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Sebastian ist neunzehn, frisch geoutet und bereit, in sein neues, schwules Leben zu starten. In einem Club trifft er auf Hiroki und verliebt sich vom Fleck weg in den attraktiven Halb-Japaner. Und es sieht so aus, als würde Hiroki seine Gefühle erwidern. Sebastian ist im siebten Himmel. Doch bald ziehen erste dunkle Wolken auf. Während Sebastian sich nichts mehr wünscht, als seine große Liebe öffentlich zu machen, tut Hiroki alles, um die Beziehung geheim zu halten. Ein Kompromiss ist nicht in Sicht, und Sebastian muss um seine große Liebe kämpfen. Das Spin-Off zu Katharina Wolfs Debütroman "Vier Jahre ohne Dich"!
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Seitenzahl: 309
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Katharina Wolf
Sebastian & Hiro
Mein Herz,
dein Kopf
und ein Universum
dazwischen
© 2019 Amrûn Verlag Jürgen Eglseer, Traunstein
Covergestaltung: Claudia Toman | Traumstoff CoverdesignLektorat: Susanne Pavlovic | Textehexe
Alle Rechte vorbehalten
Taschenbuch ISBN – 978-3-95869-3807Printed in the EU
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.
1 19
Love is Love
Hier stand ich nun. Vor diesem einen Club, auf den ich schon seit Jahren im Vorbeigehen neugierig gestarrt hatte. Nie hatte ich mich getraut, ihn zu betreten. Nie war ich bereit dafür gewesen. War ich es jetzt? Was genau bezweckte ich? Würde ich irgendwie auffallen? Würde man mir ansehen, dass ich neu war? Ich musterte die Menschen, die rauchend vor dem Club standen oder an mir vorbeiliefen und durch die große Eingangstür verschwanden, hinter der ich das Wummern der Musik deutlich vernehmen konnte. Ich schien zumindest weder under- noch overdressed zu sein. Wenigstens etwas.
Ich atmete einmal durch, um mich zu sammeln. Ich hatte gar keinen Grund, so unsicher zu sein. Ich hatte ja gewusst, dass der Tag irgendwann kommen würde. Ich hatte es schon seit Jahren gewusst.
Vor genau drei Tagen hatte ich mich geoutet. Ganz offiziell vor meiner Mutter. Okay, meine beste Freundin Nora und mein Bruder Jan wussten es bereits etwas länger. Aber es meiner Mutter zu erzählen war ein großer Schritt für mich gewesen. Ich hatte lange Angst vor diesem Moment gehabt und hatte einfach nicht so recht einschätzen können, wie meine Mum es auffassen würde. Umso erstaunlicher, dass sie kein bisschen überrascht gewesen war. Sie hatte mit den Augen gerollt und abgewunken. »Das wusste ich schon länger als du selbst«, hatte sie gesagt, mich in den Arm genommen und mir ein paar zärtliche Küsse auf die Stirn gegeben. Es war tröstend gewesen. Und Trost hatte ich nötig gehabt. Denn egal, wie gut meine Mum reagiert hatte, ich hatte trotzdem geheult wie ein Schlosshund. So viel Ballast war mir in dem Moment vom Herzen gefallen. Seitdem fühlte ich mich besser. Leichter.
Bis vor drei oder vier Jahren war ich mir selbst nicht sicher gewesen, was mit mir los war. Ich hatte das hübscheste Mädel der Klasse als Freundin und spürte so gut wie nichts. Ich fühlte mich wie ein Zombie. Kalt und wie betäubt. Klar, es war irgendwie schön, mit ihr etwas zu unternehmen und ich küsste sie gerne. Sie war nett und wir mochten die gleichen Filme und Bücher. Aber wenn sie nackt vor mir lag, funktionierte ich wie ein Roboter und wünschte mir einfach, dass es schnell vorbei war. Alle Welt schwärmte von Sex! Es gab Menschen, die sogar danach süchtig waren. Tiger Woods wusste gar nicht, wohin mit seinen Hormonen und fühlte sich gezwungen, mehrere Frauen gleichzeitig zu beglücken. Also was war verdammt noch mal falsch mit mir? Ich befürchtete schon, dass ich so etwas einfach nicht konnte. Eine ernsthafte Beziehung führen. Leidenschaft und tiefe Gefühle empfinden.
Bis Noah in unsere Klasse kam. Er war frisch in die Stadt gezogen. Als er zum ersten Mal das Klassenzimmer betrat, dachte ich, mein Herz würde mir aus der Brust springen, um sich ihm sabbernd an den Hals zu werfen. Ich war sofort verknallt in ihn. In sein schwarzes Haar und den männlichen Dreitagebart. Ansonsten hatte kaum einer meiner Freunde überhaupt einen gleichmäßigen Bartwuchs. Mich eingeschlossen! Aber Noah war einfach verdammt attraktiv und fiel auf, leider auch meinen Klassenkameradinnen. Es dauerte keine zwei Tage, da war er mit Susanne zusammen. Dem Mädchen mit den größten Möpsen der Klasse. Aber das war okay, denn ich nahm etwas sehr viel Wertvolleres mit aus dieser Erfahrung: Ich konnte definitiv Herzklopfen empfinden und mich Hals über Kopf verlieben ... ich war nur ganz einfach schwul! Damit klarzukommen und mich selbst zu akzeptieren hatte gedauert. Aber ich hatte Unterstützung dabei gehabt und war nicht alleine.
Und nun stand ich hier. Vorm »Ponyclub«. Dem angesagtesten Gay Club im Umkreis von hundertfünfzig Kilometern. Ich war aufgeregt und hatte genauso starkes Herzklopfen wie in dem Moment, als ich Noah zum ersten Mal gesehen hatte.
Genau jetzt begann mein neues Leben.
Mein schwules Leben.
Ich hatte Angst.
Ich war voll Vorfreude.
Das Adrenalin ließ mich hektisch von einem Bein aufs andere treten.
Mein Puls raste und ich konnte das Blut in meinen Ohren rauschen hören.
Gleichzeitig grinste ich über das ganze Gesicht.
Ich war bereit!
»Noch einen Cuba Libre bitte«, schrie ich dem hübschen Mann mit dem Irokesenschnitt hinter der Bar zu. Es war nicht einfach, sich zu verständigen, während Beyoncé im Hintergrund mit ohrenbetäubender Lautstärke ihre Message an alle Single-Ladys jaulte. Der Barkeeper nickte mir zu, nahm mein leeres Glas und stellte es zu einer großen Menge anderer benutzter Gläser. Dann nahm er ein neues Glas aus dem Regal hinter sich, füllte es großzügig mit Eis und gab ein paar Limettenviertel dazu. Er ließ die Rumflasche schwungvoll um seinen Rücken sausen, um dann ein paar Zentiliter über die Eiswürfel zu gießen. Das restliche Glas füllte er mit Cola. Zu guter Letzt steckte er einen rosa Strohhalm mit goldenem Flitterkragen in das Getränk und reichte es mir. Ich kam mir noch schwuler vor, als ich eh schon war.
»Macht 8,50 Euro.« Ich nickte und reichte ihm einen Fünfeuroschein und zwei Zweieurostücke. Mit einem Nicken gab ich zu verstehen, dass der Rest für ihn war. Eins war sicher: Viel konnte ich hier nicht mehr trinken, sonst wäre ich für den Monat pleite. Ich drehte mich auf dem Barhocker und betrachtete das Treiben auf der Tanzfläche. Seit ich den Club vor einer guten Stunde betreten hatte, saß ich hier und ... na ja ... ich gaffte. Ich war fasziniert. Wenn man wie ich die letzten Jahre mehr oder weniger geheim homosexuell gelebt und nur mit einigen Männern anonym gechattet hatte, war das hier ein richtiger Kulturschock. Hier tanzen Männer mit Männern, Frauen mit Frauen. Manche knutschten, andere fummelten. Niemand schämte sich. Keiner wurde angestarrt. Na gut, außer von mir vielleicht. Schnell wendete ich den Blick von zwei dunkelhäutigen Kerlen ab, die eng miteinander verschlungen tanzen und sich dabei das Gesicht ableckten. So sah es zumindest von hier aus.
Ich seufzte, starrte in mein Longdrink-Glas und fragte mich für einen kurzen Moment, ob ich vielleicht noch nicht bereit war. Ob es ein kindischer Gedanke war, direkt nach meinem Outing in den nächsten Gay Club zu spazieren. So ganz alleine und ohne Vorbereitung oder Unterstützung. Andererseits ... worauf wollte ich denn bitteschön noch warten? Ich war 19 Jahre alt. Vollkommen ohne Erfahrung und lief schon knallrot an, wenn ich zwei Kerlen beim Küssen zusah. So würde ich niemals zum Zug kommen. Denn insgeheim war natürlich auch das ein Hintergedanke gewesen. Vielleicht sogar ein Wunsch ganz tief in mir drin. Selbst mit Männern ins Gespräch zu kommen und vielleicht sogar jemanden zu finden, mit dem man auch einen Schritt weiter gehen konnte. Ich schaute wieder auf zu den beiden Kerlen, die sich mittlerweile auch noch wild betatschten. In Wirklichkeit wollte ich genau das. Nur wäre es mir irgendwo an einem nicht ganz so öffentlichen Ort etwas lieber. Prüde hallte es in meinem Kopf wider und ich trank schnell noch einen Schluck, um ein paar letzte Hemmungen loszuwerden. Das heute war ein Testballon. Ich war ohne wirkliche Erwartungen hergekommen. Wollte mich nur mal umsehen und ein Gefühl für diese Welt bekommen. War das die richtige Entscheidung gewesen? Vielleicht hätte ich kleiner anfangen sollen?
»Hey du, dich seh ich aber zum ersten Mal hier.« Na toll. Ich wusste, dass man mir ansehen konnte, dass ich neu war. Was hatte mich verraten? Der unsichere Blick? Meine vor Nervosität abgenagten Fingernägel? Oder hatte ich eine jungfräuliche Aura, die jeder Typ hier direkt witterte und die ihn ganz wild machte?
»Ja, ich bin das erste Mal hier«, antwortete ich und lächelte den Mann, der plötzlich neben mir stand, verlegen an.
»Soll ich dich rumführen und dir alles zeigen?« Ich betrachtete ihn etwas genauer. Blond, ungefähr meine Statur. Eigentlich nicht schlecht, wenn auch nicht ganz mein Typ. Glaubte ich zumindest. Eigentlich wusste ich gar nicht so recht, was genau mein Typ war oder ob ich überhaupt einen hatte.
»Was gibt es hier denn noch so alles zu sehen? Ich dachte, das hier wäre schon alles.« Ich zeigte auf die Tanzfläche vor uns und ließ dann meine Hand einmal kreisen.
»Na ja ...« Er grinste und zeigte dabei sehr viele und auffallend weiße Zähne. »Eigentlich würde ich dir gerne noch etwas anderes zeigen«, raunte er direkt in mein Ohr. Ich zog fragend die Augenbrauen zusammen. Der Kerl, der sich, wie mir soeben auffiel, noch nicht mal vorgestellt hatte und anscheinend auch kein Interesse an meinem Namen zu haben schien, beugte sich noch etwas näher zu mir und stützte sich links und rechts von mir an der Bar ab. So gab es kein Entrinnen für mich. Ein süßliches Parfüm, das zu sehr nach Vanille roch, umhüllte mich. Und dann spürte ich plötzlich seine Zunge an meinem Ohr, die kurz über mein Ohrläppchen leckte.
»Ich würde dir gerne mal die Toiletten zeigen, wenn du verstehst.« Ich riss überrascht die Augen auf und nutzte die Gelegenheit, etwas von ihm abzurücken, als er mich wieder freigab und einen Schritt zurückging. Er beobachtete mich mit süffisanten Grinsen. Das hatte er nicht wirklich eben gesagt. Ich hatte nicht gerade zum ersten Mal in meinem Leben ein unanständiges Angebot von einem anderen Kerl bekommen. Ich war kurz davor in hysterisches Gekicher auszubrechen. Nur mein wild klopfendes Herz hielt mich davon ab. Der Gedanke erregte mich und erschreckte mich zugleich. Was würde denn rein theoretisch dann auf der Toilette passieren? Ich meine, was schwebte diesem Kerl denn vor? Etwa das ganze Programm? Am liebsten wollte ich ihn ja fragen, nur um meine Neugierde zu stillen, ich hielt mich aber gerade noch so zurück. Nach einem kurzen Schweigen schüttelte ich den Kopf. Ich lächelte entschuldigend und trank schnell noch einen großen Schluck von meinem Longdrink.
»Sorry, das ist nicht so mein Fall.« Der namenlose blonde Kerl ging einen Schritt zurück, legte den Kopf schräg und hob in einer resignierenden Geste die Hände.
»Zu schade aber auch. Sag Bescheid, wenn du es dir anders überlegst.« Daraufhin zwinkerte er mir noch einmal zu, drehte sich um und ging. Keine Minute später war er bereits ins Gespräch mit jemand anderem vertieft. Na ja, lang hatte er unter meinem Korb ja nicht gelitten. Aber vielleicht lief das hier ja so ab. Vielleicht war es vergleichbar mit Speeddating. Man checkte in wenigen Sekunden ab, ob man kompatibel und auf das Gleiche aus war. War man hier, um schnellen, ungebunden Spaß zu haben, oder war man eher auf der Suche nach etwas Ernstem? Passte irgendetwas nicht, ging man zum Nächsten. Irgendwie war ich anders erzogen worden.
Ich griff nach meinem Handy und öffnete Instagram. Dort war ich nun schon seit einigen Monaten sehr aktiv und hatte mir eine große Community aufgebaut. Nicht selten fragte ich mich, warum mir die rund 1100 Menschen folgten. Mein Leben war wirklich nicht sonderlich interessant, aber ich hatte anscheinend das Talent, das wenige Aufregende, was mir widerfuhr, schön zu bebildern. Ich machte einen Schnappschuss von dem Getränk in meiner Hand, beschrieb es mit einigen lustigen Hashtags und gab als Location den »Ponyclub« an. Falls sich irgendwer meiner Abonnenten meiner Sexualität betreffend unsicher gewesen war, dürften nun spätestens keine Zweifel mehr bestehen..
Ich steckte das Smartphone wieder in die Hosentasche. Während ich von meinem Cuba Libre trank, der mittlerweile fast nur noch aus Eis und Limetten bestand, sah ich mich weiter um. Der Alkohol und das hektische Strobolicht waren eine grausame Kombination und machten mich ganz schwindelig. Trotzdem gelang es mir nicht, den Blick von der tanzenden Menge abzuwenden. Zu sehr faszinierte mich das Treiben um mich herum. Plötzlich wurde ich auf eine Person im Hintergrund aufmerksam. Der Kerl tanzte nicht, er lehnte einfach nur an der Wand, hatte ein Bein angewinkelt und trank allem Anschein nach auch einen Longdrink. Die Tanzfläche lag zwischen uns und trotzdem fiel er mir auf, vor allem deshalb, weil er sehr groß war und breite Schultern hatte. Mit seiner Statur und dem dunklen Shirt konnte man ihn glatt für einen der Securitys halten. Würde er nicht gerade trinken und mich dabei anstarren. Verdammt. Schnell richtete ich meinen Blick nach unten und ärgerte mich gleichzeitig, weil das so auffällig und peinlich war. Ich war so ein Vollidiot. Langsam ließ ich meinen Blick wieder nach oben wandern und stellte dann fest, dass der Typ nicht mehr da war. Ich suchte die Tanzfläche nach ihm ab, aber der große Mann mit dem schwarzen Shirt war nicht dabei. Schade eigentlich. Ich hätte ihn gerne noch etwas länger heimlich gemustert und ...
»Suchst du mich?«
Ich schreckte zusammen und hätte fast mein leeres Glas fallen lassen. Neben mir stand er und seine wunderschönen, dunklen Mandelaugen musterten mich amüsiert. Ich war gebannt von seinem Blick und der männlichen Ausstrahlung, die diesen Kerl umgab. Ich saß auf einem Barhocker und wusste trotzdem, dass er mindestens zehn, wenn nicht sogar fünfzehn Zentimeter größer als ich sein musste. Sein Shirt betonte seine muskulösen Oberarme und die Breite Schulter noch. Außerdem hatte er unglaublich tolles Haar, das schwarz glänzte und aussah, als wäre er gerade aus der Dusche gekommen. Bei seinem Anblick wurde mir automatisch noch ein wenig heißer. Und dass obwohl es hier im Club eh schon extrem warm und stickig war.
»Und? Hast du?« Ich hörte damit auf, ihn zu bewundern und versuchte wieder einen klaren Gedanken zu fassen.
»Mhh?« Mehr brachte ich nicht heraus.
»Du hast gerade etwas unglücklich auf die Tanzfläche geschaut und da hab ich mich gefragt, ob du mich eventuell gesucht hast.«
»Ach quatsch, ich kenne dich doch gar nicht«, antwortete ich und wagte es nicht, ihm direkt in die Augen zu sehen, damit er meine Lüge nicht enttarnte. Als ich nach einigen Sekunden wieder zu ihm sah, grinste er mich ziemlich selbstsicher an und sein Grinsen wurde noch breiter, als ich verlegen an meinem Strohhalm saugte, obwohl mein Getränk schon längst leer war. Selbst die Eiswürfel hatten sich bereits verabschiedet. Der hübsche Kerl hob daraufhin seinen Zeigefinger und gab mir so zu verstehen, kurz auf ihn zu warten. Ich beobachtete, wie er an der Bar zwei Getränke orderte und kurze Zeit später wieder neben mir stand und mir ein Glas reichte.
»Bitteschön. Ich bin übrigens Hiroki«, stellte er sich vor und stieß mit seinem Glas gegen meines.
»Sebastian«, antworte ich leider viel zu leise. Über die Bässe von Macklemores Lied Downtown war ich kaum zu verstehen. Zumindest lehnte sich Hiroki etwas weiter in meine Richtung und bat mich so, meinen Namen nochmals zu wiederholen. Schnell räusperte ich mich, streckte ihm meine Hand entgegen und wiederholte meinen Namen mit kräftigerer Stimme und, wie ich hoffte, war auch mein Händedruck ähnlich kräftig. Wir tranken beide aus unseren Flitter-Strohhalmen, die hier scheinbar Standard waren.
»Was wollte den Armin gerade von dir?«, fragte mich Hiroki und lehnte sich dabei neben mir an die Theke. Es war leider kein Barhocker frei, also blieb er einfach neben mir stehen.
»Wer?«
»Der Typ, der gerade bei dir stand. Oder waren da etwa noch mehr?«
»Ach so, der ... Ich wusste nicht, wie der heißt. Er hat sich nicht die Mühe gemacht, sich vorzustellen.«
»Und was wollte er?«, fragte Hiroki und sah mich mit seinen dunklen Augen so eindringlich an, dass mir ganz warm in der Magengegend wurde.
»Er wollte mich ein wenig herumführen und mir die Toiletten zeigen.« Kurzes Schweigen. Dann brach Hiroki in schallendes Gelächter aus.
»Das ist so typisch für ihn. Das ist seine Masche. Ich glaube, schon seit Jahren.« Ich bewunderte diesen hübschen Mann und sein strahlendes Lächeln. Und es machte mich etwas mutiger. Auch ich lächelte und stieß nochmals mit meinem Glas gegen seines, bevor ich einen großen Schluck nahm.
»Hat er dir auch schon mal die Toiletten gezeigt?« Seine Augen wurden riesig und sein Mund formte ein großes O.
»Quatsch. Er hat es nicht mal versucht. Wahrscheinlich bin ich nicht sein Typ. Außerdem ist so etwas überhaupt nicht mein Stil.« Er schüttelte verächtlich den Kopf, so dass ein paar schwarze Haarsträhnen hin und her schwangen. Dann lehnte er sich zu mir herüber, fast so, wie es dieser Armin vorhin auch getan hatte. Nur fühlte es sich bei Hiroki um einiges angenehmer an. Er näherte sich meinem Ohr, ich spürte bereits seinen warmen Atem und ein angenehmer Duft umhüllte mich, der weder zu süß noch zu herb war.
»Wieso sollte ich denn auf eine Toilette gehen, wenn es im Keller einen Darkroom gibt?« Stocksteif saß ich da und machte große Augen. War das sein Ernst? Hiroki entfernte sich ein paar Zentimeter von mir, blickte mir in die Augen und grinste.
»Schau doch nicht so.« Er lachte und stieß mich mit seiner Schulter an. »Du siehst aus wie ein verschrecktes Reh im Scheinwerferlicht.« Ich fühlte mich auch so. Schnell trank ich noch einen Schluck und atmete einmal durch, um mich zu sammeln. Ich benahm mich echt kindisch. Lächerlich. Ich wusste, dass es solche Dinge gab. Ich lebte ja nicht hinterm Mond. Ich wusste, dass Menschen existierten, die sich in Darkrooms, Swingerclubs oder Saunen trafen, um sich zu amüsieren und Sex zu haben. Das war das Normalste von der Welt, also Sebastian, reiß dich verdammt noch mal zusammen. Ich versuchte, mich selbst zu ermahnen. Was sollte dieser Kerl denn von mir denken? Ich schluckte mein Unbehagen mit dem Longdrink, den mir Hiroki gegeben hatte, hinunter und versuchte mich in einem aufgesetzten Lächeln.
»Tanzt du nicht?« Gut vom Thema abgelenkt, Sebastian. Über etwas Unverfänglicheres sprechen als Darkrooms, damit sich auch meine Gesichtsfarbe wieder normalisierte, war ein guter Plan.
»Nicht wenn es jemand sehen kann.« Hiroki lachte auf und stellte dann sein leeres Glas hinter sich auf den Tresen.
»Möchtest du vielleicht noch was trinken?«, fragte ich ihn. »Ich könnte die nächste Runde übernehmen.« Hiroki winkte ab.
»Ich hab erst mal genug, aber danke. Ich muss morgen früh arbeiten und sollte dabei nicht riechen wie eine Schnapsbrennerei.«
Am liebsten hätte ich ihm gestanden, dass er wunderbar roch und ich schon die ganze Zeit dem Drang widerstand, meine Nase in seiner Halsbeuge zu vergraben. Aber ich verscheuchte den Gedanken gleich wieder. Ich kannte diesen Kerl keine fünfzehn Minuten. Nur weil er verdammt gut aussah, musste man sich ihm ja nicht gleich an den Hals werfen. Auch wenn es mir bei ihm um einiges weniger ausmachen würde als bei diesem Armin. Vielleicht hatte ich ja doch einen bestimmten Typ, auf den ich stand. Groß, dunkelhaarig mit warmen, mandelförmigen Augen.
»Bist du irgendwie asiatisch? Also ähm ...« Wie formulierte man das am besten politisch korrekt? »Also, ich meine, ich ...« Ich gestikulierte wild umher und hätte dabei noch fast mein Getränk verschüttet. Hiroki beobachtete mich erst interessiert, lachte dann amüsiert und strich mir mit einem Finger über die Wange, was sich einerseits verwirrend vertraut aber auch echt schön anfühlte.
»Sorry, das wollte ich so gar nicht sagen. Ich meinte ...«
»Ist schon okay, meine Mutter ist Japanerin und mein Vater ist deutsch. Ich bin hier geboren und hatte das Glück, zweisprachig aufzuwachsen.«
»Du sprichst fließend japanisch?«
»Jap.«
»Das ist beeindruckend, ich habe schon Probleme mit Englisch. Ich bin echt null sprachbegabt.«
»Was machst du denn so? Also beruflich.«
»Ich mache eine Ausbildung zum Chemielaborant. Du siehst, ich bin eher so der naturwissenschaftliche Typ.« Hiroki machte große Augen.
»Das finde ich wiederum sehr beeindruckend. Ich war in Mathe immer total die Niete und Chemie und Physik habe ich so schnell es ging abgewählt.« Ich lauschte seinen Erzählungen und grinste ihn dabei an, als wäre er ein Weltwunder. Ich freute mich gerade wie ein Schneekönig darüber, mich mit ihm über Alltägliches zu unterhalten. Außerdem beruhigte es mich, dass er nicht perfekt zu sein schien. Denn auf den ersten Blick wirkte er so. Aber er hatte eben zumindest eine Matheschwäche. Kurz schwiegen wir und lächelten uns einfach an. Dann unterbrach Hiroki das, wie ich fand, sehr angenehme Schweigen.
»So, ich geh mal schnell auf die Toilette und bin gleich wieder hier.« Er ging ein paar Schritte und drehte sich dann wieder zu mir um. »Außer natürlich du möchtest mitgehen. Ich könnte sie dir ja auch zeigen.« Er zwinkerte mir zu und lachte laut auf, als er meine hochgezogene Augenbraue bemerkte.
»Lass mal stecken.« Ich trank den letzten Schluck und sah ihm hinterher, wie er sich durch die Menschenmenge drängte. Schwarz gekleidet, elegant wie ein Panther. Ich seufzte. Was für ein Mann. Trotzdem hatte ich schnell einen Entschluss gefasst. Ich erhob mich und griff nach meiner Jacke, die ich unter mir auf dem Hocker platziert hatte.
Ich würde jetzt gehen, bevor es unangenehm werden würde. Bevor dieser attraktive Mann sagen konnte, was er wirklich wollte und damit diesen bislang schönen Abend zerstörte. Ich war nicht der Typ für schnelle Nummern in irgendwelchen Ecken und jetzt mal im Ernst: Dieser Typ spielte in einer komplett anderen Liga als ich. Der würde wohl nicht an einer Beziehung mit mir interessiert sein. So realistisch war ich. Ich war absoluter Durchschnitt. Schlank und mit meinen 1,75 weder besonders groß noch zu klein. Aber dieser Kerl war adonisgleich. Nein, nein, der Illusion, dass der was Ernsthaftes suchte, gab ich mich erst gar nicht hin. Ich musste ja nicht an meinem ersten Tag in schwuler Öffentlichkeit direkt eine Enttäuschung einstecken. Das ersparte ich mir dann doch lieber. Ich schlüpfte schnell in meine Jacke, nickte dem Barkeeper zum Abschied zu und verließ den Club.
Draußen war es kühl und so zog ich den Reißverschluss bis nach oben und vergrub meine Hände in den Hosentaschen. Es ließ sich nicht leugnen. Der Herbst machte sich bemerkbar. Ich lief zur nächsten Bushaltestelle und sah auf den Fahrplan, der dort hing und schon ziemlich ramponiert aussah. Der nächste Spätbus würde in fünfzehn Minuten kommen. Also ließ ich mich auf der kalten Metallbank nieder und zückte das Smartphone, um meiner besten Freundin eine Nachricht zu schreiben. Nora lebte nicht mehr hier in der Stadt. Vor einem Jahr war sie für das Studium weggezogen. Ich war gerade zum ersten Mal in einer Gaybar und wurde tatsächlich zweimal angegraben. Keiner der beiden war hässlich und einer sogar geradezu gottgleich!
Kurz wartete ich auf eine Antwort, bis mir klar wurde, dass es bereits nach ein Uhr nachts war. Nora schlief bestimmt schon.
Also scrollte ich durch meine Facebook-Timeline und stöhnte über den neuen Beziehungsstatus meines bescheuerten Bruders, der nun auch offiziell mit der arrogantesten Tussi zusammen war, die die Welt je gesehen hatte. Warum mein Bruder auf sie stand, war mir ein Rätsel. Aber es war sein Leben. Wo die Liebe eben hinfiel.
Ich spielte noch ein paar Runden Candy Crush und postete ein Selfie auf Instagram, auf dem ich eine Grimasse mit aufgeblasenen Backen zog, dann kam endlich der Bus. Ich setzte mich in die letzte Reihe ans Fenster, lehnte meine Stirn an die kühle Scheibe und schloss die Augen. Ich freute mich auf mein Bett. Der Abend war anstrengend gewesen und es würde mich kein bisschen wundern, wenn mich es in meinen Träumen ein Wiedersehen mit einem gewisser Hiroki geben würde. Hoffentlich ohne Toiletten und Darkrooms. Oder vielleicht auch mit beidem ...
Erstaunlicherweise hatte ich sehr traumlos und tief geschlafen. Geweckt wurde ich durch das laute Klappern von Geschirr aus der Küche. Mit einem halb geöffneten Auge schielte ich auf meinen Wecker. Zehn Uhr. Okay, da durfte man selbst samstags mal langsam über Frühstück nachdenken. Ich fuhr mir mit den Händen über das Gesicht, streckte mich genüsslich und stellte fest, dass ich eine Dusche bitternötig hatte. Ich hatte am gestrigen Abend zwar nicht getanzt, aber alleine beim Zuschauen war ich ins Schwitzen gekommen. Langsam erhob ich mich und checkte mein Smartphone. Einige Kommentare auf Instagram zu meinem gestrigen Clubaufenthalt, inklusive ein paar neuer Follower und eine WhatsApp Nachricht von Nora waren auf dem Display zu sehen.
Uiuiuii. Nach Jahren der Enthaltsamkeit gehst du jetzt aber in die Vollen.
Ich rollte mit den Augen.
Klar, kennst mich doch. Ich werf mich dem Erstbesten an den Hals.
Sie antwortete mit ein paar Grimassen-Emoticons, deren Bedeutung ich mir wohl selbst zusammenreimen musste. Aber erst nach der Dusche und einem starken Kaffee.
Eine halbe Stunde später saß ich mit meiner Mum am Frühstückstisch und erzählte ihr von meinem Abend im Club. Natürlich die abgespeckte Version. Die verschlungenen Körper und das Gerede über Darkrooms behielt ich dann doch lieber für mich.
Gerade als ich uns den zweiten Kaffee eingoss, hörte ich den Schlüssel in der Eingangstür. Jan kam nach Hause. War er über Nacht weg gewesen oder heute Morgen schon früh unterwegs? Manchmal ging er morgens joggen. Zu Zeiten, in denen ich mich gerne noch mal umdrehte. Aber nun wirkte er ziemlich unverschwitzt und seine Kleidung sah auch nicht wirklich nach Sport aus.
»Wo kommst du denn her?«, fragte ich ihn und biss in mein Brötchen.
»Von wo wohl? Ich war bei Fernanda. Seit wir uns nicht mehr im Büro sehen, treffen wir uns öfter mal nach Feierabend.«
»Aha.«
»Setz dich zu uns, es ist noch genug da«, sagte Mum und stellte einen weiteren Teller auf unseren Esstisch.
Jan setzte sich neben mich und griff in den Brotkorb und nach der Butter.
»Und wie war es bei dir? Irgendwie siehst du noch müde aus. Hast du die Nacht überhaupt hier verbracht oder dich in den Morgenstunden hier reingeschlichen?« Jan grinste und stieß mir seinen Ellenbogen in die Seite. Ich verschluckte mich an meinem Kaffee und klopfte mir hustend gegen die Brust.
»Alter. Ich war um kurz vor halb zwei zu Hause. Was unterstellst du mir?« Ich blickte zu Mum, die gar nicht erst auf die Idee kommen sollte, dass ich irgendetwas anderes als ihr guterzogener, braver Junge war. Zum Glück folgte sie unserer Unterhaltung viel weniger aufmerksam, als ich gedacht hatte, und las ganz einfach seelenruhig die Zeitung. Jan verdrehte die Augen und biss in sein Brötchen.
»So gesprächig heute ...«
»Was willst du wissen? Ob ich die Liebe meines Lebens getroffen habe?«
»Hast du?«
»Ich habe so einiges gesehen.« Mir war nicht danach, von dem hübschen Mann zu erzählen. Vielleicht auch, weil ich mich die ganze Zeit fragte, ob es ein Fehler gewesen war, abzuhauen.
»Was machst du heute Abend? Wieder die Clubs unsicher oder bist du zufällig frei?«, fragte mich mein Bruder mit vollem Mund.
»Rein zufällig bin ich sogar frei, warum?«
»Ich gehe heute Abend mit ein paar Arbeitskollegen was trinken. Willst du mit?«
»Ist das denn okay? Ist das nicht so ein Arbeitsding?«
»Quatsch. Ganz locker wird das. Einer bringt auch seine Freundin mit. Da ich aber der Neue in der Firma bin, dachten wir, dass man sich ja auch mal außerhalb des stressigen Büros treffen könnte, um sich besser kennenzulernen.«
»Und mit dem einen oder anderen Bier ist die Atmosphäre ja auch gleich viel lockerer.«
»So ist es!« Jan lächelte und stopfte sich sein restliches Brötchen in den Mund, so dass er für ein paar Sekunden wie ein Hamster mit dicken Backen aussah.
»Okay, ich bin dabei. Wann gehts los?«
»Wir treffen uns um 19 Uhr im Irish Pub in der Innenstadt.«
Den restlichen Tag verbrachte ich damit, ein paar Hausaufgaben für die Berufsschule zu erledigen, meinen Kleiderschrank aufzuräumen und irgendwelchen Schrott im Fernsehen zu schauen. Ich schämte mich schon fast dafür, dass ich bei der Sendung Vermisst wie ein Schlosshund heulen musste, obwohl das garantiert alles gescriptet und einfach nicht echt war. Aber als die traurige Musik einsetzte und sich Vater und Sohn nach 30 Jahren zum ersten Mal wieder in den Armen lagen ... vollkommen unrealistisch. Trotzdem liefen meine Augen über. Was garantiert kein bisschen daran lag, dass unser Dad sich vor ein paar Jahren vom Acker gemacht hatte und es sich seitdem irgendwo mit einer jungen, drallen Blondine gutgehen ließ. Genervt schaltete ich den Fernseher aus und wischte mir ein paar Tränen von der Wange. Ich schüttelte einmal meinen Kopf, um die wirren und etwas traurigen Gedanken zu vertreiben, und lief dann hoch in mein Zimmer, um mich auf den heutigen Abend vorzubereiten.
Ich schaffte es tatsächlich um halb sieben ohne verquollene Augen, dafür aber mit gestylten Haaren, einer engsitzenden schwarzen Jeans und grauem Shirt mit passendem Cardigan im Hausflur zu stehen und auf Jan zu warten. Ich nahm meinen Mantel vom Kleiderbügel an der Garderobe und zog ihn mir über.
»Jahaan«, rief ich zum wiederholten Male genervt nach oben in Richtung seines Zimmers.
»Bin gleich dahaaa«, kam es zurückgebrüllt.
Das konnte doch echt nicht wahr sein. Dabei hatte ich gedacht, dass ich schon spät dran war, da ich ewig überlegt hatte, was ich anziehen sollte. Ich lockerte meinen Mantel etwas, bevor ich einen Hitzschlag bekam, und setzte mich noch mal an den Küchentisch zu Mum, die gerade ein Kreuzworträtsel löste.
»Chemische Formel für Ameisensäure?«
»Bitte?«
»Das weißt du doch bestimmt oder? Die chemische Formel für Ameisensäure?«
»HCOOH denke ich.« Was genau dachte sie, machte ich als Chemielaborant? Es war ja nicht so, als ob ich mich täglich mit Ameisensäure beschäftigte.
»Passt, danke.« Kurz schwiegen wir und ich sah meiner Mutter zu, wie sie in ein paar Kästchen die Worte »Nil« und »Nutztier« hineinschrieb. »Was ist mit Jan, seid ihr nicht verabredet?«
»Was weiß ich ...« In dem Moment kam Jan die Treppe hinuntergepoltert. Er hatte seine Jacke schon über die Schulter geschwungen und sah sich im Flur nach mir um. Er entdeckte uns in der Küche und winkte mich zu sich.
»Sorry, musste Fernanda noch beruhigen. Die war nicht sonderlich begeistert, dass ich heute ohne sie etwas unternehme.«
»Sympathische Person«, murmelte ich und ignorierte Jan, der irgendetwas zu seiner und ihrer Verteidigung sagte. »Lass uns schnell gehen, sonst sind wir die Letzten. Gibt ja nichts Peinlicheres, als zu spät zu kommen.«
»Schon gut, wenn wir uns beeilen, bekommen wir noch die Bahn in zwei Minuten.«
Also sprinteten wir zur Straßenbahnhaltestelle und sprangen im letzten Moment noch in die sich bereits wieder schließende Tür. Ich hasste das. Nun saßen wir hier und ich war dem Erstickungstot nah, weil ich so dermaßen untrainiert war und verzweifelt nach Luft rang. Jan hatte eine viel bessere Ausdauer als ich. Aber der machte ja auch ab und an Sport. Nach zwei Haltestellen hatte sich meine Atmung langsam wieder beruhigt und wir konnten uns über die Kneipe unterhalten, in die wir nun gingen. Das Irish Pub »Irelands Own« war fast schon eine Stammkneipe für uns. Jan und ich waren schon öfter dort gewesen, hatten gemütlich ein Bierchen getrunken und Fußball auf der Großleinwand gesehen. Und nicht selten waren wir dort nach Abpfiff noch versackt. Heute würden wir uns allerdings nicht bis zur Besinnungslosigkeit betrinken. Immerhin war Jan mit Arbeitskollegen verabredet. Selbst wenn diese relativ locker sein sollten, musste man sich ja nicht gleich von seiner peinlichsten Seite zeigen.
Einige Minuten später betraten wir das Irish Pub und wurden sofort von der typischen Irish-Folk-Musik empfangen sowie von dem Gemurmel vieler Menschen, die sich angeregt unterhielten. Jan sah sich um und streckte sich, um über die anderen hinwegsehen zu können.
»Da hinten sind sie.« Er zeigte in eine Ecke und lief direkt los. Ich blieb dicht hinter ihm. Es war einiges los und so musste ich extrem vielen Leuten ausweichen, die mir alle irgendwie im Weg standen. Und trotzdem stolperte ich über eine Handtasche, die achtlos auf dem Boden abgestellt worden war.
»Hi Leute.« Jan, dem nicht aufgefallen war, dass ich mich beinahe hingelegt hätte, gab drei Typen die Hand und stellte uns dann vor.
»Das sind Pascal, Ali und Jörg. Und das ist mein Bruder Sebastian.«
Auch wir schüttelten Hände und dann wurden direkt zwei Pitcher Guinness für uns alle geordert.
»Sagt mal, Leute, sind wir etwa schon vollzählig? Ich dachte, es würden mehr kommen«, sagte der Dunkelhaarige, den mir Jan als Ali vorgestellt hatte.
»Nein, nein, unsere geschätzte Kommunikationsabteilung fehlt noch komplett. Ich glaube, die hatten sich verabredet und fahren gemeinsam hierher.« Wir setzten uns an einen Tisch mit guter Aussicht auf die Leinwand, den einer der Typen anscheinend klugerweise vorab reserviert hatte. Die vier Männer begannen direkt ein Gespräch über Job, Abteilungen, Kunden, Aufträge und ab und an konnte ich sogar etwas Kluges dazu beitragen. Glaubte ich zumindest. Obwohl die Gesprächsthemen mich nicht direkt einschlossen, fühlte ich mich recht wohl. Immerhin waren das alles nette und intelligente Kerle, die sich bemühten, mir alle Insider zu erklären. Außerdem schmeckte das Bier, das zwischenzeitlich gebracht worden war.
»Leute, da sind wir endlich. Sorry, meine Freundin hat es sich nach ewiger Diskussion doch anders überlegt und ist zu Hause geblieben. Die Verspätung geht also auf meine Kappe ... beziehungsweise auf ihre.« Wir drehten uns alle in die Richtung, aus der die Stimme kam. Jan neben mir sprang direkt auf, um auch den Neuankömmlingen kräftig die Hände zu schütteln und mich vorzustellen. Als der letzte Kerl allerdings in mein Blickfeld rückte, blieb mein Herz für eine Sekunde stehen, nur um dann in dreifacher Geschwindigkeit weiterzuklopfen.
Fuck!
»Das ist mein Bruder Sebastian. Und das ist Hiroki. Er hat kurz vor mir bei uns angefangen. Er ist also fast noch genau so frisch in der Firma wie ich.«
Er war es.
Das kurze Aufflackern in seinen Augen war mir nicht verborgen geblieben. Wir gaben uns die Hand und ließen uns ansonsten nichts anmerken. Warum wir uns nicht einfach locker begrüßten und über diesen Zufall lachten, wusste ich nicht so recht. Mir war die ganze Situation einfach nur peinlich und Hiroki wirkte erschrocken. Ich bemühte mich, den Drang ganz schnell abzuhauen, um mir dieses eventuell unangenehm werdende Zusammentreffen zu ersparen, nicht nachzugeben und setzte mich wieder. Ich schenkte mir nach und trank einen großen Schluck. Jetzt würde ich mich wohl doch betrinken müssen.
Ich spürte, wie sich jemand rechts von mir niederließ, traute mich jedoch nicht, den Kopf zu wenden. Das Ausschlussprinzip genügte. Oh Gott. Ich spürte schon, wie mir der Schweiß ausbrach. Nervös wischte ich mir meine nassen Hände an der Hose ab. Sollte ich mich einfach ganz normal verhalten? Würde mir das überhaupt gelingen? Ich war so ziemlich der schlechteste Schauspieler, den man sich vorstellen konnte. Aber eigentlich hatte ich ja keinen Grund, so nervös zu sein. Es war ja im Grunde nichts zwischen uns passiert. Nur ein nettes Gespräch in einem Club. Einmal durchatmen und dann sollte ich einfach ...
»Du bist also Jans Bruder.« Jetzt hatte er mich angesprochen, bevor ich meine mentale Vorbereitung abgeschlossen hatte. Ich wandte mich ihm zu und versuchte mich in einem Lächeln.
»Ja, das bin ich.« Er nickte und musterte mich interessiert. Sein Blick wanderte von meinen Augen zu meinem Mund und wieder hoch zu meinen Augen. Während seiner Musterung war meine Körpertemperatur bestimmt um vier Grad angestiegen. Hoffentlich würde ich nicht gleich Schweißflecken haben. Das graue Shirt war keine gute Idee gewesen und den Cardigan hatte ich schon längst ausgezogen, da es hier im Pub dann doch zu warm geworden war. Nun mit Hiroki neben mir war mir allerdings, als hätte ich spontan Fieber bekommen. Ich war unfähig etwas Intelligentes zu sagen. An Smalltalk war nicht zu denken. Wir sahen uns bestimmt schon seit mehreren Sekunden einfach nur an. Viel länger als es üblich war und definitiv zu lang, um darüber hinwegzutäuschen, dass wir uns bereits kannten. Jan war es, der unser Schweigen unterbrach.
»Trinkt ihr auch noch einen Pitcher mit?«
»Klar«, antwortet Hiroki für uns beide und ich schaffte es endlich, den Blick von ihm zu wenden. Ich stierte in mein halb volles Glas und atmete einmal durch.
»Das ist schon ein seltsamer Zufall«, sagte ich nach ein paar Sekunden leise und hinter vorgehaltener Hand. Kurz fragte ich mich, warum ich eigentlich flüsterte, aber irgendwie schien es mir richtig. Das war eine Sache zwischen uns. Als die Kellnerin mit zwei großen Krügen voll mit Guinness an unseren Tisch kam und vier weitere Gläser abstellte, griff Hiroki direkt nach dem Bier und goss uns beiden ein.
»Kann ich dich um einen Gefallen bitten?« Nun flüsterte er und beugte sich unauffällig etwas weiter zu mir herüber. Er sah sich um, bis er sich sicher war, dass keiner seiner Kollegen uns besondere Aufmerksamkeit schenkte.
»Was denn?«
»Kannst du das für dich behalten? Also alles. Den Club und dass wir uns dort getroffen haben.«
»Okay. Ich hatte nicht vor, damit hausieren zu gehen. Aber warum?«
Er zog fragend nur eine Augenbraue hoch. »Du bist nicht geoutet?«, flüsterte ich noch leiser. Er schüttelte den Kopf und sah sich nun wieder unauffällig um.
»In meiner Heimatstadt wussten es ein paar Leute. Meine Eltern sind auch im Bilde und haben es alles andere als gut aufgefasst. Deshalb bleibt das unser Geheimnis, okay?« Er legte seinen Zeigefinger an die Lippen und zwinkerte mir unbemerkt von allen anderen zu. Leider ging diese Geste an mir nicht einfach so spurlos vorbei. Ich bekam heiße Wangen und schaute schnell wieder weg. Oh Gott. Bitte mach, dass ich nicht hart werde. Bitte nicht von einem einfachen Zuzwinkern. Ich war doch lange keine vierzehn mehr.
»Wer hat Lust auf eine Runde Darts?«, rief einer, der mir vorhin als Jörg vorgestellt worden war.
»Gerne, aber ich bin nicht wirklich gut«, sagte Jan und erhob sich bereits.