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Vier großartige Romane von Katharina Wolf vereint in einem Sammelband - über 1000 Seiten voller Zuneigung, dunklen Wolken, Sehnsucht und dem Kampf um die große Liebe. Vier Jahre ohne dich Endlich ist Nora glücklich. Nach einer schwierigen Kindheit hat sie in Jan ihre erste große Liebe gefunden – und in seiner Familie Geborgenheit und Zusammenhalt. Alles ist perfekt. Bis zu jenem Abend, der alles ändert. Nichts ist mehr so wie es war … selbst vier Jahre später nicht. Strike - oder die Unwahrscheinlichkeit vom Blitz getroffen zu werden und die große Liebe zu finden Wie wahrscheinlich ist es wohl, vom Blitz getroffen zu werden und die große Liebe zu finden? Sophie kommt aus gutem Hause und führt ein unbeschwertes Leben. Strike hingegen lebt auf der Straße und kann von einer sorglosen Jugend nur träumen. Die beiden könnten unterschiedlicher nicht sein, doch gemeinsam bestreiten sie eine Reise, die sie für immer verändern wird. Nachrichten von Mr Dean "Kannst du bitte noch Hochprozentiges, Nougatschokolade und Tampons mitbringen? Habe alles davon bitter nötig!" Wenn eine derart wichtige SMS bei einem Wildfremden landet statt bei der besten Freundin, kann das ja nur im Chaos enden. So lernt Ruby durch einen Zahlendreher "James Dean" kennen, dessen Nachrichten zwischen Jobfrust und Familienärger zu ihrem Tageshighlight werden. Doch kann man sich wirklich in geschriebene Worte verlieben? Ruby stellt fest: Sie kann. Allerdings in einen alles andere als perfekten Mann. Mein Herz, mein Kopf und ein Universum dazwischen Sebastian ist neunzehn, frisch geoutet und bereit, in sein neues, schwules Leben zu starten. In einem Club trifft er auf Hiroki und verliebt sich vom Fleck weg in den attraktiven Halb-Japaner. Und es sieht so aus, als würde Hiroki seine Gefühle erwidern. Sebastian ist im siebten Himmel. Doch bald ziehen erste dunkle Wolken auf. Während Sebastian sich nichts mehr wünscht, als seine große Liebe öffentlich zu machen, tut Hiroki alles, um die Beziehung geheim zu halten. Ein Kompromiss ist nicht in Sicht, und Sebastian muss um seine große Liebe kämpfen.
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Seitenzahl: 1352
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Katharina Wolf
© 2015 Amrûn Verlag Jürgen Eglseer, Traunstein
Covergestaltung: Claudia TomanTraumstoff Coverdesign
Korrektorat: Jessica Idczak
Alle Rechte vorbehalten
ISBN – 9783958692152
Besuchen Sie unsere Webseite:http://amrun-verlag.de
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter
http://dnb.d-nb.de abrufbar
Für Ricarda,
meine beste Freundin
Prolog
Ich wachte plötzlich auf. Schlagartig. Kein langsames Erwachen, bei dem man sich noch minutenlang wehrt und versucht, sich krampfhaft an die wohltuende Bewusstlosigkeit oder den angenehmen Traum zu klammern. Nein. Völlig wach. Ohne Umwege. Ich schlug die Augen auf und bereute es sofort. Mein Kopf schmerzte erbarmungslos und in meinem Mund herrschte ein auffällig starker Geschmack nach Alkohol und Erbrochenem. Durst. Ich hatte so unglaublichen Durst. Mir klebte die Zunge am Gaumen. Außerdem tat mein Rücken weh. Ein Stöhnen entwich meinen Lippen und ich griff unter mich. Zwischen mir und der Matratze zog ich eine Tube Gleitgel und eine leere Bierflasche hervor. Kein Wunder, dass mein Rücken mich gerade umbrachte!
Ich blickte mit müden Augen nach links und sah blaue Wände, an denen sich das morgendliche Licht in einem seltsamen Streifenmuster brach. Der Rollladen war nicht ganz unten. Daher konnte ich auch den Typen rechts von mir erkennen. Wobei erkennen doch übertrieben war. Der Kerl war mir völlig fremd. Nur dunkel erinnerte ich mich an den gestrigen Abend, der wohl etwas eskaliert war. Da war eine Bar, zu viele Tequila-Shots und eine pompöse Line weißes Pulver.
Der Typ riss mich aus meinen Überlegungen. Er schmatzte, hustete, kratzte sich am stoppeligen Kinn und schnarchte dann leise weiter. Okay, das hier waren dann wohl seine Wohnung und sein Schlafzimmer. Ich rieb mir resignierend über die Augen. Alter, wo war ich jetzt schon wieder gelandet? Das war mir alles mehr als suspekt! Aber leider war das nicht das erste Mal, dass mir so etwas passierte.
Mühsam quälte ich mich aus den Laken und suchte meine Unterwäsche. Auf dem Boden hinter dem Bett fand ich sie, neben zwei gebrauchten Kondomen. Wenigstens hatten wir noch an Verhütung gedacht.
Ich verließ das Schlafzimmer auf Zehenspitzen und entdeckte im Flur meine Jeans und meinen Pullover. Ich zog mir alles über und suchte das Badezimmer. Dort spritzte ich mir etwas Wasser ins Gesicht und spülte mir den Mund aus, um diesen widerlichen Geschmack loszuwerden. Dann betrachtete ich mich im Spiegel. Kein erfreulicher Anblick.
Nachdem ich mir die Haare zurückgebunden hatte, schnappte ich mir meine Handtasche, die ich neben der Eingangstür fand, und verließ die Wohnung. Keine Ahnung, wer der Typ war und in welchem Stadtteil ich mich gerade befand. Es interessierte mich aber auch nicht die Bohne. Ich war so verkatert, dass mir alles egal war. Außer einem schnellen Kaffee und einer Sonnenbrille, die mich vor der gnadenlosen Morgensonne schützte, begehrte ich momentan nichts. Mein Kopf war wie leergefegt.
Brainfucked.
Gut so! Ich hasste es, nachzudenken. Brachte meist eh nichts und machte nur schlechte Laune. Aber ganz ausschalten konnte ich mein Gehirn leider doch nicht. Ein Zeichen dafür, dass der Alkoholpegel und die Wirkung der Drogen langsam, aber sicher nachließen.
Ich war nicht immer so gewesen. Es hatte eine Zeit gegeben, in der mir nicht alles so dermaßen scheißegal gewesen war. In der ich nicht von einem One-Night-Stand zum nächsten gesprungen war. Von einem Rausch in den nächsten. Von einem Vergessen zum nächsten … Aber das war lange her.
Zu lange.
Eigentlich wusste ich schon nicht mehr, wie das gewesen war. Das Leben davor.
Weniger anstrengend?
Nein.
Es war schmerzhafter.
Oder?
Was soll‘s ... Man konnte die Zeit ja eh nicht zurückdrehen ...
Schule ist durch
»Sag mal, was machen wir eigentlich noch hier?«
Müde schaute ich meine Sitznachbarin Lina an und zuckte nur resignierend mit den Schultern. Es erforderte schon eine Menge Selbstbeherrschung, die Lider nicht einfach zu schließen. Jedes Zwinkern dauerte jetzt schon länger als normal. Wenn es nicht bald klingelte, würde ich dem Drang nachgeben müssen.
In den nächsten Wochen standen unsere Abiturarbeiten an. Die meisten Lehrer sahen es daher wohl nicht ein, den Unterricht noch auf irgendeine Art und Weise interessant zu gestalten. Oder, wie im Falle unseres Mathelehrers Herrn Jonas, überhaupt zu unterrichten. Der saß nämlich entspannt auf seinem Stuhl, hatte die Füße auf dem Pult geparkt, und las seit geschlagenen 20 Minuten die Lokalausgabe der hiesigen Zeitung. Stillarbeit nannte er das. Leider hatte er vergessen, uns die dazugehörige Aufgabe zu geben. Daher begnügten sich die meisten damit, ihren Facebookstatus zu checken, den Highscore eines Handyspielchens zu knacken oder sich einfach mit dem Tischnachbarn zu unterhalten. Lina kramte nun sogar ein Buch aus ihrem Rucksack. Nicht etwa ein Mathebuch. Nein. Ich schaute auf das Cover. Verstummt von Karin Slaughter.
»Ist das dein Ernst?«, flüsterte ich ihr hinter vorgehaltener Hand zu. »Meinst du nicht, das wird er merken?« Ich zeigte auf Herrn Jonas, der gerade geräuschvoll umblätterte und einige Mitschüler durch das laute Rascheln aufschrecken ließ. Die waren dann wohl wieder wach.
»Nora, das ist dem scheißegal!«, zischte Lina genervt. Wahrscheinlich hatte sie recht. Ich legte den Kopf wieder auf meine verschränkten Arme und schloss die Augen. Was soll‘s. Nun beneidete ich Lina um ihren Thriller. Sie hatte dadurch wenigstens ein wenig Beschäftigung.
Die Sache hier war eindeutig durch.
Schule war durch.
Ich konnte es noch gar nicht so recht glauben. Nach knapp 13 Jahren sollte alles vorbei sein. Einfach so? Eigentlich ging mir das, wenn ich ehrlich sein sollte, etwas zu schnell. Ich wusste doch noch gar nicht, was ich danach machen wollte. Was die Zukunft bringen mochte? Einen richtigen Plan hatte ich nicht.
Plötzlich traf mich etwas am Hinterkopf. Ich schaute hinter mich und sah einen zerknüllten Papierklumpen auf dem Boden. Ich hob ihn auf, legte ihn vor mich auf den Tisch und faltete ihn auseinander. Dann fuhr ich den kleinen viereckigen Zettel mit den Fingern glatt und las die paar Zeilen.
»Abi-Party-Komitee - bist du dabei?« stand in krakeliger Schrift mit Bleistift darauf geschrieben. Ich drehte mich um und sah in die hoffnungsvollen Augen von Pablo, der zwei Reihen hinter mir saß und die Hände wie zum Gebet aneinandergelegt hatte. Er formte ein tonloses »Bitte« mit seinen Lippen.
»Meinetwegen«, schrieb ich auf die Rückseite des Zettels, faltete ihn zu einem Flieger und warf ihn zurück. Er las den Brief und gab mir dann einen Daumen nach oben. Jeden Tag eine gute Tat. Das war wohl meine für heute.
Als es endlich klingelte, erhob ich mich und ließ dabei jeden Wirbel meiner Wirbelsäule knacken. Nur noch wenige Tage, dann wäre das hier alles vorbei. Würde ich es vermissen? Das sagt man doch immer. Nach der Schule würde alles schwieriger werden. Nie mehr wäre das Leben so einfach wie in diesem Alter, deshalb solle man die Schulzeit ja auch genießen. Ich für meinen Teil konnte sagen, dass es mir tatsächlich momentan gut ging. Alles war geregelt und ich war zufrieden. Das war in der Vergangenheit auch schon anders gewesen. Vielleicht konnte ich sogar zum ersten Mal in meinem Leben wirklich behaupten, glücklich zu sein.
Pablo kam zu mir nach vorne gerannt und boxte mir freundschaftlich gegen die Schulter.
»Cool, dass du mitmachst!«
»Soll ja auch gut werden«, grinste ich ihn frech an. Er lächelte zurück.
»Wir treffen uns übermorgen nach der dritten Stunde. Die meisten haben die Vierte und Fünfte eh frei und die anderen meinten, dass es nicht auffällt, wenn sie im Unterricht fehlen.« Ich schielte zu Herrn Jonas, der die Zeitung zusammenfaltete und in seine Aktentasche stopfte.
»Dem würde es garantiert nicht auffallen. Vielleicht schwänze ich vorm Abi noch ein paar Mal. Habe ich immerhin noch nie gemacht.«
»Klar. Warum nicht? Was soll schon passieren? Sag Bescheid, dann gehen wir stattdessen einfach ‘nen Kaffee trinken.« Er grinste und boxte mir wieder gegen die Schulter. Exakt die gleiche Stelle. Das war echt eine scheiß Angewohnheit von ihm. Ich würde bestimmt einen blauen Fleck bekommen.
»Dann sehen wir uns ja spätestens beim Abi-Party-Treffen.«
»Genau.«
Ich winkte ihm noch mal zum Abschied zu und verließ den Klassensaal und das Schulgebäude. Um mich herum tummelten sich rauchende Oberstufenschüler, ein knutschendes Pärchen, eine laut und hysterisch lachende Gruppe von Mädchen und einige wartende Eltern. Aber auch auf mich wurde ausnahmsweise mal gewartet. Etwas weiter hinten stand ein kleiner, alter, knallroter VW Golf und an der Fahrertür lehnte Jan.
Mein Jan.
Er sah mich und hob grüßend die rechte Hand. Bei seinem Anblick konnte ich einen Seufzer nicht unterdrücken. Verdammt, sah der heute wieder gut aus. Kriminell gut. Sein volles, braunes Haar war wild gestylt und er trug eine blaue Jeans sowie passend dazu einen dunkelblauen Hoodie. Er war also nach der Arbeit noch mal zu Hause gewesen. Meist ging er in Hemd und Sakko ins Büro. Aber der lässige Jan gefiel mir um einiges besser. Ich rannte die wenigen Meter zu ihm und fiel ihm um den Hals.
»Du siehst gut aus«, nuschelte ich in sein Haar.
»Danke, du auch. Immer.« Ich grinste und dann küssten wir uns.
»Nehmt euch ein Zimmer!« Einige meiner Klassenkameraden verließen soeben das Gebäude und pfiffen und johlten uns zu. Ich lief sofort rot an.
»Sind doch alle nur neidisch«, flüsterte mir Jan mit dunkler, verführerischer Stimme ins Ohr. Ich erschauderte. »Sollen sie ruhig sehen, wie glücklich wir sind.«
»Charmeur!«, gab ich etwas beschämt zurück und kniff ihm in die Wange. Er lachte daraufhin schallend.
»Ist doch wahr!«
Wir fuhren zu Jan nach Hause. Er wohnte mit seiner Mutter und seinem jüngeren Bruder Sebastian zusammen. Der Vater der beiden war irgendwann abgehauen. Jan hatte mir nie viel darüber erzählt. Das war wohl ein Abschnitt seines Lebens, an den er nicht allzu gerne zurückdachte. Angeblich gab es damals ein großes Drama und es entbrannte ein hässlicher Rosenkrieg. Meines Wissens war das Ergebnis ein Nervenzusammenbruch seiner Mutter und eine blonde, dralle Mittzwanzigerin, mit der sein Vater in eine andere Stadt gezogen war. Seitdem gab es keinen Kontakt mehr zu ihm. Jan ließ es sich selten anmerken, wie sehr ihn die Ablehnung seines Vaters verletzt hatte. Sebastian war da sensibler und konnte es, im Gegensatz zu Jan, nicht verbergen. Gerade in der Anfangszeit hatte er sehr unter der Trennung gelitten. Sie waren ja beide gerade so Teenageralter gewesen. Da hatte man eigentlich genug Probleme mit sich selbst und konnte auf so ein Drama gut und gerne verzichten. Momentan war das Thema Vater ein rotes Tuch. Es wurde totgeschwiegen. Ich hielt mich natürlich an diese stumm getroffene Abmachung.
Jan öffnete die Eingangstür. Alles war still und dunkel.
»Wohl keiner da.«
Er schaltete das Licht an und ich folgte ihm in die Küche. Dort setzte ich mich erst mal an den Esstisch und atmete tief durch.
»Müde?«, fragte er.
»Es geht. Ein wenig.«
»War es so anstrengend heute? Stressige Lehrer?« Jan schaute in den Kühlschrank und beförderte nacheinander Paprika, Tomaten und noch einige andere Zutaten auf die Küchentheke.
»Nö, das ist ja gerade das Problem. Langweilig ohne Ende. Und bei dir so? Hattest du früher Feierabend?«
»Ja, ausnahmsweise. Dafür stehen morgen wieder Überstunden an.«
Ich verdrehte die Augen. Jan machte so gut wie immer Überstunden. Und am Wochenende musste er auch oft ran. Ziemlich ungerecht. Aber was sollte man tun? Jan war nun mal einige Jahre älter als ich und arbeitete dementsprechend schon in einem richtigen Job.
Nach dem Abi hatte er Englisch und Marketing studiert. Und nun machte er eine Ausbildung in einer PR-Agentur. Er rackerte sich ab und hoffte so, im nächsten Jahr übernommen zu werden. Es gab noch zwei andere Azubis und nur einer von ihnen würde nach der Lehre weiter in der Agentur beschäftigt werden. Die Langeweile, über die ich mich beschwerte, würde er gerne haben.
Ich verstand voll und ganz, warum er sich so abmühte und in seine Arbeit reinhängte, sich Tag für Tag von seiner besten Seite zeigte. Aber manchmal war es zu viel. Manchmal vermisste ich ihn einfach.
Jan riss mich aus meinen Überlegungen, indem er ein Schneidebrett und diverse Gemüsesorten vor mir abstellte.
»Du schnippelst.« Er zwinkerte mir zu und ging dann an den Herd, um Wasser aufzusetzen. Ich würfelte Karotten, Zwiebeln, Zucchini, Paprika und Tomaten und brachte alles zu ihm hinüber. Er warf das Sammelsurium an buntem Gemüse in eine große Pfanne. Ich schaute ihm dabei zu, wie er alles würzte und, nachdem das Gemüse etwas angebraten war, noch reichlich Reis dazugab. Gekonnt schwenkte er die Pfanne und streute anschließend noch eine Menge Curry darüber. Es duftete unglaublich lecker. Ich stelle mich hinter ihn und umfasste seinen Bauch. Ich spürte, wie sich seine Muskeln anspannten, und musste lachen.
»Hast du gerade den Bauch eingezogen?« Schon ziemlich lustig. Immerhin waren wir jetzt schon eine Weile zusammen, ganze zwei Jahre, und ich kannte jeden Zentimeter seines Körpers in- und auswendig.
»Nein, nein«, winkte er verlegen ab. Er drehte sich zu mir um, umarmte mich lachend und küsste mich innig. Und wie er küssen konnte! Darin war er unschlagbar.
Ich liebte ihn so sehr.
»Sag mal, hast du eigentlich das Geschenk für Mum besorgen können?«, fragte er, nachdem er die Lippen von meinen gelöst hatte.
»Dass du in so einem Moment an deine Mutter denkst …«, gab ich zurück und zog einen beleidigten Schmollmund.
»Ist mir nur gerade so eingefallen. Hast du?«
»Ja, einen Krimi und ein Pflänzchen. Ich packe zu Hause noch alles schön ein und bringe es dann mit.«
»Abendessen gibt’s morgen um 18 Uhr. Okay? Soll ich dich abholen?«
»Nein, schon okay. Du musst doch wahrscheinlich eh länger arbeiten. Ich komme einfach mit dem Bus.«
»Okay«, flüsterte er und küsste mich noch mal keusch, fast schon schüchtern, auf die Lippen. »Und jetzt lass uns essen!«
Das wurde aber auch Zeit. Ich hatte einen Mordshunger.
Misstrauen
Natürlich hatte ich die Nacht bei Jan verbracht. Wir waren immerhin schon über zwei Jahre zusammen und er hatte ein geräumiges, eigenes Zimmer mit einem breiten, gemütlichen Bett. Auch seine Familie hatte sich mittlerweile an meine Anwesenheit gewöhnt. Es war also nicht ungewöhnlich, dass ich hier blieb. Ich war immer herzlich willkommen, pflegte Bianca, Jans Mama, stets zu sagen. Sie betrachteten mich alle als Teil der Familie.
Jan weckte mich, und noch bevor ich ihn sah, roch ich Duschgel und sein Aftershave.
»Nora, Süße, ich hau ab.« Ich öffnete müde die Lider und schaute mich verwirrt um. »Es ist sieben Uhr, du musst auch aufstehen. Ich habe Kaffee gekocht.«
Nun stellten sich so langsam meine Augen scharf und ich blickte in die leuchtend grün-braunen Augen meines Freundes. Ich streckte meine Arme nach ihm aus und zog ihn zu mir hinunter.
»Geh noch nicht!«, murmelte ich verschlafen. Jan streichelte mir über die Wange und lächelte mich an.
»Ich muss leider. Am Wochenende schlafen wir gemeinsam aus, okay?« Dann zwinkerte er mir anzüglich zu. »Heute Abend 18 Uhr, ja?«
»Klar«, gähnte ich und streckte mich genüsslich dabei.
Einen Augenblick später stand ich schließlich auf und trottete ins Bad. Dann hörte ich die Wohnungstür ins Schloss fallen. Ich bemühte mich, leise zu sein. Bianca schlief garantiert noch. An ihrem Geburtstag hatte sie sich freigenommen und würde wohl später den Rest des Tages damit verbringen, das Abendessen vorzubereiten. Ich grinste. Bianca war klasse. Ich mochte sie sehr. Überhaupt liebte ich Jans komplette Familie.
Um niemanden im Haus zu wecken, wusch ich mich schnell und leise, putzte mir die Zähne und zog mich an. Da ich öfter bei Jan übernachtete, hatte ich mittlerweile zwei Schubladen in seinem Kleiderschrank, die ich mit Kleidung und Kosmetikartikeln gefüllt hatte. Fast schon so wie bei einem Ehepaar. Dieser Gedanke ließ mein Lächeln noch breiter werden. Ich liebte diesen Kerl einfach. Ich konnte mein Glück meistens nicht fassen. Vielleicht auch, weil ich lange auf dieses Glück hatte warten müssen.
Der Schultag war langweilig wie eh und je. Und ich machte die Ankündigung von gestern tatsächlich wahr. Ich schwänzte zum ersten Mal. Zwar nur die letzten beiden Stunden Sport, aber trotzdem war es das Aufregendste des ganzen Tages. Ich kam mir vor wie ein Verbrecher. Auf meinem Weg nach Hause, zu illegal früher Stunde, war ich total hibbelig und mit Adrenalin vollgepumpt. Jan würde mich garantiert auslachen, wenn ich ihm das erzählte. Er hatte ab der 9. Klasse immer mal wieder blaugemacht und heimlich hinter dem Schulgebäude geraucht, wie er mir einmal vor kurzer Zeit stolz berichtet hatte. Böser Bube.
Ich schloss die Tür zu meiner kleinen Einzimmerwohnung auf und warf meine Tasche, ohne sie weiter zu beachten, in die Ecke. Hier sah es ziemlich wüst aus. Ich schaute auf die Uhr und stellte fest, dass ich bis zum gemeinsamen Abendessen bei Bianca noch ganze fünf Stunden Zeit hatte.
Zwar kam Torsten, mein Sozialarbeiter, nie unangemeldet vorbei und in den letzten Monaten eh nur noch sporadisch, aber ich musste mein Glück nicht unnötig herausfordern.
Ich krempelte die Ärmel hoch und begann, Kleider vom Boden aufzusammeln. Ich warf alles in die Waschmaschine im Badezimmer und spülte danach das dreckige Geschirr. Ich trocknete die Teller, Tassen und zwei Töpfe ab und räumte alles in den dafür vorgesehenen Schrank. Um das Ganze noch perfekt zu machen, schnappte ich mir den Staubsauger und saugte meine übersichtlichen 35 Quadratmeter sorgfältig durch.
So. Fertig.
Jetzt konnte ich mich um mich kümmern. Ich sprang unter die Dusche und gönnte mir eine duftende Haarkur, da ich heute hübsch aussehen wollte. Meine braunen, kinnlangen Haare sollten glänzen. Während die Kur auf meinem Kopf einwirkte, rasierte ich meine Beine und in weiser Voraussicht auch noch gleich den Rest meines Körpers. Vielleicht würde ich auch heute die Nacht wieder mit Jan verbringen. Frisch geduscht cremte ich mich mit einer blumigen Lotion ein und legte etwas Wimperntusche auf. Einige weitere Minuten später stand ich mit Jeans und einer Bluse bekleidet vor dem Spiegel. Fertig. Ich gefiel mir. Ich sah zwar ziemlich brav aus, aber das war ja auf dem Geburtstag der zukünftigen Schwiegermutter auch nicht verkehrt. Als sich das Wort Schwiegermutter in meinem Kopf formte, musste ich schon wieder grinsen. Es war einfach immer noch ein berauschend schönes Gefühl für mich. Dazuzugehören. Ich hatte ja nie eine eigene Familie gehabt.
Ich nahm das Buch, das ich für Bianca gekauft hatte, zur Hand. Einen Thriller vom dänischen Schriftsteller Jussi Adler-Olsen, dessen Bücher schon lange zu meinen liebsten gehörten. Ich verpackte es in hellblaues Geschenkpapier, auf dem viele bunte Geburtstagstorten abgebildet waren. Zwar etwas kindisch, aber den Kontrast zum blutrünstigen Thriller darin fand ich lustig. Dann schnappte ich mir noch die Orchidee, die ich zusätzlich besorgt hatte, und machte mich auf den Weg zu Biancas Geburtstagsfeier.
Knapp 25 Minuten später klingelte ich an der Eingangstür, die prompt von einem aufgeregten Sebastian geöffnet wurde. Sofort riss er mich in seine Arme.
»Nora, ey, wir haben uns schon so lange nicht mehr gesehen!«
»Höchstens zwei Wochen«, gab ich etwas verlegen zurück.
»Viel zu lange, sag ich doch!« Ich liebte Sebastian. Er war Jans Bruder und mein bester Freund. Und irgendwie vielleicht sogar so etwas wie mein Bruder. Bruder im Herzen oder so. Und er mochte mich mindestens so sehr wie ich ihn. Er vertraute mir, und wenn es ihm schlecht ging, meldete er sich immer zuerst bei mir.
So war ich auch die Erste, der er beichtete, homosexuell zu sein. Er hatte wirklich mit sich gerungen und schreckliche Angst vor meiner Reaktion gehabt. Das hatte mich schon fast wütend gemacht. Als hätte ich ihm jemals nicht beigestanden. Mit mir an seiner Seite hatte er es dann auch Jan erzählt. Dieser war anfangs etwas überrascht, hatte den sichtlich eingeschüchterten Sebastian dann aber aufmunternd in die Arme genommen. Nichts würde seine Meinung über ihn ändern, hatte er ihm zugesichert. Obwohl Sebastian mit unserer Reaktion zufrieden sein konnte, hatte er sich bis heute noch nicht überwinden können, sich vor seiner Mutter zu outen. Ich war mir sicher, dass Bianca es gut aufnehmen würde, und wahrscheinlich ahnte sie es sowieso schon. Eine Mutter hatte da doch so etwas wie einen sechsten Sinn. Aber vielleicht brauchte er auch einfach nur noch ein wenig mehr Zeit. Es war ja seine Sache.
Sebastian grinste wie ein Honigkuchenpferd, nahm mich an der Hand und zog mich ins Wohnzimmer hinein.
Dort saßen bereits zwei Freundinnen von Bianca, die ich schon zuvor irgendwann gesehen hatte. Bianca selbst saß zwischen ihnen und vor einem großen Kuchen, auf dem fünf Kerzen brannten. Als sie mich erblickte, stand sie auf, lächelte und lief mir entgegen.
»Alles Gute zum Geburtstag, Bianca.« Ich schlang meine Arme um sie und sie erwiderte meine Umarmung. Genießerisch zog ich den Duft ihres Parfüms ein.
»Danke, Schätzchen.« Ich löste mich von ihr und überreichte ihr die Orchidee und das kleine Päckchen.
»Von Jan und mir. Wo ist er eigentlich?« Ich schaute mich im Raum um, sah ihn aber nicht.
»Der müsste auch gleich kommen. Überstunden, du kennst das ja.« Ich rollte mit den Augen. Typisch.
In dem Moment hörte ich den Schlüssel in der Tür und ein abgehetzter Jan stürmte in die Wohnung.
»Sorry, da bin ich.« Er lief direkt zu Bianca und umarmte sie. »Alles, alles Liebe und Gute!«
»Ich habe ihr unser Geschenk gerade gegeben«, sagte ich und gab ihm einen Begrüßungskuss.
»Na, dann kann die Party ja beginnen!«
Während Jan mit Sebastian den Tisch deckte und das von Bianca gekochte Abendessen herrichtete, packte das Geburtstagskind Geschenke aus.
»Danke für das Buch. Ein Thriller, uuuh!« Sie hob entsetzt die Hände und zwinkerte mir dann zu. »Auf eure Buchtipps kann ich mich immer verlassen. Der Roman, den ihr mir zu Weihnachten geschenkt habt, war mehr als genial. Ich habe ihn allen meinen Freundinnen weiterempfohlen. Vielen Dank.« Sie umarmte mich noch einmal und warf Jan einen Kuss zu. Dieser hatte aber gerade einen großen Topf voll Nudeln in der Hand und rief ihr daher nur ein kurzes »Gern geschehen!« zu.
Ein wohliges Schmatzen und Klappern von Besteck erfüllte den Raum. Wir unterhielten uns und die Stimmung war sehr ausgelassen und familiär. Ich genoss es, hier zu sein. Das hier waren Erfahrungen, die ich zum ersten Mal in meinem Leben machte. Gemeinsame Geburtstagsfeiern waren mir, bevor ich Jan kennengelernt hatte, völlig fremd gewesen. Die verschiedenen Stationen in Pflegefamilien sah ich nicht als Familie an. Mehr als kurze Aufenthalte in wechselnden Herbergen. Na ja, das Glück war eben nie ganz auf meiner Seite gewesen. Bis jetzt.
Als meine Mutter starb, war ich gerade mal acht Jahre alt. Aber schon davor war es alles andere als einfach bei uns zu Hause. Durch ihre Drogensucht war ich immer schon herumgereicht worden. Mal war ich bei Freunden der Familie untergebracht, mal bei Nachbarn. Auch an einen kurzen Aufenthalt im Heim konnte ich mich dunkel erinnern.
Nach ihrem Tod war ich in vier verschiedenen Pflegefamilien, bevor mir endlich erlaubt wurde, alleine zu leben. Ich hatte das ständige Hin und Her einfach satt. Zum Glück war mein Amtsvormund damit einverstanden gewesen. Er hielt mich für zuverlässig und vernünftig. Womit er natürlich auch recht hatte. Einerseits war ich froh, endlich alleine zu leben. Mein Zimmer nicht mehr teilen zu müssen und mein eigenes Reich für mich zu haben. Andererseits genoss ich es auch, hier bei Jans Familie sein zu dürfen. Das machte mich glücklich.
Plötzlich hörte ich ein Vibrieren und fasste automatisch an meine Hosentasche. Das war wie bei diesem pawlowschen Hund. In Sachen Handynutzung waren wir doch alle schon konditioniert ohne Ende. Allerdings war es nicht mein Handy, das brummende Laute von sich gab. Jan erhob sich mit vollem Mund von seinem Stuhl und murmelte: »Bin gleich wieder da ...«
Ich hörte noch ein »Was ist, Fernanda? Wir sind gerade beim Essen«, dann schloss er die Tür hinter sich und es wurde ruhig.
Wir schauten ihm hinterher und widmeten uns dann wieder unseren Tellern.
»Das stört dich nicht?« Bianca schob sich eine Nudel in den Mund und schaute mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Dass er immerzu arbeitet? Na ja, man gewöhnt sich daran«, gab ich etwas genervt zurück und zuckte mit den Achseln.
»Ich meinte eher, dass er in einen anderen Raum geht, um mit einer Frau zu telefonieren ...«
Ich hielt kurz in meiner Bewegung inne. Klar fand ich das nicht toll, aber allzu sehr hatte ich mir darüber noch keine Gedanken gemacht. War das ein Fehler?
»Eigentlich nicht. Ist ja eh nur geschäftlich.« Das hoffte ich zumindest. Bei ihm war ja, seit er in der Agentur arbeitete, immer alles geschäftlich.
»So hat es bei seinem Vater auch angefangen.«
Was war denn das für ein doofer Kommentar? Da blieb mir doch fast das Essen im Halse stecken. Ich wusste, dass ihr Mann sie für eine Jüngere verlassen hatte. Aber sie konnte das doch nicht mit meinem Jan vergleichen. Jan hatte das ganze Drama doch hautnah miterlebt. Fremdgehen war seitdem für ihn das absolute Tabu. Ein rotes Tuch. Ein No-Go. Er konnte nicht mal Filme ertragen, in denen fremdgegangen wurde. Nicht selten war das der Moment, in dem er die Fernbedienung ergriff, um kopfschüttelnd und wutschnaubend umzuschalten. Beim Film Eiskalte Engel hatte er zwischendurch fast einen Tobsuchtsanfall bekommen. Sex and the City mochte er schon gar nicht mehr mit mir schauen. Er ärgerte sich einfach jedes Mal viel zu sehr, wenn Carrie und ihre Freundinnen wieder einmal betrogen wurden oder selbst fremdgingen. Nein. Jan war nicht so wie sein Vater. Nie und nimmer.
Ich schüttelte den Kopf und lächelte Bianca an. Sie meinte es nicht so. Vielmehr spürte ich, dass sie immer noch verletzt war und die Trennung bis heute nicht ganz verkraftet hatte. Aber wer konnte ihr das übel nehmen? Die große Liebe zu verlieren, ist immer tragisch.
Wie schlimm, konnte ich nur erahnen.
»Ich vertraue Jan«, gab ich selbstsicher zurück.
Sie nickte.
Versetzt
Nach dem Klingeln schnappte ich mir meine Tasche und lief zum Treffpunkt des Abi-Party-Komitees. Im Gemeinschaftsraum der Oberstufe saßen bereits knapp 20 Schülerinnen und Schüler, die alle durcheinander schnatterten.
Pablo stand in der Mitte, klatschte in die Hände und wartete, bis es ruhig wurde.
»Leute, super, dass ihr alle da seid. Dann kann‘s ja losgehen! Soviel vorab: Ich habe bereits eine Location reserviert.« Die Menge jubelte Pablo zu. Zum Glück hatte er die Planung federführend in die Hand genommen. Sonst würde diese Party wohl nie stattfinden.
»Außerdem«, der Jubel wurde leiser, alle hingen an seinen Lippen. »Na ja, ein Kumpel von mir ist DJ. Er meinte, für einen Fuffi würde er uns musikalisch durch den Abend führen. Also wenn ihr einverstanden seid, dann ...« Wieder applaudierten alle und zeigten damit, dass sie mehr als nur einverstanden waren.
»Jetzt bin ich mal gespannt auf eure Vorschläge. Wir müssen uns aufteilen. Wir benötigen noch Technik für die Musik- und Lichtanlage, Getränke, vielleicht auch Knabberzeug. Außerdem müssen ein paar Leute am Abend selbst arbeiten. Wir brauchen einige beim Getränkeausschank und vier bis fünf Jungs sollten nüchtern bleiben und für die Sicherheit sorgen. Oder wir nehmen noch etwas aus unserer Stufenkasse und engagieren einen Security-Dienst, was meint ihr?«
Und da ging die Diskussion los. Einige hatten Kontakte zu Getränkelieferanten oder auch zu Bands, die eventuell noch auftreten könnten. Zwei Jungs aus meinem Physikkurs meldeten sich freiwillig, um sich um die Technik zu kümmern.
Pablo hatte mich kurzerhand mit ihm für den Getränkeausschank eingeteilt. Zum Glück in die erste Schicht, dann hatte ich nach Feierabend auch noch etwas von der Party. Die könnte nämlich echt gut werden.
»Freust du dich?« Pablo erschien auf einmal neben mir und pikste mir in die Seite. Ich schreckte zusammen, was ihn zu amüsieren schien.
»Wird bestimmt lustig, du hast ja alles schon gut durchgeplant.«
Seine Wangen färbten sich rot und er versuchte, seine Verlegenheit mit einem gezielten Boxhieb gegen meine Schulter zu überspielen. Autsch.
Wir unterhielten uns noch weiter über Organisation, Musik und Arbeitsaufteilung, bis ich beim Läuten der Schulglocke zusammenfuhr.
»Wieviel Uhr ist es?«
»Ähm, 12:30 Uhr«
»Jan wollte die Mittagspause mit mir verbringen«, rief ich erschrocken aus und sprang auf. Dabei stolperte ich fast über einen kleinen Hocker, der sich mir mit voller Absicht in den Weg gestellt haben musste.
»Huch!« Ich richtete meinen Pullover und winkte Pablo und den anderen zum Abschied. »Bis morgen dann.«
Ich lief hinaus und sprintete die Straße entlang. Jan und ich hatten ein kleines Stammlokal, in dem es einfache Snacks gab. Außerdem lag es in Fußnähe zu meiner Schule. Der perfekte Treffpunkt. In den letzten Monaten hatten wir uns immer mal wieder hier verabredet. Kurz bevor ich bei dem Lokal ankam, vibrierte jedoch mein Handy und brachte meinen Laufschritt aus dem Takt. Ich blieb stehen und kramte mein Smartphone aus der Hosentasche.
Eine SMS von Jan.
Och nein, nicht schon wieder.
»Ich schaffe es nicht. Tut mir wirklich leid! Ich mach‘s wieder gut.«
Ich plusterte die Backen auf und zog eine beleidigte Schnute. Bullshit!
Ich antwortete nicht. Das wäre definitiv nicht der richtige Zeitpunkt. Ich war gerade wirklich sauer. Und in dem Zustand eine SMS zu schreiben, war alles andere als klug. Ohne mindestens ein Schimpfwort würde ich nicht auskommen.
Ich ging geknickt weiter in Richtung meiner Wohnung. Sollte ich mir irgendwo was zu essen besorgen? Ein Sandwich oder einen Burger zum Mitnehmen? Eigentlich hatte ich gar keinen Hunger mehr. Verdammt. Immer wenn Jan eine Verabredung absagte oder mal wieder durcharbeiten musste, war meine Laune im Keller. Ich fühlte mich gleich vernachlässigt und einsam.
Ich war doch schon immer alleine gewesen. Meinen Vater hatte ich nie kennenlernen dürfen und meine Mutter hatte weder Zeit noch Nerven für mich gehabt. Die Drogen hatten sie vollkommen vereinnahmt. Geld beschaffen, Heroin und Crack kaufen, rauchen, spritzen, im Rausch dahinvegetieren. Das war ihr Leben gewesen. Sämtliche Versuche, von den Drogen wegzukommen, waren gescheitert. Und im Endeffekt hatten sie sie getötet.
Einsamkeit war mir nicht fremd. Ich hatte zwar immer Menschen um mich herum, aber ich gehörte nie so recht dazu. Erst seit ich Jan und seine Familie kannte, hatte sich das geändert. Es war wohl wirklich so, dass man nichts vermissen konnte, was man vorher nicht gehabt hatte.
Jetzt, wo ich erahnen konnte, wie es war, eine Familie zu haben, eine richtige Familie, in der man füreinander da war, mochte ich nie wieder ohne sein.
Etwas berührte mich an der Schulter und kam schnaufend neben mir zum Stehen. Pablo bemühte sich, Luft zu holen, und stützte sich außer Atem auf seinen Knien ab.
»Pablo? Was machst du denn hier?«
»Ich … hab dich … von weitem gesehen und …«
»Du hättest doch rufen können.«
»Hab ich ja …« Er erhob sich und fuhr sich mit dem Handrücken über die verschwitzte Stirn. »Aber du hast mich nicht gehört.«
»Oh, sorry. Ich war wohl in Gedanken.«
Erstaunlich.
»Was ist denn mit deinem Date? Wolltest du dich nicht mit deinem Freund treffen?«, fragte Pablo ein wenig zu neugierig.
»Wurde versetzt«, gab ich eingeschnappt zurück und lief weiter. Pablo folgte mir mit einem mitleidigen Gesichtsausdruck.
»Und nun?«
»Was, und nun? Jetzt geh ich heim und bin beleidigt.«
Pablo lachte und pikste mir mit dem Zeigefinger gegen den Oberarm. Ziemlich nervig. Aber das war mir noch lieber als die ständige Boxerei. Eigentlich war es mir auch lieber, als alleine Trübsal zu blasen.
»Und was ist, wenn wir noch einen Kaffee trinken würden? Irgendwo hier in einem Café?« Er schaute mich gespannt von der Seite an und kickte dann einen Stein vor sich weg. Ich war skeptisch.
»Ähm, ich sollte wirklich nach Hause gehen«, gab ich leise zurück. Ich hatte irgendwie das Gefühl, dass es nicht richtig wäre, mit ihm alleine in ein Café zu gehen. War das nicht schon fast so etwas wie eine Verabredung?
»Und einen coffee to go auf dem Nachhauseweg? Ich begleite dich.« Er schaute wieder ganz hoffnungsvoll und ich konnte das nicht so recht nachvollziehen. Ich zuckte mit den Schultern. Gegen einen coffee to go sprach ja nichts.
»Okay.«
Er griff nach meiner Hand und zog mich bis zur nächsten Straßenecke einfach hinter sich her.
»Da hinten ist ein Starbucks. Komm, ich lade dich ein.«
Widerworte hatten bei ihm scheinbar keinen Sinn, wurden anscheinend nicht geduldet. Da ich aber eh immer pleite war, traf sich das eigentlich gut.
Einige Minuten später hatten wir beide einen großen warmen Becher Latte Macchiato in der Hand und liefen nebeneinander die Fußgängerzone entlang.
»Und? Weißt du schon, was du danach machst?«
»Wonach? Nach dem Kaffee?«
»Nach dem Abitur.« Er holte mit der Faust aus und ich wich seinem Hieb geschickt aus. Dann lachten wir beide. Haha, ich hatte dazugelernt.
»Was hat mein Arm dir eigentlich getan? Warum boxt du mich andauernd?« Die Frage war sowas von überfällig.
»So oft ist es auch mal wieder nicht«, antwortete Pablo etwas eingeschüchtert.
»Nicht oft?« Ich zog eine Augenbraue skeptisch in die Höhe. »Ständig!«
»Keine Ahnung. Ist eine doofe Angewohnheit. Ein Tick oder so.« Er rieb sich über die Augen und ich musste wieder lachen. So verlegen kannte ich ihn gar nicht. Fast niedlich.
Wir liefen einige Sekunden schweigend nebeneinander her, bevor er seine Frage wiederholte.
»Was sind denn nun deine Pläne nach dem Abi?«
»Ach so. Ja, ich habe ein paar Ideen, mich aber noch nicht endgültig entschieden.«
»Zum Beispiel?«
»Na ja, Studium oder Ausbildung. Irgendwas im kreativen Bereich auf jeden Fall. Du?«
»Ich würde gerne Jura studieren, kommt jetzt ganz stark auf den Abischnitt an. Sonst nimmt mich ja keine Uni.« Ich nickte und versuchte, mir Pablo im eleganten Anzug als Anwalt vorzustellen. Seltsam. »Und dein Freund? Zieht ihr dann zusammen?«
»Ich weiß nicht. Darüber haben wir noch nicht gesprochen. Vielleicht.« Pablo schwieg und ich nippte an meinem Kaffee.
»Aber es läuft alles gut so zwischen euch, oder?«
Ich schnaufte etwas genervt und verdrehte die Augen.
»Ja, alles gut. Stress gibt’s doch immer in einer Beziehung und, na ja, momentan ist es gelinde gesagt etwas schwierig.«
»Warum denn?«
»Er arbeitet viel und ich sollte dafür wohl mehr Verständnis haben.«
Hatte ich ja. Fast immer. Aber manchmal fuchste es mich dann eben doch. Vor allem, wenn wir uns verabredet hatten und er mich sitzen ließ. Wenn ich mich auf etwas freute. Auf ihn freute.
»Mmmh ... er vernachlässigt dich?«
»Nein, so ist es nun auch wieder nicht … ach egal. Lass uns über was anderes sprechen.«
»Aber du liebst ihn, oder?«
»Sehr.«
Enttäuschung
Endlich Wochenende. Wie hieß noch mal das Gegenteil von Burnout? Boreout. Davon hatte ich tatsächlich mal gelesen und konnte es jetzt voll und ganz nachvollziehen. Aber nun würde ich selbst etwas gegen die Langeweile in der Schule tun. Ich musste dringend für das Abitur lernen. Dringendst sogar!
Zwar hatte ich mir schon einiges eingeprägt und Dinge wie den Zitronensäurezyklus für Biologie waren mir eh in Fleisch und Blut übergegangen, aber kurz vor der ersten Abi-Klausur am Dienstag musste ich vor allem einiges in mein Kurzzeitgedächtnis pressen. Da kam es mir fast gelegen, dass sich Jan das ganze Wochenende geschäftlich irgendwo bei Hamburg rumtrieb. Er hatte sich vorhin kurz gemeldet, musste dann aber schnell zu einem Termin mit seiner Kollegin. Dieser Fernanda. Ob ich eifersüchtig war? Ein wenig vielleicht. Aber nur aus dem Grund, weil sie momentan mehr Zeit mit Jan verbringen durfte als ich. Und das war schlicht und einfach unfair.
Aber egal. Es gab jetzt Wichtigeres, zum Beispiel die Corioliskraft und die Passatwinde.
Gut drei Stunden quälte ich mich durch meine Erdkundeaufzeichnungen, bevor ich resignierend meinen Ordner und den Atlas zuschlug und mich gähnend nach hinten durchstreckte. Mein Nacken knackte laut. Verdammt. Ich war komplett verspannt und todmüde. Der Blick auf die Uhr über meinem Bett war überraschend. Erst kurz nach zehn. Eigentlich viel zu früh, um an einem Samstag schon schlafen zu gehen. Andererseits … Wer hatte diese Regel denn bitte aufgestellt?
Nach einer schnellen Katzenwäsche kuschelte ich mich in meine weiche Lieblingsdecke und schaltete den Fernseher ein. Ich blieb bei irgendeiner Comedysendung hängen, die mich langsam, aber sicher in den Schlaf lullte.
Plötzlich schreckte ich auf, als das Handy neben meinem Kopfkissen wild zu vibrieren begann. Meine müden Augen brannten und so blinzelte ich verwirrt in das flackernde Licht des Fernsehapparats. Wie lange hatte ich geschlafen? Minuten? Stunden? Ich griff nach dem brummenden Teil neben mir und erblickte Jans Gesicht, das mir entgegenlächelte. Ein Selfie, das er von sich selbst geschossen hatte, als ich mein Handy kurz ohne Aufsicht bei ihm hatte liegen lassen. Ehe ich mich versah, zierte sein Gesicht meinen Bildschirmschoner, es war mein Hintergrundbild und es grinste mir bei jedem seiner Anrufe entgegen. Zu süß!
»Hey Jan.«
»Süße, hab ich dich geweckt?«
»Fast, hab nur gedöst, glaub ich.«
»Alles okay bei dir?« Er hörte sich besorgt und mindestens so müde an wie ich.
»Ich vermisse dich, aber ansonsten ist alles okay.«
»Es wird besser, glaub mir!«
»Mmmh«, gab ich wenig zuversichtlich zurück.
»Wirklich. Momentan läuft es blöd, aber es kommt auch alles auf einmal. Ich betreue vier Projekte. Alle gleichzeitig. Aber das geht vorbei. Dann wird alles einfacher.«
»Okay.«
»Sei nicht traurig.«
»Okay.«
»Du hörst dich aber traurig an.« Er hatte eben seine Nora-Antennen. Er kannte mich zu lange und viel zu gut. Ich konnte nichts vor ihm verbergen.
»Ich bin nur müde, Jan.«
Es war kurz ruhig in der Leitung. Ich lauschte seinen Atemzügen und wünschte mir, er wäre hier und würde sich an mich schmiegen und seine muskulösen Arme um mich legen. Mir einen Kuss auf die Schulter hauchen, auf den Hals, hinter mein Ohr … Wenn ich die Augen schloss, konnte ich es mir vorstellen. Fast schon spüren.
»Jan?«
»Ja?«
»Wann sehen wir uns?«
»Morgen Abend, okay? Ich komme zu dir.«
»Ich freue mich«, flüsterte ich sehnsuchtsvoll.
»Ich mich auch, Nora, ich liebe dich.« Seine Stimme war weich und warm. Wie meine Lieblingsdecke umhüllte sie mich.
»Ich liebe dich auch.«
Den Sonntag hatte ich damit verbracht, mir noch etwas Genetik in den Kopf zu prügeln. Nun fühlte ich mich, als wäre ich in eine Schlägerei verwickelt worden. Matschig und fertig mit den Nerven. Genetik war schrecklich und ich versuchte, so viel wie möglich stupide auswendig zu lernen. Kurz nach 17 Uhr ließ ich Biologie für heute Biologie sein und entschloss mich, zu kochen. Jans Lieblingsessen. Das hatte ich mir vorgenommen. Ich wollte, dass der heutige Abend perfekt wurde. Also schaltete ich in der Küche das Radio an und begann, Schnitzel zu panieren und anzubraten. Dabei tanzte ich zwischen Herd, Kühlschrank und Esstisch hin und her und summte die Lieder mit, die der Radiosender so spielte. Viele Popsongs aus den Charts. Ich erkannte einen Song von Sia und einen von Maroon 5. Neben den Schnitzeln briet ich in einer anderen Pfanne Speck, Zwiebeln und Bratkartoffeln an. Okay, Schnitzel mit Bratkartoffeln war ein simples und bescheidenes Gericht, aber Jan liebte es. Also war es gut und selbst ich konnte es ohne viele hausfrauliche Talente zubereiten.
Die Nachrichten im Radio berichteten von irgendwelchen Wahlen in Sachsen, einem Lokführerstreik, dem Tod eines berühmten Schauspielers, den ich jedoch nicht kannte, und von weiteren Unruhen in Syrien. Der anschließende Wetterbericht versprach Sonnenschein. Schade eigentlich. Ich würde die nächsten Tage in meiner Wohnung mit Lernen verbringen müssen. Das fiel allerdings um einiges leichter, wenn das Wetter weniger einladend war und man das Haus eh nicht verlassen wollte.
Gerade als ich eine Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank holte und zwei Weingläser auf den Tisch stellte, hörte ich den Schlüssel in der Tür. Den Schlüssel zu meiner Wohnung hatte ich Jan letztes Weihnachten geschenkt. Und es erfüllte mein Herz jedes Mal mit so viel Glückseligkeit, wenn er meine Wohnung betrat, ganz so, als wäre er hier zu Hause. Und das wollte ich sein. Ich wollte sein Zuhause sein. So wie er meines war.
Jan kam lässig in die Küche gelaufen und strahlte mich an.
»Schnitzel!«
»Eigentlich Nora, aber du darfst mich auch gerne Schnitzel nennen.« Er lachte und umarmte mich.
»Ich habe dich vermisst.«
»Jetzt bist du ja hier. Es gibt dein Lieblingsessen und ich hab einen Film ausgeliehen. Heute machen wir uns einen schönen Abend, ja?«
Er küsste mich zur Bestätigung und hob mich auf die Arbeitsfläche der Küche. Schnell wurden seine Küsse ungestümer und seine Berührungen mutiger. Seine Hände hatten die Gabe, mich innerhalb von Sekunden schier um den Verstand zu bringen.
»Hey «, protestierte ich atemlos und wenig überzeugend. »Das Essen wird kalt.«
»Was ist, wenn ich erst das Dessert möchte«, raunte er mir ins Ohr und küsste danach eine feine Linie von meinem Ohrläppchen beginnend meinen Hals hinab.
»Nix da. Ich koche doch hier nicht stundenlang und dann wird alles kalt.« Ich zog ihn leicht an den Haaren von mir weg und küsste ihn noch einmal abschließend auf die Lippen.
»Jetzt wird erst mal gegessen. Dann hast du auch genügend Energie für die Nacht.« Ich zog anzüglich eine Augenbraue in die Höhe und Jan verstand. Seine Augen leuchteten und sein Gesicht zierte ein unanständiges Grinsen.
Ich goss uns beiden Wein ein. Jan aß mit viel Hunger und lobte meine Kochkunst ungemein. Auch mir schmeckte es sehr und ich schwor mir, öfter für Jan zu kochen. Meistens war er es, der die gemeinsamen Abendessen zubereitete. Er konnte das auch einfach besser, musste ich neidlos zugeben. Aber eigentlich machte es mir Spaß, ihm eine Freude zu bereiten und ein wenig unter die Arme zu greifen. Er hatte ja wirklich genug Stress.
Plötzlich klopfte sich Jan hektisch mit der Faust auf die Brust und räusperte sich. Der Grund blieb mir erst verborgen. Doch dann kramte er sein Handy aus der Hosentasche und schaute genervt auf das Display.
»Verdammt! Ich muss da kurz dran gehen.«
Ich nickte. Er gab mir noch einen schnellen Kuss auf die Wange und verschwand dann mit Handy und einem bedrückten Gesichtsausdruck ins Schlafzimmer. Mich ließ er am Esstisch zurück. Ich starrte auf seinen Teller, der noch zur Hälfte gefüllt war. Jetzt würde sein Essen kalt werden. Er hätte doch weiter essen können. Warum musste er denn gleich den Raum wechseln? Ich würde ihn bei seinem Telefonat schon nicht stören. Oder ging es gar nicht darum?
Verheimlichte er mir etwas?
Als er zurückkam, wirkte er gestresst und fuhr sich gehetzt mit den Fingern durchs Haar. Einige Strähnen fielen ihm daraufhin chaotisch in die Stirn.
»Nora, ich muss noch mal kurz weg.«
Ich schaute ihn mit großen Augen an und sagte nichts.
»Es ist ... ach ...« Er stöhnte und holte bereits seine Jacke aus dem Flur. »Meine Arbeitskollegin. Sie muss morgen zu einem wichtigen Termin und braucht noch ein paar Unterlagen. Sie findet sie nicht und ich habe sie, glaube ich, noch bei mir im Büro. Aber dafür habe nur ich den Schlüssel. Deshalb ...«
Er brach ab, als er meinen Gesichtsausdruck sah. Keine Ahnung, wie ich ihn anschaute, aber garantiert nicht begeistert. Ich war enttäuscht, genervt und traurig. Ich war wirklich sehr traurig. Aber auch Jan sah nicht wirklich glücklich aus.
»Nora, ich ...«
»Ist schon okay. Spar‘s dir! Ist doch eh immer das Gleiche ...«
Für heute hatte ich genug.
Der Abend war gelaufen.
Ich wollte nichts mehr hören.
Die Andere
Ich schreckte auf. War ich gerade tatsächlich über meinen Aufzeichnungen zum Thema Ökologie eingeschlafen? Hektisch kramte ich auf meinem Tisch nach meinem Handy. Meine verschlafenen Augen tränten und ich stieß mit der Hand gegen meine Tasse. Der kalte Tee verteilte sich gleichmäßig innerhalb von Sekunden über meinen Notizen.
»Fuck!« Ich schob alles auf einen Stapel und rettete mein Smartphone, das schon die ganze Zeit wie wild vibrierte.
»Ja?«, brummte ich sauer in den Hörer.
»Nora? Was ist denn los?« Es war Sebastian und er hörte sich mehr als besorgt an.
»Hi Sebastian, mir ist nur gerade was umgekippt. Was gibt‘s?«
»Mensch, du bist ja anscheinend ganz schön mies drauf.«
Frag doch mal deinen ach so beschäftigten Bruder, warum, dachte ich mir, hielt aber meinen Mund.
»Ich schreibe in den nächsten Tagen sämtliche Abiturarbeiten. Wie soll ich schon drauf sein?«
»Als müsstest du dir deshalb groß Gedanken machen. Hast das doch eh schon so gut wie in der Tasche.« Wenn er meinte ... Ich war mir da nicht so sicher. »Komm schon, Nora, du musst entspannen, sonst wird das morgen nie was. Lass uns doch auf einen Cocktail treffen?«
»Sebastian, ich werde garantiert nicht kurz vor einer Klausur Cocktails mit dir trinken gehen.«
»Wer sprach denn von Cocktails? Ich habe lediglich von einem gesprochen.«
»Als wäre es jemals bei einem geblieben. Und selbst wenn, ich werde trotzdem nicht mit dir in eine Bar gehen, wenn von den nächsten Tagen meine Zukunft abhängt.«
»Dann komm her zu mir. Ich mach dir einfach hier einen Cocktail. Mama hat Bolognese gemacht. Ist eh viel zu viel. Ich glaube, sie kocht immer noch für vier Personen. Also komm her. Zu Abend essen musst du doch eh.«
Er hatte mich fast.
»Mensch, Sebastian, ich muss echt pauken.«
»Ach komm schon, was du jetzt nicht im Kopf hast, bekommst du in den nächsten Stunden auch nicht mehr rein.«
Ich seufzte resignierend und Sebastian spürte wohl, dass ich in meiner Meinung wankte.
»Noraaaa, Süße, komm schoooon.«
»Okay. Ich bin gleich da.«
»Yippie. Bis gleich!«
Daraufhin legte er sofort und ohne sich zu verabschieden auf. Wahrscheinlich befürchtete er, dass ich es mir ansonsten doch noch anders überlegen könnte. Gib der Alten ja keine Chance, noch mal über alles nachzudenken. Geniale Strategie.
Aber eigentlich hatte er ja auch recht. Ob ich nun über meinen Notizen schlafen oder einfach bei ihm ein paar Nudeln essen würde, machte dann wohl auch keinen großen Unterschied. Ich hatte wirklich genug geackert und jetzt etwas Entspannung verdient. Und dann würde ich heute Abend früh ins Bett gehen und in den nächsten Tagen eine super Leistung abliefern.
Tschakka. Das waren doch mal ein Vorsatz und ein erfolgversprechender Plan.
Keine halbe Stunde später klingelte ich an der Haustür. Mittlerweile war es schon nach 19 Uhr und demnach stockdunkel. Wann würden die Tage endlich wieder länger werden? Da wurde man ja depressiv. Sebastian öffnete die Tür und nahm mich sogleich ungestüm in die Arme.
»Schön, dass du da bist.«
»Als hätte ich eine Wahl gehabt ...«
Sebastian lachte und zog mich in den warmen Flur hinein. »Komm, hab alles schon gerichtet und vorbereitet.« Er war ziemlich euphorisch und freute sich so offensichtlich, mich zu sehen, dass es ansteckend war. Ich musste einfach lachen und schloss ihn noch mal in meine Arme.
»Danke, dass du mich aus der Wohnung geholt hast. Ich glaube, das war eine gute Idee.«
»War es mit Sicherheit. War ja auch meine.« Er grinste wie ein Honigkuchenpferd und reichte mir ein großes Glas mit Strohhalm und Schirmchen. »Hier, dein Caipi, und jetzt setz dich. Ich hol das Essen.«
Biancas Essen war immer lecker. Richtige Hausmannskost vom Feinsten. Immer deftig, immer reichlich. Und noch besser schmeckte es natürlich mit meinem besten Freund zusammen. Nur einer fehlte zu meinem Glück. Aber der musste wohl immer noch arbeiten. Zum Verrücktwerden.
Als Sebastian gerade Limetten für einen zweiten Caipi stampfte, hörte ich die Eingangstür ins Schloss fallen und Schritte im Flur. Jan war angekommen, betrat den Flur und zog sich erschöpft die Schuhe aus. Er fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar und hing dann seine Jacke an die Garderobe. Er hatte mich noch nicht mal bemerkt.
»Hey Jan, deine Freundin ist da«, rief Sebastian und ich sah Jan zusammenfahren.
»Nora?«
»Hast du noch eine andere Freundin?«, gab Sebastian etwas genervt zurück. Jan kam in die Küche gelaufen und lächelte schüchtern.
»Hey, schön dich zu sehen.« Er beugte sich nach vorne und küsste mich zur Begrüßung.
»Wenn ich dir nicht hinterherrenne, sehen wir uns ja gar nicht mehr«, sagte ich etwas zickiger als beabsichtigt. Jan verzog das Gesicht wehmütig und ich bemerkte zum ersten Mal, wie verdammt müde und kraftlos er aussah. Fast schon krank. Seine Augen waren rot geädert und tiefe Schatten zeichneten sich unter ihnen ab. Überhaupt wirkte er sehr blass. Vielleicht sollte ich nicht zu streng zu ihm sein. Ein Blinder mit Krückstock konnte erkennen, dass es ihm nicht gut ging. Hoffentlich brütete er nichts aus.
»Ich geh erst mal duschen«, gab Jan in einem resignierten Ton zurück und schlurfte mit kleinen Schritten Richtung Badezimmer. Ich schaute ihm besorgt hinterher.
»Ist bei euch alles okay?« Sebastian sah mich besorgt und mit gerunzelter Stirn an. Plötzlich spürte ich, wie mir Tränen in die Augen schossen. Verdammt, das wollte ich nun wirklich nicht. Sebastian nahm meine Hand und umschloss sie mit seiner.
»Nora?«
»Ist schon okay. Wir sehen uns nur in letzter Zeit nicht so häufig und wenn, dann muss er weg oder ist mit den Gedanken immer bei der Arbeit. Ist momentan alles etwas schwierig.«
»Er hat einen anstrengenden Job, das ist kaum zu übersehen. Aber weiß er, dass es dich so sehr belastet?«
»Ich denke schon. Es häuft sich in letzter Zeit. Ich habe irgendwie Angst. Angst, ihn zu verlieren. Es kommt mir jetzt schon so vor, als wäre da eine Distanz, als würden wir uns immer mehr voneinander entfernen.« Ein Schluchzer entfuhr mir und ich schniefte.
»Das bildest du dir doch garantiert nur ein.«
»Vielleicht ...«
Ein Summen unterbrach unsere Unterhaltung. Beide griffen wir gleichzeitig an unsere Hosentaschen. Wir waren eben die typische digitale Generation. Ich musste widerwillig lachen, weil unsere Reaktion die gleiche war. Doch war es keines unserer Handys, das vibrierte. Ich folgte dem Geräusch, bis ich vor Jans Jacke stand, die er einige Augenblicke zuvor erst ausgezogen hatte. Ohne mir darüber Gedanken zu machen, griff ich in die Innentasche und holte sein Smartphone hervor.
Fernanda M. stand auf dem Display. Dazu ein Bild von einer rassigen Schönheit mit dunklem Teint und schwarzem, gewelltem Haar. Spanierin oder Italienerin. Aber das hätte man sich ja bei dem Namen schon denken können. Ich gab ein Schnauben von mir, das meine Abneigung deutlich wiedergab. Ich war sauer. So unglaublich wütend und wusste gerade nicht so recht, wohin mit diesem Gefühl. Jan war doch eben erst nach Hause gekommen. Musste er denn schon wieder von seiner Arbeitskollegin belästigt werden? Das war doch nicht normal! Jeder Mensch hatte das Recht auf einen Feierabend. Aber Jan konnte man ja anscheinend 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche arbeiten lassen. Das ging nicht. Das ging zu weit! Kurz überlegte ich, das Telefonat anzunehmen und genau das zu sagen. Dann siegte aber doch die Vernunft und ich steckte sein Handy einfach wieder zurück in die Jackentasche. Ich würde mich doch nur lächerlich machen. Damit musste er schon selbst klarkommen.
Ich ging zurück zu Sebastian und griff nach meiner Tasche.
»Ich sollte so langsam heimgehen. Morgen wird‘s ernst.«
»Willst du nicht noch kurz warten? Jan kommt doch gleich aus der Dusche.«
»Wer weiß, wie lange das noch dauert, und ich muss heute echt früh ins Bett.«
»Okay ...« Sebastian schaute mich besorgt an und glaubte mir meine Ausrede natürlich nicht. Das war jetzt aber auch egal.
»Drück mir morgen die Daumen, ja?«
»Mach ich, ist doch klar.«
Sebastian umarmte mich und streichelte mir beruhigend über den Rücken.
»Alles wird gut. Wart‘s nur ab.«
Ich nickte, wenn auch wenig überzeugt, und öffnete die Tür. Ich erstarrte sofort.
Beinahe wäre ich in jemanden reingerannt.
Ich trat einen Schritt zurück, um die Person zu betrachten, die direkt vor der Tür stand und sich anscheinend genauso erschrocken hatte wie ich. Denn ihre Hand lag dort, wo man ein heftig schlagendes Herz vermuten würde, und ihr gehetzter Blick sprach Bände.
»Huch«, kam es von mir und ich musterte die Gestalt etwas genauer.
Das war Fernanda.
Mit 150-prozentiger Sicherheit.
»Nora?«, fragte jemand hinter mir und plötzlich standen nicht nur Sebastian und ich dieser Frau gegenüber. Auch Jan, der zu allem Übel nur eine Jogginghose trug und somit oberkörperfrei war, leistete uns Gesellschaft. Seine feuchten Haare komplettierten dieses Bild und machten es perfekt. Na toll! So sollte sie ihn definitiv nie sehen. Dieser Anblick war für mich reserviert!
Jan schien etwas peinlich berührt zu sein und verschränkte die Arme vor der Brust, um wenigstens ein bisschen seine Blöße zu bedecken.
Zu spät, mein Lieber.
Der leichte Rotschimmer auf Fernandas Wangen war kaum zu übersehen. Und es machte sie leider noch hübscher. Wo war ich hier eigentlich gelandet? Ich kam mir sowas von fehl am Platze vor.
»Fernanda, was treibst du denn hier?« Jan brach als Erster das Schweigen. Sebastian griff in dem Moment nach meiner Hand. Keine Ahnung, warum. Es war eine Angewohnheit von ihm. Immer, wenn etwas drohte, ihm oder mir über den Kopf zu wachsen, hielt er meine Hand. Im Augenblick war ich ihm sehr dankbar dafür. Ahnte er etwas?
»Ich war ... ähm« Sie warf ihr langes Haar nach hinten und versuchte wohl, sich zu sammeln. »Ich wollte dir nur die Papiere und Verträge für den Termin vorbeibringen. Damit du dich vorbereiten kannst.«
»Dafür wäre doch morgen noch Zeit gewesen«, gab Jan zurück und griff nach dem Ordner.
»Ich geh dann mal«, sagte ich daraufhin leise und löste mich von Sebastian. Meine Anwesenheit war hier ja nicht länger gefragt oder erwünscht.
»Nora, warte, ich ...« Jan versuchte, nach meiner Hand zu greifen, aber ich entzog sie ihm. Ich war nicht in der Stimmung.
»Ach, du bist Nora«, wandte nun Fernanda das Wort an mich. »Schön, dass ich dich auch mal kennenlerne. Ich habe schon viel von dir gehört.« Sie reichte mir ihre manikürte Hand und ich ergriff sie zögerlich. Mehr aus Reflex. Sollte ich etwas sagen?
»Ähm, ja.« Mann, war ich heute wieder schlagfertig! Fernanda lächelte und zeigte dabei eine Reihe weißer, perfekter Zähne. Am liebsten hätte ich mit den Augen gerollt. Das wäre aber wohl nicht angebracht gewesen. Also drehte ich mich um und umarmte Sebastian schnell zum Abschied. Seine Augen musterten mich besorgt. Ich mied seinen Blick. Jan bekam einen eiligen Kuss. Dann nahm ich meine Beine in die Hand und sprintete los. Ich musste einfach rennen. Wollte weg, so schnell es ging. Weg von der ganzen verzwickten Situation, von ihm, von ihr. Ich konnte mir nicht mal erklären, warum oder woher dieser plötzliche Drang kam. Es war wie eine Art Fluchtreflex. Ich war so überfordert, dass ich nicht wusste, wie ich sonst damit umgehen sollte. Also rannte ich, bis ich zu Hause war.
Vor meiner Haustür angekommen, schnappte ich hektisch nach Luft und mein Kreislauf war kurz davor, den Geist aufzugeben. Meine Lunge brannte, die Kehle war ausgedörrt und meine Augen tränten.
»So hat es bei seinem Vater auch angefangen.« Biancas Worte kamen mir wieder in den Sinn. Ich schüttelte wie wild mit dem Kopf, um diese deprimierenden Gedanken zu verscheuchen. Aber es war wie mit einem unangenehmen Ohrwurm. Ich konnte diese schrecklichen Worte einfach nicht aus meinem Hirn verbannen.
Nein. Nein, Jan war nicht so!
Nein!
Und trotzdem konnte ich dieses komische Gefühl in mir nicht ausblenden.
Ein Gefühl des Verlustes. Angst, Eifersucht, Übelkeit, Traurigkeit, Wut. All das und noch viel mehr.
»Was, in Gottes Namen, war das eben?«
Bemühungen
Ich hatte es geschafft.
Es war tatsächlich vorbei.
Ich hatte alle Abiturprüfungen hinter mich gebracht und war gar nicht mal so unzufrieden. In Biologie konnte ich zwar zwei Fragen mehr schlecht als recht beantworten, aber was soll‘s? Es war vorbei!
Ich sprang beflügelt die Stufen des Schulgebäudes hinunter und hielt, unten angekommen, für ein paar Sekunden mein Gesicht Richtung Sonne und atmete durch. Ich war die letzten Tage und Wochen so dermaßen angespannt gewesen. Nicht nur körperlich. Ab jetzt sollte alles besser werden.
Und wie konnte ich am besten entspannen?
Ich lief los. Die Bibliothek war mein Ziel.
Ich war monatelang gezwungen gewesen, auf gute Romane zu verzichten. Die einzigen Bücher, die ich zur Hand genommen hatte, waren Schulbücher oder Fachliteratur gewesen. Selbst nach dem Lernen traute ich mich nicht, zu einer schönen Liebesgeschichte oder einem Thriller zu greifen, da ich sofort ein schlechtes Gewissen bekam. Wenn ich Zeit hatte, den neuesten Bestseller von Ken Follett zu lesen, konnte ich mir auch noch mal den Aufbau des Auges anschauen und einprägen. Aber nun war diese Zeit ja endlich vorbei.
Ich war literaturausgehungert!
Ich liebte die Bücherei und ich liebte es zu lesen. Schon lange war es mein liebstes Hobby. Als Kind entwickelte ich diese Leidenschaft zu Büchern eher unfreiwillig. Es war schlichtweg ein Ersatz. Ich hatte kein Geld für Vereine oder für ein Musikinstrument gehabt. Ein Deutschlehrer hatte meine Liebe zu Büchern entdeckt und wollte mich unbedingt fördern. Also schenkte er mir einen Bibliotheksausweis. »Das günstigste Hobby, das es gibt«, meinte er. »Und gleichzeitig auch das schönste.«
Seitdem war ich süchtig nach Büchern. Denn dieser Lehrer hatte Recht behalten. Selbst ein armes Waisenkind, wie ich es war, konnte sich Bücher ausleihen. Und die Bücher bescherten mir nicht nur wunderbare Stunden in fernen Welten und Zeiten, sie ermöglichten mir, aus meinem Alltag zu entfliehen. In den Geschichten fand ich Freunde, wenn auch keine realen. Das größte Glück war allerdings, dass ich hier in dieser Bücherei Jan kennengelernt hatte.
Meinen Jan.
Uns verband sofort etwas. Es war von der ersten Sekunde an besonders mit ihm gewesen. Wir lasen die gleichen Bücher, wir unterhielten uns über unsere Lieblingsschriftsteller und wir trafen uns hier regelmäßig. Zuerst waren es Zufälle. Dann häuften sich diese und wirkten irgendwann alles andere als zufällig, bis mir Jan schließlich gestand, dass er absichtlich zur gleichen Zeit wie ich hier war und auf mich wartete. Daraufhin lud er mich auf einen Kaffee ein und ich gab ihm meine Telefonnummer. Eins kam zum anderen und seitdem waren nun mehr als zwei Jahre vergangen.
Die glücklichsten Jahre meines Lebens.
Wenn ich so zurückdachte, wurde mir eines noch stärker bewusst: Ich durfte das mit Jan nicht ignorieren und aussitzen. Wir beide gehörten zusammen. Das war eine Tatsache. Diese Distanz, die ich zwischen uns spürte, durfte nicht noch mehr Besitz von uns ergreifen. Ich musste alles daran setzen, ihn zu unterstützen und ihm zu zeigen, wie sehr ich ihn liebte und vertraute. Das war meine Aufgabe als seine Freundin.
Und damit würde ich genau heute starten.
Ich lieh mir drei Bücher aus. Verstummt von Karin Slaughter, das Lina während Mathe gelesen hatte. Sie hatte sehr von dem Buch geschwärmt und mich damit neugierig gemacht. Außerdem hatte ich noch ein Auge auf zwei Thriller von Sebastian Fitzek geworfen. Von dem hatte ich bislang auch nur Gutes gehört. Ich war gespannt und freute mich auf meine wohlverdiente Freizeit.
Beschwingt ging ich nach Hause und legte die Bücher im Schlafzimmer auf den Nachttisch. Meist las ich abends im Bett. Da war es am gemütlichsten.
Es klingelte an der Tür. Ich öffnete und erblickte Jan. Er machte einen bedrückten Gesichtsausdruck und schaute mich verlegen an. Seinen Schlüssel hielt er unbenutzt in der Hand. Er schien sehr unsicher zu sein. Geradezu eingeschüchtert.
»Hey.«
»Hey.«
»Abi-Arbeiten gut überstanden?« Ich nickte. Jan lächelte ganz schwach und griff dann schüchtern nach meiner Hand. »Ich hoffe, du bist nicht mehr böse.«
»Ach was ... Komm rein.« Ich umarmte ihn und gab ihm einen dicken Schmatzer mitten auf den Mund. Jan grinste und erwiderte den Kuss hungrig. Zum Glück fiel ihm nicht auf, wie ich mich plötzlich verspannte und für einen kurzen Moment nach Luft schnappte.
Ein fremdes Parfum.
Ich war mir sicher. Ich roch ein fremdes Parfum an ihm. Eindeutig ein Frauenduft. Verdammt.