eine Hand preßte sich auf meinen Mund, so daß ich nicht schreien konnte, und das Atmen hinter mir ging in ein furchtbares, heiseres Keuchen über. Endlich gewann ich meine Fassung wieder – und wehrte mich. Doch wer immer mich umklammert hielt, sein eiserner Griff war stärker als meine Bemühungen freizukommen. Immer furchtbarer würgte mich der Arm, der um meinem Hals lag. Während ich zappelte, schoß mir die Frage durchs Hirn, wer mich wohl attackierte – ein Mann, eine Frau?
Mein Leben wäre unerträglich gewesen, wenn ich in jenem dramatischen Frühjahr nicht diesen angenehmen Job als Kinderbuchillustratorin bei Wells, Hanover & Biglow gehabt hätte. Jeden Morgen freute ich mich aufs neue, in einem trotz gelegentlicher Hektik derart entspannten, freundlichen Betriebsklima arbeiten zu können.
Zu meinen besonders guten Freunden zählte Bob Mackey, unser Abteilungsleiter, bei dem alle Fäden zusammenliefen. Er war noch jung, erst zweiunddreißig Jahre alt, hoch talentiert und recht attraktiv auf eine sehr männliche Art. Aber auch mit allen anderen Mitarbeitern verstand ich mich prächtig.
An jenem Tag, als die Presse die Geschichte mit meiner Großmutter herausgebracht hatte, war ich frühzeitig im Verlag erschienen. Während der Fahrt hatte ich hier und da einen Blick auf die Überschriften in den Zeitungen anderer Fahrgäste geworfen und war zu Tode erschrocken.
Voller Ungeduld erstand ich im Foyer unseres Verlages ein Morgenblatt und beeilte mich, in mein kleines Büro zu kommen, wo ich sofort die Zeitung auf meinem Zeichentisch ausbreitete und den Artikel verschlang.
Ein Foto des Sandsteinhauses meiner Großmutter sprang mir als erstes in die Augen: ein altmodischer Einzelbau inmitten halb verfallener Häuserblocks. Unwillkürlich schauderte ich. Seit Monaten lastete die ganze Geschichte wie ein Alptraum auf mir.
Im Büro wußte keiner Bescheid. Einzig Bob Mackey hatte ich einmal mein Herz ausgeschüttet, als ich vor lauter Sorgen nicht mehr weiter wußte und mit meinen Nerven fast am Ende gewesen war. Bob hatte mich zum Mittagessen eingeladen und mich mit seiner ruhigen, freundlichen Art zum Sprechen gebracht.
Ich fragte mich bekümmert, was er wohl zu der Überschrift dieses Zeitungsartikels sagen würde: »Geheimnisvolle Weigerung einer Frau, ihr Haus zu verkaufen – Verhindert Wohnungsbau für den Mittelstand!«
Die Presse hatte das Thema früher schon behandelt, doch zum ersten Mal hatte man es mit riesigen Überschriften auf die erste Seite gesetzt.
Bob besuchte mich in meinem Büro, eine zusammengefaltete Zeitung in der Hand. Er war ziemlich groß und hatte breite Schultern im Gegensatz zu sehr schmalen Hüften. Sein beigefarbenes Jackett aus weichem Tweed paßte genau zu der braunen Hose. Er trug ein hellblaues Oberhemd und eine im Ton etwas dunklere Krawatte.
An diesem Morgen lächelte er nicht wie gewohnt, seine blaugrauen Augen blickten mich besorgt an. Bob fuhr sich nervös durch die sauber gescheitelten dunklen Haare, zog sich den einzigen Stuhl heran und deutete auf die Zeitung auf meinem Tisch.
»Hast du schon einen Rechtsanwalt eingeschaltet?«
Betroffen schüttelte ich den Kopf. »Nein, warum sollte ich?«
»Er könnte dir und deiner Großmutter viel Ärger ersparen.«
Ich winkte ab. Meine Großmutter legte keinen Wert auf den Rat ihrer Rechtsanwälte. »Im übrigen halte ich den Artikel für maßlos aufgebauscht. Die Sache wird sich im Sande verlaufen. Es ist lediglich ausgesprochen lästig und zerrt an unseren Nerven.«
»Wie ich hier lese«, er tippte mit seiner kräftigen Hand auf einen Absatz des Artikels, »hat man bereits den Staatsanwalt eingeschaltet – mir scheint, da kommt eine ganze Menge auf euch zu.« Er blickte mich offen an und fragte: »Wie denkt Jim übrigens darüber?«
Jim hatte schon oft mit meiner Großmutter über das Problem gesprochen. Ich zuckte die Schultern. »Er rechnet wohl damit, daß sie nachgibt.«
»Mag sie… nun, eigentlich geht es mich ja nichts an, aber findet sie ihn sympathisch?«
Trotzig begegnete ich seinen forschenden Augen. »Natürlich!«
Zum Glück wurde in diesem Augenblick die Tür geöffnet, und Bernie Green schlenderte, eine Morgenzeitung in der Hand, grinsend herein. Bernie war bei uns für die Bucheinbände verantwortlich. »Hallo«, grüßte er lässig, »du machst Schlagzeilen, Mädchen.«
»Na und?« Ich senkte die Augen, um Bob nicht ansehen zu müssen.
Bernie kicherte albern. »Fabelhafte Reklame! Warum schreibst du nicht ein Buch über dein Leben in einem Geisterhaus?«
Ich stöhnte auf. »Hör auf, Bernie! Bei uns gibt’s keine Gespenster.«
Er beugte sich weit zu mir hinunter und flüsterte vertraulich: »Sag mal, ist deine Großmutter irgendwie nicht ganz richtig im Kopf?«
Ich warf Bernie einen empörten Blick zu. »Absolut nicht.« Wortlos faltete ich die Zeitung zusammen und warf sie demonstrativ in den Papierkorb. Dann holte ich mir ein frisches weißes Blatt und pinnte es auf meinen Zeichentisch. Während ich den passenden Bleistift heraussuchte, sagte ich beiläufig: »Wenn mich die Herren entschuldigen wollen, ich habe zu arbeiten.« Ich war sicher, Bob würde meine Reaktion verstehen.
Die Wirkung war in der Tat verblüffend – in wenigen Augenblicken war ich allein. Doch leider nicht lange. Bis zur Mittagspause ging es bei mir zu wie in einem Taubenschlag, und ich fühlte mich am Ende wie eine ausgequetschte Zitrone.
Jim war der einzige, der mich nicht belästigte. Ich sah ihn nicht einmal während der Mittagspause. Sein Büro befand sich zwei Stockwerke höher und ich vermied es nach Möglichkeit, ihn während der Bürostunden anzurufen.
Wir hatten unsere persönliche Beziehung bisher geheim gehalten, da ich nicht wollte, daß über uns geklatscht wurde. Einzig Bob wußte, wie ich zu Jim stand, doch er verlor nie ein Wort darüber, obwohl ich ahnte, daß er nicht gerade begeistert war.
Natürlich wußte auch Mr. Whitehead, unser Chefredakteur, Bescheid. Schließlich hatte er uns einander vorgestellt. Doch auf ihn konnten wir uns verlassen – er war verschlossen wie eine Auster.
Ich würde jenen Tag nie vergessen, an dem ich Jim kennenlernte. Er war einer der jungen Anwälte oben in der Rechtsabteilung. Ab und zu war ich ihm im Verlag über den Weg gelaufen und hatte ihn aus der Ferne angehimmelt. Er war groß, dunkelhaarig und sah sehr gut aus. Sein Haar trug er kurz geschnitten, seine Augen waren fast schwarz und seine Gesichtszüge markant, doch unregelmäßig. Wie er später erzählte, hatte er sich früher einmal beim Fußball die Nase gebrochen. – Jim war immer korrekt gekleidet, wenn auch nicht nach der neuesten Mode. Dem üblichen Bürotratsch zufolge interessierte er sich nicht besonders für Mädchen, er ertrug sie als notwendige Begleiterscheinung.
Das erste Mal trafen wir uns in Mr. Whiteheads Büro. Jim war gekommen, um irgendwelche technischen Fragen bezüglich eines Urheberrechts zu klären. Mr. Whitehead stellte uns vor. »Jim, dies ist Miss Archer. Betty, darf ich dir Jim Chalmers aus der Rechtsabteilung vorstellen?«
Jim sah mich an, und sein Blick ging mir durch und durch. Mein Herz machte einen Satz, und ich murmelte verlegen: »Guten Tag.«
Mr. Whitehead erklärte Jim, daß ich eine der begabtesten Zeichnerinnen wäre, worauf Jim mir zulächelte. In diesem Moment wünschte ich mir nichts sehnlicher, als daß ich mich etwas sorgfältiger zurechtgemacht hätte. Ich wußte, daß mein Haar zerzaust war und mein Lippenstift abgekaut, eine Folge meiner törichten Gewohnheit, mir während der Arbeit auf die Lippen zu beißen.
Zwar trug ich ein gutgeschnittenes schwarzes Kleid, das einen schönen Kontrast zu meinen kurzen blonden Haaren bildete, doch es war über und über mit Farbe bekleckst. Mein einziger Trost war, daß die Farbe hervorragend zu meinen blauen Augen paßte.
Jims Lächeln vertiefte sich, als ich verlegen errötete. »Ich kenne Miss Archer«, sagte er zu Mr. Whitehead, »ich habe sie schon öfter gesehen.«
Mr. Whitehead sah ihn überrascht an. »Und ich dachte immer, Sie achten nicht auf unsere jungen Damen.«
»Das gilt nur für alle übrigen. Miss Archer ist mir sofort aufgefallen.« Sein Lächeln ging in ein ziemlich freches Grinsen über.
Ich schnappte nach Luft und rettete mich zur offenen Tür hinaus auf den Flur. Ich war schon halb draußen, als Jim mich fragte, ob ich abends mit ihm essen wollte.
Überrascht warf ich Mr. Whitehead einen fragenden Blick zu, doch der schmunzelte nur und zündete sich eine Zigarette an.
»Ich… kann leider nicht, Jim«, antwortete ich rasch. »Danke trotzdem.« Nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, rannte ich fast in die Halle.
Doch kurze Zeit später hörte ich Schritte hinter mir, und bald darauf war Jim an meiner Seite. »Einen Augenblick«, sagte er und packte meinen Arm.
Ich schaute auf, direkt in seine Augen, und war verloren.
»Warum haben Sie meine Einladung nicht angenommen?« fragte er.
Mein Herz schlug einen Trommelwirbel. Irgendwie fand ich meine Stimme wieder, und ich schluckte und sagte leise: »Ich muß heim. Meine Großmutter erwartet mich.«
Er betrachtete mein Gesicht so aufmerksam, als wollte er sich jede Einzelheit einprägen. »Sie leben bei Ihrer Großmutter?«
Ich nickte. Dann fragte er, ob meine Großmutter eventuell mitkommen würde. Seine Hand lag immer noch um meinen Oberarm. Allmählich irritierte mich der Druck seiner warmen Finger. Schauer rannen über meinen Rücken. Ich schaffte es aber, vernünftig zu antworten.
»Nein, nein, vielen Dank. Sie geht überhaupt nicht mehr aus.«
»Erwartet sie denn, daß Sie ihr immer Gesellschaft leisten?«
»Nicht immer, doch ich bleibe gern bei ihr zu Haus.«
Wieder dieses anziehende, breite Lächeln. »Machen Sie für mich eine Ausnahme, ja? Rufen Sie sie an. Ich bringe Sie auch sehr früh zurück.«
Ich zögerte, sein Angebot klang verlockend. Und ich hatte wirklich den Wunsch, ihn näher kennenzulernen. Seine Gegenwart übte eine seltsame Wirkung auf mich aus, was ich bisher noch nie bei einem Mann erlebt hatte. Schließlich willigte ich ein. »Gut, ich rufe Großmutter an. Sicher hat sie nichts dagegen, wenn ich ausgehen. Nur, in letzter Zeit ist alles wirklich ein bißchen kompliziert geworden.«
Jim strahlte. Er wollte mich um halb sieben Uhr vor meinem Haus abholen. Rasch protestierte ich. »Nein, bitte nicht. Könnten wir uns nicht irgendwo anders treffen?«
Seine dunklen Augenbrauen schnellten hoch. »Schön«, willigte er schließlich etwas erstaunt ein und schlug ein kleines französisches Lokal ganz in der Nähe des Verlags vor. Nichts Besonderes, doch bekannt für gute Küche und gemütliche Atmosphäre. »Wären Sie mit halb sechs einverstanden?«
Ich war es, und es wurde ein bezaubernder Abend. Das Essen war ein Gedicht, und ich unterhielt mich glänzend mit ihm. Ohne in Einzelheiten zu gehen, erzählte ich von mir und meiner Familie, und er berichtete von sich. Ich erfuhr, daß er noch einen Bruder besaß, der bei der Marine war. Seine Eltern lebten in Ohio, wo sein Vater eine Arztpraxis unterhielt.
Ich hatte den Eindruck, daß Jim sehr ehrgeizig war und keine Mühe scheute, Karriere zu machen. Später hatte er vor, in die Politik zu gehen, verriet er mir.
Wir standen nach dem Essen etwas unschlüssig vor dem Lokal. Ich schaute zu ihm auf. »Sie brauchen mich nicht nach Hause zu bringen, Jim. Ich werde mir ein Taxi nehmen.«
»Und warum darf ich Sie nicht nach Haus begleiten?«
»Schauen Sie, ich wohne drüben auf der West Side. Man hat bereits mit dem Abbruch der Häuserblocks begonnen, ich sollte besser allein fahren.«
Er winkte ein Taxi heran, nötigte mich einzusteigen und setzte sich dann neben mich. »Nun«, sagte er gelassen, »wo genau wohnen Sie?«
Ich nannte dem Fahrer meine Adresse und verkroch mich dann in meine Ecke. Nach wenigen Augenblicken fragte er mich, was ich denn hätte.
»Ach«, meinte ich bedrückt, »ich möchte nicht, daß Sie sehen, wo ich lebe. Im Moment ist es keine besonders schöne Gegend. Meine Großmutter wohnt dort seit fünfundvierzig Jahren, doch nun hat man mit dem Bau eines riesigen staatlich geförderten Wohnsilos begonnen, und sie weigert sich, ihr Haus zu verkaufen.«
Jim nahm meine rechte Hand und hielt sie fest. »Ich verstehe. Könnte ich irgendwie helfen?«
Sofort entzog ich ihm meine Hand. »Nein«, erwiderte ich frostig.
»Werden Sie denn wieder einmal mit mir ausgehen, Betty?«
»Wenn Sie es gern wollen…«
Wir schwiegen, bis das Taxi vor dem altmodischen Sandsteinhaus hielt, in dem ich zusammen mit meiner Großmutter lebte.
»Darf ich mit hineinkommen und Ihre Großmutter kennenlernen?«
»Nicht heute, bitte«, bat ich leise. »Ich werde ihr von Ihnen erzählen. Vielleicht ein anderes Mal.«
Damit gab er sich zufrieden. »Okay, doch glauben Sie nicht, Sie könnten mich immer so leicht loswerden, Betty. Ich bin ein hartnäckiger Bursche, wenn ich ein ganz bestimmtes Ziel verfolge.«
Und so fing alles an mit Jim und mir.
*
Nach unserer nächsten Verabredung schaffte Jim es tatsächlich, daß ich ihn mit nach Haus nahm und meiner Großmutter vorstellte. Und obwohl sie es mir nie sagte, spürte ich doch, daß sie ihn mochte.
Allmählich trafen wir uns regelmäßig, vereinbarten aber, unsere Freundschaft vor den Verlagskollegen geheimzuhalten. Jim stattete uns im Sandsteinhaus immer öfter Besuche ab, während die Häuser in der Nachbarschaft nach und nach abgerissen wurden. Doch ihn schien das nicht zu stören.
Die Zeit flog nur so dahin. Und dann kam der Tag, als Jim mich bat, ihn zu heiraten. Ich lehnte ab. Er wiederholte seinen Antrag in regelmäßiger Abständen, doch ich blieb bei meiner Weigerung.
Ich mochte Jim und wollte ihn nicht verlieren, doch ich konnte ihn nicht heiraten, solange meine Großmutter mich brauchte. Ich hätte sie nie allein lassen können, gerade nicht in dieser kritischen Zeit. Doch ich wünschte mir wirklich sehr oft, die Dinge lägen nicht gar so kompliziert, und ich hätte Jim heiraten können. Er hatte mir erklärt, daß ich mitverdienen müßte, bis er sein Staatsexamen und seinen Doktortitel in der Tasche hatte, doch danach könnte er dann für uns beide sorgen.
Weiterzuarbeiten hätte mir nichts ausgemacht, im Gegenteil, ich liebte meinen Job. Und gerade jetzt, nach dem Wirbel, den der Zeitungsartikel entfacht hatte, wäre es ein Segen gewesen, Jim zu heiraten und das düstere, alte Sandsteinhaus zu verlassen, in dem ich mit meiner Großmutter gelebt hatte, seit sie mich im Alter von fünf Jahren zu sich geholt hatte. Jim und ich hätten uns eines dieser freundlichen hellen Appartements gemietet, es nach und nach nach unserem Geschmack eingerichtet und wären nach der Arbeit im Verlag ganz für uns allein zu zweit gewesen.
Mein Telefon läutete gegen vier Uhr nachmittags. Jim war am Apparat. Er wollte mich zum Abendessen einladen.
»Ach, Jim, ich glaube, ich sollte lieber bei Großmutter sein. Hast du denn nicht den Bericht in der Zeitung gelesen?«
»Doch, ziemlich schlimm, nicht wahr?«
»Ziemlich schlimm für wen?«
»Nun, all dieser Presserummel ist bestimmt lästig für dich.« Seine Stimme klang zornig. »Laß uns zusammen essen und darüber reden, Liebling.«
»Aber Großmutter erwartet mich, Jim.«
Jim hielt mir entgegen, daß ich sie anrufen und verständigen könnte. Doch ich wollte mich einfach nicht umstimmen lassen. Ich wußte, daß Großmutter eine eifrige Zeitungsleserin war. Bestimmt war sie längst informiert. Außerdem hatte sich für diesen Abend der Staatsanwalt und der Bauleiter des Projekts angesagt.
»Großmutter erwartet die Herrn um acht Uhr, Jim.«
»Dann komme ich eine Stunde vorher. Ich würde den Staatsanwalt gern kennenlernen.« Jim lachte ein wenig verlegen. »Er ist ein wichtiger Mann für – ehrgeizige junge Anwälte, weißt du?«
Ich hielt die Luft an und zählte bis zehn. »Also das ist wirklich nicht die feine englische Art, Jim. Benutzt du die Probleme meiner Großmutter als Sprungbrett in das Büro des Staatsanwalts?«
Jim protestierte heftig. »Betty! Wer denkt denn an so etwas! Du bist wegen des Zeitungsartikels aufgeregt, das ist verständlich, aber…«
»Trotzdem«, erwiderte ich gekränkt, »es hörte sich genau so an.«
»Na gut«, lenkte er ein, »ich habe mich falsch ausgedrückt. Wollen wir nicht doch zusammen essen? Sag ja, Hitzkopf, ich habe dich seit gestern nicht gesehen.«
Mein Widerstand schmolz wie Schnee in der Sonne. Ich erklärte mich damit einverstanden, Großmutter Bescheid zu sagen. Wir verabredeten uns für halb sechs vor dem französischen Lokal, unserem Lieblingstreffpunkt, und Jim verabschiedete sich zärtlich von mir.
Als ich Großmutter anrief und ihr mitteilte, daß ich zum Abendessen nicht daheim wäre, kam ich mir vor wie eine Ratte, die ein sinkendes Schiff verläßt. »Macht es dir auch wirklich nichts aus, Großmutter?« fragte ich besorgt.
»Ach wo, Kind«, antwortete sie, »geh nur, und amüsier dich. Mir geht es ausgezeichnet.«
Ein wenig kleinlaut versprach ich ihr, um sieben Uhr zu Haus zu sein. Sie bat mich, bloß nicht ihretwegen zu rasen. Trotz ihrer aufmunternden Worte hatte ich das Gefühl, daß es ihr nicht besonders gut ging, ihre Stimme hatte ungewöhnlich matt geklungen.
Als ich die Tür zu meinem Privatbüro hinter mir schloß, rief Bob mich zu sich. Wir waren die letzten, die anderen waren schon nach Haus gegangen. Er sah mich forschend wie immer an und fragte mich, ob er irgend etwas für mich tun könnte.
»Nein, danke, Bob«, antwortete ich leise.
»Bringt Jim dich nach Haus?«
»Ja, aber vorher gehen wir zusammen essen.«
Bob sah müde und abgespannt aus.
»Betty…«, begann er zögernd. In seinen blaugrauen Augen entdeckte ich aufrichtige Besorgnis. »Wenn du mich jemals brauchen solltest, sag mir Bescheid. Du weißt, daß ich nicht viel Worte mache, besonders jetzt, wo du Jim hast. Doch ich möchte, daß dir kein Haar gekrümmt wird.« Er pausierte und starrte den Bleistift an. »Sag mal, zwischen dir und Jim ist doch… ist doch alles okay, oder?«
»Doch, doch«, stotterte ich. Mein Herz klopfte seltsam rasch. »Warum fragst du, Bob?«
»Ach, nur so. Nun, wenn du zufrieden bist, ist ja alles in Ordnung. Gute Nacht, Betty.«
Ich dankte ihm und ging leise hinaus. Ich hörte noch, wie er den Bleistift quer über den Schreibtisch warf, als wäre er unheimlich wütend. Ihn dort allein sitzen zu lassen, war ein komisches, ungemütliches Gefühl. Doch schließlich sagte ich mir, daß ich mich ja lächerlich machte. Bob verließ das Büro jeden Abend als letzter, daran war überhaupt nichts Ungewöhnliches. Soweit ich gehört hatte, teilte er eine Wohnung mit einem anderen jungen Mann, und ich nahm an, daß es Bob nicht gerade nach Haus zog.
Beim Essen hielt Jim mir vor, daß es keinen echten zwingenden Grund geben würde, bei meiner Großmutter wohnen zu bleiben. »Du bist ihr keinesfalls verpflichtet«, argumentierte er logisch; »im Gegenteil, warum denkst du eigentlich nicht einmal an unsere Zukunft?«
Ich seufzte deprimiert. »Ich verdanke ihr eine ganze Menge, Jim.«
»Allmählich hast du deine Schuld doch wohl hundert Mal zurückgezahlt. Willst du etwa für den Rest deines Lebens dort wohnen bleiben?«
Ich entzog ihm meine Hände, die er fest in den seinen gehalten hatte. »Ach, Jim«, sagte ich traurig, »ich liebe dich. Eines Tages werden wir bestimmt heiraten. Doch jetzt ist es einfach – nicht möglich.«
Jim zündete sich eine Zigarette an und starrte mich an. »Hast du schon einmal mit Bob Mackey über den verdammten Zeitungsartikel gesprochen?«
»Ja«, nickte ich und war plötzlich schrecklich wütend auf mich, weil ich puterrot geworden war, als Jim Bobs Namen erwähnte. »Doch er hat nicht viel dazu gesagt.«
Jims Mundwinkel verzogen sich verächtlich. »Mmmmh, sagen tut er nie viel, doch er denkt sich immer seinen Teil.«